Text | Kulturation 1/2004 | Kaspar Maase | Der Banause und das Projekt schönen Lebens
Überlegungen zu Bedeutung und Qualitäten alltäglicher ästhetischer Erfahrung
| Die
Tätigkeit des Konsumenten besteht darin, zu konsumieren, das heißt,
durch Sehen und Hören sein Leben zu erhellen und zu bereichern, und
nicht, die Formmittel zu analysieren ... . Wenn es stimmt, dass das,
was als ästhetische oder kritische Einstellung ausgegeben wird, oft
nichts ist als ein Kunstgriff, um der überwältigenden Anziehungskraft
der Kunst zu entkommen, dann ist das Fernsehpublikum, das sich
vollkommen arglos der Erregung, dem Nervenkitzel und der Spannung
ausliefert, die einzige soziale Gruppe, die als ein echter
Kunstkonsument fungiert.
Rudolf Arnheim/1/
Im Rahmen einer psychologischen Studie verfasste eine Berliner Berufsschülerin 1927 folgenden Text.
"Ich war noch nie in meinem Leben ins Kino gewesen. Und auch keine
Zeitung in die Hände bekommen. Aber eine Geschichte habe ich gelesen,
die hies auf dem Wege zur goldenen Stadt. Es war eine schöne Geschichte
wo ich meine Freude daran gehabt hatte. Der Anfang war sehr schön, aber
in der Mitte fing es traurig an, und zu Schluss war es noch trauriger.
Hauptsache habe ich wenigstens eine Geschichte gelesen die sehr schön
gewesen war. Ich werde ja auch noch mehrere Bücher in die Hände
bekommen."/2/
Das Adjektiv "schön" wird hier keineswegs eindeutig gebraucht. Als
Gegensatz zu "traurig" scheint es 'erfreulich, angenehm, harmonisch' zu
meinen und sich in erster Linie auf das Dargestellte zu beziehen. Die
sonstige Verwendung ergibt im Gesamtkontext jedoch unverkennbar eine
andere Bedeutung. Eine "schöne Geschichte" ist eine, die bei der
Leserin ein Gefühl der Freude hervorruft - eine Freude, die ganz
offensichtlich nicht aus simpler Identifikation mit dem Dargestellten
entspringt. Ganz im Gegenteil: Dass die Geschichte sich Schritt für
Schritt steigert, vom Schönen über das Traurige zum noch Traurigeren,
scheint geradezu ihr Qualitätsmerkmal. Genau deswegen, so legt der
Bericht nahe, handelte es sich um eine "sehr schöne" Geschichte.
Schauen wir genauer hin, wie das Urteil formuliert wird. Abgesehen vom
Titel erfahren wir nichts Substanzielles über Handlung, Figuren,
Szenerie, Botschaft der Geschichte. Für die Befragte scheint die
Lektüre einzig relevant unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefühle, die beim
Lesen und beim Nachsinnen über das Gelesene entstanden (und vielleicht
immer neu entstehen). Schön - Freude daran gehabt - sehr schön -
traurig - noch trauriger - sehr schön - so verläuft die Kette der
Prädikate, die den Text charakterisieren. Sie bezeichnen sämtlich
Empfindungen, die mit der Rezeption verknüpft waren, und "schön"
scheint die gehobene, freudige Gestimmtheit zusammenzufassen, die die
junge Berlinerin verspürt hat - eine Konstellation starker angenehmer
Gefühle, die wir als emotionales Korrelat einer ästhetischen Erfahrung
verstehen können.
Die Suche nach Erfahrungen, die Menschen als schön empfinden, und der
Genuss solcher Erfahrungen bilden eine erstrangige Determinante des
Alltagshandelns von Menschen in westlichen Industriegesellschaften. Die
subjektive wie soziale Bedeutung des Strebens nach ästhetischem
Erleben/3/ hat im Laufe des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der
zweiten Hälfte, außerordentlich zugenommen. Das "Projekt schönen
Lebens", wie es der Kultursoziologe Gerhard Schulze bezeichnet, bildet
mittlerweile eine Grundorientierung alltäglicher Praxis - und wird in
den Sozial- und Kulturwissenschaften auf problematische Weise verkannt.
Das sind einige der Thesen, die der folgende Beitrag umkreist.
I.
Methode: Banausentum
Als erstes ein Wort zur Methodik. Wie sollte sich eine akteurs- und
alltagsorientierte Kulturwissenschaft dem diffusen Phänomen des Schönen
nähern? Der Sozialanthropologe Alfred Gell/4/ hat dafür ein Prinzip
formuliert, das mir unabdingbar erscheint; er nennt es
"methodologisches Banausentum" ("methodological philistinism"). Damit
ist gemeint: Der Forscher und die Forscherin müssen alle Vorstellungen
über Wert und Leistungen von Schönheit und Kunst abstreifen, die den
Inhalt der Ästhetik als Lehre vom Schönen bilden. Gells Vorbild ist die
Soziologie der Religion; sie kann, wie Peter Berger/5/ zwingend
dargelegt hat, weder von Gläubigen noch von Theologen betrieben werden;
wissenschaftliche Analyse ist nur dem möglich, der an den Glauben als
"methodologischer Atheist" herantritt. Nur von dieser Position aus kann
man fragen, was religiöse Systeme für Menschen leisten und was Menschen
eigentlich tun, wenn sie an Transzendentes glauben.
Entsprechend sagt Gell: Wenn wir herausfinden wollen, was Kunst tut,
das andere Dinge nicht tun, und was Menschen tun, wenn sie die
Fähigkeit von Kunst zur Verzauberung empfinden, dann müssen wir zuvor
alles ästhetische Wissen in uns zum Schweigen bringen - denn Ästhetik
ist die "Theologie der Kunst". Und das gilt konsequenterweise auch für
die Untersuchung jener Schönheitserfahrungen, die nicht durch Kunst
ausgelöst werden.
So weit, so gut. Bleibt nur ein kleines Problem: Es gibt in der
wissenschaftlichen Community Atheisten - aber es gibt keine Banausen!
Man kann in unserer Kultur Intellektueller und Atheist sein, aber nicht
Intellektueller und Banause. Damit ist Gells Argument jedoch nicht
widerlegt. Ich werde daher im Folgenden versuchen, mich ein wenig im
methodologischen Banausentum zu üben./6/
Dazu möchte ich zunächst veranschaulichen, welche Beobachtungen mich
zur - eingestandenermaßen etwas pathetisch formulierten - These vom
wachsenden 'Hunger nach Schönheit' gebracht haben. Da sind keine neuen
Kontinente zu entdecken; ich schlage einen veränderten Blick auf Dinge
vor, die den Sozialwissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg vertraut
sind, vielleicht zu vertraut. Wer so etwas tut, muss erklären, welche
Vorteile, welchen Erkenntnisgewinn die neue Sichtweise verspricht. Das
soll im zweiten Teil (III. und IV.) geschehen, und im Kern muss es
dabei um die Frage gehen: Wie kann die ästhetische Dimension
westlich-moderner Lebensführung gefasst werden, damit sie das
Verständnis unseres Alltags vertieft?
II.
Hunger nach Schönheit
Wie also zeigt sich Hunger nach Schönheit? Der durchschnittliche
Deutsche verbrachte 2003 pro Tag mehr als acht Stunden mit den Medien,
davon fast sechs mit Radio und Fernsehen; 1970 wurden den Medien
insgesamt noch keine vier Stunden gewidmet./7/ Konservativ geschätzt
heißt das, wir konsumieren heute fünf Stunden täglich Kunst: Musik,
Popvideos, Fernsehspiele, Krimis, Kinofilme, Gerichtsshows und
TV-Serien. Ich rede noch gar nicht über Werbespots, Computerspiele,
Schausport, Illustriertenfotos, Fortsetzungs- und Fotoromane,
Erzählungen, Comics, dickleibige Schmöker und all die anderen populären
Genres, die Sinne, Gemüt und Intellekt erfreuen.
Damit nicht genug. Auch die moderne akademische Ästhetik ortet die
Quellen für Schönheitserfahrung nicht mehr nur in Kunst, also in
Objekten, die primär für diesen Zweck produziert wurden. Mittlerweile
gilt alles, was zur Wahrnehmung in der ganzen Breite unserer
sinnlichen, emotiven, imaginativen Vermögen gehört, als möglicher
Gegenstand ästhetischer Erfahrung (und wissenschaftlichen Studiums).
Die langsame Abwendung von einer Theorietradition, deren vornehmste
Funktion es seit Kant war, "die Konversation über Kunstwerke zu
ermöglichen"/8/, reagiert auf die allseits konstatierte, überwiegend
beklagte "Ästhetisierung der Lebenswelt". Da hat sich nun wirklich im
letzten halben Jahrhundert Überwältigendes getan. Wir umgeben uns mit
immer mehr Dingen und schaffen ständig neue Inszenierungen, die immer
reizvoller gestaltet und mit ständig wachsender Überlegung ausgewählt
werden. Das gilt für Ladenpassagen und Erlebnisbäder wie für Kleidung
und Wohnungseinrichtung.
Es fehlen leider Ethnografien des Einkaufens, die darstellen, welcher
Zeit- und Denkaufwand heute in die Entscheidung für eine neue Sitzecke,
ein Sakko oder eine Kaffeemaschine einfließt. Welches der vielen
Modelle gefällt, passt zur Wohnungseinrichtung, zum Selbstbild? Haben
wir nicht bei Freunden ein ganz schickes Modell gesehen? Wollen wir
nicht mal im Alessi-Shop schauen? Die schönen Dinge, die Freude, die
sie bereiten durch sinnliche Anmutung (Farbigkeit, Material,
Oberflächenbehandlung) und prägnante Gestalt, und der emotionale und
reflexive Aufwand, den man in die Auswahl investiert/9/ - das sind in
meinen Augen Argumente für die These, dass das Streben nach immer mehr
und stets intensiverer ästhetischer Erfahrung seit Jahrzehnten zu den
primären Handlungsmotiven westlich-moderner Lebensführung zählt.
Besonders eindrucksvoll ist, dass Bereiche der Sachkultur, die nicht
zum Repräsentieren taugen und daher lange Zeit rein funktional, ohne
jeden Gedanken an ihre sinnliche Erscheinung, gestaltet wurden,
sukzessive in den Sog der Ästhetisierung geraten. In der modernen
Arbeitswelt sind das etwa Bildschirmschoner - mittlerweile fast ein
eigenes Genre populärer Kunst/10/ - oder Unterlagen für die
Computermaus./11/ Ein schlagendes Beispiel für den ästhetischen horror
vacui, der nichts in unserer dinglichen Umwelt ungestaltet lassen kann,
der verlangt, die möglichen Wahrnehmungsqualitäten der Alltagsdinge
auszureizen, sind Kondome. Ich rede nicht von der Verpackung, sondern
von den Verhüterli selbst. Es fällt schwer, dem Kunden, der hier aufs
Design achtet, Statusrepräsentation oder Distinktion zu unterstellen -
die Öffentlichkeit, die er mit seinem Geschmack beeindrucken könnte,
ist doch recht klein. Es ist die Lust an der farblichen Abwechslung und
am Reiz der sexuellen Imagination, die den ästhetischen Mehrwert
gegenüber dem farblos-medizinisch anmutenden klassischen Präservativ
ausmacht. Das nutzt mit großem Erfolg die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung bei der Werbung für den Kondomgebrauch;
"Bunte Abende - Mach's mit", empfahl jüngst eine Kampagne./12/
Ich springe zur Verallgemeinerung. Im Lauf des 20. Jahrhunderts,
gesteigert mit der Wohlstandsdynamik seit den 1950ern, ist es für die
EuropäerInnen (wie, mutatis mutandis, für Menschen in anderen Regionen
auch) Bedürfnis und Gewohnheit geworden, Gegenstände und Tätigkeiten
des gewöhnlichen Lebensvollzugs 'schön' einzurichten: sinnlich reizvoll
und emotional ansprechend, in prägnanter, gefälliger Gestalt und
aufgeladen mit symbolischen Botschaften, die dem Dasein eine Dimension
jenseits der Alltagspragmatik verleihen. Gesucht und genossen wird, was
den Sinnen schmeichelt, was Auge und Ohr, Geruch und Tastsinn bezirzt,
und ebenso jene mentale Auseinandersetzung mit der Welt, die Kunst auch
in ihren populärsten Genres anbietet. Mit sozialer Naturgewalt hat sich
das Bedürfnis ausgebreitet; inzwischen trägt es elementaren Charakter:
Wollte man es uns verweigern, wir würden vertrocknen wie eine Pflanze
ohne Wasser. Kaum eine Entscheidung, in die nicht ästhetische Ansprüche
einflössen. Und wo die Basics der ökonomischen und physischen
Reproduktion gesichert sind, da orientiert sich die Lebensführung
zunehmend an Gesichtspunkten der Schönheit - nicht selten und durchaus
bewusst auch zu Lasten von Funktionalität und ökonomischer Rationalität.
Seifenopern, Dudelfunk beim Hausputz, Werbung, Hits bei den
Schulaufgaben, Krimiserien - was hat denn das mit Kunst zu tun?! Hat
nicht Karl Heinz Bohrer gewarnt vor dem Terror der
Fußgängerzonen-Ästhetik, der das Land bedrohe?/13/ Hat nicht Wolfgang
Welsch den Effekt der flächendeckenden Verhübschungsfeldzüge als
An-Ästhetisierung charakterisiert, als Desensibilisierung für
sinnlich-gestalterische Qualitäten?/14/ Wenn überall verschönert wird,
was kann dann die Erfahrung des alltäglich Schönen noch bedeuten?
Eine gute Frage! Denn wirklich bewegen sich viele der genannten
Beispiele im Bereich der elementaren Ästhetik, also eines vorreflexiven
Wohlgefallens. Auf diese Unterscheidung wird weiter unten eingegangen.
Hier zunächst eine grundsätzlichere Antwort in drei Teilen. Erstens:
Wenn Ästhetisierung (oder auch Verhübschung) der Alltagswelt dazu
führt, dass restlos alles schön und ansprechend daherkommt, dann mag
man das bedauern aus der Perspektive einer Theorie, für die ästhetische
Erfahrung den Charakter des Außergewöhnlichen haben muss, um den
Menschen wirklich zu ergreifen. Wo alles schön ist, hat aus dieser
Sicht die Kategorie des Schönen keinen Sinn mehr, da sie keinen
Unterschied macht. Wer so argumentiert, bestätigt aber die These vom
allgewaltigen Hunger nach Schönheit - auch wenn er die Konsequenzen
beklagt.
Zweitens sollte man statt von Bedürfnis wohl mit Gernot Böhme von
ästhetischem Begehren sprechen. Bedürfnisse werden irgendwann
gesättigt, Begehrungen "werden durch ihre Befriedigung nicht gestillt,
sondern gesteigert."/15/ Alle Versuche des vergangenen Jahrhunderts,
den Hunger nach Schönheit zu stillen, haben ihn nur genährt. Er wird
die Menschen auch zukünftig nicht weniger, sondern mehr umtreiben, und
gerade deswegen bildet er, in welchen Ausdrucksformen auch immer, einen
Basistrend europäischer Moderne.
Drittens und vor allem: Wer sich an der Massivität des Phänomens stößt,
der ist noch weit davon entfernt, ein rechter Banause zu sein. Er ist
nicht fähig zur ethnografischen Annäherung an das Ästhetische im Alltag
der Vielen, zur Beschreibung aus emischer Sicht und zum Versuch, das
Beobachtete aus dem Sinnhorizont der Akteure zu interpretieren./16/
Denkansätze
Ansätze zu solchen Lesarten gibt es durchaus schon. Ich will eine
relativ frühe zitieren und damit wenigstens andeuten, in welchem
Zeitraum ich den Beginn des spezifisch modernen Hungers nach Schönheit
in Deutschland verorte: um 1900, als Produktion und Gebrauch von
preiswerten industriellen Alltagsgütern wie von Kunst-Waren Teil der
Lebensführung von Massen wurden./17/ Pfingsten 1902 hielt Heinrich
Wolgast, Volksschulrektor und engagierter Vorkämpfer ästhetischer
Erziehung, auf der Deutschen Lehrerversammlung einen Vortrag, in dem er
auf die neue Entwicklung hinwies.
"Gehen Sie in die Tanzlokale und Musikhallen, in die Theater und
Museen, sehen Sie sich die Wohnung und die Kleidung selbst der Armen
an, und Sie werden finden, daß sich überall ein unwiderstehlicher Drang
nach Freude kundgibt. Gehen wir dieser Freude auf den Grund, so finden
wir, oft zu unserem Entsetzen, die Freude an der Kunst. Aber in welcher
Zerrgestalt! Der geschmacklose Flitter der Kleidung, der traurige
Oeldruck an der Zimmerwand, die Musik des Bierkonzerts und
Tingeltangels, das Schauerdrama und der Schauerroman - das alles
empfindet die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes als Kunst! Was
uns Ekel bereitet, wird als Lust empfunden. Dieser Unterschied im
Empfinden teilt unser Volk in zwei Nationen, die sich nie verstehen
werden."/18/
Ich bewundere, wie Wolgast hier die Scheuklappen des
Gebildeten-Ethnozentrismus abstreift. Und ich weigere mich zu
akzeptieren, dass die von ihm charakterisierte Geschmacksgrenze
analytisch unüberwindlich sein soll; immerhin ist ja inzwischen das
Ideal des methodologischen Banausentums formuliert.
In der neueren Sozialwissenschaft tritt zweifellos Gerhard Schulze am
energischsten dafür ein, das moderne "Projekt schönen Lebens" ernst zu
nehmen. Im Kontext seiner Globaldiagnose einer "Ästhetisierung des
Alltags" konstatiert er das durchgängige Streben der Mitglieder unserer
Gesellschaft, Schönes zu erleben, und er versteht unter dem Schönen
eine vom Subjekt produzierte angenehme Erfahrung - die auch ins Bügeln
oder Biertrinken hineingelegt werden könne./19/ Das lässt nun jeder
Überhöhung des Schönen, jedem Versuch, es als Ausdruck von Wahrem und
Gutem zu adeln (oder darauf zu verpflichten, was diskursbestimmende
Gruppen als Moral und Wahrheit definieren), die Luft heraus./20/ Ob
eine derart weitgehende Subjektivierung und Ausdehnung des Schönen
analytisch sinnvoll ist, darüber muss man diskutieren. Aber eine
Auszeichnung als methodologischer Banause ist Schulze sicher.
Das Kompensations-Paradigma
Hauptstreitpunkt ist allerdings heute nicht mehr, ob Alltage zunehmend ästhetisiert werden. Der Streit der Paradigmen geht darum, wie das Begehren nach Schönem zu interpretieren
ist. Das herrschende Deutungsmodell basiert auf tiefsitzendem, geradezu
fundamentalistischem Misstrauen gegen die Möglichkeit ästhetischen
Erlebens im Alltag von Massen. Je häufiger Genuss und Freude am Schönen
empirisch bezeugt werden, desto stärker das Bemühen, solche Erfahrung
kleinzuargumentieren: als illegitim, uneigentlich, als Betrug und
Selbstbetrug - als alles Mögliche, nur nicht im substanziellen Sinn
ästhetisch.
Die Weltsicht, die sich hier artikuliert, ist zweifach unvereinbar mit
dem Selbstbild westlicher Moderne./21/ Sie beruht auf der
säkularisierten Vorstellung vom irdischen Jammertal./22/ Die Welt ist
schlecht oder falsch eingerichtet, ungerecht und ausbeuterisch, im
Griff zynischer und skrupelloser Machtpolitik, das Leben in ihr
unauthentisch und entfremdet, bedroht vor allem von der sinnlichen
Begehrlichkeit/23/ des Menschen. Die radikal moderne Autonomisierung
des Schönen gegenüber dem Wahren und Guten wird mit moralischem Gestus
zurückgenommen. Adornos Diktum, es gebe kein wahres Leben im falschen,
muss herhalten, um den angeblich naiven Genuss des Schönen zu
diskreditieren - noch dazu, wenn es die Benachteiligten, vermeintlich
der Entfremdung Verfallenen sind, die sich daran delektieren.
In Brechts "An die Nachgeborenen" aus dem Jahr 1938 heißt es: "Was sind
das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist /
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!" Der kluge
Dichter klagt die Verhältnisse an, nicht jene, die sich vielleicht an
blühenden Bäumen erfreuen. "... fast ein Verbrechen": Brecht hütet
sich, den Alltag total unter das moralische Gebot zum Widerstand oder
zum rigorosen Bekennen der Wahrheit zu stellen. Doch obwohl seither
Philosophen und Sozialwissenschaftler einiges formuliert haben zum
Charakter der Lebenswelt, in der logisch unvereinbare Bezugssysteme für
Handeln und Denken nebeneinander koexistieren und situativ je nach
Kontext angewendet werden, in der die modernen Alltagsmenschen nach
bereichsspezifischen Ethiken handeln - trotzdem agieren weite Bereiche
der Wissenschaft und ebenso jene, die als Intellektuelle die Rolle des
kollektiven sozialen Gewissens beanspruchen, als eine Art ästhetische
Seuchenpolizei. Wo sich ungetrübte Freude an Massenkünsten und schönen
Dingen zeigt, da ziehen sie um den Ansteckungsherd sofort einen cordon
sanitaire aus warnenden und relativierenden Interpretationen. Die
Gesunden und die vom Virus des Vergnügens Befallenen müssen durch
Aufklärung davor geschützt werden, dass sich aus ästhetischem Genuss
die Krankheit falschen Einverstandenseins mit der Welt, erzwungener
Versöhnung mit Leid und Ungerechtigkeit, süchtiger Realitätsverkennung
entwickelt.
Hier kommt das zweite Apriori des herrschenden Paradigma ins Spiel:
Legitimer ästhetischer Genuss ist nur besonders qualifizierten Geistern
an besonders qualifizierten Gegenständen möglich. Als Eintrittskarte in
den Klub gilt der Ausweis kritisch differenzierter sprachlicher
Reflexion der eigenen Erfahrung. Wer nur Tränen vergießt, wer nichts
anderes tut, als ein Musikstück -zigmal zu hören, wer sein Wohlgefallen
nur in den Formeln "voll krass", "wunderschön", "super", "echt
spannend" zu artikulieren vermag, der disqualifiziert seine Erfahrung
damit selbst - und sei es auch ein Stück von Mahler oder Mozart, das
die sprachlosen Gefühle auslöste./24/
Argumentativ präsentiert sich die herrschende Deutung als
Kompensations-Paradigma. Beglückender ästhetischer Erfahrung der
Alltagsmenschen im Alltag wird die Qualität interesselosen
Wohlgefallens, selbstzweckhaften und sich selbst genügenden Genusses
abgesprochen, indem man ihr allerlei Funktionen des Ersatzes
zuschreibt. Schönheitserleben dieser Art kompensiere existenzielle
Defizite. Entfremdete Freude am Warenschönen ersetze eigentliches,
tiefes, echtes, dauerhaftes Lebensglück; glänzender Schein und
kitschige Pseudogefühle hälfen über den tristen Alltag und das Erleiden
von Unterprivilegierung hinweg; Gefühlsrausch und Konsum überdeckten
die Leere des Daseins; Umgang mit Kunst und schönen Dingen diene der
Statuserhöhung und der Distinktion; populäres Vergnügen sei Ersatz für
die Erfahrungen, die jene große Kunst vermittelt, die den einfachen
Leuten leider bildungsmäßig verschlossen bleibe.
Dominierend ist der Ton herablassenden Verständnisses für die, die das
Leben hart anpackt. Am lautesten wird der Subtext moralischen Vorwurfs,
wenn es um Kunst und Schönheit in Warenform geht. Wolfgang Fritz Haug
hat in seinem erfolgreichsten Buch, der "Kritik der Warenästhetik"/25/
marxistisch (und dialektisch differenziert) formuliert, was
Konservative, Kulturkritiker und volkserzieherische Reformer in
Deutschland seit den Anfängen industriekapitalistischer Produktkultur
bewegt hat: dass der schöne Schein der Warengestalt nur den unbedarften
Käufern das Geld aus der Tasche ziehe und ihre Fähigkeit zerstöre, die
ehrliche Form und die wirklich guten Dinge zu erkennen.
Nun bin ich der Letzte, diesen Lesarten einen treffenden Kern
abzusprechen; sie enthalten mehr als ein Körnchen Wahrheit. Sie
schaffen jedoch ein schwerwiegendes Problem. Sie leugnen - sie
übersehen nicht, sie leugnen die Möglichkeit einer eigenständigen, sich
selbst genügenden, um ihrer selbst willen und nicht zu anderen Zwecken
gesuchten ästhetischen Erfahrung im Alltag, einer Erfahrung, die eine
eigene Geschichte hat und die vielleicht anderen Logiken und anderen
Maßstäben folgt als denen der intellektuell anerkannten Ästhetik -
einer banausischen Logik und banausischen Maßstäben.
Das Leugnen hat eine sozialmoralisch bedenkliche Implikation, insofern
es den meisten Mitbürgern eine Kompetenz abspricht, die der auch nur
vergleichbar wäre, die wir uns Gebildeten zusprechen: die Kompetenz zu
ästhetischer Erfahrung sensu strictu. Dieser Hinweis ist kein Argument;
man kann ja auch Recht haben, wenn man jemand eine Fähigkeit abspricht.
Aber dann müsste man sich vorher ernsthaft - ethnografisch! - darum
bemüht haben, diese Fähigkeit nachzuweisen. Und genau hier liegt in
meinen Augen das wissenschaftliche Skandalon: in der Ausgrenzung einer
möglichen Forschungsrichtung.
Keine Tätigkeit des Alltags hat nur eine Funktion, alle sind
überdeterminiert und polyvalent, wechseln Sinn und Bedeutung mit dem
Kontext und mit der Fragerichtung des Betrachters. Akzeptieren wir also
einmal die Lesart von Kompensation und Ersatz; dann bleibt immer noch
zu fragen, welcher Art denn die besonderen Gratifikationen sind, die
Massenkunst und schöner Tand vermitteln. Schließlich gibt es viele
Optionen für Realitätsflucht und Verdrängung von Leid. Wieso Pilcher
und nicht Pilsner, Opium
statt Opium? Für den Gesellschaftskritiker ist das irrelevant; ihn
interessiert vor allem, was in solchen Erfahrungen des Schönen nicht
thematisiert wird. Die Akteure des Alltags hingegen interessiert, was
sie für dieses Erlebnis tun müssen und was es ihnen bringt - und wenn
die Kompensationstheoretiker Recht haben, dann muss die Erfahrung des
Schönen immerhin solche Energien freisetzen, dass Menschen bei klarem
Verstand eine bedrängende Wirklichkeit auf Distanz halten, ja sogar
vergessen können. Kompensation ist schließlich nichts, was einem
zufällt, sie ist Ergebnis einer Leistung; Hermann Bausinger hat sogar
einmal erwogen, man könne Kultur überhaupt mit guten Gründen als
Ergebnis von Kompensation verstehen.
Also: Das Kompensationsparadigma hat in seinem Zentrum eine black box;
es behandelt die spezifischen Gratifikationen von Massenkunst und
Konsumschönem als irrelevant und erklärt es für unnötig, die Qualität
der supponierten ästhetischen Erfahrung aufzuhellen. Doch neben all den
tröstenden und tünchenden Funktionen, die der alltägliche Umgang mit
Kunst und Schönheit haben kann, vermittelt er eine einmalige, durch
nichts zu ersetzende Erfahrung, die um ihrer selbst willen gesucht und
genossen wird; so leistet er etwas, das keine andere Tätigkeit leistet.
Vorschläge, die als Arbeitshypothesen dienen könnten, gibt es durchaus.
Für Gernot Böhme etwa will der Mensch durch Schönes "sein Leben
intensivieren und sein Lebensgefühl steigern"; und John Dewey denkt in
eine ähnliche Richtung, wenn er in seiner Ästhetik von Steigerung des
"unmittelbaren Daseinsgefühls" und glückerfüllten Augenblicken
"intensivsten Lebens" spricht./26/ Das sind noch keine befriedigenden
Antworten auf die Frage, was denn die populäre ästhetische Erfahrung
ausmacht, und manchen mögen sie vitalistisch, unkritisch und inkorrekt
klingen; aber es sind, so scheint mir, ganz gute Anregungen für
methodologisches Banausentum.
Abschließend zu diesem Teil noch ein Blick auf die
Volkskunde/Europäische Ethnologie. Sie hat bei ihrer
Ver(sozial)wissenschaftlichung im dritten Quartal des vorigen
Jahrhunderts das Kompensationsparadigma übernommen und die Untersuchung
der alltäglich-populären ästhetischen Erfahrung weithin ausgespart.
Zwar läge bei klassischen Untersuchungsfeldern wie Sachkultur,
Volkskunst, -lied, -erzählung, Lesestoffen, Märchen, Wandschmuck und
Medien die Frage nicht so fern, was Menschen hier warum schön finden;
doch weder das Standardwerk zu den Methoden der Volkskunde noch die 3.
Auflage des "Grundrisses" enthalten im Register die Stichworte Ästhetik
oder Schönheit; einzig über die "Ästhetisierung des Essens" erfahren
wir, dass Mahlzeiten als Indikator von Lebensstilen fungieren./27/
Helge Gerndts Feststellung, "dass in der Volkskunde über das Schöne
explizit wenig gesprochen wird"/28/, muss man absolut zustimmen.
Hier sei nur ein Beleg für den blinden Fleck im Auge des Volkskundlers
angeführt. Eine neue, gut gemachte Monografie zum Thema Kleinbürger
enthält ein Kapitel zur "Alltagsästhetik"; die wird resümiert unter dem
Begriff der "funktionalen Ästhetik": "Alles, was zu sehen war,
schmückt, passt sich ein, dekoriert, dokumentiert, füllt Flächen,
demonstriert, funktioniert als Signal ... : Es ist schön, weil es
nutzt."/29/ Eigentliche ästhetische Erfahrung, so erfährt man hier
immer noch, kennen Kleinbürger nicht.
Eine knappe Zwischenbilanz: Dass für die WesteuropäerInnen des 20.
Jahrhunderts Schönes (populäre Kunst, Dinge des Alltags und gestaltete
Umwelten) eine ständig wachsende und mittlerweile erstrangige Rolle
spielen - gemessen in Zeit- wie in Geldeinheiten, die dafür aufgewendet
werden -, kann man auf zweierlei Weise interpretieren. Als Kompensation
für das, was den Menschen eigentlich fehlt; dann ist ästhetische
Erfahrung entweder Ergebnis manipulativen Zugeschüttetwerdens oder
Mittel zu einem Zweck, der außerhalb liegt: Verdrängung, Betäubung,
Flucht, Statusdemonstration. 'Hunger nach Schönheit' meint, dass die
Entwicklung aus der Perspektive der Alltagsakteure einen eigenständigen
Kern hat, der sie trägt und an den die Funktionalisierungen nur
anlagern; im Zentrum steht die angenehm und bereichernd empfundene
ästhetische Erfahrung, die ihren Wert und ihren Sinn in sich selbst
hat. Die Zwecke, die sich anhängen, wären auch mit anderen Mitteln zu
verfolgen. Nicht sie sind für die Dynamik, ja Unentbehrlichkeit
verantwortlich, sondern die Lebenssteigerung, die der Umgang mit dem
Schönen erschließt. Immer wichtiger für Alltagspraktiken wie für
biografische Entscheidungen wird der selbstbestimmte Mix von Sinn und
Sinnlichkeit, die Suche nach Schönheit und ästhetisch vermittelter
Selbst- und Welterfahrung. Das Projekt schönen Lebens ist als
erstrangige Sinnressource in der Massendemokratie etabliert.
III.
Ästhetische Erfahrung: Definitorisches
Wer diese Sicht vertritt, muss sich auseinandersetzen mit einer
geradezu überbordenden Literatur, die dem alltäglichen Umgang mit
populärer Kunst und gestalteter Umwelt die Qualität des Ästhetischen
abspricht - gemessen an den Normen einer philosophisch begründeten,
kunstzentrierten Theorie. Da bieten sich drei Argumentationsstrategien
an. Erstens könnte man versuchen nachzuweisen, dass der anerkannte
Umgang mit kanonisierten ästhetischen Objekten ebenfalls nur in
Ausnahmefällen die Ansprüche der Theorie erfüllt; Mittel wären
ethnografische Studien zum Hochkulturpublikum und seinen
Aneignungsweisen (die bislang interessanterweise kaum vorliegen)./30/
Zweitens könnte man versuchen zu belegen, dass die ästhetische
Erfahrung der Alltagsmenschen durchaus die Kriterien der etablierten
ästhetischen Kritik erfüllt, wenn man nur der Spezifik der Genres und
der Aneignungsbedingungen Rechnung trägt./31/ Drittens könnte man
versuchen, die Konturen einer alltagsintegrierten Ästhetik zu
entwickeln, die wenigstens teilweise durch Erfahrungsmodi,
Wirkungsweisen und Qualitätsmaßstäbe sui generis bestimmt ist.
Ich bin überzeugt, dass man alle drei Wege mit Erfolg beschreiten kann.
Volkskundliche Kulturwissenschaft sollte das schon deshalb tun, weil
ein Modell von 'zwei Ästhetiken' - bürgerlich vs. popular, gebildet vs.
ungebildet - nach dem Muster der bis in die 1970er attraktiven 'Zwei
Kulturen'-Theorie unsere Gesellschaft sicher nicht trifft. Nach einigen
Bemerkungen zum zweiten Aspekt will ich mich an dieser Stelle auf den
dritten konzentrieren.
Zunächst jedoch zur Begrifflichkeit. Wohl kaum noch jemand wäre heute
so vermessen, Schönheit definieren zu wollen. Die Kategorie soll hier,
im Anschluss an die Umgangssprache, alles bezeichnen, was ästhetisch
positiv erfahren wird./32/ Das schließt für die Alltagsmenschen/33/ das
Vergnügen an Gegenständen ein, die nicht gefällig, leicht verdaulich,
heileweltmäßig daherkommen. Auch die populäre Kunst kennt das
ästhetische Vergnügen am Hässlichen, Erschreckenden, Maßlosen - an dem,
was Kant das Erhabene nennt. Man denke an Genres wie Horror und
Splatter; und angesichts geradezu entfesselter Spezialeffekte, deren
Wirkung auf den Betrachter auch durch ein aufgesetztes happy ending
nicht heruntergepegelt wird, kann man Katastrophen-, SF-, Actionfilmen
und selbst der Massenspeise Krimi (ab und zu) die Darstellung jenes
unvergleichlich Maßlosen zusprechen, das unserem Darstellungsvermögen
unangemessen und "gewalttätig für die Einbildungskraft" erscheint und
so die Empfindung des Erhabenen erweckt. Wir genießen hier, in Kants
Worten, "negative Lust": "durch das Gefühl einer augenblicklichen
Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren
Ergießung derselben"./34/
Was meint ästhetische Erfahrung? Zunächst einmal, dass Ethnografen sich heraushalten aus der Debatte, was objektiv
schön sei. Ihren Gegenstand bilden Phänomene, die mit bestimmten
Dimensionen menschlicher Praxis verbunden sind. Das griechische aisthesis
bezeichnet sinnliche Erkenntnis, als Einheit von sensueller Wahrnehmung
und emotionaler Bewertung. In diesem Sinn betrachtet die neuere
ästhetische Debatte, auf der die folgenden Überlegungen basieren, "alle
Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse ... als potenziell
ästhetisch"./35/ Gábor Paál etwa ist überzeugt,
"dass die ästhetischen Kriterien, anhand derer wir Kunst beurteilen,
nicht grundsätzlich andere sind als die zur Beurteilung von
Landschaften, politischen Ereignissen, wissenschaftlichen Theorien und
alltäglichen Gebrauchsgegenständen."/36/
Darüber wird zu diskutieren sein; aber als heuristische Prämisse für
methodologisches Banausentum scheint der Ansatz allemal hilfreich.
Es geht mithin um Phänomene in der gesamten Breite menschlicher, d.h.
sinnlicher Wahrnehmung - insofern sie zwei Bedingungen erfüllen. Sie
werden zum einen emotional positiv bewertet, d. h., sie lösen beim
Rezipienten angenehme Empfindungen des Wohlgefallens aus; Kant spricht
von "Lust", Paál von "ästhetischer Euphorie" als einem übergeordneten
psychischen Zustand, der Gefühle, Affekte, Erlebnisse positiv
markiert./37/ Zweitens werden solche Wahrnehmungen unwillkürlich
oder/und willkürlich verknüpft mit Bedeutungsgebilden: durch
Erinnerung, Sinnzuweisung, tagträumenden Flug der Einbildungskraft,
Verallgemeinerung, Vergleich usw.
Ausgeschlossen von der Qualifizierung als ästhetisch relevant sind nach
dieser Bestimmung nur rein somatische Lustempfindungen - aber sonst
zugegebenermaßen wenig. Dieses Problem ist nicht zu vermeiden, wenn man
einen subjektorientierten Zugang wählt (und etwas anderes wäre nach der
konstruktivistischen Wende nicht mehr ernst zu nehmen): Wir betrachten
Schönheit nicht als Eigenschaft oder Effekt von Objekten, sondern
übersetzen die alltagssprachliche Aussage "X ist schön" in die
analytisch angemessene Fassung "Es ist schön für mich, X zu
erleben"./38/ Ästhetische Erfahrung wird aus dieser Perspektive
gebunden an eine spezifische Rahmung oder Kontextualisierung durch den
Wahrnehmenden: Die Wahrnehmung wird in einen Zusammenhang gestellt, der
es ermöglicht, sie als schön zu bewerten./39/ Die Verabredung Kunst
beispielsweise schafft einen solchen Kontext, der sogar Mord und Gewalt
ästhetisiert; Rahmungen wie "Recht geschieht's Ihnen", "Das musste ja
so kommen" oder "Gut, dass es uns nicht erwischt hat" machen es
möglich, auch die Schreckensbilder des 11. September 2001 als schön zu
empfinden. Solche Rahmung muss nicht bewusst vorgenommen werden; man
kann 'von etwas Schönem überwältigt, in Bann geschlagen' werden (wie
unbefriedigend die Metapher auch sein mag).
Paál schlägt vor, die Spezifik des ästhetischen Wohlgefühls an das
Bewusstsein zu knüpfen, "was wir schön finden und dass wir es schön
finden." Dazu müsse man die Vorstellung einer Differenz haben, die die
positiv bewertete Qualität der Erfahrung von einer anderen Qualität
unterscheide. Sein Beispiel: Wir finden ein sauberes Glas nur schön,
insofern wir es von einem schmutzigen absetzen./40/
Man sieht, es ist für den banausischen Zugang nicht einfach,
ästhetische Erfahrungen von anderen Phänomenen einer als angenehm
empfundenen Wahrnehmung abzugrenzen. Man wird sehen, ob die Bedingungen
der Bedeutungshaltigkeit und der Bewusstheit sich heuristisch bewähren.
Ich greife die Frage später wieder auf. Hier soll zunächst noch auf die
Kategorie Erfahrung eingegangen werden.
Als Denkanstoß, wie und warum das ethnografische Studium des
Ästhetischen einen bestimmten Typ von Erfahrung zum Zentrum nehmen
könnte, dienen mir Überlegungen des pragmatistischen amerikanischen
Philosophen John Dewey. Seine Studie "Art as Experience"/41/ entwickelt
eine dezidierte Gegenposition zur traditionellen werkorientierten
Ästhetik. Auch Dewey ging der Frage nach, was denn Kunst ausmache; aber
er suchte die Antwort nicht in irgendwelchen Objekteigenschaften,
sondern in der besonderen Qualität der Erfahrung, die an
Kunstgegenständen gemacht wird und sie eigentlich erst als solche
konstituiert.
Von Kunst kann man nach seiner Auffassung erst sinnvoll sprechen, wo
Menschen eine Erfahrung eigener Art machen - nicht im passiven Sinn,
dass etwas mit jemandem geschieht, sondern im aktiven Sinn des
Erfahrens als Tätigkeit, deren Produkt die Erfahrung ist. Ästhetische
Erfahrung ist unter anderem dadurch bestimmt, dass sie aus dem Getriebe
des Alltags herausragt und heraushebt; aber dennoch bleibt sie mit ihm
verbunden, sie gehört keinem völlig anderen, getrennten Bereich des
Handelns und Denkens an. Diese Sicht gründet in Deweys Verständnis von
Vergnügen oder Gefallen (pleasure) als keineswegs trivial.
Selbstverständlich gebe es auch ein Vergnügen am Erkennen und formalen
Analysieren. Aber dies könne kein legitimes Kriterium für ästhetischen
Genuss darstellen; denn vorrangiges Ziel menschlichen Strebens sei nun
einmal sinnliche und emotionale Befriedigung, nicht Wahrheit.
Konkreter charakterisiert Dewey ästhetische Erfahrung als eine
herausgehobene und relativ geschlossene Einheit psychischer
Empfindungen und Aktivitäten. Sie trägt kumulativen Charakter und
strebt einer Erfüllung zu, indem man sich ergreifen lässt und selber
dynamisch einbringt. Energien und Bedeutungen werden organisiert in
Richtung auf Integration und Erfüllung, wobei eine befriedigende
Gefühlsqualität gegeben sein muss. Eine derartige Erfahrung hebt sich
weit über die Wahrnehmungsschwelle hinaus, sie wird um ihrer selbst
willen geschätzt und gesucht. Ihre Kraft macht es möglich, gewohnte
Bedeutungen zu missachten und so konventionelle Grenzen zu überwinden.
Deweys Ansatz hat zweifellos eine vitalistische Färbung; mit der
Betonung von Energie, Dynamik, Integration und kraftspendender
Befriedigung zielt er auf eine Gestalt ästhetischer Erfahrung, die als
lebenssteigernde Verdichtung und Erhöhung elementarer Lebenskräfte
konzipiert ist. Dennoch öffnet er den Blick für die ästhetischen
Momente im Alltag.
Künste und andere Schönheiten
Die bisherigen Überlegungen haben zu einer extrem weiten
Anfangsdefinition ästhetischer Erfahrung geführt. Das ist
unbefriedigend; es kann allenfalls hingenommen werden als
Weichenstellung hin zu einer sinnvollen Definition, die für vorgebliche
Präzision und Unterscheidungskraft nicht den Preis der gängigen
zweifelhaften Vorentscheidungen zu zahlen bereit ist. Die beinahe
grenzenlose Öffnung des Verständnisses vom Ästhetischen/42/ wäre also
vorübergehend legitimiert als Instrument methodologischen Banausentums;
es soll möglichst wenig a priori ausgeschlossen werden - auf breiterer
empirischer Basis kann man klüger und strenger sein. Zwei Aspekte des
Problems werden im folgenden Abschnitt erörtert. Ist es sinnvoll,
populäre Künste und gegenständliche Umwelt (einschließlich des eigenen
Körpers) gleichermaßen in die Betrachtung einzubeziehen? Und wie
tauglich ist der klassische Kantische Vorschlag, das Schöne auf
Beziehungen interesselosen Wohlgefallens einzuschränken?
Wenn man sich ein wenig um Banausentum bemüht und den eigenen Geschmack
zurückstellt, dürfte es nicht schwer sein, alle Leistungen aller
populären Künste als potentielle Gegenstände ästhetischer Erfahrung zu
akzeptieren. Das schließt die Körperkünste - Tanz, Artistik, Schausport
- ein; ihre Wahrnehmung erzeugt Wohlgefallen, wird als schön
qualifiziert und ist in hohem Maß bedeutungsgeladen. Wie bei anderen
Künsten auch, empfinden insbesondere Menschen, die Spielregeln und
Erzeugungsbedingungen kennen (also eine Vorstellung davon haben, was
ein Schraubensalto oder Vierzigmeter-Pass an Können erfordern), bei
gelungenen Leistungen Wohlgefallen und Begeisterung; um dem mit der
Materie nicht vertrauten Opernliebhaber eine Brücke zu bauen: wie bei
einer bravourös vorgetragenen Arie. Und die Körperkünste sind
eingebunden in einen über Jahrhunderte entwickelten Bedeutungskontext,
in dem es wie im Drama um Grunderfahrungen und sozialmoralische Normen
menschlichen Daseins geht. "Elf Freunde müsst ihr sein" - der
Fußballdiskurs ist populäre Tugendlehre; und Weisheiten wie "Nach dem
Spiel ist vor dem Spiel", "Die Wahrheit ist auf'm Platz" oder "Gott ist
rund" geben heute weit eher Lebenshilfe als Klassikersentenzen à la
Schillers "Die Axt im Haus erspart den Zimmermann".
Dass sie in ein dichtes Netz sprachlich gefasster Bedeutungs- und
Bewertungskontexte eingesponnen sind, verbindet die Körperkünste mit
den anderen anerkannten Künsten - und es markiert den wesentlichen
Unterschied gegenüber ästhetischen Beziehungen, die wir zu Dingen
unserer Umwelt entwickeln. Was unterscheidet die Freude an einem
Gedicht oder einer sportlichen Aktion von der an einem hinreißend
gezeichneten Auto, einem Wein voller Finesse, einem Bergpanorama oder
der Erscheinung eines Menschen, die effektvoll Kleidung und
Körperstyling verbindet? Liegt die Differenz 'in der Sache' oder in
willkürlichen Gewohnheiten der Kontextuierung?
'Ernste' wie 'triviale' Künste
bedienen sich spezifischer Ausdrucksrepertoires - Worte, Bilder,
Tonfolgen, Architekturformen usw. -, die im Verlauf der
Menschheitsgeschichte akkumuliert wurden. Das gilt zwar gleichermaßen
für die gesamte dingliche Umweltgestaltung: Mode, Spielzeug, Frisuren
usw. Der Unterschied ist jedoch: Künste kann man geradezu definieren
dadurch, dass die Kultur, in der diese Gestaltungsweise -
Blumenstecken, Gartenanlegen, Papierfalten, Kämpfen - als Kunst gilt,
über Jahrtausende mittels spezieller intellektueller Disziplinen ein sprachliches Repertoire zu deren Auslegung
entwickelt und kanonisiert hat. Die Verfügung über die entsprechenden
Codes - Werke interpretierend, sinnerfüllend zu lesen und die Deutungen
sprachlich zu kommunizieren - macht den Kern westlichen
Bildungsverständnisses aus; dass wir eine logozentrische Kultur hätten,
in der nur ein sprachlich elaboriertes Weltverhältnis ein legitimes
sei, wird hier plausibel.
Wenn wir selbst Sitcoms, Comics und Pophits eine andere - höhere -
Bedeutungsqualität zuschreiben als der Dingwelt und damit der Rezeption
einen anderen - höheren - ästhetischen Wert, dann drückt sich darin
aus, dass der normale Gebildete semiotisch sehr viel schlechter
ausgestattet ist, um das Design eines Gebrauchsguts, die Qualitäten von
Bekleidung und Kosmetik oder von Geruch und Geschmack in den Details zu
entziffern und darüber differenziert zu kommunizieren. Über diese
Kompetenz verfügen Experten - deren Diskurse allerdings zunehmend als
sozial relevantes Wissen anerkannt werden. Der anhaltende Boom von
Seminaren für Wein- und Käsekenner oder das massenhafte Interesse an
"Designerstücken" (Möbel, Haushaltsgeräte, Bekleidung, Accessoires)
weisen darauf hin.
'Aber noch in der lausigsten Daily Soap geht es doch um die Frage, wie
Menschen leben sollen - und selbst wenn man über hundert Ausdrücke zur
Beschreibung eines Käses verfügt, geht es um nicht mehr als Käse!' Der
Banause entnimmt dem Einwand zunächst einmal, wie unterentwickelt
unsere Kultur in Sachen Gastrosophie und Philosophie des Genusses ist;
der deutsche Akademiker, auch der Kulturwissenschaftler, hat
Brillat-Savarin nicht auf seiner Leseliste. Im Käse - wenn man ihn denn
entsprechend wahrzunehmen versteht - steckt ein großer
Bedeutungsreichtum; zu sprechen wäre von menschlicher Arbeit und ihren
Leistungen, von Beziehungen zur Natur, von der Kombinatorik der
Geschmacksvarianten, der Geschichte der Genussfähigkeit und vielem
anderen./43/
Man könnte also die Fragen des guten Lebens auch an Käse und
Schokolade, Löffeln und Karosserien, Äpfeln und Parfüm diskutieren.
Zwar hält westliche Kultur derartige Zugänge zum menschlichen
Weltverhältnis bislang für weitaus weniger relevant als das, was
Experten zu Goethes Heideröslein einfällt. Doch drängt sich hier eine
Standardfrage des Empirikers auf: Wie sieht es in der Aneignung aus?
Wie viel vom semantischen Potential eines Mozart-Klavierkonzerts oder
einer Ruysdael-Landschaft wird in der gängigen Rezeption denn
abgerufen? Hat der Alltagsmensch dazu wirklich Gehaltvolleres zu sagen
als zu einem Geschmackserlebnis?
Im Interesse des methodologischen Banausentums möchte ich die
herkömmliche Hierarchisierung der Lustempfindungen noch eine Weile in
Frage stellen und mit dem Reiz- und Herausforderungsepitheton
'ästhetisch' die Erforschung der Bedeutungsdimensionen dessen
vorantreiben, was bislang den niederen Genüssen zugeordnet wird. Die
auffällige Parallelität der Aufstiege von populärer Kunst und 'schönen
Dingen und Erlebnissen' im Verlauf des 20. Jahrhunderts spricht auch
eher für die Annahme wesentlicher Gemeinsamkeiten im jeweiligen Hunger
nach Schönheit. Damit die Spezifik der beiden Felder nicht vergessen
wird, braucht man sich nur ab und an zu fragen, was eigentlich die
ästhetische Erfahrung eines wohl gelungenen Schuhs ausmacht.
Mischungen des Wohlgefallens
Woran man einen guten Schuh erkennt? Vielleicht daran: Die Füße fühlen
sich in ihm so wohl, dass der Mensch Glück, Euphorie empfindet. Um zu
klären, was das mit Schönheit zu tun hat, wenden wir uns der
Gretchenfrage des banausischen Ansatzes zu. Kant hat sie beispielhaft
erörtert: Wie unterscheidet sich das Schöne vom 'nur' sinnlich
Angenehmen? Es wäre nämlich nicht mehr als verwirrender
Etikettenschwindel, wollte man alles, was Lust bereitet oder ein 'gutes
Gefühl' macht, als ästhetische Erfahrung ausschildern.
Bei seiner Analyse des Geschmacksurteils unterscheidet Kant drei
Quellen für die Empfindung des Wohlgefallens, die ihm als notwendige
Bedingung für das Vorliegen einer ästhetischen Erfahrung gilt. Was die Sinne als derart reizvoll oder befriedigend empfinden, dass es zum Gegenstand unseres Begehrens
wird, charakterisiert Kant als nur angenehm, als etwas, das wir als
Quelle von Vergnügen nutzen möchten. Was uns erfreut, weil es unseren
Vorstellungen von einer vernunftgerechten Ordnung der Welt
entspricht und was wir deswegen gerne in der Wirklichkeit sehen
(würden), charakterisiert Kant als gut. Beiden Beziehungen eigne eine
Qualität, die sie im Vergleich zum Schönen "unrein" mache: Wir haben
ein Interesse an der realen Existenz der Objekte, sie sind Ziel unseres
Begehrens. Die Empfindung des Schönen hingegen ist "interesseloses
Wohlgefallen", sie bezieht sich allein auf die Vorstellung des Gegenstandes; an seiner Existenz in der Realität oder am Besitz ist sie völlig uninteressiert, "kontemplativ"./44/
Diese Unterscheidung des Schönen vom Guten und Angenehmen ist ebenso
nützlich wie lebensfern - was keine Abqualifizierung meint. Gerade weil
das Leben so gemischt, unrein, unauflöslich durchwachsen ist, braucht
man analytisches Bemühen, das ohne Bedenken, dem Wirklichen Unrecht zu
tun, Kategorien zur Benennung und Maßstäbe zur Bewertung der Elemente
des mixtum compositum entwickelt. Die Anwendung dieser Instrumente so,
dass unser Verständnis und unsere Fähigkeit zur Beurteilung
menschlichen Handelns wachsen - ohne die Illusion, dem Einzelfall je
gerecht zu werden, und ohne die Einbildung, der Forscher verfüge über
ein besser begründetes Urteil als die Akteure des Alltags -, das ist
dann die Sache des Ethnografen.
Also: In der realen ästhetischen Erfahrung sind normalerweise die
Dimensionen des im Kantischen Sinne Angenehmen, Guten und Schönen
allesamt enthalten. Was der Alltagsmensch als schön qualifiziert, ist
in den seltensten Fällen Gegenstand reinen, interesselosen
Wohlgefallens an einer mentalen Vorstellung. Dessen ungeachtet sollte
man von ästhetischem Begehren nur sprechen, wenn sein Gegenstand eine
"Vorstellung" im Sinne Kants ist, eine aus sinnlicher Wahrnehmung
gespeiste mentale Repräsentation (gleich, ob sie einen physischen
Referenten hat oder nicht); und weiter sollte die angenehme Erfahrung
dieser Vorstellung um ihrer selbst willen gesucht, als in sich wertvoll
und genussbringend empfunden werden. Soweit ist Kant zu folgen, im
Sinne einer notwendigen Bedingung
des Ästhetischen. Dieses Element muss in der komplexen Erfahrung des
Schönen erkennbar sein - man soll nur nicht verlangen, dass die
lebendige Erfahrung sich auf diese ätherische Dimension beschränkt.
Das empirische Wohlgefallen am Faust
ist schwerlich davon zu reinigen, dass wir uns in den Genuss der mit
dem Teufelspakt gewonnenen Erlebnismöglichkeiten hineinphantasieren,
und wohl auch nicht vom angenehmen Gefühl der eigenen Moralität, wenn
wir uns über den Verrat an Gretchen empören. Das kann man analytisch
herauszurechnen versuchen, aber ich sehe keinen Grund, deswegen die
reale, 'alltägliche' Aneignung als nicht ästhetisch zu verdammen -
selbst dann nicht, wenn vielleicht die Blocksbergszene sexuelle
Empfindungen auslöst.
Andererseits gibt es interesseloses Wohlgefallen im Alltag durchaus.
Ein farbenprächtiger Sonnenuntergang wird rein als Schauspiel genossen;
die Sonne wärmt nicht mehr, und man will das Ereignis auch nicht
besitzen. Gleiches gilt für die Freude an einer Vase zu Hause; sie gilt
nur der Gestalt, die weder sinnlichen Genuss noch moralische Urteile
auslöst. "Was aber schön ist, selig scheint es ihm selbst", schrieb
Mörike "Auf eine Lampe" (!). Die Schrankenlosigkeit der menschlichen
Einbildungskraft (ohne die es für Kant keine ästhetische Erfahrung
gibt) ist verantwortlich dafür, dass Kunst selbst in der asketischen
Form eines geschriebenen Textes das Begehrungsvermögen in spontane
Bewegung setzt: Wie gerne würden wir die geschilderten Abenteuer
miterleben, die Nähe der bezaubernden Heldin, des bestrickenden Helden
genießen; und wenn wir nicht andauernd moralische Urteile abgäben, die
das Geschilderte wie Realität behandeln, bliebe vom Vergnügen der
Lektüre wenig übrig./45/
Es hat seine Logik, dass Kant selbst zum Ergebnis kommt, das
Naturschöne, eine Tulpe zum Beispiel, genüge seiner Definition am
ehesten./46/ Er will der Analytik trennscharfe Instrumente liefern,
nicht dem realen Umgang mit Kunst und dinglicher Umwelt Noten erteilen.
Es erscheint mithin realitätsangemessen, ästhetische Erfahrung in einem
weiten Spektrum alltäglicher Objektbeziehungen anzunehmen. Dazu gehört
das reine, gar kontemplative Wohlgefallen an der Form des
Vorgestellten/47/ ebenso wie Mischungen, in denen die Freude über die -
fiktional - wiederhergestellte gute Ordnung der Welt oder das
Wohlgefühl, das die Botschaft der Geschmacksknospen im Hirn empfinden
lässt, im Vordergrund stehen. Und das Gemischte ist in keiner Weise
geringer zu achten, weil es den Normalfall bildet.
Ein Gedanke Paáls scheint mir hier noch hilfreich. Er unterscheidet
Elementar- und Erkenntnisästhetik. Ob letzteres in unserem Zusammenhang
eine hilfreiche Bezeichnung ist, sei dahingestellt; hier sind die
elementarästhetischen Wahrnehmungen von Belang. Dabei handelt es sich
um Lustempfindungen, die auf der vegetativen, also unwillkürlichen
Wirkung von Reizen beruhen./48/ Auf Helligkeit und Sonne reagieren wir
positiv, auf Grau und Dunkel eher negativ. Symmetrie erweckt unser
Wohlgefallen, ebenso bestimmte Körperproportionen und Gesichtsausdrücke
(Lachen, Kindchenschema) beim Menschen. Homo sapiens sapiens mag offene
Parklandschaften, zu positiven Gefühlen für schroffe Bergwelt muss er
erzogen werden. Es gibt eine Bandbreite von Tonfrequenzen und Akkorden,
die Mitteleuropäer angenehm empfinden, und alle teilen die Lust am
Süßen. Einige dieser affektiven Reiz-Reaktions-Muster sind evolutionär
erworben und genetisch fixiert,/49/ andere kulturell produziert und in
festen Gewohnheiten verankert.
Ästhetisch sind solche Wahrnehmungen, insofern wir sie als schön
empfinden. Elementar sind sie, insofern ihnen die Bedeutungsdimension
weitestgehend fehlt. Betonte Symmetrie eines Gegenstandes oder der
Geschmack einer Süßigkeit heben unsere Stimmung, ohne dass wir damit
notwendig irgendeine Bedeutung verbinden. Das kann
der Fall sein, man denke an Prousts Madeleine. Aber während Dunkel
entsprechend kontextuiert werden muss, damit man es mit Wohlgefallen
wahrnimmt, erfreut uns Helligkeit von vornherein.
Paál stellt das elementarästhetische Empfinden auf eine Stufe mit
basalen Affekten wie Angst, Ärger oder sexuelle Erregung. Das darüber
hinausgehende Schönheitsempfinden - also den zentralen Gegenstand
alltagsästhetischer Forschung - charakterisiert er als eine komplexe
"Meta-Emotion"/50/, die weit über Reiz-Reaktions-Abläufe hinausgeht,
reflexive, semiotische und wertende Dimensionen mit dem emotionalen
Wohlgefühl vereint./51/ Alltagsästhetische Wahrnehmung schließt häufig
Elementarästhetisches ein; gerade in Werken, die sich als klassisch
etabliert haben, werden solche Mechanismen oft genutzt. Man kann dies
analytisch als die Ebene des rein sinnlich Angenehmen verstehen;
empirisch aber gibt es Elementarästhetisches kaum noch isoliert, ohne
kulturelle Kontextuierung, ohne Bedeutungsaufladung.
So hat Gerhard Schulze überzeugend ausgeführt, dass körperliche
Empfindungen die Basis ästhetischer Erfahrung bilden; sie erst machen
unsere Emotionen fühlbar, damit reflexiv zugänglich und mental
verarbeitbar. Auch Genuss oder Wohlgefallen (Kants "Angenehmes") sind
aus dieser Sicht nicht als rein somatisches Phänomen zu denken; was wir
körperlich als angenehm empfinden, ist eingebunden in einen (zunächst
einmal) "individuellen semantischen Kosmos", der die Erfahrungsqualität
jeglicher Wahrnehmung mitbestimmt.
"Das Reich der Sinne ist Resonanzraum für Geistiges." "Sinnliche
Erfahrungen werden erst in Verbindung mit Erinnerungen, Phantasien,
Zukunftserwartungen, Interpretationen und ähnlichen kognitiven Zutaten
als lustvoll empfunden. [...] Für das schöne Erlebnis sind die sinnlich
wahrgenommenen Attribute der Situation (Farben, Geräusche, Bewegungen)
nur Rohstoffe, aus denen das Subjekt eine Erlebnisgestalt
zusammensetzt. Erst durch eine Fülle kognitiver Vernetzungen wird das
Konkrete ästhetisch bedeutsam."/52/
Die Überlegungen von Paál und Schulze machen es nicht leichter, eine
'Untergrenze' ästhetischer Erfahrung gegenüber dem 'nur Angenehmen' zu
bestimmen. Definitorisch ließe sie sich zwar dort ziehen, wo dem
Wohlgefühl jede reflexive Dimension, jegliche Bedeutungszuschreibung
oder assoziative Verknüpfung fehlt. Der sexuelle Höhepunkt, Inbegriff
sinnlicher Lust, gehörte dann nicht zu den ästhetischen Erfahrungen
(wohl aber die Aneignung erotischer Kunst). Empirisch ist damit nur die
Ausgangsposition gewonnen, von einem äußerst weit gespannten Spektrum
ästhetischer Erfahrungsweisen im Alltag auszugehen, das in feinster
Abstufung und unendlich vielfältiger Mischung elementarästhetische mit
komplexeren Schönheitsempfindungen/53/ verbindet./54/
Kurzum: Ethnografische Forschung wird nicht darauf abzielen, echte von
unechter oder legitime von illegitimer ästhetischer Erfahrung im Alltag
zu sondern; sie wird die Mischungen des Wohlgefallens und ihre
praktische Herstellung durch die Menschen zu erhellen suchen, den
Beitrag des Schönheitsstrebens zu den Handlungsmotiven und seinen Platz
in den Vorstellungen von gelingender, befriedigender Existenz - im
"Projekt schönen Lebens"./55/
Schönheit durch Arbeit?
Das selbe Prinzip - an die gemischten ästhetischen Erfahrungen mit
scharfem analytischem Besteck heranzugehen, aber nicht zu zerschneiden,
was im Leben unauflöslich verwoben ist - scheint auch unter einem
weiteren Gesichtspunkt angebracht, der nach herrschendem Verständnis
Alltagsmenschen von legitimer ästhetischer Erfahrung ausschließt. Es
geht um die Konzentration auf das ästhetische Objekt, um die intensive
(Mit-)Arbeit an der Erschließung des Schönen in seiner Komplexität;
ohne fokussierte geistige Anstrengung - so der Hauptstrom der Theorie -
sei von ästhetischer Erfahrung sensu strictu nicht zu sprechen. Da das
zweifellos im Alltagsdasein selten der Fall ist, wäre aus dieser Sicht
das Thema erledigt.
Wer sich um methodologisches Banausentum bemüht, dem wird das Argument
weniger einleuchten. Er wird fragen, wieso die arbeitsförmige oder
kontemplative Rezeption, die allenfalls für Berufs-Kritiker und Mönche
den Normalfall des Umgangs mit Schönem darstellt, das einzig legitime
Modell ästhetischer Erfahrung bilden soll; jede Fremd- und
Selbstbeobachtung bestätigt, dass auch die Mehrheit des Konzert-,
Theater-, Ausstellungspublikums diesem Anspruch nicht genügt und
deswegen aus dem Tempel der ästhetischen Rechtgläubigkeit vertrieben
gehört. Welcher Konzertbesucher hört ein viersätziges Stück mit
gleichbleibender Aufmerksamkeit und verfolgt den Aufbau anhand der
Partitur? Das Werk in seiner Komplexität verlangt das - und doch
vermitteln klassische und romantische Kompositionen auch ZuhörerInnen
außerordentliches Vergnügen, deren Gedanken zwischendurch abschweifen.
Deswegen wird der Banause auch hier ein heuristisches Modell
vorschlagen, das der lebenspraktischen Abschattierung und dem Wechsel
von Konzentration und Intensität der ästhetischen Zuwendung Rechnung
trägt.
Ich greife dazu eine Überlegung auf, die Hans-Otto Hügel im Rahmen
seiner Theorie der Unterhaltung/56/ entwickelt. Der Alltagsmensch (auch
als Konzertbesucherin oder Romanleserin) praktiziert den Umgang mit
Kunst und gestalteter Umwelt als eine kommunikative Beziehung, die
gewissen Vereinbarungen folgt, auf die sich beide Seiten einstellen;
ihre Intensität bewegt sich innerhalb eines Kontinuums, das durch zwei
Pole begrenzt wird. Auf der einen Seite steht das, was Hügel
Zerstreuung nennt: eine Dusche mit belanglosen Angeboten - mit Bildern,
Tönen, Eindrücken, denen keinerlei Bedeutung beigemessen wird, die nur
Leere vertreiben und daher außerhalb jeder ästhetischen Beziehung
stehen. Am anderen Pol (hier verlasse ich Hügels Modell) steht das
Ideal ungeteilter, analytisch ausgerichteter Konzentration auf die
Strukturen eines Objekts, eine Konzentration, die unter dem Anspruch
steht, nicht nachzulassen, bevor der Kern des Werks erschlossen ist.
Auch diese - professionelle - Haltung steht außerhalb der ästhetischen
Erfahrung im Alltag.
Die liegt im breiten Feld dazwischen. Sie kann Gegenstände fast
existenziell an sich herankommen lassen oder in einem Abstand halten,
der sie nahezu bedeutungslos macht. In der ästhetischen Beziehung des
Alltags halten wir uns meist souverän in der Schwebe zwischen Ernst und
Unernst. Wir entscheiden,/57/ wie intensiv wir wie lange welche Aspekte
des Gebotenen aufnehmen, wann wir uns ausklinken und in welcher Distanz
wir eine mögliche ästhetische Erfahrung halten, welche Bedeutung wir
mithin dem Angeeigneten für unser Selbst- und Weltbild zugestehen.
Ob die in ihrer Eindringlichkeit oszillierende, den Sinnangeboten mit
Abstand gegenübertretende Rezeption befriedigt, ist allerdings nicht
unabhängig vom Charakter des Angebotenen. Was auf alltägliche Rezeption
zugeschnitten ist, ob Divertimento, Hollywoodfilm oder ein gut
gestalteter Gebrauchsgegenstand, ist von einer Textur, die auch bei
wechselnder Aufmerksamkeit Genuss vermittelt.
Herkömmliche, westliche ästhetische Theorie honoriert eine Rezeption,
die sich letztlich Logik und Struktur des Werks unterordnet und an
deren möglichst weitgehender Rekonstruktion misst. Auch wenn nicht mehr
nur eine Lesart als legitim und der Beitrag des Aneignenden bei der
Sinnkonstruktion als unverzichtbar gilt - es gibt aus dieser Sicht
einen am Potential des Werks orientierten Komplexitätsanspruch, der
nicht verfehlt werden darf. Im Unterschied dazu betont der Banause die
Dimension der Freiheit, Souveränität, auch Distanz des modernen
Alltagsmenschen gegenüber dem Gegenstand ästhetischer Erfahrung. Von
einer Serie beispielsweise will sie keine Folge verpassen; sie macht es
sich dazu vor dem Fernseher bequem und wehrt jede Störung ab; doch ihre
geteilte Aufmerksamkeit für einen Film, bei dem nur der emotionale
Höhepunkt intensiver wahrgenommen wird, steht deswegen nicht außerhalb
des Spektrums ästhetischer Erfahrungen. Ab und zu erfreut er sich
bewusst an der Eleganz der neuen Sitzecke - und ist doch nicht
unberührt von ihrer Schönheit, wenn er sie mit der reduzierten
Aufmerksamkeit des Alltags als Teil der Wohnungseinrichtung benutzt.
'Ästhetische Erfahrung im Alltag' ist also keine pauschale
Subsumtionskategorie, die das - sei's auch nur vorläufige - Ende
kulturwissenschaftlicher Analyse bildete. Das Konzept eröffnet vielmehr
ein Untersuchungsprogramm, bei dem gerade Differenziertheit und
Wechselspiel verschiedener Modi des Erfahrens im Zentrum stehen.
IV.
Erfahrung durch den Körper
Abschließend sei ein Aspekt angesprochen, der neben der flexibleren
Behandlung von Konzentration und Analytik vielleicht die wichtigste
Differenz alltäglicher Schönheitsaneignung markiert zu den Normen, die
dem legitimen Modell ästhetischer Erfahrung zugrunde liegen. Einen
Begriff des Ethnologen Jacques Maquet aufnehmend, möchte ich den
spezifischen "ästhetischen locus" des alltäglichen Umgangs mit dem
Schönen betrachten. Maquet geht davon aus, dass praktisch alle Dinge um
uns herum auch ästhetische Relevanz besitzen. Es gebe aber in jeder
Gesellschaft Kategorien von Objekten, auf die ästhetische Erwartungen
und Praktiken sich konzentrierten; sie bezeichnet er als den historisch
und kulturell wechselnden ästhetischen locus. Im europäischen
Hochmittelalter werde er bestimmt von allen Dingen, die sich auf das
christliche Ritual bezogen: die Kirchen und ihr bildlicher Schmuck
ebenso wie Messgewänder und Reliquiare. Im Japan des 16. Jahrhunderts
bilde die Tee-Zeremonie den ästhetischen locus für Gartengestaltung und
Teehausarchitektur, für die Gestaltung der Utensilien wie der bei der
Zeremonie getragenen Gewänder. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurde die
"Institution Kunst" (Peter Brückner) zum ästhetischen locus
westeuropäischer Gesellschaften erhoben./58/
Der ästhetische locus spätmoderner westlicher Gesellschaften nun, so
die These, umfasst jene Dinge und Praktiken, die körperliche und
leibnahe Erfahrungen ermöglichen;/59/ das gilt im Besonderen für die
Alltagsästhetik, ist aber auch als Trend der 'Hochkunst' unübersehbar.
Die Zentralität körpervermittelter Erfahrung markiert den grundlegenden
Unterschied zu einer Theorie des Schönen, die ein intellektuell zu
erschließendes semantisches Potential des ästhetischen Objekts und
entsprechende Modi der Erfahrung privilegiert. In den Worten von Gernot
Böhme:
"Aufs Ganze gesehen ist die bisherige Ästhetik nicht Aisthetik, d.h.
gerade die Sinnlichkeit kommt in ihr zu kurz. Sie ist nicht eine
Theorie sinnlicher Erfahrung, sondern der intellektuellen Beurteilung.
Das bedeutet insbesondere, dass die menschliche Leiblichkeit in ihr
keinen Platz hat."/60/
Der Ansatz von der körperlichen und leibnahen Dimensionen ästhetischer
Erfahrung her drängt sich geradezu auf, wenn wir die außerordentliche
Zunahme der 'schönen Dinge' in der Lebenswelt bedenken. Den
Wahrnehmungs- und Wirkzusammenhängen, die Wohnungseinrichtung und
Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Körperstyling, Blumen und 'schöne
Aussicht' in den Alltag bringen, wird das Modell kognitiv vermittelter
Erfahrung nicht gerecht. Vorschläge, wie ästhetische Erfahrung anders,
weniger kopf- und vernunftorientiert, zu denken wäre, finden sich bei
dem Phänomenologen Hermann Schmitz und bei Gernot Böhme, der dessen
Ansätze im Sinne einer ökologischen, d.h. umwelt- und raumbezogenen,
Ästhetik weiterentwickelt hat. Der Grundgedanke lautet:
"... der Mensch muss wesentlich als Leib gedacht werden, d.h. so, dass
er in seiner Selbstgegebenheit, seinem Sich-spüren ursprünglich
räumlich ist: Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich
in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist."/61/
Der Mensch als Körper erfährt sich notwendig in Räumen, deren
Gestaltqualitäten "durch leibliche Kommunikation in das affektive
Betroffensein fühlender Wesen ein[]greifen"./62/
Gernot Böhme hat Schmitz' Begriff der "Atmosphären" ins Zentrum seiner
Theorie gerückt. Er betrachtet dingliche Eigenschaften, die blaue Farbe
einer Tasse z.B., als "etwas, das auf die Umgebung ... ausstrahlt,
diese Umgebung in gewisser Weise tönt". Gleiches gilt für Ausdehnung
und Volumen; auch diese Qualitäten eines Dings sind "nach außen hin
spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Gewicht und
Orientierung."/63/ Atmosphären nun sind vom Menschen erfahrene Räume,
spezifisch getönt durch die Anwesenheit von Dingen mit besonderen
Qualitäten. Sie "gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher
Anwesenheit durch Menschen gespürt werden"./64/ Dieses Spüren von
"Stimmungen", die menschliche Gefühle berühren, hervorrufen,
beeinflussen, lenken ist ein wesentliches Element ästhetischer
Erfahrung im Alltag. Und das praktische Wissen, wie synästhetische
Dingqualitäten (das Zusammenwirken von Material, Farbe, Haptik,
plastischer Gestalt, Oberflächenbehandlung) unendlich differenzierte
Atmosphären schaffen, gehört zum über Jahrtausende akkumulierten
Know-how ästhetischer Arbeit./65/
"Wahrnehmen", so noch einmal Gernot Böhme, "ist im Grunde die Weise, in
der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen
sich befindet. Der primäre Gegenstand
der Wahrnehmung sind [...] die Atmosphären, auf deren Hintergrund dann
durch den analytischen Blick so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben
usw. unterschieden werden."/66/
Der Gedanke müsste nicht nur dem methodologischen Banausen, sondern
jedem Europäischen Ethnologen sympathisch klingen, korreliert er doch
mit der kulturanthropologischen Präferenz für Kontexte, Situationen,
komplexe Interaktionen gegenüber isolierten Einzelobjekten. Hier läge
vielleicht ein weiterer Merkpunkt: Alltägliche ästhetische Erfahrung
bezieht sich in erster Linie auf komplexe, synästhetische
Wahrnehmungskonstellationen. Roter Plüsch, Gold und Weiß im
Konzertsaal, gewählte Kleidung und selbstverständlich Häppchen und Sekt
im Foyer sind der Erfahrung der Musik nicht äußerlich; Knabbergebäck,
alkoholische Getränke und Popcorn konstituieren erst Fernsehkrimi und
Actionfilm als Gegenstände einer Ethnografie des Ästhetischen./67/
Vielleicht wird es in der Wissenschaft einmal heißen: Was für ein
Banause - er redet über die Buddenbrooks, ohne irgendetwas zu verstehen von der Schokolade, die zur Lektüre gehört!
Allerdings gehen wir inzwischen mit den holistischen Neigungen der
Ethnowissenschaften vorsichtig um. Auch in diesem Fall zu Recht: Zur
Sozialisation der Menschen der europäischen Moderne gehört mittlerweile
die Ausbildung eines spezialisierten ästhetischen Sinnes nach Maßgabe
der Werkästhetik; die meisten verfügen über entsprechendes Wissen und
Kompetenzen, unterscheiden Künstler, Stile, Schulen, Malweisen (wie
rudimentär auch immer). In den Genres der modernen Populärkünste
verfügen viele über erhebliches Faktenwissen, aber auch über Kenntnis
historischer Entwicklungen. Daraus folgt: Die Reproduktion an der Wand,
der Song aus dem Radio, der Film von der DVD/68/ oder die Vase auf dem
Zierregal sind nicht nur Elemente einer Atmosphäre, sondern
gleichermaßen potentielle Gegenstände individueller Zuwendung zu
einzelnen Objekten. Doch auch in dieser Dimension spielen Körper und
leibvermittelte Wahrnehmung eine tragende Rolle.
Populäre Kunst als Körperkunst
Wer einmal von einem Sensurround-Gewitter durchgeschüttelt wurde, wer
die Bässe aus der Nachbarwohnung im Bauch gespürt hat, wer (als das
Aufsichtspersonal wegschaute) trotz Verbot die einladenden Kurven einer
Plastik mit der Hand verfolgt hat, wem bei einer schnell geschnittenen
Filmsequenz auf der Großleinwand schwindelig wurde/69/, gar nicht zu
reden von den Erfahrungen in Tanz, Disko und Rave, von Bühnenshow und
Stadion-Feeling, der kennt den intensiven Körperbezug moderner
Populärkünste. Ich will hier nur zwei Forschungsansätze vorstellen, die
für den Ausbau der These hilfreich sein könnten.
Winfried Fluck hat anhand der Entwicklung in den USA die Dynamik
herausgearbeitet, die in der Populärkultur zur zunehmenden
"Verkörperlichung ästhetischer Erfahrung"/70/ führte. Er verfolgt den
Wandel der Wirkungsmechanismen in den jeweils am weitesten verbreiteten
Künsten, vom Roman des frühen 19. Jahrhunderts über Dime Novel,
Vaudeville, Stummfilm und Ton-/Farbfilm bis zu Popmusik, Videoclip und
Genres, deren Attraktivität vor allem auf Action und Special Effects
beruht. Was sich auf diesem Weg aus der Sicht der Kanonästhetik als
Reduktion von Komplexität darstellt, eröffnete aus der
Rezeptionsperspektive "ganz neue Möglichkeiten des künstlerischen
Ausdrucks und der ästhetischen Erfahrung"./71/
Damit nämlich ästhetische Erfahrung gemacht wird, müssen die Rezipienten die Vorgaben des Werks mittels eigener Vorstellungs- und Gefühlspotentiale 'übersetzen'. Das ermöglicht es,
"imaginäre Anteile unserer eigenen Vorstellungs- und Gefühlswelt zu
artikulieren und sie andererseits in der fiktiven Welt des ästhetischen
Objekts zu 'veräußerlichen' und somit darstellungs- und
anschauungsfähig zu machen."/72/
Je weniger nun die Texte narrative Strukturen und kognitive, semantisch
komplexe Elemente vorgeben, desto freier ist der Rezipient, in die
Aneignung seine "Interiorität", d.h. bisher nicht (v.a. nicht
sprachlich) artikulierte Elemente seiner Vorstellungs- und Gefühlswelt
hineinzulegen. Veräußerlichung von Interiorität und Auseinandersetzung
mit ihr in diesem Prozess wurden laut Fluck in der Geschichte der
Populärkünste zur wichtigsten Quelle ästhetischer Erfahrung. Indem
nämlich auf dem Weg von sprachbestimmten zu bild- und musikbestimmten
Genres, von melodiedominierter zu rhythmus- und sounddominierter Musik,
vom Hören zum Tanzen die wort- und bildsprachlich elaborierten Elemente
in der Vorgabe reduziert wurden, erweiterte sich der Raum für
'imaginative Selbstermächtigung'/73/; insbesondere wuchs der Anteil des
Körperlichen und Leibbezogenen. Körperorientierte Popmusik und die
Sounds für die gegenwärtigen Tanzszenen stellen überhaupt keine
kognitiven Anforderungen mehr./74/ Ihre Wirkung ist nicht an sprachlich
repräsentierte Bedeutungsbildung durch die Rezipienten gebunden, sie
beruht auf Stimmungen und leiblichen Reaktionen.
Ästhetische Erfahrung ist hier beispielsweise gekennzeichnet durch
"kurzfristige Evokation dekontextualisierter Vorstellungen" und
"diffuse Gefühle von Körperentgrenzung"./75/ In die 'Übersetzung' durch
den Nutzer geht immer mehr Körperbezogenes ein, und die Gratifikationen
der Aneignung werden zunehmend verkörperlicht. Das ist bei Popmusik und
Tanz am offensichtlichsten, bestimmt aber auch die Ästhetik globaler
Erfolgsgenres wie Action, SF, Horror. Dass ernsthaft wieder erwogen
wird, nicht nur die Kinosessel zu bestimmten Szenen zu bewegen und so
das Filmerlebnis ins Leibliche zu erweitern, sondern auch gezielt Düfte
freizusetzen, zeigt die Richtung der Verkörperlichung.
Lust aus Lebendigkeit
Noch grundsätzlicher stellt sich die Frage nach dem Körper als
ästhetischem locus in einer Forschungsrichtung, die nach den
somatischen Entsprechungen zur Erfahrung des Vergnügens am Schönen
fragt. Wir können das Wohlgefallen auch neurobiologisch definieren -
ein weites Feld für methodologisches Banausentum. Ich referiere hier
einen Ansatz, der im verhaltensforscherischen und
entwicklungspsychologischen Konzept der "Funktionslust" (Gehlen)
gründet./76/ Wenn Menschen (wie andere höhere Lebewesen auch) ihren
psychophysischen Apparat einsetzen, um Herausforderungen der Umwelt zu
bewältigen, werden im Gehirn euphorisierende Botenstoffe ausgeschüttet,
die zur Wiederholung oder Steigerung entsprechender Funktionsvollzüge
motivieren. Wir empfinden Lust am effektiven, gelingenden Einsatz
unserer Potenziale.
Diese Lust kann aber auch als solche angestrebt werden, als 'Belohnung'
für psychophysische Aktivität, die keinen äußeren Zweck verfolgt. Das
macht evolutionsbiologisch durchaus Sinn; es erhöhte die
Überlebenschancen, seine Fähigkeiten auch dann zu trainieren, wenn sie
gerade nicht von einem Ernstfall abgefordert wurden. In der Entwicklung
des Menschen erwuchsen daraus eine Reihe kulturell geformter Felder,
auf denen ohne äußere Zwecksetzung Aktivitäten 'organisiert' wurden, um
den psychophysischen Apparat zu betätigen und den somatisch empfundenen
Genuss an der Betätigung zu spüren: das Spiel, Formen der
Bewegungsfreude, aber auch gesteigerter sinnlicher Wahrnehmung (die ja
kein passives Hinnehmen von Eindrücken ist, sondern aktive Erzeugung
von sinnvollen Informationen aus den Datenfluten der Sinnesorgane).
Hausmanninger spricht in diesem Zusammenhang von der Lust, die
"im Genuss der psychophysischen Aktivität als Aktivität, in der
Erregung als solcher, dem energetischen Zustand unserer selbst an sich
besteht", von der "Lust an unserer Lebendigkeit"/77/.
Hier wäre naturwissenschaftlich eine wesentliche Quelle zu verorten für
das, was unter Begriffen wie Genuss oder Wohlgefallen als notwendiges
Element ästhetischer Erfahrung verstanden wird. Gerade die relative
Zwecklosigkeit, die Freisetzung aus den überlebensnotwendigen
Handlungsvollzügen, erlaubt, sich auf die Erzeugung des Genusses am
effektiven, eleganten, erfolgreichen Einsatz unserer psychophysischen
Vermögen zu konzentrieren - und der Umgang mit dem Schönen ist ein
geeignetes Feld, um unser Lebendigsein zu spüren, zu genießen und so zu
steigern. Das wäre im einzelnen für das Spektrum ästhetischer
Erfahrungen durchzudiskutieren; ich greife hier zwei Aspekte heraus.
Die psychologische Medienwirkungsforschung weist nach, dass wir uns
täuschen, wenn wir den 'Konsum' von Medien für einen Akt sinnlicher
Wahrnehmung halten, der mit körperlicher
Passivität verbunden ist. Wir verdrängen, dass Spannung unseren
Pulsschlag erhöht, dass wir bei für den Helden bedrohlichen Situationen
ins Schwitzen geraten, dass wir zu einer Verfolgungsjagd jene Muskeln
aktivieren, die wir beim Steuern eines Autos gebrauchen, usw. - und das
alles, während wir scheinbar ruhig im Bett eine Geschichte lesen oder
im Fernsehsessel einen Film anschauen. Die Lust an entsprechenden
Genres, so die Konsequenz der Psychologen, ist Funktionslust aus der
Verarbeitung von sensomotorischen Reizen, die man als psychosomatische
Erregung bezeichnet und die wir genießen. Für diese Dimension
ästhetischen Wohlgefallens macht es keinen Unterschied, ob wir mit Lara
Croft Kämpfe bestehen oder mit Effie Briest zittern.
Ein zweiter Gesichtspunkt: Mit Lustempfindungen belohnt unsere innere
Natur offenbar auch komplexe kognitive Leistungen. Und sie macht
vermutlich keinen Unterschied, ob wir gerade ein Wagnersches Leitmotiv
herausgehört und gedeutet haben oder ob es uns gelungen ist, einen
trockenen Weißwein als rheinhessischen und nicht württembergischen
Riesling zu identifizieren.
Selbstverständlich: Kultur heißt, dass Menschen Unterscheidungen
treffen - auch da, wo die Natur keine vornimmt. Deshalb können wir die
Fähigkeit, Kompositionen Wagners und Meyerbeers zu erkennen, höher
schätzen als Weinkenntnis. Aber moderne westliche Kultur schließt das
Wissen um Willkür und Revidierbarkeit solcher Bewertungen ein - und für
nichts anderes als die Sensibilisierung solchen Wissens plädieren diese
banausischen Überlegungen.
Anmerkungen
1 Rudolf Arnheim: Zur Psychologie der Kunst. Köln 1977, S. 23 f.
2 Mathilde Kelchner/Ernst Lau: Die Berliner Jugend und die
Kriminalliteratur. Eine Untersuchung anhand von Aufsätzen Jugendlicher
(= Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie, Nr. 42).
Leipzig 1928, S. 28.
3 Im Folgenden bezeichnet ästhetisch all das, was sich auf das Schöne im alltagssprachlichen Sinn bezieht.
4 Alfred Gell: The technology of enchantment and the enchantment of
technology. In: Ders.: The Art of Anthropology. London 1999, S. 159-186.
5 Peter Berger: The Social Reality of Religion. Harmondsworth 1967.
6 Ich danke den Teilnehmern des Seminars "Ästhetisierung der
Lebenswelt", die mir als engagierte Diskussionspartner bei der Klärung
der hier ausgebreiteten Gedanken geholfen haben.
7 Media Perspektiven Basisdaten: Daten zur Mediensituation in Deutschland 2003. Frankfurt/M. 2003, S. 64, 68.
8 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/M. 1995, S. 23.
9 Die sozial- und kulturanthropologischen "Material Culture Studies"
haben gezeigt, dass Konsumgüter vielschichtige soziale und kulturelle
Bedeutungen beinhalten können; das will bei der Auswahl
selbstverständlich auch bedacht sein. Ihre ästhetischen Potentiale
werden dabei aber, wenn überhaupt erwähnt, nur als Mittel für
Botschaften an andere betrachtet, nie als Quelle spezifischen Genusses
für den Konsumenten selber. Vgl. Mary Douglas/Baron Isherwood: The
World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. New York 1979;
Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in
Cultural Perspective. Cambridge 1986; Daniel Miller: Consumption
Studies as the Transformation of Anthropology. In: Ders. (Hg.):
Acknowledging Consumption. London 1995, S. 264-295. Das Argument gilt
auch für die weiteren wegweisenden Arbeiten von Daniel Miller sowie für
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982.
10 Vgl. URL www.bildschirmschoner.de
11 Meine erste war grau, wie ein Arbeitskittel, die zweite schon
kräftig blau, die dritte zeigte ein Postermotiv, die vierte erlaubt
mir, wie in einen Wechselrahmen selber Bilder einzuschieben - und dann
bin ich ausgestiegen aus der Verschönerungsspirale.
12 Vgl. URL www.machsmit.de
13 Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. In. Wolfgang Welsch
(Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München 1993, S. 48-64.
14 Wolfgang Welsch: Ästhetik und Anästhetik. In. Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 41995, S. 9-40.
15 Böhme, Atmosphäre [wie Anm. 8], S. 64.
16 Zur Kritik dieser Haltung vgl. auch Gerhard Schulze: Die
Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M.
1992, S. 105.
17 Vgl. eine ganze Reihe von Beiträgen in Kaspar Maase/Wolfgang
Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln
2001.
18 Heinrich Wolgast: Die Bedeutung der Kunst für die Erziehung. Leipzig
1903, S. 4. - Dass um 1900 die Blicke offen waren für die ästhetischen
Dimensionen des industriell-modernen, urbanen Alltags, darauf deuten
auch essayistische Arbeiten des Wiener Volkskundlers Michael Haberlandt
hin, die unter dem Titel "Cultur des Alltags" gesammelt erschienen. Man
lese nur die kulturhistorischen Feuilletons zur "Kunst der Reclame" und
über die "blendenden Künste des Feuerwerks" (Wien 1900, S. 52-60,
118-125; Zit. S. 55, 118).
19 Schulze [wie Anm. 16], S. 39.
20 Hier zeigt sich eine Parallele zu Schulzes Antipoden Bourdieu,
dessen Analyse der "feinen Unterschiede" die "'barbarische'
Wiedereingliederung des ästhetischen in den Bereich des ordinären
Konsums" betreibt; vgl. Bourdieu [wie Anm. 9], S. 26.
21 Auch in diesem Fall scheint Bruno Latours Befund zu gelten, dass wir
nie modern gewesen sind; vgl. B.L.: Wir sind nie modern gewesen. Berlin
1995.
22 Vgl. Marshall Sahlins: The Sadness of Sweetness. The Native
Anthropology of Western Cosmology. In: Current Anthropology 37, 1996,
S. 395-428.
23 Ein sprechendes Beispiel für die gerade der deutsch-protestantischen
Tradition ästhetischen Denkens inhärente "Tendenz zur
Sinnenfeindlichkeit" (Welsch) ist die in Winckelmanns Idealisierungen
gegründete Weigerung (trotz inzwischen überwältigender archäologischer
Befunde), die farbige Fassung klassischer griechischer Skulpturen und
Bauwerke anzuerkennen. Vgl. Michael Siebler: Edle Einfalt, bunte Größe.
In: FAZ, 17. Dez. 2003.
24 Gerhard Schulze [wie Anm. 16, S. 108] weist darauf hin, dass die
Kehrseite der restringierten sprachlichen Artikulation des Schönen die
unmittelbare körperlich-mentale Evidenz der Schönheitserfahrung bildet.
Damit gewinnt die Empfindung von Genuss, Wohlgefallen, starken Gefühlen
"herausgehobene theoretische Bedeutung" - denn es sind derartige
Zustände des Sich-gut-Fühlens, auf die sich alltägliche Lebensführung
ausrichtet.
25 W.F.H.: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt/M. 1971.
26 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine
Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 183; John Dewey: Kunst als
Erfahrung. Frankfurt/M. 1980 [EA 1934], S. 13, 25. Vgl. auch Böhme:
Atmosphäre [wie Anm. 8], S. 56.
27 Silke Göttsch/Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde.
Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin
2001; Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in
die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 32001, Zit. S.
251.
28 Helge Gerndt: Über die ästhetische Komponente in der
Kulturwissenschaft. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98, 2002,
S. 249-258, Zit. S. 249. Der Aufsatz selber folgt dann aber auch der
Vermeidungsstrategie, indem er sich mit der ästhetischen Dimension der
Wissenschaft befasst.
29 Heinz Schilling: Kleinbürger. Mentalität und Lebensstil. Frankfurt/M. 2003, S. 151.
30 Ausnahmen sind Schulze [wie Anm. 16], etwa S. 283-291, 475-478,
515-517, sowie Rainer Dollase/Michael Rüsenberg/Hans J. Stollenwerk:
Demoskopie im Konzertsaal. Mainz 1986.
31 Eine solche Argumentationslinie sehe ich etwa bei Richard
Shusterman: Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art.
Cambridge, Mass., 1992 [gekürzte dt. Ausg.: Kunst leben. Die Ästhetik
des Pragmatismus. Frankfurt/M. 1994] und Thomas J. Roberts: An
Aesthetics of Junk Fiction. Athens, GA, 1990.
32 D.h., ästhetische Erfahrung ist umfassender; sie schließt alles ein,
was negativ als hässlich, als zu meiden qualifiziert wird.
33 Alle Menschen sind in ästhetischer Hinsicht Alltagsmenschen, wenn
sie sich nicht in professioneller Reflexion mit Gegenständen und Formen
ästhetischer Erfahrung auseinandersetzen. Versenkung oder Verausgabung
sind also in diesem Sinn durchaus alltägliche Erfahrungsmodi. Gemeint
ist im Sinne der phänomenologischen Lebenswelttheorie ein Komplex von
"kognitiven Stilen", die deutlich von solchen der arbeitsförmigen und
reflexiv wissensorientierten Beschäftigung unterschieden sind. In Traum
und Spiel, Unterhaltung und Ekstase sind Erleben und Erkennen auf
andere Weise verknüpft als beim schulischen Lernen, in
wissenschaftlicher Forschung oder kritischer Kunstrezeption. - Vgl.
Richard Grathoff: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die
phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung.
Frankfurt/M. 1989, S. 108-110. Grundlegend sind die Ausführungen zu
differenten "Erlebnis- bzw. Erkenntnisstilen" in Alfred Schütz/Thomas
Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt/M. 1979, insbes. S.
48-63.
34 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [Werke, ed. Weischedel, Bd. X]. Frankfurt/M. 1995, §§ 23-25, Zit. S. 166, 165.
35 Gábor Paál: Was ist schön? Ästhetik und Erkenntnis. Würzburg 2003, S. 9.
36 Ebd., S. 8.
37 Ebd., S. 31.
38 Ebd., S. 15.
39 Vgl. ebd., S. 20-23.
40 Ebd., S. 15, 36.
41 Wie Anm. 26.
42 Bestimmungsversuche des Ästhetischen aus biowissenschaftlicher
Sicht, von der Verhaltens- bis zur Hirnforschung, weisen
übereinstimmend in diese Richtung. Vgl. neben Paál [wie Anm. 35] etwa
Klaus Richter: Die Herkunft des Schönen. Grundzüge der evolutionären
Ästhetik. Mainz 1999.
43 Vgl. Jürgen Dollase: Mit schönem Gruß an die, die unfehlbar sind.
Warum die Kochkunst noch nicht zur Hochkultur gezählt wird. In. FAZ, 8.
Okt. 2003, S. 40.
44 Kant [wie Anm. 34], §§ 2-5.
45 Zur Empirie der ästhetischen Erfahrung in fiktionaler Lektüre vgl.
etwa Janice A. Radway: Reading the Romance. Women, Patriarchy, and
Popular Literature. Chapel Hill 1984; Werner Graf: Die Erfahrung des
Leseglücks. Zur lebensgeschichtlichen Entwicklung der Lesemotivation.
In: Alfred Bellebaum/Ludwig Muth (Hg.): Leseglück. Eine vergessene
Erfahrung? Opladen 1996, S. 181-211; Corinna Pette: Psychologie des
Romanlesens. Lesestrategien zur subjektiven Aneignung eines
literarischen Textes. Weinheim 2001.
46 Vgl. Kant [wie Anm. 34], § 16.
47 Das ist der Kern des Verständnisses von (visueller) ästhetischer
Erfahrung bei Jacques Maquet: The Aesthetic Experience. An
Anthropologist Looks at the Visual Arts. New Haven 1986.
48 Vgl. Paál [wie Anm. 35], S. 7, 26-30, 34-37. Die Unterscheidung geht
zurück auf Wolfgang Welsch: Ästhet/hik. Ethische Implikationen und
Konsequenzen der Ästhetik. In: Christoph Wulf/Dietmar Kamper/Hans
Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin 1994, S. 3-22.
49 Vgl. dazu mit vielen Beispielen Richter [wie Anm. 42]. In diesem
Zusammenhang sind Arnold Gehlens Überlegungen zu einer "'Physiologie
der Kunst'" einzubeziehen, knapp zusammengefasst bei Gerhard Plumpe:
Ästhetische Kommunikation der Moderne. Bd. 2: Von Nietzsche bis zur
Gegenwart. Opladen 1993, S. 191-193. Gehlen betont, dass es sich um
Gestaltqualitäten handelt, die aus der spezifischen Umwelt durch ihre
"'unwahrscheinlichen' Auslöserqualitäten" herausstechen.
50 Paál [wie Anm. 35], S. 27.
51 Welsch: Ästhet/hik [wie Anm. 48] bestimmt die höhere Stufe
ästhetischer Erfahrung durch die reflexive Dimension der Wahrnehmung;
sie ziele auf reinere Erkenntnis, unabhängig von den unwillkürlichen
Lust- oder Unlustgefühlen, und werde belohnt durch "die Lust eines
reflexiven Wohlgefallens oder Missfallens" (S. 5). Aus der Perspektive
empirischer Forschung wird man jedoch wohl nicht mit einer binären
Unterscheidung - reflexiv/nichtreflexiv - arbeiten; sondern mit einer
graduellen Steigerung jener Reflexivität zu tun haben, die schon im
(ausgesprochenen oder nur gedachten) Kommentar "Oh wie schön!" wirkt
und die auf jeder sinnlichen Lustempfindung unendlich viele Stockwerke
der Meta-Reflexion zu errichten vermag (ich genieße es, mich dabei zu
beobachten, wie ich mich daran freue, erkannt zu haben, dass im
Geschmack des Rotweins auch eine Ledernote zu finden ist).
52 Schulze [wie Anm. 16], S. 107.
53 Paál [wie Anm. 35] schlägt eine anregende Systematik vor, nach der
man Dimensionen ästhetischer Wahrnehmung ausdifferenzieren könnte.
54 Für die westliche Moderne wird man davon auszugehen haben, dass der
Bereich des hier definierten Alltagsästhetischen sich kontinuierlich
ausdehnt; nicht in erster Linie wegen der Zunahme möglicher Objekte,
sondern vor allem deswegen, weil Moderne Ausweitung von Reflexivität
ist. Neuzeitliche Individualität ist selbstreflexiv [vgl. etwa Richard
van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500-1800. Frankfurt/M.
1997], und das Schwinden von Selbstverständlichkeit bei Ausweitung von
Reflexion durchdringt den Habitus und den Alltag der westlichen Welt
unaufhaltsam. Die Selbstbeobachtung darauf hin, was wir spüren und was
das bedeuten könnte, und die aktive Selbstsorge darum, die angenehmen
Zustände systematisch zu vermehren, lassen immer weniger
elementarästhetische Erfahrungen unreflektiert und ohne
Bedeutungszuweisung.
55 Der gestrenge Kant [wie Anm. 34] selbst hat einen Vorschlag gemacht,
wie das Geschmacksurteil der Tatsache Rechnung tragen könnte, dass eine
Betrachtung allein der bloßen Form uns praktisch so schwer fällt - da
zum Beispiel jede Wahrnehmung von Menschen geprägt sei durch eine
Vorstellung von Vollkommenheit, die auf einem Ideal menschlichen
Daseins gründe. Hier sei nur ein "angewandtes Geschmacksurteil"
möglich, das sich auf die "anhängende" im Unterschied zur "freien
Schönheit" beziehe. Vgl. § 16.
56 Hans-Otto Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine
Skizze ihrer Theorie. In: montage/av, 2. Jg. 1993, H. 1, S. 119-141,
Zit. S. 128, 129. Vgl. auch Ders.: Art. "Unterhaltung". In: Ders.
(Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart 2003, S. 73-82.
57 Selbstverständlich sind hier die klassischen Argumente zu
berücksichtigen, dass nach hoher physischer oder nervlicher Belastung
die Aufnahmefähigkeit eingeschränkt ist und dass geistige Arbeit der
ästhetischen Rezeptionskompetenz insgesamt bessere Voraussetzungen
bietet. Und fraglos können Werke uns ohne oder sogar gegen unseren
Willen berühren, packen, überwältigen. Auch in dieser Hinsicht ist
allerdings ethnografische Überprüfung einzufordern.
58 Maquet [wie Anm. 47], S. 69 f.
59 Körper und Leib werden im Folgenden als Homonyme verwendet. Für eine
weitere Erörterung wäre allerdings die Plessnersche Unterscheidung
wichtig, nach welcher der Mensch zugleich Körper ist und Körper hat.
Die "exzentrische Positionalität" ermöglicht, sich reflexiv zur eigenen
Leiblichkeit zu verhalten (sie also auch als Instrument für
ästhetischen Ausdruck und Genuss zu entwickeln), und hat doch zugleich
die grundlegende Unverfügbarkeit des Körpers anzuerkennen. Vgl. etwa
Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen
menschlichen Verhaltens. Bern 1961, insbes. S. 41-50.
60 Böhme: Aisthetik [wie Anm. 26], S. 30 f.
61 Böhme: Atmosphäre [wie Anm. 8], S. 31.
62 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern
1998, S. 95. Schmitz entwickelt hier eindrücklich das Wohnen als
"Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum" (S. 84).
63 Böhme: Atmosphäre [wie Anm. 8], S. 32, 33.
64 Ebd., S. 34.
65 Ein Auto beispielsweise wird heute für alle Sinne gestaltet: Der
Klang der Türen, die haptische Anmutung des Lenkrads, der Geruch der
Kunststoffe werden neben den Formen für das Auge von Ingenieuren
geplant. Vgl. Ina Reckziegel: Die Nase entscheidet mit. Geruch und
Haptik als verkaufsfördernde Argumente. In: FAZ, 12. Aug. 2003;
Siegfried Stadler: Klingt nach Maiglöckchen. Der Geruch weckt die alten
Bilder: In Halle wird multisensuelles Design gelehrt. In: ebd., 9. Aug.
2002. - Die Konsumforschung prognostiziert: "Die multisensuale
Beeinflussung der Konsumenten ... wird in Zukunft eine weitaus größere
Rolle als bisher spielen" (Werner Kroeber-Riel/Peter Weinberg:
Konsumentenverhalten. München 82003, S. 124).
66 Böhme: Atmosphäre [wie Anm. 8], S. 47 f.; Hervorh. im Orig.
67 Vgl. etwa zur Bedeutung von "Wärme" als Qualität der Wohnumwelt
Karla Scherf: Wohnumwelt als Teil der Alltagswelt und der ästhetischen
Kultur. In: Hochschule der Künste Berlin - Fächergruppe
Designwissenschaft (Hg.): Lebens-Formen. Berlin 1991, S. 103-120, hier
S. 111; vgl. auch Brigitta Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit. Eine
kulturwissenschaftliche Annäherung. Frankfurt/M. 2003, insbes. S.
209-215.
68 Deren Beitrag zu Reflexion, Souveränität und handwerklicher
Kritikfähigkeit in alltäglicher ästhetischer Erfahrung durch die vielen
zusätzlichen Informationen, Varianten, Zugriffsmöglichkeiten wäre eine
Studie wert.
69 Vgl. Christian Mikunda: Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. München 1986.
70 Winfried Fluck: California Blue. Amerikanisierung als
Selbst-Amerikanisierung [unveröff. Mskrpt., erscheint in: Ute
Bechdolf/Reinhard Johler/Horst Tonn (Hg.): Globalisierung und
Amerikanisierung. Trier 2004], S. 20. Vor einer Überbewertung des
Körperlichen in populärer Kultur warnt mit guten Argumenten Hans Otto
Hügel: Zugangsweisen zur Populären Kultur. Zu ihrer ästhetischen
Begründung und zu ihrer Erforschung. In: Udo Göttlich/Winfried
Gebhardt/Clemens Albrecht (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative
Kultur. Köln 2002, S. 52-78.
71 Fluck [wie Anm. 70], S. 12.
72 Ebd., S. 17.
73 Fluck spricht von "imaginärer Selbstermächtigung", doch scheint mir "imaginativ" seinem Argument besser angemessen.
74 Das heißt nicht, dass Texte in der Popmusik keine Rolle spielten. In
den körperorientierten Genres sind sie jedoch zum ästhetischen Genuss
nicht notwendig; sie eröffnen, wie in jedem reicheren Kunstwerk, eine
zusätzliche Ebene für komplexere, stärker intellektuell reflektierende
ästhetische Erfahrung. Warum kann man nicht Genres, die auf einer Ebene
wie der körperlichen (oder im Aufbau von Spannungen, Stimmungen usw.)
überwältigende Erfahrungen ermöglichen, ohne Abwertung stehen lassen
neben solchen, die vor allem intellektuelle Vergnügung bieten? Wenn
denn hierarchisiert werden soll, wäre mein Vorschlag: Die größten Werke
sind die, die auf vielen Ebenen von der dem Alltagsmenschen direkt
zugänglichen bis zur raffiniertesten intertextuellen Strukturanalyse
ein großes Potential an Erfahrungs- und Entdeckungsmöglichkeiten
bieten.
75 Fluck [wie Anm. 70], S. 21.
76 Das Folgende nach Thomas Hausmanninger: Vom individuellen Vergnügen
und lebensweltlichen Zweck der Nutzung gewalthaltiger Filme. In:
Ders./Thomas Bohrmann (Hg.): Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und
ethische Perspektiven. München 2002, S. 231-259.
77 Ebd., S. 233.
|
| |