Text | Kulturation 1/2009 | Irene Dölling | Transformationen
Nach dem Ende der ‚arbeiterlichen Gesellschaft’ das Ende der Arbeitsgesellschaft?
| Der
nachfolgende Text wurde von der Verfasserin am 12. Dezember 2008 in der
Humboldt-Universität auf dem wissenschaftlichen Colloquium „Arbeit und
Geschlecht“ vorgetragen, das den 60. Geburtstag von Hildegard Maria
Nickel zum Anlass hatte.
Wenn man hierzulande über Friedhöfe geht, kann man auf Grabsteinen
mitunter lesen: „Sein ( ihr) Leben war Arbeit und Mühe“. In dieser
Inschrift spiegelt sich ein Grundverständnis moderner Gesellschaften in
seiner Ambivalenz wider: Sie erinnert daran, dass die allermeisten
Menschen bis heute ihre Existenz durch Arbeit sichern müssen, diese
Arbeit mehr harte Anstrengung denn Vergnügen und freies Spiel der
Kräfte ist und diese Mühe oftmals kaum Zeit und Raum, Phantasie und
Energie für anderes lässt. Und sie verweist mit der
bescheiden-demütigen und zugleich stolzen Art, wie hier immerwährendes
Schaffen als Norm und überlegener Wert gegenüber Müßiggang bzw. Muße
hoch gehalten wird, dass in der Arbeit die Basis für ein ehrenwertes
und sinnvolles Leben gesehen wird. Arbeit ist in der Moderne
grundlegend für den sozialen Zusammenhalt und den Platz jedes und jeder
Einzelnen in der Gesellschaft. Sein/ ihr Selbstverständnis hängt ganz
entscheidend davon ab, welche Position er oder sie im bzw. zum System
der Arbeit, genauer der Lohnarbeit, einnimmt. Innerhalb der Soziologie
hatte und hat die Arbeitssoziologie deshalb einen prominenten Platz
(„Schlüsseldisziplin“ nennen sie Kratzer/Sauer - 2007, S. 236), und
nicht zu Unrecht haben nicht wenige ihrer VertreterInnen den Anspruch
erhoben, dass ihre empirischen Analysen und ihre Prognosen zur
Entwicklung der (Erwerbs-)Arbeit eine gesellschaftstheoretische
Dimension haben. Für eine bestimmte historische Figuration – die
Lohnarbeitsgesellschaft – trifft dies durchaus zu.
Hildegard Maria Nickel trägt seit einigen Jahrzehnten mit ihren
Arbeiten dazu bei, dass Arbeitssoziologie diesem Anspruch gerecht wird
und sie hat dabei zwei spezifische Akzente gesetzt. Zum einen hat sie
schon sehr früh in die Arbeitssoziologie Erkenntnisse der Frauen- und
Geschlechterforschung eingebracht. Sie hat herausgearbeitet, welche
Chancen für den Abbau von Geschlechterungleichheiten durch Einbeziehung
von Frauen in die Erwerbsarbeit liegen können und sie hat zugleich
immer energisch darauf verwiesen, dass ohne eine komplexe Sicht auf den
institutionellen Zusammenhang der ‚fordistischen Trias’ von
Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Familie und auf die Art und Weise, wie
dieser Zusammenhang in Geschlechterverhältnissen institutionell
verfestigt und praktisch gelebt wird, Herrschaftsverhältnisse und
Dimensionen sozialer Ungleichheit verkannt werden. Zum zweiten hat sie
sich vor allem in den 1990ger Jahren intensiv den Transformationen in
Ostdeutschland, insbesondere den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und
ihren Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse zugewandt. Sie hat –
früher als viele ihrer KollegInnen – betont, dass die Prozesse in
Ostdeutschland keineswegs primär als ‚nachholende Modernisierung’ (R.
Geißler) interpretiert werden können, sondern an ihnen vielmehr die
radikale und beschleunigte Transformation der
industriegesellschaftlichen Moderne studiert werden kann, die das
gesamte institutionelle und normative Gefüge erfasst. Ihre empirischen
Studien zu Veränderungen des Arbeitsmarktes mit ihren Auswirkungen auf
das gesellschaftliche Institutionengefüge und auf praktizierte
Geschlechterarrangements, ihre Überlegungen zur ‚Subjektivierung der
Arbeit’ bzw. zum neuen Typus des ‚Arbeitskraftunternehmers’
(Lohr/Nickel 2005) sind daher auch wichtige Beiträge zu den aktuellen
soziologischen ‚Suchbewegungen’, die darauf zielen, die beobachtbaren
gesellschaftlichen Umbrüche zu reflektieren und auf den Begriff zu
bringen.
In diesen ‚Suchbewegungen’, die markiert sind durch Begriffe wie
‚Krise’ oder ‚Ende’ der Arbeitsgesellschaft, zeichnen sich gegenwärtig,
grob skizziert, zwei Argumentationslinien ab, in denen sich real
beobachtbare Spaltungen in der Gesellschaft widerspiegeln. Die eine
Linie konstatiert eine ‚Krise der Arbeitsgesellschaft’, die durch
Umverteilung von Arbeit und Neugestaltung des
‚Normalarbeitsverhältnisses’ behoben werden kann. Lohn-/Erwerbsarbeit
wird auch für die postfordistische Moderne als funktionstüchtiger Modus
sozialer Integration angesehen. Untersuchungen wie die von
Boltanski/Chiapello (2003/1999) zum ‚neuen Geist des Kapitalismus’
zeigen, dass der Kapitalismus extrem erneuerungsfähig ist. Sie zeigen,
dass mit der Integration von Formen insbesondere der Künstlerkritik in
die Leitbilder der Unternehmenskultur, von moderner Arbeitskraft,
Arbeits- und Zeitorganisation die ‚projektbasierte Polis’
(Boltanski/Chiapello) oder auch der neue, mit seiner ganzen Person und
Subjektivität geforderte Arbeitnehmertypus für viele Lohnabhängige eine
hohe Attraktivität besitzt. Auch deshalb wird von ihnen Erwerbsarbeit
als unverzichtbar gewertet. In der Elastizität und Dynamik
kapitalistischer Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen werden daher
von SoziologInnen auch gewichtige Gründe dafür gesehen, dass auch in
Zukunft Erwerbsarbeit grundlegend für den sozialen Zusammenhalt bleibt.
Sie verbleiben dabei allerdings konzeptionell und begrifflich im
Wesentlichen in dem ‚Denkrahmen’, den die Soziologie seit dem Wirken
ihrer ‚Gründungsväter’ erarbeitet hat und in dem Arbeit menschliche
Lebensäußerung schlechthin und quasi der zentrale Begriff ist.
Parallel dazu fokussiert eine zweite Argumentationslinie auf
beobachtbare Erosionen sozialer Integration im Brüchig-Werden der
fordistischen Trias. Diese gehen mit der Zunahme prekärer
Beschäftigung, einer langfristigen bzw. endgültigen Entkopplung vom
Erwerbssystem mit den Folgen für sozialen Status, Teilhabe am
öffentlichen, kulturellen und politischen Leben einher. Sie richtet
ihren Blick auf soziale Gruppen und Bereiche, die nicht (mehr) über
Erwerbsarbeit integrierbar sind. Diese Argumentationslinie knüpft an
diese Beobachtungen die Frage, ob nicht von einem ‚Ende der
Arbeitsgesellschaft’ in dem Sinne zu sprechen ist, dass Lohnarbeit
langfristig als Integrationsmodus ‚veraltet’, Soziologie deshalb auch
über ihren bisherigen ‚Denkrahmen’ hinausgehen muss, in dem andere
Formen sozialer Tätigkeit gegenüber der Arbeit als nachrangig,
‚traditionell’ usw. gedacht werden. Das Für und Wider dieser beiden Argumentationsstränge zu
diskutieren, ist keineswegs eine rein akademische Angelegenheit. Bei
der Entscheidung für die eine oder andere Position geht es ganz
grundsätzlich darum, welche Vorstellungen Soziologie von einer ‚guten’
Gesellschaft formuliert, welchen Blick sie auf soziale Prozesse, auf
die Formulierung ihrer Gegenstände entwickelt. Es geht um die Art und
Weise, wie Soziologie durch ihre Klassifikationen und Begriffe
öffentliche Diskurse und politische Entscheidungen beeinflusst.
Deshalb beschäftigt mich im Folgenden die Frage nach der Zukunft
der Arbeitsgesellschaft aus einer vorwiegend gesellschaftstheoretischen
– nicht aus einer im engeren Sinne arbeitssoziologischen - Perspektive.
Ich möchte in meinem Beitrag zunächst (1) auf einige Arbeiten eingehen,
die für mich interessant sind, weil sie über den ‚fordistischen’
Denkrahmen hinausweisen. Daran anschließend (2) möchte ich die Frage
diskutieren, ob bzw. in welcher Weise die diesen Debatten zugrunde
liegenden Transformationen der fordistischen Moderne die Soziologie wie
auch die Frauen- und Geschlechterforschung dazu herausfordern, einige
ihrer Denkmuster und Begriffe kritisch zu reflektieren.
1. Nach dem Ende der ‚arbeiterlichen Gesellschaft’ das Ende der ‚Arbeitsgesellschaft’?
Bekanntlich beginnt „die Eule der Minerva (...) erst mit der
hereinbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (Hegel) und so nimmt es nicht
Wunder, dass seit den 1990ger Jahren die soziologisch-historischen
Rückblicke auf die Moderne und ihre verschiedenen Phasen, insbesondere
auf die, ‚fordistisch’, ‚organisiert’ oder ‚industriegesellschaftlich’
genannte Moderne zunehmen. So hat Robert Castel 1995 (dt. 2000) den
Aufstieg der Lohnarbeit von einer der „unsichersten, ja unwürdigsten
und elendsten Lebensstellungen“ zu „einer Beschäftigung und einem
Status“ und zur „Basismatrix der modernen ‚Lohnarbeitsgesellschaft’“
(Castel, 2000, S. 11), wie sie sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts
herausgebildet hat, rekonstruiert. Zwar hat er dabei, wie Brigitte
Aulenbacher zu Recht kritisiert hat (Aulenbacher 2009, im Erscheinen),
einige strukturelle Zusammenhänge in der Konstitutionsgeschichte der
Moderne und damit verbundene hierarchische Geschlechterverhältnisse
außer acht gelassen – wie im übrigen auch die nachfolgend zitierten
Autoren. Aber indem er nachzeichnet, wie mit der Herausbildung moderner
Gesellschaften die bislang verachtete (körperliche) Arbeit zur Quelle
allen Reichtums und wie Arbeitsfähigkeit zur Grundlage sozialer
Anerkennung umgedeutet wird, wie mit dem Sozialeigentum und dem Staat
als „Garant des Transfereigentums“ (ebd., S. 278) eine soziale
Sicherung geschaffen wird, die sich von sozialen Randgruppen immer
weiter ausdehnt und mit der „Ausdehnung der Lohnarbeit auf die
Gesamtgesellschaft“ (ebd., S. 284) alle Gesellschaftsmitglieder – wenn
auch auf ungleiche und vergeschlechtlichte Weise – erfasst, gelingt
Castel zweierlei: Zum einen zeigt er auf, wie die Umdeutung und
Umbewertung der Arbeit das institutionelle Gefüge der Gesellschaft
(soweit er es in den Blick nimmt) grundlegend prägt und die
Lebensführung ebenso wie die Identität der Einzelnen beeinflusst. Die
Wucht der Veränderungen und Verunsicherungen, die mit der Erschöpfung
der fordistischen Trias einhergehen, für die “die Lohnarbeit der
Sockel, aber auch die Achillesferse der sozialen Sicherung ist“ (ebd.,
S. 282), wird auf eindrucksvolle Weise nachvollziehbar. Zum anderen
macht er mit seiner Rekonstruktion des Aufstiegs der Lohnarbeit und der
Veränderungen, die das Gefüge der fordistischen Trias aktuell brüchig
werden lassen, aufmerksam darauf, dass es eben bestimmte historische Bedingungen und Figurationen
in der Entwicklung der Moderne waren, die die Herausbildung der
Lohnarbeitsgesellschaft erzwangen und ermöglichten. Und er provoziert
mit seiner Prognose des Entstehens einer neuen sozialen Frage das
Nachdenken darüber, ja er drängt mit seinen Befunden geradezu darauf zu
fragen, ob deren Lösung noch im Rahmen der Lohnarbeitsgesellschaft
gefunden werden kann – auch wenn er selbst weitgehend dem Paradigma der
Lohnarbeit in seinen Schlussfolgerungen verhaftet bleibt.
Etwa zeitgleich mit Castel hat Peter Wagner (Wagner 1995) den
Versuch einer historisch-soziologischen Rekonstruktion der Moderne
unternommen. Die Lösung der im 19. Jahrhundert entstandenen sozialen
Frage sieht er in der Phase der ‚organisierten Moderne’ in der
Begrenzung individueller Freiheit und Autonomie durch die „Bildung
kollektiver Arrangements“ (ebd., S. 112) im Rahmen von National- und
Sozialstaat. Ähnlich wie Castel konstatiert er seit den 1970ger Jahren
eine Erschöpfung des institutionellen Gefüges des korporatistischen
Dreiecks von Lohnabhängigen – Unternehmen - Staat und das Ende der
organisierten Moderne. Einen anregenden Akzent setzt Wagner in seiner
Rekonstruktion auch insofern, als er für die Phase der ‚organisierten’
Moderne die kapitalistische und die sozialistische Variante
unterscheidet, wobei diese sich von jener „im Ausmaß“ (ebd., S. 161)
und der Radikalität der Unterordnung individueller Freiheit und
Autonomie unter kollektive Arrangements sowie der „Parallelität von
Überwachung und Fürsorge“ (ebd., S. 160) unterscheidet. Für ihn
scheitert die sozialistische Variante nicht nur an mangelnden
ökonomischen Ressourcen, sondern auch an der Radikalität, mit der
individuelle Freiheit und Autonomie negiert wurde. Aus einer etwas
anderen Perspektive hat Wolfgang Engler diesen Gedanken weiter
gesponnen. Das abrupte Ende des DDR-Sozialismus war das Ende einer
Gesellschaft, in der man, wie Engler schreibt, „sein Leben
legitimerweise nur durch Arbeit begründen konnte“ (Engler 2002, S. 155)
und die überdies eine – wie er in Anlehnung an Elias definiert –
„arbeiterliche Gesellschaft“ in dem Sinne war, dass die Arbeiterschaft
zwar keine politische Macht hatte, aber „sozial und kulturell
dominierte und die anderen Teilgruppen mehr oder weniger
‚verarbeiterlichten’“ (Engler 1999, S. 200). Das trifft auch, so wäre
hinzuzufügen, auf die weibliche Genusgruppe zu, obwohl deren normative
und praktische Verantwortung für die ‚reproduktiven’ Tätigkeiten im
Haushalt nicht in Frage gestellt und diese entsprechend nicht als
‚Arbeit’ im eigentlichen Sinne anerkannt wurden (vgl. Dölling 2003,
2005). Umso einschneidender waren nach dem Ende der sozialistischen
Variante die mit der De-Industrialisierung einhergehenden sozialen
Verwerfungen und der Entwertungen nicht nur der ‚arbeiterlichen’
Habitus, sondern des ganzen institutionellen Gefüges einer
Arbeitsgesellschaft. In Ostdeutschland können daher auch in
exemplarischer Weise Problem- und Konfliktlagen einer
‚Transformationsgesellschaft’ studiert werden, das Entstehen neuer,
vielfach prekärer Erwerbsarbeitsformen, neuer Formen des politischen
und sozialen Umgangs mit den – aus ökonomischer Perspektive – sog.
‚Überflüssigen’, etwa durch einen “sekundären Integrationsmodus“, der
„die Überflüssigkeit gerade voraus(setzt), reproduziert und
(aus)gestaltet“ (Bericht Ostdeutschlandforschung 2006, S. 52). Studiert
werden können aber auch kommunale wie zivilgesellschaftliche Versuche,
diejenigen, die aus dem Erwerbssystem dauerhaft herausfallen, auf
andere Weise sozial zu integrieren (vgl. Bauer-Volke/ Dietzsch 2003)
und nicht zuletzt Suchbewegungen individueller AkteurInnen, durch Um-
und Neudeutungen ihres ‚praktischen Sinns’ mit den veränderten
Bedingungen und Anforderungen in ihrem Alltag jenseits fordistischer
Muster zurecht zu kommen (vgl. Völker 2006, 2007, 2008). Wie der
„Bericht zur Lage in Ostdeutschland“ (2006) zeigt, ist der „offene
Suchprozess“ nach einem „neuen Entwicklungspfad“ (Bericht
Ostdeutschlandforschung, S. 7) in den Sozialwissenschaften in vollem
Gange (kritisch zum Bericht vgl. Dölling/Völker 2007).
Gemeinsam ist den genannten Arbeiten die Einschätzung, dass die
fordistische, ‚organisierte’ Phase der Moderne ihrem Ende zu geht und
aktuell eine Erschöpfung des institutionellen Gefüges der fordistischen
Trias zu konstatieren ist. Untermauert wird diese Einschätzung durch
eine fast unüberschaubare Zahl von empirischen Studien, die im
Erwerbssektor die Zunahme prekärer Beschäftigungen, in der politischen
Sphäre die (sozial-)staatliche ‚Anrufung’ als eigenverantwortliche und
‚geschlechtsneutrale’ Subjekte und im Alltag das Brüchig- Werden
bisheriger Arrangements der praktischen Lebensführung mit ihren
geschlechtlichen Arbeitsteilungen konstatieren. Ob dies auch bedeutet,
dass (Lohn-)Arbeit als grundlegender Modus sozialer Integration und
Kohäsion sich erschöpft, in diesem (und nur in diesem) Sinne also vom
Ende der ‚Arbeitsgesellschaft’ gesprochen werden kann – darüber gehen
die Meinungen allerdings auseinander. Für die einen bleibt auch im
Postfordismus Erwerbsarbeit die ‚Basismatrix’ in dem Sinne, dass neue
Formen sozialer Anerkennung und Teilhabe der Erwerbsarbeit
untergeordnet bleiben. So ist etwa die Forderung nach dem Recht auf
einen „fairen Anteil“ an der gesamtgesellschaftlichen „disponiblen
Zeit“ (Bericht Ostdeutschlandforschung, S. 14) auf der Grundlage eines
zeitlich begrenzten Grundeinkommens nach wie vor der Domaninz der
Erwerbsarbeit verhaftet. Die Stärke dieser Konzepte liegt darin, dass
sie praktisch-politisch – relativ – leicht umsetzbar erscheinen. Ihre
Schwäche liegt eher darin, dass damit der – tendenziell zunehmenden –
Unterordnung des Sozialen unter kapitalistische Verwertungslogik, des
Zugriffs auf individuelle Zeit, ‚privaten’ Schutzraum usw.
konzeptionell nichts entgegengesetzt werden kann und auch die
Stigmatisierung derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus
dem System der Erwerbsarbeit herausfallen, weder delegitimiert noch die
machtvollen Grenzziehungen zwischen ‚Leistungsträgern’ und
‚Alimentierten’ außer Kraft gesetzt werden können.
Die anderen verbinden mit ihren Analysen die Notwendigkeit einer
„radikalen Neugestaltung der Gesellschaft“ (Engler 2005), eines neuen
‚historischen Kompromisses’ (Wagner) zwischen kapitalistischem
Wirtschaftssystem und demokratischer Gesellschaft. Sie sehen die
historisch entstandene Möglichkeit, soziale Kohäsion und Integration
von der Erwerbsarbeit zu entkoppeln und das Recht des Einzelnen auf ein
würdevolles Leben auf eine neue Basis zu stellen - etwa durch ein
bedingungsloses Grundeinkommen und ein für alle zugängliches Angebot an
Bildung, sozialer, kultureller und politischer Betätigung. Die Schwäche
dieses Konzeptes liegt darin, dass dies derzeit, wo die Angst vor dem
Verlust der Erwerbsarbeit und der bisherigen sozialstaatlichen
Absicherungen eher größer und die Ablehnung von ‚Überflüssigen’ und
angeblich ‚Leistungsunwilligen’ auch politisch geschürt wird, als
utopisch wahrgenommen wird und die Bedingungen für einen grundlegenden
Wandel in den gesellschaftlichen Grundwerten eher ungünstig sind. Seine
Stärken liegen darin, dass mit dem neuen Integrationsmodus Räume für
die Ausbildung und Betätigung individueller Fähigkeiten entstehen
(können), die von den Zwängen und Anforderungen kapitalistisch
organisierter Erwerbsarbeit entkoppelt sind, auf neue Art individuelle
Wahlfreiheit ermöglichen - und vermittelt darüber auch die Position des
Arbeitnehmers beeinflussen können. Die Stärken dieses Ansatzes werden
derzeit von der Soziologie allerdings kaum sichtbar gemacht.
Gegenwärtig überwiegt die Neigung, beobachtbare Veränderungen mit dem
bewährten begrifflichen Instrumentarium wahrzunehmen und zu
analysieren, gegenüber der Neugier, sich auf neues, unsicheres Terrain
zu begeben.
Welchem Konzept und welchen Argumenten man als SoziologIn in dieser
Debatte auch eher zugeneigt sein mag, diese provoziert auf jeden Fall
ein Nachdenken darüber, ob Vorstellungen und Begriffe, mit denen wir
bisher den Zusammenhang verschiedener Tätigkeiten in modernen
Gesellschaften gedacht und in eine Ordnung gebracht haben, den sich
abzeichnenden postfordistischen Konfigurationen noch angemessen sind.
Darauf möchte ich in meinem 2. Teil zu sprechen kommen.
2. Kritische Reflexion fordistisch geprägter Begriffe – Herausforderungen für Soziologie und Geschlechterforschung
Für die Soziologie war Arbeit lange Zeit Erwerbsarbeit, also
Gebrauchswert erzeugende Tätigkeit, die einen Tauschwert hat und so als
gesellschaftlich notwendige Anerkennung findet. In letzter Zeit – in
dem Maße, wie die fordistische Moderne ‚veraltet’ und sich ein neuer
Typus von Arbeitskraft abzeichnet – wird der Arbeitsbegriff erweitert:
nun sollen z. B. auch personenbezogene Dienstleistungen als
(professionalisierte) Care-Arbeit, das Auf- und Erziehen von Kindern
als Familienarbeit, das ehrenamtliche Engagement als Bürgerarbeit oder
auch der Erwerb von Bildung in allen möglichen Formen
(‚Qualifizierungsarbeit’) einbezogen werden. Mehr denn je scheinen
Tätigkeiten nur dann einen gesellschaftlich anerkannten Wert zu haben
oder zu bekommen, wenn sie Warenform annehmen bzw. durch Entgelte oder
andere Vergünstigungen der Erwerbsarbeit ökonomisch (annähernd)
gleichgestellt werden. Auch die Frauen- und Geschlechterforschung
bewegt sich in diesen Begrifflichkeiten und Denkmustern. Zwar hat sie
seit ihren Anfängen kritisiert, dass Tätigkeiten zur individuellen und
generativen Reproduktion im familiären, privat-häuslichen Rahmen nicht
nur in der Arbeitssoziologie unsichtbar bleiben, weder politisch noch
wissenschaftlich als gleichermaßen wie Erwerbsarbeit gesellschaftlich
notwendig anerkannt werden, noch diejenigen, die sie verrichten, die
gleiche Anerkennung und Teilhabemöglichkeiten gewinnen wie durch
Erwerbsarbeit. Sie hat mit ihrem gesellschaftstheoretischen Verständnis
des widersprüchlichen Verhältnisses von ‚Produktion’ und
‚Reproduktion’, seiner institutionellen Verfasstheit in modernen
Gesellschaften und der daraus resultierenden Geschlechterhierarchie
wichtige wissenschaftliche Argumente für die politische Forderung nach
‚Vereinbarkeit von Beruf und Familie’, nach einer geschlechtergerechten
Verteilung ‚produktiver’ und ‚reproduktiver’ Tätigkeiten geliefert.
Aber wie die Soziologie bleibt auch die Frauen- und
Geschlechterforschung bis heute weitgehend dem Paradigma der
Erwerbsarbeit als ‚Basismatrix’ sozialer Integration verhaftet – etwa,
indem sie betont, dass Tätigkeiten der Selbst- und Fürsorge in Form von
Haus- und Familienarbeit auch gesellschaftlich nützliche und notwendige
Arbeit wie die Erwerbsarbeit ist, oder indem sie die Erwerbsarbeit von
Frauen als entscheidend für ihre gleichberechtigte Teilhabe ansieht und
mit ihrer Forderung nach Entlastung der Frauen von Haus- und
Familien’arbeit’ zumindest implizit deren gängige soziale
Nachrangigkeit reproduziert. Ganz sicher machen diese Begriffe bezogen
auf die ‚Lohnarbeitsgesellschaft’ Sinn und lassen sich auch aktuelle
Widersprüche und Ungleichheiten mit ihnen fassen. Zu fragen ist aber m.
E., ob sie den entstehenden postfordistischen Figurationen noch
angemessen sind, ob mit dem Festhalten an ihnen nicht an einer
Herrschaft partizipiert wird, „die in den Bahnen rationaler
Kommunikation ausgeübt wird“ (Bourdieu 2001, S. 106f). Ich will dies in
aller gebotenen Kürze an zwei Punkten verdeutlichen.
1. Arbeitssoziologische Studien – exemplarisch sei hier ein Aufsatz
von Kratzer/Sauer herangezogen – sehen in beobachtbaren „qualitativen
Veränderungen in der Arbeit selbst“ (Kratzer/Sauer 2007, S. 236)
Möglichkeiten für ein Überschreiten der fordistischen Grenzen zwischen
Arbeit und Leben, für eine „Ent-Differenzierung der beiden
Lebensbereiche respektive ihrer jeweiligen Eigenlogiken und
Strukturierungsprinzipien“ (ebd., S. 241). Sie sehen in dem mit der
‚Subjektivierung der Arbeit’ einhergehenden Anwachsen von
„Selbstverwirklichungsansprüche(n) und Selbstentfaltungsbedürfnisse(n)“
(ebd., S. 242) der Arbeitnehmer Potenziale für eine
„’eigensinnige(...)’ (Wieder-)Aneignung der Arbeit durch die Subjekte
und das Eindringen lebensweltlicher Handlungslogiken und
Strukturierungsprinzipien in die Arbeitswelt“ (ebd., S. 243; ähnlich
argumentieren auch Nickel 2007 und Nickel/Hüning/Frey 2008). Nichts
gegen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die Anreicherung von
Arbeitsinhalten oder die Befriedigung reproduktiver Bedürfnisse während
der Arbeitszeit – aber vernachlässigen die Autoren hier nicht ganz
grundsätzlich, dass es sich auch im Postfordismus um ein kapitalistisches Wirtschaftssystem
handelt, in dem alles in Tauschwert umgewandelt bzw. von ihm dominiert
wird? Belegen nicht schon die Konzepte und Programme zur ‚Humanisierung
der Arbeitswelt’, dass ‚qualitative Veränderungen in der Arbeitswelt’
die Unterordnung unter die Verwertungslogik des Kapitals, Eigentums-
und Machtverhältnisse nicht außer Kraft setzen? Und wird hier nicht
schlicht ein Denkmuster des ‚neuen Geistes des Kapitalismus’
reproduziert, wenn der Zugriff auf die ‚ganze Person’ des
Arbeitnehmers, einschließlich seiner reproduktiven Bedürfnisse, als
‚Befreiung in der Arbeit’ gesehen wird?
2. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist heute für die
Politik wie für viele Wirtschaftsunternehmen eine Voraussetzung dafür,
dass Frauen eigenverantwortlich für ihre Existenz sorgen und sie ihr
‚Humankapital’ effektiv einsetzen können. Das bringt gewiss vielen
Frauen größere ökonomische Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und eine
tendenzielle Entlastung von Zwängen fordistischer
Geschlechterarrangements. Mit der ‚Ökonomisierung des Sozialen’ gerät
aber auch ins Hintertreffen, was in der Forderung von Frauen- und
Geschlechterforschung nach gleichwertiger Anerkennung der privat
geleisteten für- und versorgenden Tätigkeiten auch immer mitschwang:
die gesellschaftliche Anerkennung nämlich, dass es Tätigkeiten gibt,
die nicht der kapitalistischen Verwertungslogik unterliegen (sollten).
Zu diskutieren wäre deshalb m. E., ob Soziologie wie
Geschlechterforschung nicht gut daran täten, den Arbeitsbegriff auf
kapitalistisch formierte Lohnarbeit zu beschränken und mit ihren
Mitteln rationaler Kommunikation an einer Umdeutung und Umbewertung von
Tätigkeiten - von ‚reproduktiven’ Tätigkeiten mit großer Nähe zur
Existenzsicherung bis zu Tätigkeiten, die ein ‚freies Spiel der Kräfte’
ermöglichen – mitzuwirken, also an klassifikatorischen Voraussetzungen
für eine Entkopplung von Lohnarbeit und sozialer Integration, für einen
Integrationsmodus, der auch die bisherigen fordistischen Grenzziehungen
zwischen ‚produktiven’ und ‚un-/reproduktiven’ Tätigkeiten mit ihren
geschlechtshierarchischen Implikationen fragwürdig macht.
Ich möchte schließen mit einer kleinen Geschichte, die mir mein
Freund und Kollege, der Tübinger Ethnologe Bernd-Jürgen Warneken,
erzählt hat und damit den Bogen schlagen zum Anfang meines Beitrages.
Eines Tages wurde in seinem Kindergarten ein neuer Sandkasten angelegt
und die Kinder wurden von der Erzieherin aufgefordert, in ihren
Buddeleimern den Sand vom alten in den neuen Kasten zu bringen. Nachdem
er einige Male mit seinem Eimer hin- und her gelaufen war, habe er – so
die Familienüberlieferung – die weitere Beteiligung an der Aktion
gegenüber seiner Erzieherin mit den Worten verweigert: „Nicht zum
Arbeiten bin ich hier, sondern zum Spielen“. Und dies, so schloss er
seine Geschichte, solle dermaleinst auch auf seinem Grabstein stehen.
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