Unter dem langen Titel "Kulturwissenschaft - ein neuer Studiengang - Versuch einer Standortbestimmung nach 44 Jahren Kulturwissenschaft in Berlin" fand
am 12. und 13. Oktober 2007 eine Tagung statt, zu der Absolventen und
an ihrer Ausbildung beteiligte Wissenschaftler eingeladen waren.
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In den Beiträgen wurde die frühe Begründung eines neuartigen
Studienganges in der DDR (1963) zum Anlass genommen, die damit
verbundenen Erwartungen an die kulturell-praktische Wirksamkeit und an
die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit historisch-kritisch zu
beleuchten. Die bewegte Geschichte der Disziplin wie des Studienganges
wurde als Teil der DDR-Kulturgeschichte bis in die Gegenwart verfolgt
und gefragt, welche Anregungen für die aktuelle kulturelle Situation
und Kulturpolitik in den geschichtlichen Befunden enthalten sind.
Kulturhaus Mitte, Blick in den Saal (Foto: Scheel)
Im ersten Teil der Tagung haben 12 Kulturwissenschaftler –
Angehörige verschiedenen Generationen - ihr Verhältnis zu Geschichte
und Gegenwart ihres Faches dargelegt.
Dietrich Mühlberg
Warum es lohnt, auf die Geschichte des Studienganges Kulturwissenschaft zurückzublicken
Norbert Krenzlin
Die Geburt der Kulturwissenschaft aus Philosophie und Ästhetik
Günter Mayer
Ästhetik in der kulturwissenschaftlichen Ausbildung
Irene Dölling
Kultur(theorie) und Individuum
Wolfgang Jacobeit
Volkskunde und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität
Hildegard Maria Nickel
Kulturwissenschaft als Soziologie. Oder: Soziologie als Kulturwissenschaft
Kaspar Maase
Die Entdeckung der Popular- und Massenkultur durch die Kulturwissenschaft
Susanne Binas-Preisendörfer
Kulturwissenschaft und Kulturpolitik
Bernd Lindner
Gesellschaft(en) hinterfragen - Kultursoziologie im Kontext zweier Systeme
Günter Kracht
Kulturwissenschaft als Wissenschaft der modernen Gesellschaft - Thesen
Jörg Petruschat
Wie ich von der Kulturwissenschaft zur Gestaltung kommen konnte
Eckehard Binas
Die leere Mitte, Kommentar zu einem Konzeptlebenszyklus
Dietrich Muehlberg (Foto: Scheel)
Dietrich Mühlberg
Warum auf 44 Jahre Kulturwissenschaft zurückblicken?
1. Begrüßung
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, liebe kulturwissenschaftlich Betroffene und Interessierte …
… auch ich begrüße sie hier im Namen der KulturInitiative'89 zu
einer Veranstaltung, mit der wir den Versuch machen, eine
(kultur)wissenschaftliche Tagung mit einem Treffen von über dreißig
Absolventenjahrgängen der Fachrichtung Kulturwissenschaft der
Humboldt-Universität zu verbinden. Das könnte inhaltlich gelingen,
haben sich doch Wissenschaft und Lehre auch nur in enger Wechselwirkung
entwickeln können. Formell und kameralistisch sind das aber zwei
verschiedene Unternehmungen. Während es für die wissenschaftliche
Tagung finanzielle Unterstützung mit Lottomitteln durch das politische
Bildungsunternehmen „Helle Panke“ gibt, musste die KulturInitiative'89
alle ihre personellen und finanziellen Kräfte konzentrieren, um ein
solch ungewöhnliches Absolvententreffen möglich zu machen. Was freilich
ohne das Kulturhaus Mitte, mit dem wir seit unserer Gründung eng
verbunden sind, auch nicht gelungen wäre. Und wenn schon von den
Unterstützern die Rede ist, so wäre da auch für einige kleine und
größere Spenden zu danken – voran (wie immer) der Firma Rohnstock
Biografien, also Katrin und ihren Mitarbeitern.
2. Über Motive
Gestatten Sie mir, dass ich zunächst etwas zu den Motiven sage, die
die Mitglieder eines Kulturvereins dazu bewogen haben, sich dem
kulturwissenschaftlichen Curriculum der Humboldt-Universität forschend
zuzuwenden. Das eine Motiv ist in der Geschichte der
KulturInitiative'89 selbst zu finden, die, unschwer ist das zu
erkennen, im Jahre 1989, genau am 7. November, eigentlich verspätet,
als „Gesellschaft für demokratische Kultur“ gegründet worden ist.
„Verspätet“ meint, dass es seit Beginn der 80er Jahre die Absicht gab,
auf irgendeine Weise einen Berufsverband der DDR-Kulturwissenschaftler
(in gewisser Analogie zu den Künstlerverbänden) zu gründen, um die
vielfältigen internen Kommunikationen zu bündeln, aber auch, um die
Positionen der Absolventen in Statusfragen, in Weiterbildung,
Informationszugang, Reisemöglichkeiten usw. zu stärken. Dass es lange
nicht dazu kam, das lag auch am nicht vorhandenen Vereinsrecht der DDR.
Jedenfalls waren wir die ersten, die beim Kulturminister einen
ordentlichen Antrag gestellt haben und dann auch eine positive Antwort
erhielten. Während das kleine Gründungskomitee ausnahmslos aus
Kulturwissenschaftlern bestand, waren wir schon nach wenigen Tagen ein
West-Ost-Unternehmen, das am 22. Dezember die erste große
deutsch-deutsche Kulturdebatte in der Akademie der Künste organisierte
– die legendäre „Zwischenrede“. Kurze Zeit sah es so aus, als könnte
daraus die „Kulturpolitische Gesellschaft“ der Ostdeutschen entstehen,
doch mit den Jahren waren wir dann wieder zu einem Kommunikationsort
vor allem ostdeutscher Kulturwissenschaftler und ihrer alten
Westberliner Freunde geworden. Wir waren über die Jahre eifrig dabei,
mit Tagungen und Vortragsreihen die kulturpolitische Debatte hier in
der Stadt zu beleben, die MKF, die „Mitteilungen aus der
kulturwissenschaftlichen Forschung“ (und einige Zeit auch die „Weimarer
Beiträge“) weiter herauszugeben und sie schließlich aus finanziellen
Gründen in das Internetjournal „www.kulturation.de“ zu überführen –
zusammen gerechnet haben wir da mit der Ausgabe 2/2007 den 30. Jahrgang
erreicht. Ich erwähne das auch, weil wir die Ergebnisse dieser Tagung
dort publizieren werden, wie wir das – für jeden nachlesbar – mit den
vorangegangenen Tagungen auch gemacht haben.
Bei der Auswertung unserer Veranstaltungen, der Tätigkeit der
Arbeitskreise wie der „normalen“ Jahresaktivitäten, kam im Verein immer
wieder die Frage auf, warum wir uns denn nicht auch mit der eigenen
Geschichte beschäftigen, wann wir denn endlich die Mittel haben, das
dazu inzwischen aufgehäufte Material – vor allem an zeithistorischen
Interviews – auszuwerten. Ein guter Anlass wäre der 40. Jahrestag der
Eröffnung der Studienrichtung Kulturwissenschaft gewesen. Das haben wir
2003 verpasst. Nun könnte man auf den 50. Jahrestag hinarbeiten, doch
dabei müsste bedacht werden, dass die Zeitzeugen, die Hüter der
Erinnerung und auch der Dokumente, langsam knapp werden. Man könnte die
Sache auch der Humboldt-Universität überlassen, die eifrig dabei ist,
ihren 200. Gründungstag vorzubereiten. Doch da sind starke Bedenken
angebracht. Das Konzept, nachdem die Zeit zwischen 1945 und 1990
dargestellt werden soll, lässt eine historisch-kritische Würdigung der
universitären Leistungen dieser Zeit als wenig wahrscheinlich
erscheinen. Vor allem aber könnten bald die dafür entscheidenden
Protagonisten fehlen, denn bis dahin könnte es dem ersten deutschen
kulturwissenschaftlichen Institut genau so ergangen sein, wie es dem
ersten deutschen theaterwissenschaftlichen Institut bereits geschehen
ist – es gibt es nicht mehr.
Das wird nicht nur der institutionellen Lustlosigkeit der nur auf
Zeit agierenden Hochschullehrer geschuldet sein, die sich als
Geisteswissenschaftler verstehen. Und gerade deren Disziplinen geht es
nicht besonders gut. Wie Sie sicher wissen, haben wir gerade das „Jahr
der Geisteswissenschaften“ und es wird auf Tagungen und öffentlich
gefragt, welchen Sinn es denn mache, sie weiter zu alimentieren. Sie
stehen unter Legitimationsdruck, auch weil einfach zu viele
arbeitsuchende Geisteswissenschaftler vorhanden sind, zu denen auch die
Kuwis heute gezählt werden. Der Markt braucht sie nicht, jedenfalls
nicht so viele. Und es war bezeichnend, dass die Tagung „Kultur als
Arbeitsfeld und Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler“, die der
verdienstvolle Deutsche Kulturrat zusammen mit der evangelischen Kirche
vor 14 Tagen veranstaltet hat, mit dem Appell endete, einen Mindestlohn
für Kuwis zu fordern, weil in etlichen Fällen nicht mehr als 600 Euro
zu verdienen sind.
Ich erinnere daran, dass vor siebzehn Jahren schon einmal über die
Krise der Geisteswissenschaften debattiert worden ist, warum sie denn
noch gebraucht werden und an den Universitäten nicht gestutzt werden
dürften. Ich erinnere daran, dass an der 1990 veröffentlichten
Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ im Auftrag des damaligen
Bundesministeriums für Forschung und Technologie neben Wolfgang
Frühwald (damals Mitglied des Wissenschaftsrates und als
Literaturwissenschaftler Präsident der DFG!) auch der Philosoph Jürgen
Mittelstraß mitgearbeitet hat, der sich dafür hier am Orte auch
umfänglich über unsere Arbeit informiert hat. Damals empfahlen die
Autoren, den aus humanistischer Tradition stammenden (urdeutschen)
Begriff der Geisteswissenschaften fallen zu lassen und ihn durch den
neuen, umfassenderen Titel der Kulturwissenschaften zu ersetzen.
[das geschah nicht. „Die Verwaltung riet uns, bei dem Begriff
Geisteswissenschaft zu bleiben, um nicht aus den Statistiken der
universitären Datenerhebung herauszufallen.“]
Inhaltlich sollten sie – so die Studie - Antworten auf globale
Veränderungen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft geben. Vor allem
sollten sie der modernen Gesellschaft ein kulturelles Gedächtnis
verschaffen und sie so vor drohender Geschichtslosigkeit bewahren. Ihr
Nutzen für die Gesellschaft wurde darin gesehen, dass sie
Kulturwissenschaften sind, dass sie in der Summe also
Orientierungswissenschaften wären.
Das war ganz offensichtlich eine Reaktion auf die Lage nach dem
Ende des europäischen sozialistischen Versuchs. Nun sollte
Kulturwissenschaft die Orientierungs- und Sinngebungsinstitution mit
wissenschaftlichem Anspruch sein. Das war insofern einleuchtend, als
alle Arten von Sinngebung ja kulturelle Vereinbarungen, kulturelle
Konventionen sind. Alle irgendwie begründeten allgemeinen Ziele
bedürfen der Übereinkunft, um gesellschaftlich wirksam zu werden. Und
diese „Übereinkunft“ ist ein kultureller Vorgang. Doch kann „die
Kulturwissenschaft“ selbst solche Ziele generieren? Das wohl kaum. Und
so hat sich in den siebzehn Jahren seit dem programmatischen Text der
Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ die Lage dieser
Wissenschaften eher zum Schlechten verändert und die Kulturwissenschaft
selbst trat seitdem auch nicht mit überzeugenden Sachstandanalysen
heutiger Kulturen hervor.
Aber kann damit begründet werden, dass Kulturwissenschaftler
offenbar nicht gebraucht werden und überflüssiger Luxus sind? Meine
lebenslange Erfahrung mit Ausbildungskonzepten und meine heutige Praxis
als Kultursenator wie als Lehrender im Studiengang Kultur und
Management der Dresdener Internationalen Universität sagen mir, dass
Kulturwissenschaftler mit bestimmter Ausbildung und Motivation nicht
nur wichtige Protagonisten des kulturellen Lebens sind, sondern dort
auch dringend gebraucht werden. Dabei ist allerdings ein
geisteswissenschaftliches Selbstverständnis keine besonders gute
Empfehlung.
Ich sprach von „institutioneller Lustlosigkeit“ und wollte damit
auf das Desinteresse am Weiterleben des kulturwissenschaftlichen
Curriculums ausgerechnet bei denen hinweisen, die sich diesen
Studiengang Anfang der 90er Jahre angeeignet haben. Es ist schon
deswegen bemerkenswert, weil wir dessen Abwicklung durch den Berliner
Senat 1991 durch eine internationale Protestaktion verhindert haben.
Damals haben über 120 Berufskolleginnen aus sechs (westlichen) Ländern
in Briefen und Telegrammen an die zuständige Senatorin auf die
wissenschaftliche Bedeutung der ostdeutschen Kulturwissenschaft
hingewiesen. Da bedurfte es dann schon einiger Tricks und Intrigen,
deren Repräsentanten Dölling und Mühlberg dennoch rauszudrängen und die
verbleibenden wissenschaftlichen Mitarbeiter nachhaltig auszugrenzen.
Es ist darum nur konsequent, wenn Hartmut Böhme in dem (mit Peter
Matussek und Lothar Müller abgefassten) Büchlein „Orientierung
Kulturwissenschaft“ zehn Jahre später zwar richtig darauf hinweist, wie
stark das Interesse an der Kulturwissenschaft in den letzten zwanzig
Jahren gestiegen sei. Sich dann aber zu folgender Behauptung über diese
Disziplin hinreißen läßt: „Es gibt sie als Studienfach, sieht man
einmal von zwei weisungsgebundenen DDR-Instituten ab, erst seit Mitte
der achtziger Jahre – und auch nur an einigen Universitäten. Keiner der
derzeitigen Professoren für Kulturwissenschaft konnte diese also
studiert haben. Das Fach musste ‚erfunden’ werden.“
Ich kenne eine ganze Reihe solcher Professoren und möchte hier nur
festhalten, dass hinter diesen Sätzen eine in jeder Hinsicht
vollständige Verdrängungsleistung steht. Ich möchte gar nicht danach
fragen, wie nach 1993 die spezielle „Erfindung“ von Kulturwissenschaft
an der Humboldt-Universität ausgefallen ist. Und will auch nicht
darüber reden, wie diese Wissenschafts-Erfinder mit den verbliebenen
Professorinnen der Ästhetik und den übrigen Ostkollegen (fast alles
habilitierte Kulturwissenschaftler) denn bei ihrem konstruktiven Tun
umgegangen sind. Über diesen Umgang zu sprechen ist offenbar heikel,
denn wir konnten keinen von ihnen bewegen, sich dazu hier zu äußern.
3. „Es gibt zu denken“: die Bindung an einen anderen Gesellschaftstyp
Ich will nun weder den Gekränkten noch den Empörten spielen, diese
Wendung der Dinge liegt lange hinter uns. Und es gibt einem
selbstverständlich zu denken, wenn mehr oder weniger prominente
Fachkollegen aus dem Westen, nicht nur die eigenen, an durchaus
prominenter Stelle erschienenen Publikationen zur Entwicklung der
Kulturwissenschaft ignorieren, sondern gleich das ganze vor 44 Jahren
gestartete Projekt für ein verfehltes Unterfangen halten, auf das man
besser nicht zurückblickt, sondern es mit einem abwertenden Nebensatz
erledigt.
„Es gibt zu denken“ meint, dass da auch selbstkritisch zu prüfen
ist, ob der internationale Wissenschaftlerprotest nicht doch ein Irrtum
war und die Studienrichtung Kulturwissenschaft - wie es in Leipzig ja
geschah - hätte abgewickelt werden müssen, weil sie – so etwas
zugespitzt die Begründung – mit doktrinären Theoremen nichts anderes
als treuliche Vollstrecker einer repressiven Kunstpolitik der SED
ausgebildet habe.
Solch Vorwurf ließe sich mit manchen Fakten untermauern, bliebe
aber dennoch etwas plump, weil er der komplizierten Situation nicht
annähernd gerecht würde. Besser sollte von der Tatsache ausgegangen
werden, dass „wir“ – wie alle anderen gesellschaftlich relevanten
Disziplinen auch – für einen anderen Typ von Gesellschaft ausgebildet
haben. Dieser Typus ist unter Experten strittig, die mehrheitlich auf
die politische Verfassung dieser zentral geplanten und gelenkten
Gesellschaft verweisen. Das macht ja auch Hartmut Böhme, wenn er von
„weisungsgebundenen“ Instituten spricht, an denen offenbar das
selbständige Denken und Entscheiden unmöglich war. Das klingt zwar nach
billigem Polit-Talk, trifft aber einen wesentlichen Punkt. Denn weder
die Wissenschaften noch die Künste wurden in der DDR vom politischen
Machtsystem als autonome Sphären und überlebensnotwendiges Korrektiv
ihres Handelns begriffen. Sie wurden funktional aufgefasst und sollten
Aufgaben erfüllen. Von solcherart Anmutungen sind die
Kulturwissenschaftler heute tatsächlich frei, allerdings folgen sie
mehrheitlich einem erstaunlich homogenen Bündel fester ideologischer
Grundsätze.
Wie wir wissen und erfahren haben, konnte die Zuweisung von
„gesellschaftlichen Aufgaben“ von den so Funktionalisierten damals
durchaus positiv aufgenommen werden. Dies vor allem, weil diese neue
politische Ordnung bei allen ihren Ungereimtheiten auch eine
Alternative sein wollte, eine Antwort auf innere Widersprüche und
Konflikte der kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Nur darum
war es möglich, große Erwartungen in einen Gesellschaftszustand zu
projizieren, der nicht mehr durch die kapitalistischen
Eigentumsverhältnisse strukturiert ist.
Diese andere Gesellschaft - an deren Gründung ich (wie alle hier im
Saal) altersbedingt gar nicht aktiv beteiligt sein konnte - war ihrer
Idee nach tatsächlich attraktiv. Sie erschien mir (und anderen) als
durchaus vernünftig und war auch für meine soziale Gesinnung und
mentale Ausstattung akzeptabel. Auch der Gedanke einer „kulturellen
Revolution“ war so abwegig nicht, denn was konnte kulturell anders
werden, wenn der Reichtum nicht mehr in Kriegen verpulvert wird, innere
Antagonismen aufgehoben sind, wenn soziale Unterschiede nivelliert und
kulturelle Distanzen geringer werden, wenn sich das allgemeine
Interesse vom Warenwert auf den Gebrauchswert verschiebt und sich das
Geld in eine Art Bezugschein für das Benötigte verwandelt?
In der politischen Sphäre wurde diese Umwälzung etwas anders
verstanden und deren Ziele auch anders formuliert. Aber auch dieses
politisch-ideologische Selbstverständnis war veränderlich, zeigte
Bewegung. Als dann das kulturwissenschaftliche Curriculum vor bald
einem halben Jahrhundert gegründet wurde, hatte sich nach Stalins Tod
und nach dem selbstkritischen Parteitag der sowjetischen Kommunisten
eine Konferenz der osteuropäischen Parteien auf „allgemeine
Gesetzmäßigkeiten“ beim Aufbau sozialistischer Gesellschaften geeinigt
und darunter dann auch eine „Kulturrevolution“ genannt. Daran hatte
sich auch die SED zu halten, stand aber vor dem (nicht ausgesprochenen)
Problem, dass das Projekt „Kulturrevolution“ einst eine (später Lenin
zugeschriebene) Idee von Leo Trotzki war, mit der er die
Oktoberrevolution strategisch zu legitimieren versuchte. Die
entwicklungsgeschichtliche Rückständigkeit Russlands – 90 Prozent der
Bevölkerung bäuerliche Analphabeten – sollte durch Kultur- und
Bildungsarbeit, durch Umerziehung, durch eine „Revolution auf dem
Gebiet der Ideologie und Kultur“ überwunden werden. Was aber sollte im
Industrieland DDR unter dieser „Kulturrevolution“ verstanden werden?
Auf diese verbindliche Programmatik reagierte die Sozialistische
Einheitspartei als zentrale politische Kraft 1958 mit dem Beschluss,
dass auch in der DDR eine sozialistische Kulturrevolution notwendig
sei. Dies aber mit der hauptsächlichen Begründung, der "subjektive
Faktor" - gemeint war die Befähigung der großenteils aus den
Unterschichten aufgestiegenen neuen Funktionselite - sei gegenüber
neuen Anforderungen an ihr „kulturelles Niveau“ zurückgeblieben. Dies
auch praktisch zu ändern wäre die Aufgabe, die den unmittelbaren Anlass
dafür bot, dass 1960 eine Kulturkonferenz des ZK der SED beschloss,
dass zur „Ausbildung leitender Kulturfunktionäre ... die notwendigen
Voraussetzungen zu schaffen [sind]. Dazu gehören die Ausarbeitung eines
Berufsbildes spezieller Bildungswege für Kulturfunktionäre, wie
Fachschulbildung, Hochschulbildung und mit beiden Einrichtungen
verbundenes Fernstudium“. Am 8. August 1962 hat dann das Sekretariat
des ZK (als zentrales Machtorgan der SED) den Aufbau eines
einheitlichen Qualifizierungssystems für Kulturfunktionäre beschlossen.
Kennern der politischen Geschichte ist bekannt, welche Rolle Alfred
Kurella dabei gespielt hat, der von 1957 bis 1963 die Kulturkommission
des Politbüros leitete und in dieser Funktion dem Politbüro auch als
„Kandidat“ angehörte.
Die Kulturstrategen unter den Politikern verbanden mit dem Beschluss drei große Aufgaben.
Erstens die Hebung des „kulturellen Niveaus“ der werktätigen
Massen. Als wichtigstes Mittel wurde damals die „kulturelle
Massenarbeit“ angesehen, die vorzüglich als aktiver und rezeptiver
Umgang mit den Künsten verstanden worden ist. Ein altes Ziel der
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, deren Kulturfraktion überzeugt
war, dass im Zukunftsstaat die Tempel der Künste allen offen stehen
werden. Eine Idee, die in anderer Form fünfzehn Jahre später, nach der
Überwindung der konservativ-elitären Adenauer-Ära, in der alten
Bundesrepublik zum Credo der „Neuen Kulturpolitik“ wurde.
Zweitens sollte die durch Verdrängung und Abwanderung
ausgedünnte Bildungsschicht nicht nur aufgefüllt werden, auch die
kulturellen Defizite der aus den bildungsfernen Schichten massenhaft
aufgestiegenen neuen Angehörigen der „Funktionseliten“ sollten schnell
abgebaut werden (sie sollten die Höhen der Kultur er„stürmen“).
Und drittens schließlich sollte die „bürgerliche Ideologie“
in allen ihren Formen überwunden werden und ein neues Wertesystems
(zentral ein „neues Menschenbild“) in der Gesellschaft etabliert und
(durch Erziehung) befestigt werden.
Wenn es für die Gestaltung dieser so umfassender Aufgaben der
Wissenschaft und der wissenschaftlich Ausgebildeten bedurfte, so zeigte
der Blick auf die Universitäten, dass keine der nach traditionellem
deutschen Kulturverständnis dafür präferierten kunstorientierten
Disziplinen – Germanistik, Kunstgeschichte, Musik- und
Theaterwissenschaft - so recht geeignet war, eine so grundsätzliche und
zugleich heterogene Aufgabe zu bedienen. So entschied sich das
zuständige Staatssekretariat für Hochschulwesen 1962, den
Gründungsauftrag in Berlin an das Philosophische Institut zu geben, das
seine Abteilung Ästhetik mit der Realisierung beauftragte. Und diese
neue Studienrichtung sollte – in Abgrenzung von den Kunstwissenschaften
nun „Kulturwissenschaft“ heißen.
Hier wurde also ein universitäres Curriculum “Kulturwissenschaft“
gegründet, ohne dass es irgendwo auf der Welt eine wissenschaftliche
Disziplin gleichen Namens gab. Die politischen Väter (oder besser: die
Veranlasser) dieser Gründung sind bekannt und haben sich dazu zwar
grundsätzlich, aber dennoch sehr vage geäußert. Sie meinten, dass der
Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zugleich ein kultureller
Umbruch wäre oder sein müsste. Und in deutsch-bildungsbürgerlichem
Geiste waren sie davon überzeugt, dass dies sich wesentlich in einem
veränderten Umgang mit den Künsten darstelle.
Nahm man diesen Auftrag ernst, so folgten daraus einige zu
bewältigende „Lehraufgaben“. Einmal mussten gesellschaftstheoretische
Erwägungen auf philosophischer Ebene angestellt werden: was ist Kultur,
worin unterscheiden sich Kulturen, wovon hängen sie ab, wie sind sie zu
beeinflussen usw. Dann musste wohl eine allgemeine Lehre von den
Künsten und von der ästhetischen Aneignung der Welt vermittelt werden.
Und schließlich konnten solche Lehren nur fruchten, wenn die
Studierenden auch Gelegenheit bekamen, sich mit den Geheimnissen
wenigstens einer Kunstgattung vertraut zu machen. Es war darum durchaus
schlüssig, dass der Auftrag zur Neugründung an die kleine Abteilung
Ästhetik eines Philosophischen Instituts gegeben wurde.
Diese Abteilung hat 1963 eine Gruppe von Fernstudenten
immatrikuliert und zugleich einige kunstinteressierte
Philosophiestudenten an sich gebunden. Sie haben – so Herbert Pietsch,
Jutta Voigt, Karin und Heinz Hirdina – inzwischen schon das Rentenalter
erreicht. Übrigens haben das auch einige der ersten regulären
Studenten, die ein Jahr später immatrikuliert worden sind, die
inzwischen legendären 64er.
Von hier an war „Kulturwissenschaft“ ein lebendiger Körper, ein
Ensemble kooperierender und widerstreitender Menschen. Alle irgendwie
auf das Glück der Vielen ausgerichtet und etliche auch mit dem
Sendungsbewusstsein des Kulturbringers. Doch auch das gebrochen durch
den skeptisch-relativierenden Blick des Kulturwissenschaftlers. Kaum
einer von ihnen dürfte unter das Nietzsche-Worte gepasst haben, das er
einst den Glücks- und Geichheitspredigern Benthams widmete: « Heil
euch, brave Karrenschieber, Stets "je länger, desto lieber".
So sehr das heute verwundern mag, sorgte für diese innere
Lebendigkeit des Studienbetrieb auf seine Weise auch das verbindliche
(und vom Staatssekretariat bestätigte) Studienprogramm mit seinen drei,
nur auf den ersten Blick gleichermaßen „stützenden“ Säulen
1. war das die Ästhetik (als allgemeine Kunsttheorie und als allgemeine Theorie der ästhetischen Kultur)
2. gehörte dazu die Kulturtheorie und
3. eine der großen Kunstwissenschaften als „Nebenfach“, zunächst
also Germanistik, Theaterwissenschaft oder Kunstgeschichte. Für
Klavierspieler war auch Musikwissenschaft möglich; später kamen andere
Nebenfächer dazu, vor allem Volkskunde/Ethnologie, Geschichte und
Soziologie.
Eine vierte Säule bildeten die Grundlagenfächer Philosophie und
Politische Ökonomie, die dann das 1968 (?) eingeführte und nicht selbst
verantwortete „Gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenstudium“
ablösen sollte. Mit dessen leicht unterkomplexer Ausrichtung hatten
aber Studierende wie Lehrende Probleme. Es konnte dann durchgesetzt
werden, dass bei uns (in Kooperation mit „Fachphilosophen“ und
Wirtschaftswissenschaftlern) wieder eine umfangreichere eigene
gesellschaftswissenschaftliche Grundausbildung erfolgte. Einer ihrer
Protagonisten hat sich inzwischen in die Stille der Provinz
zurückgezogen: Walter Hofmann lebt heute in Bonn und lässt grüßen.
Die Debatten um das erste Ausbildungskonzept erwiesen sich – und das möchte ich ausdrücklich betonen – auch als Auslöser für das nun zu klärende Problem, wie denn wissenschaftlich mit „der Kultur“ umzugehen sei, wie denn eine – damals konnte sie gar nicht anders heißen –„marxistisch-leninistische Kulturtheorie“ zu begründen sei.
4. Anfänge der Kulturwissenschaft als Disziplin – erste Phase
Terminologisch haben wir es seit dieser Zeit mit der Tatsache zu tun, dass „Kulturwissenschaft“ einmal der Name eines Studienganges war, der von mehreren Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam verantwortet worden ist und dass unter diesem Namen zugleich eine neue Wissenschaftsdisziplin sich zu bilden begann. Das waren zunächst Ansätze einer philosophischen Kulturtheorie,
die Anfang der 60er Jahre noch sehr stark durch politische Maximen und
einen dogmatisch verengten Marxismus geprägt waren. Allerdings hatte
der XX. Parteitag der KPdSU das sozialistische Gesellschaftskonzept
diskutabel gemacht und der Anfang unserer Kulturtheorie fiel zusammen
mit den von Walter Ulbricht angetriebenen Reformdebatten über die
Folgen der technischen Revolution, über die Rolle der Jugend, über die
ökonomische Struktur, über das System der Planung und Leitung und auch
über das gesellschaftliche „Teilsystem Kultur“.
Prägend für das damals vertretene kulturtheoretische Konzept war es
zweifellos auch, dass die sogenannten „Frühschriften“ von Marx (und
Engels) erstmals veröffentlicht und kommentiert worden sind. Eines
ihrer zentralen Themen sind die gewandelten Chancen für individuelle
Subjektivität, für die Selbstbestimmung der Menschen in ihren sozialen
und ideologischen Verwicklungen. Die historische
Subjekt-Objekt-Dialektik wurde zu einem methodologischen Schlüssel. Zu
untersuchen sei – so meinten wir damals - die „objektive Kultur“ (einer
sozialen Einheit) in ihren prägenden Wirkungen wie in ihrer
Abhängigkeit von den durch sie geprägten Subjekten, die sie tragen und
lebendig halten. Der „subjektiven Kultur“ der Individuen (und Gruppen)
galt die Aufmerksamkeit, wurde sie doch als Voraussetzung für
Entstehung und Fortleben aller kulturellen Objektivationen angesehen.
Das ging zweifellos recht abstrakt-philosophisch zu und
konditionierte nicht recht für Kulturpolitik und für die Leitung
praktischer Kulturarbeit. Es lieferte aber nicht nur Argumente, sich
gegenüber bornierten kulturpolitischen Vorstellungen mit Hinweis auf
Karl Marx behaupten zu können, sondern machte auch den Rang
theoretischer Grundpositionen deutlich. Die ersten Veröffentlichungen
von Angehörigen des 64er Jahrgangs Kulturwissenschaft in der
„Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität“ waren
entsprechend anspruchsvoll bis hochgestochen. Isolde Dietrich schrieb
über die „klassische Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung“,
Wolfgang Thierse betrachtete „Marx’ Bestimmung der Kunst als eine
besondere Weise der Produktion“, Renate Reschke machte sich „Gedanken
zur marxistischen Hegelrezeption auf dem Gebiete der Ästhetik“, Margard
Voigt betrachtete „Max Benses ‚Aesthetica’ im Lichte der Krise der
modernen bürgerlichen Ästhetik“, Renate Karolewski schrieb „Zur
sozialökonomischen Stellung des Künstlers im Kapitalismus unter den
Bedingungen der Technisierung seiner Produktionssphäre“ und Wolfgang
Herzberg dachte sich zusammen mit Klaus Spieler „Bemerkungen zur
Subjektivitätsauffassung W. I. Lenins“ aus.
Sicher war das eine Phase eher allgemeintheoretischer Orientierung
und mancher mag in der Vorlesung bei dem damals viel zitierten Satz von
Marx „der wirkliche Reichtum ist der Reichtum wirklicher Beziehungen“
gedacht haben: wohl wahr, wohl wahr! Aber: auf diese Weise konnte
dieser Satz - Credo der damals studierten Kulturtheorie – auch nicht
vergessen werden.
Und wenn etwas als positive Erfahrung aus dieser Zeit geblieben
ist, dann die Überzeugung, dass Kulturwissenschaft ohne eine
philosophisch begründete Vorstellung von den großen gesellschaftlichen
Zusammenhängen, in die Kultur eingebunden ist, nicht sinnvoll betrieben
werden kann. Doch bekanntlich macht solch ein theoretischer Ansatz noch
keine Kulturwissenschaft aus. Gefragt ist der „Reichtum wirklicher
Beziehungen“.
Dies kann übrigens auch an der Geschichte eines berühmteren
Instituts vergleichend angeschaut werden. Ein Jahr nach der Gründung
der Kulturwissenschaft in Berlin wurde in Birmingham von Richard
Hoggard das CCCS (das Zentrum für zeitgenössische kulturelle Studien)
gegründet, zunächst allerdings als eine rein forschende Einrichtung.
Dies geschah in der Tradition der marxistischen Literatur- und
Geschichtswissenschaft Großbritanniens und begann mit zwei großen
Fragen. Einmal wurde bezweifelt, dass die historisch-materialistische
Strukturtheorie in ihrer vorhandenen Fassung (zentral die
Basis-Überbau-Beziehung) geeignet sei, das Verhältnis von Kultur und
Gesellschaft richtig zu erfassen. Und dann war ihnen der Kulturbegriff
des etablierten Wissenschaftsbetriebs dünkelhaft, weil er ganze
Bereiche moderner Kulturen gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie dagegen
rückten gerade diese ausgeschlossenen, empirisch aber nicht zu
übersehenen Kulturen in die Mitte: die sub- und gegenkulturellen
Strömungen, die Kulturen der Unterschichten und Migranten, die
Popularkultur. Sie wendeten sich, wie Richard Hoggard (1957)
geschrieben hatte, „der ‚wirklichen’ Welt der Leute“ zu.
Doch von diesem wissenschaftlichen Ereignis, mit dem die Cultural
Studies begannen, erfuhren wir erst Mitte der 70er Jahre durch die
Übersetzung von Raymond Williams’ Culture an Society (1975) und durch
ein 1977 ebenfalls von H. Gustav Klaus herausgegebenes Bändchen mit
Texten, das später „Innovationen“ hieß. Ich erwähne dies als eine
gewisse Parallele. Wir waren zwar nicht durch das Bais-Überbau-Schema
geprägt, aber auch uns war ja klar geworden, dass der schöne
kulturtheoretische Ansatz, nach dem die praktisch tätigen Individuen
die Wechselbeziehungen von objektiver und subjektiver Kultur in
Bewegung hielten und vorantrieben, nur ein Konstrukt war, dessen
wissenschaftliche Brauchbarkeit offen war und dass erst noch der
Überprüfung und Konkretisierung an den kulturellen Realien, am
Alltagsleben der Vielen bedurfte.
An dieser Stelle sei die Andeutung eines Rückblicks unterbrochen
und auf die Komplexität einer solchen kulturgeschichtlichen Reminiszenz
hingewiesen. Es ist ja offensichtlich, dass dabei Mehrerlei
zusammenkommen muss. Einmal ist auf die gesellschaftliche und
politische Situation einzugehen, in der Studierende und Lehrende
jeweils gearbeitet haben. Dann hatte die Profession, die die Lehrenden
sich aneigneten und ausübten, immer einen bestimmten Stand –
international, im Lande und am Institut. Dann war da der Studiengang
mit seinen Anforderungen, also Studierende mit bestimmten Interessen
und mit Vorstellungen von ihrer späteren Arbeit. Zugleich waren - damit
in Formulierung wie Inhalt oft nur wenig übereinstimmende -
gesellschaftspolitische Erwartungen an diese Fachleute zu
berücksichtigen. Sie sollten ja einen Arbeitsplatz finden. Und
schließlich wären auch noch die verfügbaren Mittel zu würdigen, diesen
Anforderungen zu genügen - wissenschaftliche, personelle, finanzielle,
räumliche, kommunikative. Also insgesamt recht unterschiedliche
Beziehungsfelder, die da mit- und gegeneinander in Bewegung waren. Und
darum dürfte es auch völlig klar sein, dass die Vertreter der heute
hier versammelten 33 Immatrikulationsjahrgänge als Studierende in je
einer anderen solch „komplexen Situation“ waren, sie also wohl auf 33
verschiedene Weisen Kulturwissenschaft studiert haben dürften.
Weil wir die Situation der Studierenden als einen ständigen Wandel
sehen, lag es nahe, unsere – freilich bescheidenen – Erkundungen zur
Geschichte der Kulturwissenschaft zunächst auf die Absolventen, auf ihr
Studium und ihren beruflichen Weg konzentrieren. Eine „Verbleibstudie“
wurde begonnen. Viele der heute Anwesenden haben dafür einen
entsprechenden Fragebogen ausgefüllt, andere können es noch tun. Die
ersten Ergebnisse der Studie werden morgen vorgestellt. Eine Art
Abfallprodukt (und Hilfsmittel) war das Kulturwissenschaftliche Forum,
das wir über unser Internetjournal www.kulturation.de eingerichtet
haben. Es hat augenblicklich 361 aktive Mitglieder und könnte sich zu
einer speziellen Kommunikationsplattform entwickeln. Jedenfalls ist es
schon heute für jeden, der Kontakt zu seinen früheren Studienkollegen
oder zu Kulturwissenschaftlern überhaupt sucht, ein brauchbares
Hilfsmittel. Das gilt übrigens auch für das Journal selbst. Allerdings
sind von den 94 dort verzeichneten Autoren nur 17 studierte
Kulturwissenschaftler. Wer es nicht gemerkt hat: dies war eine
indirekte Einladung zur Mitwirkung.
Über diese Verbleibstudie und über das KUWIFORUM haben wir auch
schon viel anschauliches Material gesammelt. Es ist aber keineswegs
komplett und bedarf der fortlaufenden Ergänzung. Dies alles dann zu
präsentieren, ist mit konventionellen Medien gar nicht möglich. Teils
wird es darum als Reihe von Aufsätzen oder als Report im
Internetjournal www.kulturation.de erscheinen, teils wird es den
„Personendossiers“ (alle sind Selbstdarstellungen!) im KUWIFORUM
zugeordnet.
Wer sich dort als Kuwi ausweist, bekommt die beiden Codewörter für
den passiven Zugang zum Forum, wer selbst Daten eingeben will, erhält
die personengebundenen Codes eines aktiven Mitglieds. Wir müssen mit
dieser Zugangsbarriere arbeiten. Denn der Berliner Beauftragte für
Datenschutz und Informationsfreiheit teilte uns auf Anfrage mit, es sei
nicht auszuschließen, dass Absolventen ein „schutzwürdiges Interesse“
hätten. Worin es bestehen könnte, drückte er (nicht sehr sprachmächtig,
dafür aber realitätserfahren) so aus: „Es kann insbesondere gerade
darin bestehen, dass die ehemaligen Studenten ein besonderes Interesse
daran haben, in der Öffentlichkeit zu vermeiden, dass sie
Kulturwissenschaft an einer DDR-Universität studierten.“
Die dritte Publikationsform ist eine Geschichte der
Kulturwissenschaft in Bildern. Deren Urfassung wird hier heute und
morgen mehrmals als Powerpointpräsentation vorgeführt und wird
schließlich als DVD für alle verfügbar sein. Eine Voraussetzung dafür
ist, dass weiteres anschauliches Material über die Studienzeit aber
auch über die anschließenden Berufskarrieren bei uns eingeht. Übrigens:
als Powerpoint erworben, hat jeder die Möglichkeit zur Korrektur dieser
Geschichtsdarstellung: Unliebsames raus, eigene Bilder und Kommentare
rein.
Solch korrigierender Eingriff könnte nötig sein, denn die jetzt
vorliegende Darstellung gehorcht Gliederungsprinzipien die durchaus
diskutabel sind. Damit habe ich geschickt eine Übergangsfloskel zurück
zu meinem Hauptthema gefunden. Ich sehe nämlich eine zweite Phase in den Anfängen der Kulturwissenschaft als Disziplin.
5. Anfänge der Kulturwissenschaft als Disziplin – zweite Phase
Vielleicht wird der komplexe Charakter einer Geschichte der
Kulturwissenschaft sichtbar, wenn ich auf diese nächste Phase hinweise,
in der wir erneut intensiv darüber nachgedacht haben, wie der
Studiengang zu gestalten sei und in welche Richtung die neue
Kulturwissenschaft zu entwickeln wäre. Ich kann nicht alle der eben
genannten „Beziehungsfelder“ durchdeklinieren und muss es mit
Andeutungen bewenden lassen.
Den Anlass unserer Reformbemühungen bildeten wohl die Wandlungen
sozialistischer Gesellschaftspolitik Anfang 70er Jahre. Der hier
interessierende Aspekt war die größere Aufmerksamkeit für die innere
soziale Differenzierung und für das Alltagsleben der Leute. Im Text
einer kulturpolitischen Tagung des Zentralkomitees der SED standen
plötzlich Sätze, die sich schon in unseren Lehrbriefen fanden. Ohne
Zweifel war das eine politische Reaktion auf gewandelte Erwartungen in
allen sozialen Schichten und damit selbstverständlich auch bei jenen
jungen Leuten, die an die Universität kamen und ausgerechnet
Kulturwissenschaft studieren wollten.
Jedenfalls leuchteten Anfang der 1970er Jahre Zeichen einer Wende
auf, hin zu demokratischerer und sozial angemessenerer Gesamtpolitik.
Und politische Kräfte in der DDR versuchten, ein sozialistisches
Gesellschaftsverständnis von den (inzwischen qualitativ gewandelten)
Lebensbedingen und Bedürfnissen der arbeitenden Menschen her zu
entwickeln. Dafür hatten Kulturwissenschaftler bereits ein
entsprechendes Konzept umfassender kultureller Entwicklung in
Hauptlinien skizziert. Sieht man vom DDR-spezifischen Parteichinesisch
einiger Formulierungen ab, so kann man darin Grundzüge eines
zeitgemäßen Kulturkonzepts für eine entwickelte industrielle
Gesellschaft sehen. Diese konzeptionellen Gedanken lenkten dann auch
die Forschung auf die Frage, wie sich die sozialen Bedingungen
individueller Entfaltung in den modernen (nach)industriellen
Gesellschaften denn geschichtlich entwickelt haben und wie sie in der
Gegenwart sich wandelten.
Das erleichterte oder ermöglichte etwas, was ohnehin anstand: die
zaghafte Ausbildung einer eigenen Empirie und die (damit verbundene)
stärkere Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Eine
eigene Zeitschrift wurde gegründet (auch wegen der darüber im Westen zu
bestellenden Rezensionsexemplare aktueller Literatur), eine bis 1992
anhaltende Serie von jährlichen kulturtheoretischen Kolloquien wurde
begonnen und es wurden neue langfristige Forschungsprojekte konzipiert.
Nun wirkten sich auch die gegen Ende der 60er Jahre einsetzenden
Veränderungen in der westdeutschen Wissenschaftslandschaft aus. Jetzt
gab es dort kulturwissenschaftliche Publikationen, an denen wir die
eigene Position prüfen und profilieren konnten, an den Universitäten
Bremen, Bielefeld, Marburg, Frankfurt, Tübingen und vor allem in
Westberlin hatten wir nun Partner, die an einem Austausch mit uns
interessiert waren. Dieser Anschluss an eine größere wissenschaftliche
Community war nicht nur gut für das Selbstbewusstsein, er zwang vor
allem dazu, sich sprachlich und terminologisch von Eigenschöpfungen und
marxistisch-lenistischem Sondersprech zu trennen. Diese Eigenheiten
waren auch einer gewissen Isolierung geschuldet, denn im Osten gab es
außer den historischen Ethnologen der Sibirischen Abteilung der
Akademie der Wissenschaften und den historischen Psychologen nur die
polnische Freizeitsoziologie und einzelne ungarische Kulturtheoretiker,
von denen Impulse für unsere Arbeit ausgehen konnten. Nun „stellten“
sich Kulturwissenschaftler anderen Fachsprachen wie Methoden und fanden
in einigen ausgewählten Punkten den Anschluss an die internationale
Wissenschaftsentwicklung. dabei näherten wir uns Spezialbereichen der
Geschichtswissenschaft, der Ethnographie, der Volkskunde, der
Soziologie, der Psychologie und der Wirtschaftswissenschaft.
Die neuen kommunikativen Kontakte (selbstverständlich auch
innerhalb der DDR-Wissenschaft) machten es möglich, mit einem – wenn
man an heutige Bedingungen denkt - für die Lehre zwar unerhört großen,
für eine differenzierte Forschung aber sehr kleinen Personalbestand,
neue kulturwissenschaftliche Arbeitsfelder zu eröffnen. Mit einem
UNESCO-Projekt stiegen wir in die Freizeitforschung ein. Ästhetiker und
Kulturwissenschaftler wandten sich der räumlich-gegenständlichen
Umwelt, der Siedlungs- und Wohnweise wie der kulturellen Infrastruktur
zu. Es begann der Ausbau der Individualitäts- und
Persönlichkeitstheorie zu einem Konzept der "individuellen
Reproduktion". Es entstanden einige Studien zu lokalen, regionalen,
gruppen- und schichtenspezifischen kulturellen Differenzierungen bei
Jugendlichen und in der Intelligenz. Wir entwickelten erste Ansätze zur
Erforschung internationaler Kulturprozesse und damit für
international-vergleichende kulturwissenschaftliche Studien. Die
Umrisse einer Kulturgeschichte der deutschen Arbeiter wurden skizziert
(mit starker Betonung der enormen kulturellen Folgen von
kapitalistischer Lohnarbeit, der marktvermittelten Lebensweise,
industrialisierter Siedlung, Kommunikation und Zeitordnung.)
Etwas schwer taten wir uns mit Unterweisungen in all dem, was heute
Kulturmanagement heißt und damals „Planung und Leitung kultureller
Prozesse“ genannt worden ist und was eigentlich die entscheidende
Qualifikation der Absolventen sein sollte. Auch dafür bildeten wir eine
kleine Arbeitsgruppe. Die kann so unproduktiv nicht agiert haben, denn
ihre damaligen Leiter sind heute die Chefs wichtiger, national
operierender „kultureller Einrichtungen“.
Alle diese Projekte wirkten auf das Studium und veränderten es –
wie die meisten ohne die Leistungen der Studierenden gar nicht möglich
gewesen wären. Und das betrifft beide Studienformen. Nicht wenige
Fernstudenten haben sich – obwohl ihre Stärke in den Erfahrungen auf
recht unterschiedlichen Feldern der Kulturarbeit und Kulturpolitik lag
– mit wissenschaftlichen Arbeiten profiliert; einige von ihnen
wechselten in den Wissenschaftsbetrieb, andere litten fürderhin an
ihrer intellektuellen Überqualifikation.
6. Hat es eine dritte Phase gegeben?
Mit den 80er Jahren begann eine sehr zwiespältige Zeit.
Gesellschaftspolitisch war sie trist und langweilig, brachte aber
zugleich schon vor der spektakulären Schlussphase manche Aufregung. Der
Kulturwissenschaftler Dieter Kramer hat mich 1990 gefragt, wann ich
gemerkt habe, dass die DDR-Gesellschaft stagniert und von der Substanz
lebt. Ich habe ihm damals gesagt, dass wir zu Beginn der 80er Jahre von
den Wirtschaftsspezialisten der Parteiakademie informiert worden sind,
dass der Wettbewerb im entscheidenden Felde, dem der
Produktivkraftentwicklung verloren sei und der eingetretene Rückstand
unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr aufzuholen wäre. Eine
ernüchternde Nachricht für Kulturwissenschaftler, die die letzte
Bewegungsursache für Gesellschaft wie Kultur im Wandel der
Produktivkräfte und der Verkehrsverhältnisse sehen. Spätestens 1983 war
damit auch klar, dass die sozialen und kulturellen Aufwendungen weit
über dem lagen, was die Volkswirtschaft tragen konnte und schon deshalb
Zuwächse im kulturellen Bereich völlig ausgeschlossen waren. Alle
litten unter der Stagnation, ein Ausweg aus der Lage zeichnete sich
nicht ab. Das lenkte die Aufmerksamkeit auf die europäische Situation
und auf die deutsch-deutschen Beziehungen.
Andererseits zahlte sich nun die kulturwissenschaftliche Arbeit der
70er Jahre langsam aus. Eine ganze Reihe von Büchern wurde
herausgebracht, die MKF nahmen die Züge einer wirklichen
wissenschaftlichen Zeitschrift an, die Anmeldungen zu unseren
Kolloquien mehrten sich, wie die Einladungen zu Konferenzen und
Gastvorlesungen zunahmen. Wir haben zusammen mit unseren Freunden von
der Volkskunde ein eigenes kulturgeschichtliches Museum zustande
gebracht und die Eröffnungsausstellung ging dann nach Hannover und
Tübingen. Im Sommer 1989 konnte sie sogar in Westberlin gezeigt werden.
Das Projekt Arbeiterkultur kam in das deutsch-deutsche
Wissenschaftsabkommen, wir hatten es zu koordinieren und lernten dabei
die westdeutsche Forschungsfinanzierung kennen. Auch das ermutigte uns,
1986/87 zwei deutsch-deutsche Forschungsprojekte gemeinsam anzugehen
und bei der Volkswagenstiftung zu beantragen. Nur eines davon (über den
Wandel der Massenkultur in den 1920er Jahren) ließ sich dann noch
1990/92 realisieren, die Ergebnisse sind in Nr. 30 der MKF nachzulesen.
Ganz offensichtlich eine wissenschaftlich fruchtbare Zeit. Das
Selbstbewußtsein nahm zu, auch bei den aufmüpfigen Studierenden und
immer wieder waren „wir“ irgendwie auffällig und Adressat von
Kontrollen und „Strafmaßnahmen“.
Unsere kulturwissenschaftlichen Freunde an der Akademie für
Gesellschaftswissenschaften traf es härter. Nach Helmut Hankes
Rundumkritik der SED-Kulturpolitik erhängte sich sein Chef Hans Koch,
der zugleich Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für die
Kulturwissenschaften war. Helmut selbst wurde nach Potsdam „verbannt“.
Dazu kam, dass ein durch kollektive Ratschläge bei uns konzipiertes
Papier über unsere Position in der europäischen Kultur die Politoberen
mächtig erzürnen musste, weil ihnen Gorbatschow gerade jede europäische
oder gar deutsch-deutsche Eigenmächtigkeit verboten hatte. Weil
Honecker nicht „in die BRD“ reisen durfte, gerieten auch unsere
wissenschaftlichen West-Aktivitäten in ein anderes Licht und wurden
überprüft. Dazu kamen „Unbotmäßigkeiten“ unserer Studenten und
freimütige Äußerungen von Mitarbeitern über die ausstehende
„biologische Lösung“ der Führungsprobleme der SED, so dass laut über
die Schließung des Studienganges Kulturwissenschaft nachgedacht wurde.
Aber erst einmal wurde eine große Überprüfungskommission gebildet,
deren Mitgliedern es schließlich an Interesse und Handlungsenergie
mangelte. Anzumerkende Kuriosität: stattdessen stiftete der
Hochschulminister der DDR einen Wissenschaftspreis, den er im Sommer
1989 zum ersten und letzten Mal verlieh – an zwei Schmuddelkinder, an
denen der ständige Auszeichnungssegen bislang völlig vorbeigegangen
war: an die Forschungsgruppe AIDS der Charité und an unsere
Forschungsgruppe Arbeiterkultur.
Diese Übersicht macht vielleicht den Eindruck, dass die politischen
Auseinandersetzungen der Jahre 1988/89 uns nicht so recht interessiert
hätten. Und tatsächlich hatten die Dämpfer, die uns 1986 verpasst
worden sind, eine gewisse Wirkung. Aber ab 1987 haben wir uns aktiv an
den Reformdebatten beteiligt, die in der Regie von Dieter Klein unter
den Gesellschaftswissenschaftlern der Humboldt-Universität
stattgefunden haben. Da wurden viele Expertisen und Konzepte
ausgearbeitet. Das von Sigrid Meuschel geleitete Projekt zu den
sogenannten „SED-Reformern“ hat sie in den 90er Jahren alle
aufgearbeitet, kommentiert und in gut zwanzig Bänden zusammengefasst.
Zwei davon füllen unsere damaligen Vorstellungen von der Entwicklung
der Kultur, der Kulturpolitik und selbstverständlich von der
angestrebten Zukunft der Kulturwissenschaft. Und 1989 gingen wir ohne
Zögern daran, unsere eigene Arbeit in diesem Sinne zu reformieren und
jene Struktur der kulturwissenschaftlichen Forschung und Lehre
anzustreben, die ich auch heute noch für recht klug und ausgewogen
halte. Dafür hatten wir dann 1990/92 auch noch gute Bedingungen, und
unser Studienplan sollte auch noch bis 1993 gültig sein. Was wir nicht
wussten: im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen hatten sich schon
jene Fellows versammelt, die sich in einem Zweijahreskurs darauf
vorbereiteten, die Kulturwissenschaft in den Neuen Bundesländern zu
übernehmen. Nicht alle davon haben eine Professur abbekommen, einigen
von ihnen hätte ich es schon gewünscht.
7. Ein möglicher Schluss
Nun muss ich – obwohl dieses Ende nicht zufrieden stimmen kann,
aber „jegliches hat seine Zeit“ – einen positiv-versöhnlichen Schluss
versuchen. Und dies, obwohl es gleichermaßen unerfreulich ist, wenn man
angesichts der großen kulturellen Umbrüche und Konflikte der Gegenwart
die deutsche Kulturwissenschaft als verhältnismäßig unterentwickelt
wahrnehmen muss. Dies nicht nur wegen der Distanz, die etliche der
wenigen Kulturwissenschaftler zu den gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen, politischen und alltagswirklichen Verwicklungen der
Kulturen haben. Da täuscht das Gerede über den sogenannten Cultural Turn
in den Wissenschaften auch noch darüber hinweg, dass die seriöse
Kulturwissenschaft hierzulande auch quantitativ sträflich
unterentwickelt ist. Überdies erzeugt es Abwehr, wenn es trivialisiert
heißt, dass nun alles irgendwie Kultur sein solle, Kultur die Natur des
Menschen wäre usw. [Bredekamp: „vom Zeitgeist gelenkt und
ideologieanfällig“].
Ich will nicht verhehlen, dass auch im Unbehagen an diesem
Ungenügen ein Motiv für den Rückblick auf die Geschichte der
ostdeutschen Kulturwissenschaft liegt. Und so sollte trotz (oder gerade
wegen?) ihres unrühmlichen Endes die Frage aufgeworfen werden, was
deren Tradition denn hätten einbringen können. Hier ein Vorschlag in
fünf Punkten, der - das ist ja unschwer zu erkennen - sich auch an den
Mängeln des geistesgeschichtlichen Unterhaltungsbetriebs reibt, der
heute vielfach als Kulturwissenschaft firmiert. Zu positiven Merkmalen
ostdeutscher Kulturwissenschaft zähle ich (einige der negativen habe
ich bereits angedeutet):
1. eine bestimmte marxistische Traditionslinie, innerhalb derer immer wieder aufs Neue nach den sozialen und kulturellen Vermittlungen zwischen sozialen Makrostrukturen und individuellem Dasein
gesucht wurde. Es wurde probiert, die Kulturwissenschaft als eine
historische Sozialwissenschaft zu entwickeln. Sie wurde nicht als
geisteswissenschaftliche Disziplin verstanden, sondern als eine
„Gesellschaftswissenschaft“. Wir hätten – freilich missverständlich -
„Menschenwissenschaft“ sagen können oder besser „historische
Anthropologie“. Aber wer hätte uns dann verstanden?
2. gehörte zur Arbeitsweise ein bestimmter Sinn für die Nöte und für die Chancen der/des Menschen
in der modernen Welt - Voraussetzung für jedes wissenschaftliche und
praktische Interesse an Kultur. Dieser Sinn ist es auch, der die Nähe
zu den Künsten stiftet. Sie sind es ja, die vornehmlich die Freiheit
der einzelnen einfordern, sie in ihrer sozialen Gebundenheit und in
aller Widersprüchlichkeit denken und auch erlebbar machen.
Kulturpolitisch führte uns das zu dem Widerspruch, einerseits
künstlerische Produktionen fördern zu wollen, die in die
gesellschaftlichen Debatten so oder so eingreifen. Und dann wussten wir
andererseits schließlich (!) auch, dass die eigenen Welten der Künste
und der Künstler als autonome Räume, als Experimentierfelder und
Rückzugsorte wohl zu sichern und zu schützen sind. Und dies, weil sie –
und dies im Unterschied zu den Wissenschaften – auch darin Modell
selbstbestimmten Handelns sind.
3. möchte ich eine bestimmte gesellschaftskritische Haltung
nennen, ohne die Kulturwissenschaft zum „Glasperlenspiel“ gehört oder
als intellektuelle Unterhaltungsform betrieben wird. Aus kritischer
Geisteshaltung folgen ihre Utopien, ihre Änderungsabsichten und ihre
wissenschaftliche Sensibilität. Im Rückblick auf die DDR besteht
allerdings die Neigung, nur die politische Kritik gelten zu lassen.
Dies hat seine gewisse Berechtigung darin, dass in einer vor allem
politisch regulierten Gesellschaft das politische Handeln ein ganz
anderes Gewicht hat als in der heutigen, in der die Politik –
verglichen mit der Wirtschaft - zu den sekundären Mächten gehört. Aber
betonen wollte ich eine gesellschaftskritische Haltung, die bei uns
zumindest in den 80er Jahren mit Hoffnungen an eine politisch
reformierte DDR geknüpft war.
4. lässt sich eine bestimmte thematische Orientierung
beobachten. Was Kulturwissenschaftlern vor Jahrzehnten wichtig war,
erschöpft zwar die heutige Problemlage nicht annähernd, beschränkte
sich aber keineswegs auf die spezifischen Verwicklungen des
"Staatssozialismus". Zu diesen Themen von „übergreifender Bedeutung“
gehören: die Wandlungen der Lebensweisen und Lebensstile, die
Spannungen zwischen Individualisierung und Massenkultur, die
ökologische Wende in der abendländischen Kulturauffassung, die
kulturelle Situation der Geschlechter, die Voraussetzungen für einen
kulturellen Pluralismus (Gruppenkulturen, Minderheiten, Föderalismus),
die mögliche Zukunft des kulturellen Leben der Städte und Gemeinden
(Soziokultur, Vereinswesen), die Formen der Kulturförderung, die Spanne
zwischen den Alternativkulturen und dem staatlichen wie dem
kommerziellen Kulturbetrieb usw. Und schließlich auch die Frage danach,
was denn europäische Kultur sei und wie darin deren sozialistische
Elemente platziert sind.
5. An letzter Stelle möchte ich auf die Kenntnis der ostdeutschen Kultur
und ihrer Geschichte von 1945 bis heute verweisen. Ich kann nicht näher
darauf eingehen, warum diese Kenntnisse für das Verständnis der
heutigen kulturellen Situation wohl unabdingbar sind. Ich möchte aber
darauf hinweisen, dass die wichtigsten fachspezifischen Leistungen von
ostdeutschen Kulturwissenschaftlern nach 1990 in Publikationen zur
Kulturgeschichte der DDR und zur kulturellen Situation nach 1990 zu
finden sind. Jeder kann sich davon selbst überzeugen, wenn er die auf
den drei Tafeln ausgestellten 322 Titelseiten von Publikationen
anschaut, die von den Berliner Kulturwissenschaftlern stammen oder an
denen sie prominent mitgewirkt haben. Dieser „Materialbestand“ lässt
sogar die Frage aufkommen, ob denn nicht schon eine
kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung zu versuchen wäre. Auch die
Geschichte unseres Studienganges könnte – wie ich gerade in den letzten
Wochen intensiv erlebt habe – ein spannender und aufschlussreicher
Zugang dazu sein. Schon die umfangreiche Personage ist hochinteressant
in ihrer inneren Differenziertheit, in der Mannigfaltigkeit der Talente
und Professionen, in der Fülle an Erfahrungen und in der Vielfalt der
Schicksale.
Und dies war auch der Grund dafür, warum wir zu unserer kleinen
Tagung über die Geschichte und über mögliche Perspektiven der
Kulturwissenschaft nicht den kleinen Kreis der Spezialisten eingeladen
haben, sondern auch alle, für die das kulturwissenschaftliche Studium
zwar nur ein Moment ihrer Biografie ist, die aber mit ihrem Berufsleben
die ostdeutsche Kulturgeschichte der letzten 40 Jahre wie kaum eine
andere Gruppe mitprägten und heute in ihrer Person auch repräsentieren.
Norbert Krenzlin (Foto: Scheel)
Norbert Krenzlin
Die Geburt der DDR-Kulturwissenschaft aus Philosophie und Ästhetik
Die Gründung von philosophischen Instituten an den Universitäten
Berlin, Leipzig und Jena im Jahre 1951, verbunden mit der Einführung
eines fünfjährigen Philosophiestudiums, bilden den historischen Rahmen
des Themas. Die Institute hatten in der Regel folgende Struktur
(Abteilungen, Bereiche):
- - - Dialektischer und Historischer Materialismus
- - - Logik und Erkenntnistheorie
- - - Geschichte der Philosophie
- - - Ästhetik bzw. Ethik (das hing vom Profil der Mitarbeiter ab)
- - - In Berlin kam 1959 noch der Bereich „Philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften“ hinzu.
Von einem Bereich „Kulturwissenschaft“ war noch keine Rede; um so
mehr von Kulturpolitik, sozialistischer Kultur, von Kulturschaffenden
und – nicht zu vergessen – vom „Leninschen Programm der sozialistischen
Kulturrevolution“.
Der Studienplan von 1951, dessen hervorstechendes Merkmal – neben
der politischen Indoktrination – die systematische Verschulung des
Studiums war, wurde 1956 durch den „Studienplan für die Fachrichtung
Philosophie“ abgelöst; sein Inhalt war maßgeblich von Ernst Bloch
mitbestimmt worden [1]. In ihm kamen die philosophischen
Spezialisierungen und die „Ergänzungsfächer“ zum Zuge; im Hinblick auf
die Ästhetik z.B. Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte, Germanistik,
Anglistik, Romanistik. Damit konnte man leben, wenn ich an die zweite
Hälfte meines Studiums zurückdenke. Der Blick über den Tellerrand
weckte Neugier und ließ hoffen.
1956, ein geschichtsträchtiges Jahr (XX. Parteitag der KPdSU;
Ungarn-Aufstand; Verhaftung Wolfgang Harichs), waren in der „Ästhetik“
des Berliner Instituts für Philosophie folgende Wissenschaftler tätig:
Walter Besenbruch (1907-2003), Wolfgang Heise (1925-1987), Heinz
Wolfrum (Jg. 1926); hinzu kam der Aspirant Erhard John (1919 - 1997).
John hatte sich durch engagierte „Kulturarbeit“ in Sachsen eine
Aspirantur (1954-1956) erwirkt. Er war u. a. als Leiter der
Landesvolkshochschule Sachsen tätig gewesen, der späteren Zentralen
Schule für kulturelle Aufklärung, Meißen-Siebeneichen.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, wer mit welchem Thema wann promoviert hat.
Wolfgang Heise, seit 1952 wissenschaftlicher Oberassistent am
Institut für Philosophie, promovierte 1954 mit der Studie „Johann
Christian Edelmann. Seine historische Bedeutung als Exponent der
antifeudalen bürgerlichen Opposition um die Mitte des 18.Jahrhunderts“.
Das hatte wenig mit Ästhetik zu tun, aber viel mit der Hegel-Phobie
Stalins. „Im Kontext der internen Hegel-Debatte“, so Camilla Warnke,
„wurde… am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität … 1952
eine Arbeitsgruppe zur Erforschung vergessener deutscher Materialisten
etabliert. Die Resultate dieser Materialismus-Forschung sollten
beweisen, dass auch in der Geschichte der deutschen Philosophie der
Materialismus und nicht der Idealismus das ‚Banner der aufsteigenden
Klassen’, des Fortschrittes, gewesen sei.“ [2] Wolfgang Heise wurde
1955 Wahrnehmungsdozent für Theorie und Geschichte der Ästhetik und
glänzte damals schon vor großem Publikum mit seinen Vorlesungen zur
Geschichte der Ästhetik.
Walter Besenbruch, seit Oktober 1953 Professor für Ästhetik am
Institut für Philosophie, promovierte mit der als Buch bekannt
gewordenen Abhandlung „Zum Problem des Typischen in der Kunst. Versuch
über den Zusammenhang der Grundkategorien der Ästhetik“. Weimar 1956.
Tag der Promotion war der 29.06.1956.
Der Aspirant Erhard John wurde am 28.11.1956 zum Dr. phil.
promoviert (in seinem Falle war dies zugleich der Hochschulabschluss).
Das Thema seiner Dissertation lautete: „Propädeutik zu einer Theorie
der Kultur und Kulturrevolution“. Die Dissertation wurde, ohne dies
kenntlich zu machen, im darauf folgenden Jahr als erster Teil des
zweiteiligen Buches „Probleme der Kultur und der Kulturarbeit“, Berlin
1957 (Deutscher Verlag der Wissenschaften) veröffentlicht. (Erster
Teil: „Kultur und Gesellschaft“; Zweiter Teil: „Bemerkungen zu einigen
theoretischen Fragen der Kulturarbeit“.) [3]
Heinz Wolfrum, Absolvent des Ersten Referentenlehrgangs des
Kulturbunds 1949, kam 1951 an das Institut für Philosophie und wurde
Assistent und Seminarleiter in der Ästhetik. Er hat meines Wissens
nicht promoviert. In Erinnerung geblieben ist er mir vor allem durch
eine Episode, in der Walter Besenbruch und der Bildhauer Christian
Daniel Rauch eine Rolle spielen. Walter Besenbruch liebte es, von Zeit
zu Zeit den Geist der Goethezeit zu beschwören und die
Studenten daran teilhaben zu lassen. Er besaß einen Gipsabguss der sehr
schönen Goethebüste Rauchs (1820), die er sich gelegentlich von seinem
Zimmer in den benachbarten Hörsaal 24 bringen ließ. Links neben dem
Katheder – vom Auditorium aus gesehen - befand sich eine Tischreihe,
auf der die Goethebüste Platz fand. Heinz Wolfrum, klein und schmal,
die schwere Büste schleppend – das Bild ist in Erinnerung geblieben und
inspiriert seither meinen Begriff von Kulturarbeit.
Aus dem bisher Vorgestellten ergibt sich folgendes Bild: Bis 1956,
also in den ersten fünf Jahren seiner Existenz, hatte es im Bereich
Ästhetik des Berliner Instituts für Philosophie nur zwei Promotionen zu
Themen und in Verantwortung des Fachs gegeben: die von Walter
Besenbruch und Erhard John. Es fällt auf, dass Ästhetik und
Kulturwissenschaft bei der Betreuung und Promotion des
„wissenschaftlichen Nachwuchses“, dessen Vertreter in dieser
Umbruchszeit bereits vierzig Jahre und älter sein konnten, von
Wissenschaftlern anderer Bereiche und Institute abhängig waren.
Besenbruchs Gutachter waren die Romanistin Prof. Dr. Rita Schober
(Jg.1918) und der Philosoph (Logiker und Erkenntnistheoretiker) Prof.
Dr. Georg Klaus (1912 – 1974), der zu dieser Zeit wohl einzige
Lehrstuhlinhaber am Philosophischen Institut; die Gutachter von Erhard
John waren ebenfalls Georg Klaus sowie Dr. Hermann Scheler (1911-1972)
als Vertreter des Historischen Materialismus. - Walter Besenbruch dankt
im Vorwort seines Buches Frau Prof. Dr. Rita Schober, den Genossen
Havemann, Gotsche und Begenau sowie der sowjetischen Ästhetik. Erhard
John dankt den „Kulturschaffenden verschiedener Gebiete“ sowie
namentlich „Dr. Scheler und insbesondere Dr. Heyse“ (!).[4]
Walter Besenbruchs Dissertation war bereits vor der Promotion als
Buch erschienen und in der Öffentlichkeit – in jener kurzen Phase, die
auf Entstalinisierung hoffen ließ[5] - lebhaft diskutiert worden. Dabei
handelte es sich einmal um eine Diskussion „Am runden Tisch des
SONNTAG“ [6]; zum anderen um einen Artikel Wolfgang Heises, der sich in
der Auseinandersetzung mit Positionen Walter Besenbruchs „Zu einigen
Grundfragen der marxistischen Ästhetik“ äußerte[7]. Heises Artikel,
dies nebenbei bemerkt, hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung
der Berliner Ästhetik.
Anders liegen die Probleme bei der Promotion von Erhard John. Zwar
hat auch er dafür gesorgt, dass seine Dissertation schnell an die
Öffentlichkeit kam; aber das passierte erst nach dem Rigorosum, d.h.
die Gutachter waren mit dem Promovenden und seiner Dissertation
zunächst unter sich. Und das hatte Folgen. Die Frage, ob „Kultur“ einer
eigenen Wissenschaft bedarf – als Theorie und Geschichte ihres
Gegenstandes – und wie dies gegebenenfalls methodisch zu realisieren
sei, tauchte in den Gutachten und im Rigorosum, weil politisch noch
nicht relevant, nicht auf.
Im Gutachten von Georg Klaus heißt es: „John stellt sich die
Aufgabe, eine wissenschaftliche Fundierung und Formulierung des
marxistischen Kulturbegriffs herauszuarbeiten und daraus
Schlussfolgerungen über die Stellung der Kultur zu Basis und Überbau
und zur Kulturpolitik abzuleiten. Er bemüht sich ferner, das Wesen des
sozialistischen Humanismus und der sozialistischen Kulturrevolution
darzustellen.“ Dies sei verdienstvoll und im Wesentlichen gelungen.
Kritisch merkt Klaus an, dass Johns „Beweisführung oft esoterischen
Charakter trägt, d.h. stillschweigend an die Zustimmung des Lesers zu
bestimmten Prämissen, die erst zu beweisen wären, appelliert.“ Der
Vorwurf ist hart und – genau besehen - sehr grundsätzlich, weil er
nicht nur Erhard John, sondern den „Marxismus-Leninismus“ in seiner
dogmatischen Erstarrung als Ganzes trifft. Dem kam es – nicht nur in
der philosophischen Arbeit - schon längst nicht mehr aufs Beweisen und
Überzeugen an, sondern auf Parteidisziplin und unerschütterlichen
Glauben: an die vermeintliche Überlegenheit der in die Lehre
„Eingeweihten“, der „Wissenden“, eben „Esoteriker“. [8] Aus derselben
Perspektive moniert Klaus eine gewisse Laxheit Johns im Umgang mit
philosophiegeschichtlichen Themen von der Aufklärung bis zur modernen
bürgerlichen Philosophie. Er denkt dabei vor allem an Oswald Spengler.
Für Hermann Scheler ist Johns Arbeit „ein wertvoller Versuch, den
marxistischen Kulturbegriff sowie den Gegenstandsbereich der
Kulturpolitik des sozialistischen Staates zu bestimmen.“ Zustimmend
hebt der Gutachter den Gedanken hervor, dass die Produkte
Vergegenständlichungen menschlicher Wesenkräfte und als solche
„Kulturgüter“ sind: „gleichgültig ob sie als Produkte vorwiegend
geistiger oder körperlicher Arbeit erscheinen.“ „Gewisse Schwächen der
Arbeit“ sieht Scheler „in einer ungenügenden Bestimmung des Begriffs
der menschlichen Wesenskräfte“ sowie „in einer gewissen Abstraktheit,
in der sich die Abhandlung über den marxistischen Kulturbegriff
bewegt.“
In Johns Arbeit war die Tendenz erkennbar, sich von Philosophie und
Ästhetik zu emanzipieren und eine eigenständige „Kulturwissenschaft“
ins Leben zu rufen. Die Frage, ob und wieweit dies gelungen ist, hat in
den Gutachten und im Rigorosum von 1956 noch keine Rolle gespielt. Acht
Jahre später, 1960 war die Hochschulausbildung von
Kulturwissenschaftlern und Kulturfunktionären in die politische Agenda
aufgenommen worden[9], ist Dietrich Mühlberg bei seinem Versuch, eine
marxistische Kulturgeschichte zu begründen, darauf zurückgekommen: “Es
trat zunächst E. John mit einer Kritik des ‚Sammelbegriffs’ der Kultur
auf, wie er in den verschiedenen sowjetischen Publikationen der
fünfziger Jahre gegeben worden ist. Er setzte an seine Stelle jedoch
wiederum eine Aufzählung verschiedener wesentlicher Zusammenhänge,
Bestimmungen und Erscheinungen. … Positiv und weiterweisend an diesem
Bestimmungsversuch war, dass John die ‚Entfaltung der körperlichen und
geistigen Kräfte’ ‚auf der Grundlage der Arbeit ‚ hervorhob und die
zielstrebig fortschreitenden Beherrschung von Natur und Gesellschaft
durch ‚Anwendung’ der ‚vergegenständlichten Wesenskräfte’ betonte.“
[10]
Die Situation von Ästhetik und Kulturwissenschaft dieser Jahre war durch zwei Momente gekennzeichnet.
1. Es gab noch keine politische Legitimation für die
Aufgabe, Kultur – ihre Theorie und Geschichte – systematisch zu
erforschen und auszuarbeiten. Sie erfolgte erst 1960. Dies im
Unterschied zur Ästhetik, die auf eine lange Tradition in Philosophie
und Wissenschaft zurückblicken konnte.
2. Noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war es
üblich, dass Kulturwissenschaft – genauer: Reflexionen über
Kulturpolitik – von Ästhetikern mitvertreten wurden. [11] Walter
Besenbruch z.B. hinterließ ein umfangreiches, zu großen Teilen noch
unveröffentlichtes Konvolut zu Fragen der Kultur und Kulturpolitik, in
das ich Dank des freundlichen Entgegenkommens von Helga Besenbruch,
Einsicht nehmen konnte. [12] - 1962 wird Erhard John in Leipzig zum
„Dozenten für Allgemeine Kulturwissenschaft (Ästhetik und
Kulturtheorie/-philosophie)“ berufen.
Wie sich die Kulturwissenschaft seither entwickelt hat, kann der Power Point Präsentation „Geschichte der Ostberliner Kulturwissenschaft 1945 - 2006 in Bildern und Dokumenten – ein offenes Projekt“ entnommen
werden. Ich möchte an dieser Stelle auf Michael Franz´ vergleichbare
Studie zur Entwicklung der Berliner Ästhetik aufmerksam machen. Darin
heißt es: „Das Neue Ökonomische System (NÖS) [das war 1963; N.K.]
stellte die Ästhetik vor große Herausforderungen: Es wurde klar, dass
Ästhetik künftig unter qualitativ veränderten Bedingungen betrieben
werden musste, nicht mehr unter dominant ideologischen Bedingungen,
sondern unter dem Anforderungsdruck einer Revolution der technischen
Produktivkräfte, die völlig neue Gestaltungsspielräume eröffnete.
Ästhetik musste sich nicht nur auf industrielles Bauen und
weltmarktorientierte Produktstrategien, sondern auch auf neue
Instrumente und Methoden der elektronischen Datenverarbeitung
einstellen. Aus dem Trend zur Mikroelektronik und zur
Vollautomatisierung ergaben sich neue Entwicklungslinien, die ebenso
berücksichtigt werden mussten wie die Medialisierung der sozialen
Kommunikation einschließlich des Kunstprozesses.
Die Neuansätze innerhalb der ‚Berliner Ästhetik’ sind als
Antworten auf die genannten Herausforderungen zu begreifen. Sie lassen
sich nach folgenden Schwerpunkten charakterisieren: (1) philosophische
und historische Grundlegung einer funktionalen Realismustheorie, (2)
Untersuchungen zum Wahrheitsproblem in den Künsten, (3) die
axiologische Problematik der künstlerischen Aneignung, (4) Anwendung
und Spezifizierung der Semiotik in der Ästhetik, (5) Rehabilitierung
und Neubegründung des ästhetischen Eigenwerts der Künste, (6)
Historisierung und Neukonzeptualisierung des Ensembles der Künste.“
[13]
So weit Michael Franz und die Erinnerung an die freundlich
konstruktive Seite der Entwicklung der Berliner Ästhetik seit den
sechziger Jahren, über die man diskutieren müßte. Ich kann allerdings,
wenn es um die Geschichte der Berliner Ästhetik geht, das Ende der DDR
– mag dieses nun auch schon wieder 18 Jahre her sein – und seine
Ursachen, sofern sie die Ästhetik tangieren, nicht aussparen. [14] Wenn
einer versucht hat, engagiert Ästhetik zu betreiben, also mit Herz und
Verstand, und dadurch angehalten war, sich intensiv mit der DDR-Kunst
und –Literatur zu beschäftigen, sich auch auf Schriftsteller und
Künstler einzulassen, wie es uns Wolfgang Heise exemplarisch vorgemacht
hatte, bei dem konnten die Tröstungen und Verheißungen des
Marxismus-Leninismus und die Drohungen der Partei nicht mehr verfangen.
Die ernst zu nehmenden Künste im Sozialismus, vor allem im
Spätsozialismus, besaßen ein Monopol (manchmal errungen um den Preis
künstlerischer Qualität): sie als einzige konnten - mit etwas Fortune –
Gegenstände und Themen zur Sprache bringen, die im übrigen tabu waren,
und so eine kleine, aber authentische Öffentlichkeit bilden, die es in
der Gesellschaft sonst dafür nicht gab. Und sie luden dazu ein, an den
Kunstwerken den Zustand der Gesellschaft und die Befindlichkeit der
Individuen in ihr zu diagnostizieren. Lange bevor es realiter zu Ende
ging, war die Krise der DDR in den Künsten und von Künstlern
signalisiert worden: der Massenausreise von 1989 war der Abschied der
Künstler seit 1976 vorausgegangen. Karin Hirdina, eine prominente
Vertreterin der Berliner Ästhetik, kam in ihrer Analyse der damaligen
Situation zu folgendem Ergebnis: „In den Künsten ist thematisiert
worden, was jetzt als Krise allgemein diskutiert wird: die Ohnmacht des
einzelnen gegenüber verselbständigten Macht- und Sicherheitsapparaten,
die Aushöhlung der gesellschaftlichen Ziele, zunehmende
weltanschauliche Orientierungs- und Bindungslosigkeit, Erziehung zu
Heuchelei und Opportunismus, Auseinanderklaffen von öffentlichem
Bewusstsein, von Information und Realität, Leistungsverweigerung und
Privatisierung. Der Umgang mit der Kunst, die diese Tendenzen zur
Sprache brachte, ist selbst Zeichen der Krise: Statt den Schaden zu
untersuchen und zu beheben, wurden die Schadensmelder bestraft,
zensiert, ausgebürgert.“ Ästhetiker in dieser Situation fühlten sich
permanent gestresst. Sie waren es aus der Geschichte des Marxismus zwar
gewöhnt, dass auf ihrem Feld häufig „Stellvertreterkriege“ geführt
wurden – eine Tradition, die vom „Sickingen-Briefwechsel“ (1859) bis
zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum (1965) reicht;
„Expressionismusdebatte“ (1937/38) und „Formalismus-Diskussion“ (1951),
zwei weitere prominente Beispiele dürfen nicht unerwähnt bleiben; aber
so isoliert waren sie wohl noch nie. Der Freitod Hans Kochs im Herbst
1986 wurde in dieser Situation zum Menetekel.
Ich möchte abschließend, die Gelegenheit nutzen, auf zwei Bücher
aufmerksam zu machen, die in diesem Jahr erschienen sind und von denen
ich meine, dass sie auch Kulturwissenschaftlern und Ästhetikern viel zu
sagen haben. Es handelt sich um Werner Bräunigs (1934 – 1976) Roman „Rummelplatz“, herausgegeben von Angela Drescher [15], Berlin (Aufbau) 2007; und um Edith Andersons (1915 – 1999) „Liebe im Exil
– Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im
Berlin der Nachkriegszeit“, BasisDruck (Berlin) 2007; herausgegeben von
Cornelia Schroeder.[16] Beide Bücher handeln von der Frühgeschichte der
DDR. Bräunigs Roman spielt unter Kumpeln der Wismut AG; Edith Anderson,
Frau von Max Schroeder, des ersten Cheflektors des Aufbau Verlags,
erzählt die Geschichte der politischen und künstlerischen Oberschicht
der jungen DDR. Beiden Büchern gemeinsam ist, dass sie in der DDR nicht
erscheinen konnten. Den Versuch, Bräunigs Roman zu veröffentlichen, hat
das11.Plenum (1965) zunichte gemacht – und den Autor gleich mit. Das
Manuskript der Erinnerungen Edith Andersons wurde erst 1995, sechs
Jahre nach dem Ende der DDR, abgeschlossen. Die Frage, ob das Buch,
sofern es früher fertig geworden wäre, in der DDR hätte erscheinen
können, ist müßig. „Edith Andersons Erinnerungen sind gleichermaßen
Liebes-, Lebens- und Kulturgeschichte der Jahre 1947 – 1958. Kühl,
lebhaft, ironisch und selbstironisch – gegen die zunehmende
Unkenntlichkeit jener Zeit geschrieben.“
Anmerkungen
[1] Vgl. hierzu: „Studienpläne für das Fach Philosophie in der DDR
1951 und 1956“ in „Dokumenten-Anhang zusammengestellt und kommentiert
von Hans-Christoph Rauh“. In: Anfänge der DDR-Philosophie: Ansprüche,
Ohnmacht, Scheitern/ Volker Gerhardt; Hans-Christoph Rauh (Hg.). Berlin
(Links) 2001. S.517 ff.
[2] Camilla Warnke: Der junge Harich. In: Anfänge der DDR-Philosophie. A. a. O. , S.486.
[3] Vermutlich hat Erhard John die Zeit der Aspirantur in Berlin -
mehr als zwei Jahre – genutzt, um das Buch zu schreiben und den ersten
Teil davon – unter theoretisch anspruchsvollem Titel - als
Dissertationsschrift eingereicht.
[4] Ich hatte Gelegenheit, die Promotionsakten von Walter Besenbruch und Erhard John im Universitätsarchiv der HU einzusehen.
[5] Daß es der Parteiführung mit der „Entstalinisierung“ nie ernst
war, zeigt auch eine Tagung des Parteiaktivs der Humboldt-Universität
[Juni 1956], auf der Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED,
die Beschlüsse des XX.Parteitags der KPdSU und der 3. Parteikonferenz
der SED erläuterte, und zwar ganz im Sinne des Sprichworts „Wasch mir
den Pelz, aber mach mich nicht naß“. Ulbricht hatte keine
Schwierigkeiten, Forderungen zu stellen, die sich wechselseitig
paralysierten: (1)„Die Diskussion wird auch gehindert, weil vielfach
bei der Vertretung neuer Ideen geantwortet wurde: ´Du liegst schief.´
Man muß diese Methoden überwinden.“ (2.) „Da es in vielen
Parteileitungen der Universitäten und Hochschulen Schwankungen gibt,
muß der ideologisch-politischen Arbeit mit diesen Parteileitungen sowie
der Schulung des Parteiaktivs an den Universitäten und Hochschulen
besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.“ (ND vom 21.06.1956, S.3)
„Schieflage“ oder „Schwankung“ – das ist hier die Frage! Absurdes
Theater, auf den Bühnen der DDR verboten, tummelte sich unbekümmert in
der Politik.
[6] „Das Wagnis der Definition – ist es gelungen? Zusammenkunft der
Ästhetiker am 18.Oktober [1956] in Berlin“. Veröffentlicht in der
gleichnamigen kulturpolitischen Wochenzeitung des Kulturbunds.
[7] DZfPhil 1/1957, S.50-81.
[8] Nebenbei bemerkt: selbst ein solches nur beiläufiges Apercu
zeugt von der singulären Rolle Georg Klaus` am Institut für Philosophie
jener Zeit.
[9] Dies geschah auf der Kulturkonferenz des ZK der SED, des
Ministeriums für Kultur und des Deutschen Kulturbundes in Berlin
(27.-29.04.1960).
[10] D. Mühlberg: Zur marxistischen Auffassung der
Kulturgeschichte. DZfPhil 9/1964, S.1038 f.- Mühlberg zitiert aus dem
1.Teil des Buches, also aus der Dissertation Johns
[11] Natürlich war es auch möglich, dass Kulturwissenschaftler über die Ästhetik reüssierten.
[12] Im folgenden – nur als Beispiel – die Titel von 4
Ausarbeitungen Walter Besenbruchs, die im Manuskript vorliegen und m.
W. nicht veröffentlicht worden sind:
Großes Manuskript; 4 Teile (188 S.) ohne Überschrift; nach 1958
Der Beschluss des V. Parteitags u. die Theorie der Kultur (1-54)
Fortschritt, Kultur und die Perspektive des Kulturbegriffs (55-68)
[es fehlen: S.69 – 117]
Auch eine „Kultur der Politik“ - Die heutige Kulturkonzeption der rechten SPD-Führung (118-143])
Kulturrevolution – Realismus – Sozialistischer Realismus (144 – 188)
„Die Kulturrevolution und das Schöne“ (39 S.); nach 1958.
„Was ist Kultur und Kulturevolution“ (12 S.); 1958/59.
„ Kulturwissenschaft – Kulturtheorie – Kulturgeschichte – Kulturpolitik“ (14 S.) 1962 o. 1963.
[13] Michael Franz: Der ‚Auszug der Ästhetik aus der Philosophie’.
Philosophische Ästhetik auf dem Weg in die Interdisziplinarität. In:
Denkversuche. DDR-Philosophie in den sechziger Jahren. Berlin (Links)
2005. [14] Ich greife hier auf Überlegungen zurück, die ich 1996 in der
Diskussion mit Philosophen erörtert habe: „Gestörte Vernunft. Gedanken
zu einer Standortbestimmung der DDR-Philosophie. Hg. Von Hans-Jürgen
Mende und Reinhard Mocek. Berlin (Edition Luisenstadt)1996; S.81-84.
[15] Dr. Angela Drescher ist Absolventin des Berliner Studiengangs Kulturwissenschaft.
[16] Aus dem Klappentext des Verlags.
Günter Mayer (Foto: Scheel)
Günter Mayer
Kulturwissenschaft – zwischen Aufstieg und Auflösung
Liebe einmalig Einstige: Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen:
In der Berliner Fachrichtung „Kulturwissenschaft“ an der HUB, deren
Aufstieg und Entwicklungsphasen bis hin zu ihrem Ende Dietrich präzise
rekonstruiert hat, hatte die Ästhetik bekanntlich einen besonderen
Stellenwert: sie war nicht nur sachlich die „Drehachse“ bei der Gründung, sie ist es auch personell bei ihrer Auflösung:
die erste Absolventin im Jahre 1963 war Karin Hirdina. Sie hatte die
sogenannte „Wende“ überstanden und erst 2006 die nicht mehr
fortgeführte Professorenstelle für Systematische Ästhetik verlassen;
Renate Reschke, Absolventin des ersten Matrikels 1964, hatte die
sogenannte „Wende“ ebenfalls überstanden und wird im nächsten Jahr ihre
Professorenstelle für Geschichte der Ästhetik verlassen, die erst 2009
wieder ausgeschrieben werden soll.
Daran wird aber eines ganz deutlich: eine solche kontinuierliche und kollektive
Entwicklung dieses Faches in Lehre und Forschung hat es wohl vorher an
keiner Universität gegeben und wird es höchst wahrscheinlich nicht
wieder geben: Studierende sind zu Kollegen ihrer Lehrer Erwin Pracht und Wolfgang Heise geworden, haben zudem die Lehrgebiete ihrer
Lehrer nach deren Ausscheiden die gesamte Zeit ihrer beruflichen Entwicklung an einer Universität weitergeführt.
Das gilt auch für die anderen Mitglieder der „Berliner Ästhetik“,
d.h. für Norbert Krenzlin, für Günter Mayer, nicht zuletzt für Ekkehard
Hofmeister (wir waren überdies als Studenten der Philosophie in der zweiten Hälfte der 50er Jahre – mit Dietrich Mühlberg – in einem Seminar, zu welchem übrigens auch Rudolph Bahro gehörte).
Ganz wichtig und die gesamte Denkkultur prägend war Michael Franz
durch seine Belesenheit und theoretisch-systematische Kompetenz. Und
dann gehörten längere Zeit zum sogenannten Lehrkörper (als Lesende
oder/und Seminarleiter) – alphabetisch – aus der älteren Generation
Renate Cohn-Vossen, Horst Eckert, Arno Hochmuth, Waltraut Kropp,
Waltraud Schröder, die „Gäste“ Gudrun Fischer, Günther K. Lehmann: und
später aus der jüngeren Generation Jürgen Lüttich, Reinhard May, Gisela
Müller, Jörg Petruschat, Ulli Roesner, Wolfgang Thierse, Achim Trebeß.
Kurzzeitig sind auch andere „Gäste“ in der Lehre wirksam geworden:
Wilhelm Girnus, Robert Weimann, Noyota Thun und Manfred Naumann – die
bei uns im Prozess der Hochschulreform gewissermaßen kurzzeitig
„geparkt“ waren.
Die weitgehend stabile personelle Konstellation und Zusammenarbeit
hat sich auch insofern fruchtbar auf Lehre und Forschung ausgewirkt,
als die (sozusagen) „Nebenfach-spezialisierung“ dieser Philosophen
auf Literatur, Theater, Bildende Kunst, Musik, Formgestaltung bzw.
Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstwisssenschaft, Musikwissenschaft
in einem Wissenschaftsbereich konzentriert war. Was mit der
Sektionsgründung, die im November 1968 stattfand, erreicht werden
sollte, das philosophische Niveau der Kunstwissenschaften zu erhöhen,
die hohe Philosophie durch ihre Annäherung an die Praxis der Künste zu
qualifizieren, beide also einander wechselseitig näher zubringen – das
hatten wir bereits in der personellen Konstellation des
Wissenschaftsbereichs Ästhetik, ganz besonders in der unvergleichlichen
Person Wolfgang Heises.
Und eine weitere, damit zusammenhängende Besonderheit möchte ich –
gefragt nach dem Stellenwert der Ästhetik in der
kulturwissenschaftlichen Ausbildung – hervorheben: Meines Wissens hat
es in keiner anderen Universität im In- und Ausland (wo zur Ästhetik mal ein Semester etwas Ausgewähltes durch einen Fachvertreter angeboten wird) eine solche Vielfalt von aufeinander abgestimmten Lehrveranstaltungen zur Ästhetik gegeben wie an der HUB, und zwar im Direktstudium wie im Fernstudium.
Erinnert Euch: es gab durchgehend Vorlesungen und Seminare zur
Systematischen Ästhetik, zur Geschichte der Ästhetik, zur modernen
bürgerlichen Ästhetik; zur Kultur- und Kunstpolitik, zur
Kunstsoziologie, spezieller zur Sprache der Künste, zur ästhetischen
Kultur der Moderne, zur semiotischen Ästhetik, zur Umweltästhetik, nach
1990 zur Ästhetik der analogen Medien, zur Ästhetik der digitalen
Medien; Oberseminare zum „Kitsch“, zum „Ekel“, zum „Licht“, usw.
Schließlich haben wir seit der Gründung der Sektion für alle Studenten,
also auch der Kunst-, Musikwissenschaft und der klassischen Archäologie
ein zweijähriges, einheitliches kulturtheoretisch-ästhetisches Grundstudium mit Vorlesungen und Seminaren sowie einer langen Reihe von Lehrbriefen
angeboten. Es sollt dies die m-l. Kulturtheorie und die Theorie des
sozialistischen Realismus vereinen und in die Theorie und Praxis
sozialistischer Kultur- und Kunstpolitik einführen. Und da gab es noch
ein Lehrbrief-Programm für 30 Konsultationen zur Vermittlung der
Grundlagen der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Besonders die
Arbeit an den Lehrbriefen war der Entwicklung kollektiven Denkens und
Arbeitens förderlich. Und bekanntlich hatte manch einer große
Schwierigkeiten, nach längerer Zeit der Ermahnung etwas Brauchbares
abzuliefern.
Was Dietrich in seiner einleitenden Übersicht im Hinblick auf die
Kulturtheorie an Entwicklungsphasen unterschieden und beschrieben hat,
lässt sich auch im Hinblick auf die Ästhetik etwa in ähnlicher Weise
beschreiben, oder wenigstens grob andeuten:
Auch für die Ästhetik lassen sich vier Phasen grob unterscheiden.
In den ersten Jahren der Arbeit am Studienplan, ab 1964
also, standen wir nicht nur vor der Frage, was eine philosophische
Ästhetik mit der Kulturrevolution zu tun habe, was daraus für die
Ausbildung künftiger Kulturfunktionäre folge. Das war ja zugleich die
Frage, über was für eine Ästhetik wir damals verfügen konnten. Dietrich
hat diese Anfangsphase für die Kulturtheorie so charakterisiert: was
entwickelt wurde, war durch politische Maximen und einen dogmatisch
verengten Marxismus geprägt, aber die Dogmen waren so sicher und
verbindlich nicht formuliert, denn der XX. Parteitag habe die
politische Strategie interpretierbar gemacht und es wurden Texte der
Klassiker bekannt, die alles in einem neuen Licht erscheinen ließen.
Ich sehe das für die Ästhetik etwas anders. Die politischen Maximen
gab es, aber die waren sehr allgemein, d.h. durch uns relativ
selbständig interpretierbar. Und so verengt dogmatisch war der
Marxismus für uns ehemalige Philosophiestudenten nicht: wir hatten
solche Lehrer wie Georg Klaus, Marie Simon, Wolfgang Heise, waren zudem
vom M-L-Grundstudium befreit und schon früh auf die Frühschriften
hingelenkt worden. Kunstpolitische Kämpfe gegen den „Formalismus“ gab
es bei uns nicht. Im Gegenteil: Ich erinnere mich, dass ich im
Fernstudium schon von Anfang an die als formalistisch verurteilte
Lukullus-Oper von Paul Dessau analytisch vorgeführt habe, in der
Reihenfolge: ZK-Beschluss – Werkanalyse – ZK-Beschluss. Dessen
Falschheit war offensichtlich, bzw. offen“ohrig“ nachvollziehbar
gemacht worden.
Zugleich muss ich sagen: Der XX. Parteitag hat uns sehr
erschüttert, aber für die meisten von uns die politische Strategie noch
nicht interpretierbar gemacht. (die 1968-er Ereignisse in der
Tschechoslowakei und in der BRD und Frankreich gab es noch nicht).
Jedenfalls wähnten wir uns ungebrochen auf der Straße der Sieger der
Geschichte und hatten eine dementsprechend herablassende Haltung
gegenüber der „bürgerlichen“ Wissenschaft, die ja als zurückgeblieben
beurteilt und nicht sonderlich ernst genommen wurde.
In der Ästhetik haben wir in den ersten Jahren nach 1964 durchaus
Formen eines Ableitungsmarxismus mit scholastischen Zügen weniger
selbst gehabt als vielmehr vorgefunden: es sei erinnert an
Walter Besenbruchs Beiträge zur Ästhetik, besonders zum Typischen, an
Horst Redekers Begriffskonstruktionen oder an die Texte von Erhard John
(Leipzig). Die sind bei uns nicht angenommen und vermittelt worden. Im
Gegenteil: nach der vernichtenden Kritik Besenbruchs, die Wolfgang
Heise schon 1957 formuliert hatte, war diese Scholastik für uns
erledigt. Unsere diesbezügliche herablassende Überlegenheit haben wir
damals wohl auch auf die Studierenden dauerhaft übertragen.
Was wir anfangs hatten, waren die verfügbaren Texte der Klassiker
und die sehr systematisch aufgebauten, praxisfernen Vorlesungen von
Moisej Samoilowitsch Kagan, (der sogar mal eine Gastvorlesung bei uns
gab) und einige Texte von Burow, Nedoshiwin und Stolowitsch.
Zur Distanzierung von der Leipziger Ästhetik und der Berliner
Instituts für Philosophie (Redeker), kam bald die Distanzierung von der
sowjetischen Ästhetik – in der Lehre und dann als ausgeführte Analyse
und Kritik in „Ästhetik heute“, in der Kollektivarbeit unter der
Leitung von Erwin Pracht, die 1978 erschien.
Das gehört nun bereits zur zweiten Phase, zur Phase nach
1968/70 bis Anfang der 80er Jahre. In dieser gab es eine veränderte
Situation: die Krisenerfahrung des 1968 niedergeschlagenen Ansatzes zu
einer Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft und die aus der
Studentenbewegung in der BRD seit 1968 hervorgehenden Impulse zu einer
Vitalisierung der geschichtsmaterialistischen Denkbewegungen im
Hinblick auf eine neue Qualität der Kapitalismus-Kritik und die
Wiederentdeckung revolutionärer Ansätze in der frühen Sowjetunion.
(Stichworte: Produktionsästhetik, Avantgarde-Kunst).
Damit ergaben sich für die Ästhetik in Forschung und Lehre bemerkenswerte Akzent- und Schwerpunktverschiebungen.
Die im November 1968 gegründete Sektion Ästhetik und
Kunstwissenschaften, in welcher die Ästhetik nun im Bereich
„Kulturtheorie und Ästhetik“ eine selbständige Arbeitsgruppe bildete,
war von den leitenden Partei- und Hochschulorganen darauf orientiert
worden, die Theorie des sozialistischen Realismus zum verbindenden
Zentrum für die Wissenschafts- und Lehrkonzeptionen der einzelnen
Disziplinen der Sektion zu machen. Dieser Aufgabe hat sich Erwin Pracht gestellt – weniger aus Neigung denn aus politischer Disziplin und Verantwortungsbewusstsein für die Sektion,
deren erster Direktor er war. (Er hätte lieber zur Geschichte der
Ästhetik gearbeitet). Er hat in vielen Arbeiten versucht, die
historischen Besonderheiten dieser Kunstprogrammatik und künstlerischen
Methode, nicht zuletzt mit der Erschließung des Brecht’schen Erbes
theoretisch zu fundieren und sie für Künstler akzeptabel zu machen – in
einer Situation, in welcher die politisch wachen Künstler gegenüber den
diesbezüglichen kunstpolitischen Forderungen der Partei und der
Verbände bereits zu nehmend distanziert sich verhielten.
Für die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Ästhetik insgesamt rückten
andere Schwerpunkte ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Ästhetik wurde
einerseits in die aktuellen weltanschaulich-ideologischen
Auseinandersetzungen gestellt. Wie in der Kulturtheorie, wurden nun die
gesellschaftlichen Zusammenhänge der Individualitätsentwicklung und
–ansprüche wesentlich – und zwar im kritisch-rezeptiven Bezug auf die
Konzeption vom „Realismus ohne Ufer“, auf die Neue Linke, auf Adorno,
Marcuse, Schneider, auf die Tendenzen einer materialistischen Ästhetik
in der BRD – und in der Aneignung der Arbeiten von Lucien Sève, Klaus
Holzkamp, Charles S. Peirce, d.h. der Persönlichkeitstheorie, der
kritischen Psychologie, der Zeichentheorie.
Andererseits ist der Kunstzentrismus der Ästhetik überwunden, ihre
Verabschiedung von der vorindustriellen Phase vollzogen worden: durch
die Hinwendung zur ästhetischen Gestaltung der Umwelt, zur
Bauhaus-Rezeption, zur Industrieformgestaltung, zur Produktionsästhetik
(Arvatov), zur „Warenästhetik“ (Haug) und die daraus folgenden
Konsequenzen für die notwendige Erweiterung des Kunstbegriffs, des
Begriffs der ästhetischen Kultur und für die prinzipielle
meta-theoretische Frage nach den Grundbestimmungen ästhetischer Wertung
überhaupt: da wurde bekanntlich der sogenannte Grundwiderspruch
zwischen Gebrauchswert und Gestaltwert angeboten: umstritten und –
leider nicht weiter ausgearbeitet. Diese Wende ist bekanntlich in dem
Kollektivprodukt „Ästhetik heute“ zu besichtigen, für deren
Zustandekommen die Aneignung der grundlegenden Arbeiten von Lothar
Kühne besonders hervorgehoben sei. Sie wurde unter der Leitung von
Erwin Pracht vollzogen, ungeachtet dessen, dass er und Wolfgang Heise
der herausragenden Bedeutung Kühnes zunächst sich kaum bewusst geworden
waren. Wohl aber Heinz Hirdina, der an „Ästhetik heute“ mitgeschrieben
hat, mir auch und den Jüngeren wie Petruschat und Trebeß.
Wurde die Kulturtheorie in diesem Zeitraum durch die Hinwendung zur
Freizeitforschung, zu Ethnologie, Volkskunde, Arbeiterkulturforschung
geschichtlich und empirisch an gegenwärtige und geschichtliche Praxen
angeschlossen, so haben die Ästhetiker ihre Praxen in persönlichen
Kontakten mit engagierten, umstrittenen Künstlern, in den
Kunstwissenschaften, in den Künstlerverbänden, im Kulturbund und nicht
zuletzt im Festival des politischen Liedes, mit dem Oktoberklub und
KarlsEnkel vertieft (Kirchenwitz, Körbel, Wenzel, Mensching). Eine
eigene Zeitschrift haben wir erst Ende der 80er Jahre dank der
Initiative von Jörg Petruschat und Achim Trebeß zustandegebracht.
Was Dietrich für die dritte Phase ab 1983 bis 88/89
festgestellt hat, gilt natürlich, was die veränderte Situation angeht,
ebenso für die Ästhetiker: die prekäre gesellschaftliche Situation
wurde langsam bewusst, es begann eine nüchterne und radikale Kritik an
der Stagnation und der Realitätsentfremdung der Politbürokratie. Es sei
nur erinnert an die Wirkungen der Perestroika-Politik und die
Reaktionen der Führung, an die direkte Konfrontation der Ästhetiker mit
der Abteilung Wissenschaft wegen des Einspruchs gegen die
Informationspolitik, gegen das Sputnik-Verbot, an die Kritik der Praxis
der Massenmedien per Aktualisierung der Brecht’schen Radiotheorie und
Enzensbergers „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ im Brecht-Dialog
1988 und 1990.
In der Ästhetik wurde eine neue Schwerpunktverschiebung vollzogen.
Die Ergebnisse dessen sind deutlich abzulesen in der zweiten
Kollektivarbeit unter Leitung von Erwin Pracht: in der „Ästhetik der
Kunst“, die 1987 erschien. Nun ging es um Kunstprozess und
Öffentlichkeit, um die Medienrevolution und den Kampf um kulturelle
Identität, schließlich kritisch um Grundfragen der Massenkultur (denen
sich auch Norbert Krenzlin widmete), um eine bewusst utopische,
alternative Programmatik sozialistischer Massenkultur, als deren
Zentrum die politische Kultur bezeichnet wurde. Es ist kein Zufall,
dass nun die Ergebnisse eines differenzierenden Verhältnisses zur
Avantgarde-Kunst zusammengefasst worden sind, der Wahrheitsanspruch der
Künste im Kontext einer „Ästhetik des Widerstands“ thematisiert,
ästhetische Wertkategorien im Kontext von Konfliktverhalten reflektiert
worden sind. Schließlich ist die Realismus-Problematik im Hinblick auf
geschichtliche Veränderungen im System und den Wechselbeziehungen der
Künste, im Wirklichkeitsverständnis, Realismus contra Idealisierung
analysiert worden. Nun kam auch der sozialistische Realismus wieder
vor, als historisch sich wandelnde Funktionsbestimmung klasseneigener
Kunst: ein bereits zu spät kommender Versuch, von der offiziell längst
abgelegten Phraseologie wenigstens das Wesentliche der eigentlichen
Grundproblematik zu retten. Dieses Schlusskapitel war angesichts der
drohenden Schließung, von der Dietrich berichtet hat, eher eine Bekundung prinzipientreuer, ideologischer Zuverlässigkeit,
um wenigstens die bereits angedeuteten aktuellen Schwerpunkte durch die
aufmerksame Abteilung Wissenschaft, an dem Virus der Hannelore Vierus
vorbei zu manövrieren.
In dieser Phase gelang es Jörg Petruschat und Achim Trebeß, das
eigene „organ für ästhetik“ zu realisieren und bis in die Mitte der
90er Jahre zu halten, darin also auch die Vorgänge der vierten Phase,
der Reformphase ab 1988/90 zu dokumentieren.
Zu dieser nur einige wenige abschließende Anmerkungen: Um der mit
dem Anschluss der DDR an die BRD und der von dieser ausgehenden Politik
der „Christianisierung“ der Universitäten mit möglichst wenigen
Verlusten zu begegnen, führten bei uns zu mehr und mehr individuellen
Versuchen, die Ausbildungsprogramme auf die veränderten Bedingungen
umzustellen: auf eine sich umschichtende Studentenschaft und neue
technische Möglichkeiten. Ich habe das Ausbildungsprofil „Künste und
Medien“ entworfen und bis zu meinem Ausgeschiedenwerden 1994
auf verschiedenen Ebenen praktiziert. Es hatte gegen die auf meine
umprofilierte Stelle berufene „West-Autorität“ Friedrich Kittler auf
Dauer keine Chance. Auch unsere Konzeptualisierung der Spezifik des
Ästhetischen, an der Michael Franz 1993 und 1995 festgehalten hat und
die ich noch auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik
1996 und 1999 verteidigt habe, ist vom Fundamentalismus der
Wahrnehmungsästhetiker à la Wolfgang Welsch, Siegfried J. Schmidt,
Friedrich Kittler – aber auch Karlheinz Barck – letzten Endes überrollt
worden und liegen geblieben, liegen gelassen worden.
Die frühere gemeinsame Verantwortung für die Positionierung des
Faches im Ausbildungskonzept, die gemeinsame, politisch wache und
solidarische Produktivität ist verschwunden worden. Das ist nun nicht
weiter zu kommentieren.
Jedenfalls: die Studierenden der verschiedenen Jahrgänge sind in
ihrer Ausbildung an diesen Entwicklungsprozessen und –phasen der
Ästhetik mehr oder weniger beteiligt worden. Ich glaube, wir hatten in
der Vermittlung von Wissen (auch über internationale Entwicklungen und
Positionen) ziemliche Lücken und wohl eher Erfolg in der Vermittlung
von theoretisch begründetem Problembewusstsein mit der Chance für
disponible und mitunter Konflikte provozierende Verwendung in der
späteren beruflichen Praxis. Darüber uns auszutauschen, haben wir ja
hier genügend Gelegenheit.
Gestattet mir zum Abschluss einen kurzen dokumentarischen Beleg für
die langdauernden Wirkungen unserer Ausbildung, der im Sommer 2000
zufällig bei Dreharbeiten entstand und danach einen musikalischen Gruß
zum Ende der einst so vielseitig aktiven Fachrichtung
„Kulturwissenschaft“ (DVD 1 und DVD 2).
Irene Doelling (Foto: Scheel)
Irene Dölling
Kultur(theorie) und Individuum
1. Beginn
Ich habe im Frühsommer 1966 mein Studium der
Bibliothekswissenschaft und der Philosophie mit dem Staatsexamen bzw.
dem Diplom abgeschlossen und fing im September 1966 als Aspirantin
(Doktorandin) im Institut für Kulturtheorie und Ästhetik zu arbeiten
an. Ich war der Gruppe um Dietrich Mühlberg zugeteilt, sollte mich also
künftig mit Kulturtheorie beschäftigen. Dietrich Mühlberg hatte kurz
vorher einen Artikel veröffentlicht, in dem er begründete, weshalb er
es für sinnvoller hielt, zwischen objektiver und subjektiver Kultur als
zwischen materieller und geistiger Kultur zu unterscheiden, wenn es
darum ging, ein theoretisches Konzept von Kultur und einen angemessen
konstruierten Kulturbegriff zu entwickeln. Gleich in den ersten Tagen
am Institut drückte er mir eine ziemlich lange Liste mit Buchtiteln in
die Hand: sie reichte von Hannah Arends „Vita activa“ über Helmut
Plessners „Lachen und Weinen“, Adolf Portmanns „Zoologie und das neue
Bild vom Menschen“, Arnold Gehlens und Michael Landmanns
anthropologische Schriften bis zu den ersten Veröffentlichungen der
Jenenser Sozialpsychologen um Hans Hiebsch und den Büchern von
Rubinstein und Leontjew, soweit die Arbeiten der beiden bekanntesten
Vertreter der sowjetischen Psychologie damals in der DDR veröffentlicht
waren. Verbunden war dies mit dem Auftrag, mir diese Sachen mal
anzuschauen unter dem Gesichtspunkt, welche Anregungen sie geben
könnten für eine Kulturwissenschaft bzw. Kulturtheorie, die den
Individuen, ihrer Gesellschaftlichkeit und Subjektivität, der Eigenart
und Eigenlogik ihres Handelns angemessen Rechnung trägt.
An der Buntheit der Bücherliste und an der Formulierung der Arbeitsaufgabe lässt sich in nuce ablesen, was Merkmal der DDR-Kulturwissenschaft war bzw. was ihr konzeptionelles Grundverständnis ausmachte.
Ihre Besonderheit – die sie im Übrigen mit vielen
Disziplinen teilt, die sich neu im Wissenschaftsfeld zu etablieren
suchen – war ihre Offenheit für Erkenntnisse und Perspektiven
verschiedener Wissenschaften, war ihr Arbeiten „zwischen den
Disziplinen“.
Zu ihren Grundannahmen gehörte, dass sie ohne ein
Verständnis individuellen Handelns, individueller Subjektivität ihre
Gegenstände nicht hinreichende konstruieren kann. Zu den
wissenschaftlichen Anstrengungen der angehenden ‚Kulturtheoretiker’
gehörte deshalb von Anfang an die Arbeit an einem
persönlichkeitstheoretischen Konzept, das einerseits eng mit dem
historischen Materialismus, mit einer materialistischen
Gesellschaftstheorie verknüpft ist bzw. dieses als unabdingbares
Element einer materialistischen Gesellschaftstheorie versteht und
andererseits individuelles Handeln bzw. Verhalten nicht schlicht als
Verdopplung der Verhältnisse, nicht als mechanische ‚Widerspiegelung’
objektiver Bedingungen oder als Resultat einer linearen Determination
begreift.
Damit richtete sich der Blick zum einen auf die konkreten
Lebensbedingungen nicht sozial positionierter Individuen, also darauf,
wie gesellschaftliche Verhältnisse konkret erfahren werden und
Handlungsspielräume eröffnen oder begrenzen und zum anderen darauf, wie
diese konkreten Bedingungen subjektiv angeeignet und ‚verarbeitet’
werden, welche ‚andere’ Gestalt sie in diesem Prozess annehmen.
Tendenziell wurde damit auch möglich, den Widerspruch zwischen den
allgemein proklamierten Errungenschaften ‚des Sozialismus’ und den
empirisch aufweisbaren ungleichen Lebensbedingungen (nicht zuletzt auch
zwischen den Geschlechtern) bzw. deren keineswegs immer
persönlichkeitsfördernden Auswirkungen auf die Individuen als
Spannungsverhältnis und Motivation wissenschaftlichen Arbeitens
produktiv zu machen.
Verbunden war damit zwangsläufig der Blick auf Zusammenhänge
und Bedingungen, die im Kanon des Historischen Materialismus keine
Rolle spielten – etwa die damals so genannte ‚biologische Konstitution’
(heute Körperlichkeit), Sexualität, Geschlechterdifferenzen bzw.
–ungleichheiten, aber auch kulturelle Formen, die jenseits einer
‚wissenschaftlichen Weltanschauung’ als praktizierte Weltsicht das
Alltagshandeln von Individuen, ihre unmittelbaren Beziehungen
orientieren (wir nannten diese Formen in Anlehnung an Marx Formen
‚praktisch-geistiger Aneignung der Welt’).
2. Kontexte
Offenheit gegenüber Perspektiven und Erkenntnissen anderer
Disziplinen und die skizzierten konzeptionellen Grundannahmen sowie die
wissenschaftliche Herkunft der ersten ‚Generation’ der
KulturtheoretikerInnen zeitigten eine bestimmte Affinität für
Fragestellungen und Strömungen im Wissenschaftsfeld der 70ger und 80ger
Jahre, das für uns keineswegs auf die DDR beschränkt war. Dazu gehörten etwa:
Eine starke Nähe zur (marxistischen) Philosophie, nicht
zuletzt bedingt dadurch, dass viele von der Philosophie kamen. Eine
Tendenz zu abstrakt-theoretischen Herleitungen, eine Vorliebe, sich in
schwindelnder theoretischer Höhe mit der Frage nach dem ‚Verhältnis von
Individuum und Gesellschaft’, nach der ‚Leerstelle Individuum’ im
Marxismus zu beschäftigen und daraus kühne Schlussfolgerungen für die
sozialistische Kulturrevolution und die sozialistische Persönlichkeit
zu ziehen, ist unübersehbar.
Wichtiger Bezugspunkt war die Psychologie, waren
insbesondere die Arbeiten der sowjetischen, später auch der marxistisch
orientierten Kritischen Psychologie um Klaus Holzkamp. Sie lieferten
wichtige Einsichten in die Eigenart des Psychischen wie - untrennbar
davon - in seine gesellschaftlich-historische Gestalt und gaben
Anregungen für ein Konzept historischer Individualitätsformen.
Von Anthropologie und Sexualwissenschaft kamen Anregungen
für das Verständnis der Besonderheiten der körperlichen Existenzweise
des Sozialen, für die Bedeutung der Körperlichkeit der Individuen, in
den 80ger Jahren dann auch von der entstehenden Frauenforschung für ein
gesellschaftstheoretisch fundiertes Verständnis von
Geschlechterverhältnissen.
Die mit der westdeutschen Studentenbewegung verbundene
Wiederentdeckung der Schriften Wilhelm Reichs, der Debatten um das
Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse in den 20ger Jahren bis zu
den Debatten in der BRD und in Frankreich in der 70ger Jahren über
Sexualität als Herrschaftsverhältnis, über das Wirken von
Herrschaftsverhältnissen in und mittels Sexualität bei der
Konstituierung der Gesellschaftlichkeit und Subjektivität der
Individuen, schließlich die Ideen von einer ‚befreiten Sexualität’ als
Bedingung und Element einer freien Gesellschaft lieferten Einsichten in
komplexe Zusammenhänge von objektiver und subjektiver Existenzweise des
Sozialen.
Soziologische Konzepte, wie das von Norbert Elias oder
Pierre Bourdieu, die die abstrakte Gegenüberstellung von Individuum und
Gesellschaft (und die damit notwendige ‚Vermittlung’ zwischen diesen
beiden Polen) mit Begriffen wie ‚Figuration’ oder ‚praktischer
Sinn’/praxeologische Erkenntnis aufbrachen boten eine über den
‚doxischen’ Marxismus hinausweisende Interpretationen des Sozialen und
seiner eigenlogischen Existenz im praktischen Handeln von AkteurInnen
an und erleichterten die stärkere Hinwendung zur Empirie.
3. Ambivalente Ergebnisse
Im Rückblick, mit einem Abstand von 15 Jahren und in einem veränderten Wissenschaftsfeld zeigt sich ein ambivalentes Bild.
Einerseits dominierte das abstrakte Theoretisieren,
das kaum über den damals in der DDR hegemonialen Ableitungsmarxismus
hinaus kam – letztlich wurde doch alles aus ökonomischen Verhältnissen
hergeleitet bzw. begründet und blieb die Eigenart des Kulturellen und
seiner Wirkungen bei der Konstituierung individueller Subjektivität
eher unterbelichtet. Andererseits stand gewissermaßen quer dazu
der Versuch, die Komplexität und Eigenart des Individuellen in den
Blick zu nehmen und als Kriterium für die Analyse der (sozialistischen)
Gesellschaft produktiv zu machen und damit – zumindest ein Stück weit –
konträr zu den gängigen Interpretationen des Historischen Materialismus
zu stehen.
Einerseits der Versuch, mit der Einbeziehung
konkreter Lebensbedingungen und von Bedürfnissen/Interessen der
Individuen als ihren praktischen Stellungnahmen zu diesen Bedingungen
das abstrakt-philosophische Her- und Ableiten abzulegen und stärker
sozialwissenschaftlich zu argumentieren. Andererseits konnte –
nicht zuletzt wegen einer fehlenden eigenen, methodisch fundierten
Empirie – das Niveau abstrakt-theoretischen Konstruierens nicht
wirklich überwunden werden (erinnert sei etwa an die abstrakten
Bestimmungen und Herleitungen von Individualitätsformen, von
sinnlich-vitalen und produktiven Bedürfnissen)
Einerseits der Versuch, im Zusammenführen
verschiedener wissenschaftlicher Ansätze ein Konzept individueller
Vergesellschaftung, das der Eigenlogik des Individuellen gerecht wird
und dessen Herausbildung gesellschaftstheoretisch begründet, nach den
gängigen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens und wissenschaftlicher
Wissensproduktion zu entwerfen. Andererseits ist das beständige
Verletzen dieser wissenschaftlichen Standards zu konstatieren, indem
diese sowohl durch normative Kriterien (des Ideals einer
kommunistischen Gesellschaft) als auch durch die Respektierung
politisch-ideologischer Vorgaben unterlaufen und konterkariert wurden.
Das macht es schwer, aus heutiger Perspektive die Wissenschaftlichkeit
der Texte auszumachen – wenngleich ihre Wirkungen im damaligen
allgemein-gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext mit einer
solchen Feststellung nicht vollständig erfasst werden können.
Einerseits die Offenheit gegenüber allen möglichen
wissenschaftlichen Konzepten und Debatten; wir waren keineswegs auf
orthodox marxistische Texte fixiert und pflegten wissenschaftliche
Kontakte zu allen möglichen Leuten ‚im Westen’. Andererseits
ist nicht zu übersehen, dass etliche (und hegemoniale) Diskurse
(Anti-Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Ethnomethodologie) im
internationalen Wissenschaftsfeld insbesondere der 80ger Jahre an uns
vorbei, was die Abwertung der DDR-Kulturwissenschaft nach 1990 durchaus
erleichtert hat.
4. Fazit
Die Bilanz fällt im Rückblick und aus heutiger Perspektive also
durchaus zwiespältig aus. Zum einen, wie gerade ausgeführt, ist eine
mangelnde Wissenschaftlichkeit und Internationalität zu konstatieren.
Zum anderen aber hat dieser Mangel nicht ausgeschlossen, dass
Kulturwissenschaft bzw. konkreter: KulturwissenschaftlerInnen durchaus
in der Lage waren (nicht erst nach 1990, aber besonders nach ihrer
‚Abwicklung’), neue Ansätze und Fragestellungen aufzugreifen und dazu
Position zu beziehen bzw. Anschluss an dann hegemoniale
wissenschaftliche Diskurse zu finden. Dabei ist ihr bzw. ihnen durchaus
zugute gekommen, dass die Reflexion des Verhältnisses von Individuum
und Kultur in der DDR-Kulturwissenschaft immer stark
gesellschaftstheoretisch und sozialwissenschaftlich/-historisch
orientiert war. Ich denke dabei vor allem an
den Anschluss an die Frauen- und Geschlechterforschung, wo
wir mit unserem Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Resultat
und Bewegungsform gesellschaftlicher Produktions- und Austauschprozesse
sowie von Geschlechterordnungen als Teil von Kultur durchaus einen
eigenständigen Beitrag zum Verständnis von Geschlechterverhältnissen in
der sozialistischen Variante der Moderne geleistet haben;
an den Beitrag zur Erforschung der Transformationsprozesse
in Ostdeutschland – insbesondere was das (empirisch fundierte)
Herausarbeiten des Eigen-Sinns angeht, mit dem in der DDR sozialisierte
Frauen und Männer mit den veränderten Bedingungen umgehen;
an die von Klaus Eder im Anschluss an Bourdieus Praxeologie
so benannte ‚kulturtheoretische Wende der Sozialwissenschaften’, mit
der der sozialwissenschaftliche Blick stärker auf kulturelle Formen des
Klassifizierens, auf ihre Existenz als habituelle Dispositionen und auf
ihre Rolle bei der alltäglich-praktischen Hervorbringung/Reproduktion
des Sozialen gerichtet wurde.
Wolfgang Jacobeit (Foto: Scheel)
Wolfgang Jacobeit
Volkskunde und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin
Erlauben Sie eingangs folgende schlichte Feststellung: Dietrich
Mühlberg hat uns hier zusammengerufen, um gemeinsam des Beginns
kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre an der HUB vor 44 Jahren
zu gedenken. Wir, die Volks- und Völkerkundler an der gleichen
Institution, könnten in diesem Jahr 2007 ein Ähnliches tun, nur mit dem
Unterschied, dass unsere Disziplin - die Volks- und Völkerkunde -
bereits vor 55 Jahren an der HUB neu begründet wurde. Aber unsere
Reihen haben sich im Lauf der Jahre stark gelichtet, so dass wir an
eine solche Veranstaltung gar nicht denken können, jedoch nicht
versäumt haben, uns anlässlich des 100. Geburtstags von Wolfgang
Steinitz 2005 im Institut für Europäische Ethnologie unserer
Universität zu einem wissenschaftlichen Kolloquium zusammenzufinden.
Selbstverständlich nahmen daran die "Spitzen der Kuwis“ teil.
Dennoch bleibt die Relevanz des hier und heute abzuhandelnden
Themas „Volkskunde und Kulturwissenschaft an der HUB“ erhalten, und das
galt auch schon für den Beitrag von Ute Mohrmann und den beiden
Jacobeits (Sigrid und Wolfgang Jacobeit) in der Festschrift für
Dietrich Mühlberg 1996. Namentlich Ute Mohrmanns Abhandlung hat sich
der Situation einer Kooperation zwischen Kulturwissenschaft und
Volkskunde aus der Sicht von damals gewidmet und hieß „Volkskunde neben
und mit der Kulturwissenschaft“.
Das war vor allem ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag zur
DDR-Volkskunde, die ja keineswegs eine solche Einheit gewesen ist, wie
z.T. noch heute angenommen wird. Es gab vielmehr zwei - an der
Humboldt-Universität (HUB) und an der Deutschen Akademie der
Wissenschaften (DAW) - etablierte Institutionen, die theoretisch und
methodisch unterschiedliche Wege in der Forschung gingen. Beide hatten
zwar die gleiche Ausgangsposition - und das war die von Wolfgang
Steinitz formulierte Gegenstandsbestimmung der Volkskunde als einer
historisch-kulturgeschichtlichen Disziplin von den werktätigen Klassen
und Schichten unter den jeweiligen historisch-sozio-ökonomischen
Bedingungen. Die Bedeutung seiner „Volkslieder demokratischen
Charakters aus sechs Jahrhunderten“ als Standardwerk für eben eine neue
Volkskunde nach dem nazifaschistischen Chaos ist in diesem hier
versammelten Kreis bekannt und muss nicht resümiert werden, aber wie
nahmen die Volkskundler an HUB und DAW diese Gegenstandsbestimmung auf,
wie verarbeiteten sie diese? Grundsätzlich und insofern positiv, als
sie darin eine berechtigte Erweiterung ihrer traditionellen Fachgebiete
sahen und dies in zahlreichen Publikationen zur Volkslied- und
Volkserzählforschung, aber auch zur so genannten materiellen
Volkskultur zum Ausdruck brachten. In keiner Weise soll hier die
Bedeutung dieser Forschungen - letztlich auch im internationalen Rahmen
- abgesprochen werden. Aber das eigentliche historische Moment, das in
der Gegenstandsbestimmung von Wolfgang Steinitz enthalten war, spielte
nur eine marginale Rolle. Das hatte zur Folge, dass z.B. volkskundliche
Beschäftigungen mit Lebensweise und Kultur des Proletariats, der
Arbeiterklasse, noch kaum thematisiert wurden, und Gleiches galt auch
für Untersuchungen zur sozialistischen Gegenwart
Das geschah dann erst seit den 1960er Jahren, also der Zeit, in
welcher Dietrich Mühlberg die „Kulturwissenschaft“ an der HUB zu
etablieren begann. In den „Kuwis“, wie sie sich heutzutage nennen,
fanden Volkskundler mit einem ausgeprägteren Sinn für Historizität -
namentlich solche an der HUB - Bundesgenossen. Aber hinzu kamen auch
Anregungen aus dem Akademie-Institut für Wirtschaftsgeschichte bzw. der
Geschichte der Produktivkräfte und von Jürgen Kuczynski („J.K“.)
überhaupt; Beziehungen, die für mich noch heute existieren...
Damit sei auch schon auf die mehrjährigen Forschungen der
Volkskundler - und zwar aus HUB und DAW - über die Geschichte der
werktätigen Bevölkerung in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18.
Jahrhunderts bis zum Anfang der 1960er Jahre - in fünf Bänden
verwiesen. - In der kulturhistorisch-volkskundlichen Aussage noch
ausgeprägter erwies sich die dreibändige „Illustrierte
Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ von der Mitte des 16.
Jahrhunderts bis 1945 beider Jacobeits. Programmatisch war zuvor die
1967 von Paul Nedo initiierte internationale Tagung „Probleme und
Methoden volkskundlicher Gegenwartsforschung“; programmatisch deshalb,
weil mit dieser Thematik in gewisser Weise der offiziöse Anschluss an
die Entwicklungstendenzen der internationalen Forschung vollzogen und
die divergierenden Auffassungen vom Gegenstand des Faches und seinen
Aufgaben in beiden Institutionen - HUB und DAW - deutlich wurden.
Wesentlich ist noch die große Anzahl von Examensarbeiten, z.T. bis zu
Dissertationen, von unseren Fernstudenten, die ganz im Sinn der „neuen“
Volkskunde eine interdisziplinäre Ausbildung erhielten und damit in
ihren Berufen - meist als Museologen - erfolgreich tätig wurden. Wenn
ich mich recht erinnere, haben Kuwis und HUB-Volkskundler auch
gemeinsame Lehrveranstaltungen abgehalten, vor allem aber mit
Feldforschungen in Berlin-Mitte zur Vorbereitung der in den Staatlichen
Museen zu Berlin erarbeiteten Ausstellung „Großstadtproletariat. Zur
Lebensweise einer Klasse“, zusammen agiert.
Soweit dieser kurze Überblick bzw. die Erinnerung an „Volkskunde
neben und mit der Kulturwissenschaft“ in der DDR; eine Entwicklung, die
dem Trend der westlichen Forschung nach der „Wende“ durchaus entgegen
kam, was aber lange Zeit als so genanntes östliches Substrat kaum
wahrgenommen wurde. Hierüber und manches andere Missliche mag ich mich
- zumal als Emeritus seit 1986 - nicht mehr äußern, wohl aber betonen,
dass wir die Berufung von Wolfgang Kaschuba als Ordinarius für
Europäische Ethnologie an der HUB begrüßt haben, denn wir (bzw. ich)
hatten schon Jahre vor 1989/90 des öfteren Gelegenheit, unsere gleichen
Auffassungen zur Situation und zur Entwicklung unserer Disziplin
gegenseitig zu bestätigen.
Unser (beider Jacobeits) nach der „Wende“ notwendig gewordener
Abschied von Berlin brachte leider eine gewisse Trennung von den
Diskussionen um den Gegenstand von Volkskunde und Kulturwissenschaft,
von Historiografie überhaupt, vom Für und Wider interdisziplinärer
Methodik usw. mit sich. Das war und ist bedauerlich, hat uns aber nicht
davon abgehalten, neue Forschungsfelder in einer anders gewordenen Welt
nach der „Wende“ zu entdecken. Das war ein Prozess des Suchens,
Abwägens, auch des theoretischen Überprüfens, der sich so gut wie
selbstverständlich thematisch auf den Boden der alten DDR bezog. Und
hier trifft der Titel der Mühlberg-Festschrift von 1996 zu, der da
lautete: „Vorwärts und nicht vergessen nach dem Ende der Gewissheit“,
aber auch jene Überschrift über unseren eigenen Beitrag ebenda fand
eine Bestätigung: „Volkskunde in der DDR - kein Blick zurück im Zorn.“
Das bedeutete mit anderen Worten eine Weiterführung unserer Forschungen
nach der „Wende“. Einen etwaigen Mangel an theoretischen Grundlagen
empfanden wir um so weniger, als wir mit unseren bisherigen
Überlegungen auf das neue Geschehen durchaus reagieren zu können
meinten, aber uns auch den Gedanken von J.K. (Jürgen Kuczynski)
abermals nützlich machten, den er gleich in der Einleitung zu seiner
fünfbändigen „Alltagsgeschichte des deutschen Volkes“ geäußert hatte.
Da hieß es, „daß wir Historiker weit, weit mehr Aufmerksamkeit dem
Alltagsleben der Menschen in all seiner Vielfältigkeit, in der
Gegenwart wie in der Vergangenheit zuwenden. Wie viele
‚Disziplinarprobleme‘ werden sich dann lösen.“ (Bd. 1, 1980, S. 123).
Die Reaktionen in Ost und West auf die von uns nunmehr bevorzugte
Alltagsproblematik im Allgemeinen und auf Kuczynskis Diktum im
Besonderen, waren zumindest am Anfang ignorierend oder ablehnend, was
uns nicht hinderte, dennoch daran festzuhalten. So war es dann so gut
wie selbstverständlich, dass die mit Sigrids (Jacobeit)
Leitungstätigkeit in der „Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück“
(1992-2005) beginnenden Forschungen und Ausstellungen zur Geschichte
dieses größten Frauen-KZ in Nazideutschland sowie insbesondere zum
Alltag und zu den Verhaltensweisen der Zehntausenden von deportierten
Frauen aus allen Ländern des besetzten Europas auf den erworbenen
Erfahrungen und Ergebnissen der eigenen Alltagsforschungen vor der
„Wende“ aufbauten.
Fürstenberg/Ravensbrück und die Region gaben aber auch Anlass, eine
Alltags-/ Kulturgeschichte über beide von der 15-jährigen Existenz des
Frauen-KZ geprägten Orte zu erarbeiten. Zuvor hatte bereits ein sehr
fähiger Heimathistoriker - Wolfgang Stegemann - ein druckfertiges
Manuskript erarbeitet und im Jahr 2000 als ansehnlichen Band
herausgegeben, den er „Beiträge zur Kulturgeschichte einer Region
zwischen Brandenburg und Mecklenburg“ genannt hat, und der vom
Mesolithikum bis zur Jahrhundertwende um 1900 reicht. Diesen Band habe
ich lektoriert, aber wir waren uns beide danach schnell einig,
gemeinsam einen zweiten Band folgen zu lassen, der - den Tendenzen der
deutschen Geschichtswissenschaft folgend - bis 1989/90 und in das erste
Jahrzehnt nach der „Wende“ führen sollte. Ein solcher Band ist 2004
unter unser beider Herausgeberschaft mit dem für so genannte
Heimatliteratur ungebräuchlichen, fast provozierenden Titel
„Fürstenberg /Havel -. Ravensbrück im Wechsel der Machtsysteme des 20.
Jahrhunderts. Beiträge zur Alltags- und Sozialgeschichte einer Region
zwischen Brandenburg und Mecklenburg“ erschienen. Namentlich der dritte
Band unserer „Illustrierten Alltags- und Sozialgeschichte“ bot da
manche Anregungen. Wir betrachten das Fürstenberg - Ravensbrück -
Projekt noch heute als die bewusste Fortsetzung unserer
jahrzehntelangen wissenschaftlichen Tätigkeit bis zur „Wende“.
Methodisch war es allerdings insofern Neuland, als wir beiden
Herausgeber - also Stegemann und ich - aus Gesundheitsgründen
permanente Rollstuhlfahrer werden mussten, damit nur einen kleinen
Mobilitätsradius wahrnehmen können und so veranlasst waren, vor allem
in der Bevölkerung nach Mitarbeitern zu suchen, die Interesse an den
jüngsten Perioden ihrer Heimatgeschichte hatten sowie Bereitschaft
erkennen ließen, selbst über bestimmte Themen Beiträge zu schreiben. So
entstand ein regelrechtes, gut funktionierendes Netzwerk mit ca. 20
Autorinnen und Autoren; eine großartige Gemeinschaftsarbeit, die wir
2004 der städtischen Öffentlichkeit vorstellten. Ich muss es mir
versagen, auf inhaltliche Einzelheiten dieses Bandes mit 566
Druckseiten und zahlreichen Abbildungen einzugehen. Nennen möchte ich
nur das letzte Kapitel mit allein 160 Seiten: „Fürstenberg seit der
Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten 1989 - 2000“.
Unabhängig von uns hat Kurt Neis zwei Jahre nach unserem Band im
Selbstverlag ein 700-seitiges Opus mit dem Titel „Fürstenberg - eine
Perle ohne Glanz?“ herausgegeben, so dass - abermals eine Besonderheit
- die Geschichte und Kulturgeschichte unserer Region bereits mit
ca.1500 Druckseiten dokumentiert ist. Davon abgesehen planen wir -
Stegemann und beide Jacobeits - einen weiteren, dann aber wirklich
letzten Band, der sich ausdrücklich mit der „Wende- und Nachwendezeit“
bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beschäftigen soll. Noch
sind kaum etwas mehr als eine ausführliche Konzeption sowie ein
Fragespiegel für Interviews, hauptsächlich mit zugezogenen Neubürgern,
erarbeitet und einige potentielle Autorinnen und Autoren gewonnen
worden, d.h. dass wir dabei sind, wieder ein Netzwerk aufzubauen. Aber
historisch-theoretische und in gewisser Weise ideologische Überlegungen
lassen uns selbst noch am Schreiben zögern. Schließlich sind auch wir
mit der auf die Gegenwart bezogenen Periodisierung eher Zeitzeugen als
Historiker, und das bedingt eine andere Betrachtungsweise als bis
dahin. Denn wir sind ja gleichfalls der Problematik nach dem Für und
Wider des Alten und des Neuen unterworfen und haben Stellung zu nehmen,
wie es sich im Alltag darbietet. Vergangenes, nostalgisch verbrämt,
wird eher zu fassen sein als das Neue. Denn was ist das Neue
eigentlich, das sich ja nicht in der Aufzählung all dessen erschöpfen
darf, was die Konsumgesellschaft kapitalistischen Zuschnitts ausmacht?
Dieses Neue muss uns vielmehr und in erster Linie nach den Umständen
interessieren, wie wir sie jeweils vor Ort finden. Dazu hat der
Heimatforscher Klaus-Dieter Behnke, ehedem jahrzehntelanger Chefarzt am
Krankenhaus Gransee, 2006 in seinen Darlegungen über „Geschichte und
Geschichten“ des Ortes „Neuglobsow am Stechlin“ Stellung genommen und
in der zugrunde liegenden Periodisierung ein Kapitel überschrieben mit
„Von 1989 bis ... - Prinzip Hoffnung !“ sowie als Motto den Slogan von
Helmut Kohl über die binnen kurzem zu erreichenden „blühenden
Landschaften“ der DDR. Dieses Kapitel umfasst bezeichnenderweise ganze
zwei Seiten (!) mit einem Abschnitt „Lingua quintii imperii“ (vgl.
Victor Klemperers „Lingua tertii imperii“) und darin enthaltenen
Medienschlagzeilen vom Herbst 2000 bzw. Begriffen wie „Abwicklung,
weinerliche Ossis, arrogante Wessis, Mc Donaldisierung,
Rechtsradikalismus, ... Fremdenhass, ... gaucken, ... deutsche
Leitkultur, ... 10 Jahre danach: Einheitsfeiern“ u.a.m. Diese Liste ist
kommentarlos, schließt aber mit der lapidaren Feststellung:
„Zeitgenössische Eu- und Kakophonie. Deutschland zu Beginn des 3.
Milleniums. Panta rhei ... Unser Kosmos Neuglobsow. Ein weites Feld“.
Ähnliches, wenn nicht gar Gleiches, dürfte für unsere nur wenige
Kilometer von Neuglobsow entfernte Region gelten. Doch werden wir uns
damit nicht zufrieden geben, sondern Aussagen in den großen
ökonomischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen zu finden suchen,
wie sie letztlich unter dem Stichwort „Globalisierung“ zu subsumieren
sind. Aber noch ist hier für uns das französische Sprichwort „Qui vivra
- verra“ angesagt. Einige sehr erfreuliche Rezensionen über unseren
zweiten Band, u.a. von Isolde Dietrich, Thomas Kuczynski oder
Karl-Heinz Roth, machen uns aber Mut zu diesem neuen Unternehmen, für
das wir den Arbeitstitel „Fürstenberg/Havel - Ravensbrück auf dem Weg
ins 21. Jahrhundert“ vorgesehen haben.
Nun ist Volkskunde/Kulturgeschichte nicht eine Wissenschaft per se.
Sie hat auch Ambitionen im Bildungsbereich, namentlich in den Schulen.
Dass dafür unser Bezug zur Alltagsproblematik als Basis grundsätzlicher
Überlegungen eine Bedeutung haben kann und hat, erwies sich erst
kürzlich mit Gründung der „1. International Summerschool“ am Gymnasium
Carolinum in Neustrelitz. Dorthin hatten der Minister für Bildung,
Wissenschaft und Kultur des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern als
Schirmherr und Sigrid Jacobeit als ehemalige Leiterin der Mahn- und
Gedenkstätte Ravensbrück bekannte Wissenschaftler, Lehrer, Schüler und
ehemalige „Ravensbrückerinnen“ zur aktuell gewordenen Diskussion um das
Goethe- Wort „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut ...“ eingeladen;
verbunden mit einer Tafelausstellung von Äußerungen bekannter
Schriftsteller, Künstler und Gelehrter zur Frage „Was ist der Sinn des
Lebens?“. Nach fast universitärem Vorbild wurden innerhalb von drei
Tagen fünf Plenarvorlesungen und 22 Seminare abgehalten, die - bei
einer Teilnehmerzahl von 250 Personen, davon etwa 200 Schülerinnen und
Schüler der 13. Jahrgangsstufe - gut besucht waren, reichlich
Diskussionsstoff boten und großen Anklang fanden. Eingeleitet wurde das
vielseitige Programm von einem leitenden Mitarbeiter der „Klassik
Stiftung Weimar“ Egon Freitag, der s. Zt. als Teilnehmer unseres
volkskundlichen Fernstudiums mit einer brillanten Dissertation zu
„Goethes Alltagsentdeckungen. Das Volk interessiert mich unendlich“
(1994) promoviert hatte. Er sprach zum Thema „Selbstverwirklichung und
Kreativität aus klassischer Sicht“ am Beispiel des Goethe-Wortes: „Es
ist nichts als Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben
erträglich macht.“ Auf weitere davon vielfach abgeleitete Themen und
Diskussionsgrundlagen einzugehen, überschritte den Rahmen dieser
Darstellung, zumal noch über ein anderes mehrjähriges Projekt zu
resümieren ist, das von Ute Mohrmann initiiert wurde und bis heute von
ihr mit Beteiligung von Sigrid Jacobeit und Leonore Scholze-Irrlitz
geleitet wird.
Dieses Projekt entspricht dem in der DDR-Volkskunde häufig
ventilierten Grundsatz, unsere Forschungen mit gegebenen Anliegen der
Öffentlichkeit zu verbinden. Damit stand schon unser soeben
geschildertes Projekt der „International Summerschool“ in Verbindung.
Ute Mohrmann war aber noch konsequenter und nahm sich vor, die
Lebensbedingungen in einer zu DDR-Zeiten gegründeten Industriestadt und
dem gerade sich dort, in Eisenhüttenstadt, empfindlich auswirkenden
Transformationsprozess seit der „Wende“ gemeinsam mit Bürgerinnen der
Stadt, mit Studenten und noch aktiven Kolleginnen und Kollegen zu
untersuchen sowie deren Ergebnisse in geeigneter Form der
Öffentlichkeit zu präsentieren. Dieses Projekt umfasst die Zeit von
1945 bis 2007 und widmet sich in der Hauptsache den Frauen von
Eisenhüttenstadt. Die Ausstellung „Eisenhüttenstädter FrauenAlltag.
Spuren gelebter Utopie?“, von unserem langjährigen Designer, Norbert
Günther, gestaltet, war nicht im Museum, sondern in einem großen
Einkaufscenter aufgebaut worden, wo sie von vielen Eisenhüttenstädter
Frauen und Männern nicht nur betrachtet, sondern wirklich wahrgenommen
werden konnte. Die zum 50jährigen Stadtjubiläum im Jahr 2000 gezeigte
Präsentation war das Vorgängerprojekt der seit 2005 weitergeführten
studentischen Forschungen des HUB- Instituts für Europäische
Ethnologie. Zu den Ergebnissen werden ein in Kürze publizierter
Sammelband mit dem, wie ich meine, faszinierenden Titel: „FrauenAlltag
im östlichsten deutschen Osten: Eisenhüttenstadt“ und der Film
„Hüttenstadt. Menschen zwischen Aufbau und Abriss“, der als DVD dem
Buch beigegeben werden soll, gehören.
Diese Gesamtdarstellung sei mit folgenden Bemerkungen „zur Sache“
abgeschlossen: Dass sich die HUB- Volkskundler und auch ihre
Absolventen der Zusammenarbeit mit der Kulturwissenschaft bzw. der
Kulturgeschichte überhaupt verbunden fühlen, sollte deutlich geworden
sein. Nicht minder haben volkskundliche Fachvertreter an anderen
Universitäten auf den allgemeinen gegenwärtigen Trend reagiert, indem
sie „Kulturwissenschaft/Kulturgeschichte“ in ihre Institutsbezeichnung
aufgenommen haben, so beispielsweise in Jena, Basel, Mainz und Marburg,
wo Harm-Peer Zimmermann einen „Leitfaden für das Studium einer
Kulturwissenschaft an deutschsprachigen Universitäten“ herausgegeben
hat und darunter subsumiert Empirische Kulturwissenschaft, Europäische
Ethnologie, Kulturanthropologie und Volkskunde. Ohne eine
Begleitdisziplin wird Volkskunde allein lediglich noch in Bonn,
Eichstätt-Ingolstadt, Erlangen-Nürnberg, Hamburg, Rostock und Zürich
angeboten. In Tübingen wird Hermann Bausinger, der bekanntlich schon in
den 1960er Jahren den Begriff „Volkskunde“ verworfen hatte und seitdem
für Jahrzehnte das „Ludwig-Uhland-Institut für Empirische
Kulturwissenschaft“ leitete, als „Aufklärer des Alltags“ und als
„Kulturwissenschaftler“ apostrophiert.
Und schließlich noch dieses: Das Deutsche Literaturarchiv Marbach
hatte kürzlich anlässlich der Gesamtausgabe des Werkes von Norbert
Elias mit 19 Bänden zu einer Ehrung für diesen bedeutenden
Geisteswissenschaftler eingeladen. Da war dann auch die Rede davon,
welcher Disziplin Elias eigentlich angehört habe. Diese Frage hat er in
seinen „Notizen zum Lebenslauf“ selbst beantwortet. Es war die
Soziologie, für ihn eine „Königsdisziplin, und so wie er sie betrieb,
war sie das auch, (nämlich) ein hervorragendes Mittel, beobachtend und
erzählend Auskunft über den Menschen zu gewinnen. Der Mensch, so heißt
es im Tagungsbericht der ZEIT (39/ 2007, S.59), das war sein Credo, ist
nie allein und nie in einem statischen Zustand. Er lebt in
Konfigurationen, also in einem unendlich bewegten System
gesellschaftlicher Beziehungen und Machtverschiebungen“. Daraus
folgerte er: „Es komme der Fülle und Tiefe der soziologischen
Vorstellungskraft zugute, wenn deren Träger etwas anderes als nur
professionelle Soziologie studiert hätten“, woraus er die These, ja
Erkenntnis ableitete: „Ein Soziologe, der sich nur in der Soziologie
auskenne, könne kein guter Soziologe sein“. Und danach handelte er
selbst. Sein großes Gesamtwerk ist ein Spiegelbild angewandter
Interdisziplinarität im historisch-gesellschaftlichen Kontext. Es ist
nicht von ungefähr, dass sich Norbert Elias nach seiner Rückkehr aus
britischem Exil an das „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ der
Universität Bielefeld - das ZiF - begeben hat, wo er sechs Jahre als
permanent fellow eine ideelle Bleibe fand, dort seine wichtigsten
Bücher und Aufsätze schrieb, sein Geist dort noch heute lebendig ist
und es bleiben wird.
Norbert Elias - Vorbild für Menschen aus unserer Branche und für Historiker allgemein?
(vgl. Eberhard Firnhaber & Martin Löning (Hrsg.), Norbert Elias. Bielefelder Begegnungen. Münster 2004)
Hildegard Maria Nickel (Foto: Scheel)
Hildegard Maria Nickel
Kulturwissenschaft als Soziologie. Oder: Soziologie als Kulturwissenschaft
Im Metzler Lexikon „Literatur- und Kulturtheorie“ wird auf den
Begriff gebracht, was m. E. das Dilemma der Kulturwissenschaft ist und
war: „Kulturwissenschaft, der Terminus lässt sich bislang trotz
vielfältiger Bemühungen deshalb nicht eindeutig definieren, weil
darunter eine Vielfalt von unterschiedlichen Forschungsrichtungen und
Tendenzen in den Geisteswissenschaften subsumiert wird, weil er als
Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären
Diskussionszusammenhang fungiert und weil seine Reichweite umstritten
ist.“
Unschärfe auf der einen Seite und ein sympathisch - anmaßender
Komplexitätsanspruch auf der anderen Seite hatten – jedenfalls stellt
sich mir das in der Rückschau so dar – Ende der 1960er Jahre einen
Studiengang kreiert, der eine enorme Angebotspalette beinhaltete. Diese
„transdisziplinäre“ Gelegenheitsstruktur war nicht nur in der DDR eine
Besonderheit. Gerade im Augenblick ist ja wieder - Stichwort
Exzellenzwettbewerb – der Ruf verstärkt zu vernehmen, dass enge
Fächergrenzen in der Forschung überwunden werden müssen, während
parallel allerdings das Gegenteil passiert und die Studiengänge
„schlanker“ und „schmaler“ werden. So gesehen war der Studiengang der
Zeit weit voraus! Und ich bin dankbar, dass ich Kulturwissenschaft in
dieser offenen, diffusen Form studieren durfte.
Die Kulturwissenschaft hat mir, so meine erste Bilanz, eine
„transdisziplinäre“ Denkperspektive eröffnet, die es mir erlaubte,
Fächergrenzen zu überschreiten. Das hat es mir leicht gemacht, das Fach
zu wechseln und mein Fach - die Soziologie - zu finden.
Der weite Kulturbegriff, von dem wir ausgingen, und die von Georg
Simmel inspirierte Perspektive auf die „objektive und subjektive
Kultur“, vor allem der Blick – so ideologisiert er zuweilen auch war –
auf die „empirischen“ Menschen, auf das „tätige Individuum“ und seine
Lebensbedingungen waren eine weitere Brücke in die Soziologie.
Die Soziologie untersucht – ihrem Selbstverständnis nach – die
Arten und Weisen, wie das menschliche Leben sozial organisiert ist. Sie
untersucht das im Sinne von „sozialen Tatsachen“ (Durkheim) und mittels
empirischer Methoden. Das ist m. E. ein zentraler Unterschied zur
Kulturwissenschaft, auch wenn diese noch so bemüht war, sich empirisch
zu verorten. Die Kulturwissenschaft ist eine Geisteswissenschaft. Die
Soziologie ist zwei Prinzipien verpflichtet, die sie zu einer
empirischen Wissenschaft machen, der Beobachtung und der Interpretation
auf der Grundlage von wissenschaftlich – methodischer
Reproduzierbarkeit und logischer Analyse. Das macht sie auf gewisse
Weise bodenständig, alltagsgebunden, wirklichkeitsnah. Das hätte ich
der Kulturwissenschaft zuweilen auch stärker gewünscht.
In der Soziologie spielen die Schlüsselbegriffe Sozialstruktur,
soziales Handeln, Kultur, Macht und gesellschaftliche Integration eine
zentrale Rolle, Begriffe, die für die Kulturwissenschaft nicht fremd
sind. Kultur wird hier verstanden als das mehr oder weniger
integrierte, den Lebensstil von Menschen prägende Muster von Weisen des
Denkens, Verstehens, Bewertens und Kommunizierens. Kultur wird so zu
einem Forschungsgegenstand, der mit soziologischen Methoden untersucht
werden kann. Das, finde ich, könnte eine interessante Herausforderung
auch für die sich mit ihrer Geschichte befassende Kulturwissenschaft
sein.
Aber… man kann die Dinge natürlich auch ganz anders sehen … Auch das habe ich als Kulturwissenschaftlerin gelernt.
Kaspar Maase (Foto: Scheel)
Kaspar Maase
Die Neuentdeckung der Populär- und Massenkultur durch die Berliner Kulturwissenschaft
Als ich 1970 ans Berliner Institut kam, mein Diplom machte und eine
Aspirantur begann, da war die Populärkultur im Kapitalismus durchaus
ein geläufiges Thema – unter der Kategorie „imperialistische
Massenkultur“. Auch mir ging die Formel relativ glatt von den Lippen,
wie nicht wenigen Linken im Westen Deutschlands. Dass und wie sich mein
Verständnis dieser Sachverhalte änderte (wobei neue Begrifflichkeit,
wenn überhaupt, am Ende solcher Neukonzeptionierung zu stehen pflegt),
hängt mit meiner Aufnahme von Grundpositionen der Mühlberg-Schule
zusammen, wie ich sie damals und in den folgenden Jahren kennen lernte.
Die größte Entdeckung war, die Marxsche Sicht auf die historische
Progressivität des Kapitalismus ernst zu nehmen und – auch das durchaus
in Übereinstimmung mit Klassikertexten – auf die Lebensweise der
Lohnabhängigen, besonders der Industriearbeiterschaft, im Kapitalismus
anzuwenden.
Das ließ sich vergleichsweise einfach machen im Blick auf Wohnen
und Kommunikation, Familienstrukturen und Organisationsformen; eine
Reihe von historischen Studien aus der Mühlberg-Schule haben das getan.
Die Gedanken von historischer Notwendigkeit und Progressivität der
empirisch vorfindlichen Lebensweise (zumindest ihrer Grundzüge) auch
auf den Umgang der ProletarierInnen mit kommerziellen Künsten und
Vergnügungen, auf die Kultur in Warenform anzuwenden, dem standen
allerdings erhebliche intellektuelle Widerstände entgegen. Denn: Was
waren das für Inhalte, die die kapitalistische Kulturindustrie (der
Terminus war fast das einzige, was ein orthodoxer Marxist damals aus
der Dialektik der Aufklärung akzeptierte) so erfolgreich und
gewinnbringend unter den Massen verbreitete?! Die Botschaften der
Massenkultur hemmten kritisches Denken, humanes Fühlen und
solidarisches Handeln, ja: sie werteten solche Verhaltensweisen ab –
das war bis weit in bürgerliche Kreise hinein der Konsens der 1970er.
Für den Widerspruch zwischen abstrakter Erkenntnis der historischen
Progressivität der Lebensweise und empirischem Entsetzen über die reale
Populärkultur der Lohnabhängigen fand sich eine Lösung, und zwar eine,
die durchaus an zentrale Konzepte marxistischen Denkens anschloss: an
das Praxis-Verständnis der Feuerbach-Thesen, an die Zentralstellung der
Tätigkeit in der kulturhistorischen Schule der sowjetischen
Psychologie, an die Hegelsche Idee der Aneignung. Aus diesem
Blickwinkel wurde begründbar: Die analytischen Interpretationen der
Massenkultur, wie sie Wissenschaft und intellektueller Diskurs
produzierten, waren nicht identisch mit dem, was die Menschen in
praktisch verändernder Aneignung aus diesen Texten für sich
herausholten. Aneignung bedeutete Umarbeiten.
Es galt also, die Praktiken des nutzenden Umgangs und die
(Um-)Deutungen der „einfachen Leute“ selbst zu rekonstruieren. Dann kam
man zu Befunden zum Charakter der gelebten Populärkultur, die deutlich
differenzierter waren und bei den Rezipienten deutlich mehr
Eigenständigkeit im Denken, Fühlen, Handeln entdeckten als die
bisherigen Studien zur Massenkultur „von außen und von oben“. Die
zweite Generation der britischen Cultural Studies legte eindrucksvolle
ethnographische Studien zur Arbeiterjugendkultur vor, die auf deren
gelebte Widerständigkeit, die „Resistance through Rituals“ hinwiesen;
der Alltagshistoriker Alf Lüdtke machte auf den „Eigensinn“ in der
Arbeiterkultur aufmerksam. Und bei Pierre Bourdieu war zu lernen, dass
um Geschmack und Urteile im Feld der Lebensstile ein Klassenkampf
geführt wurde, in dem die Abwertung dessen, was die empirischen
ArbeiterInnen schätzten, deren kultureller Delegitimation und
Selbstausschließung diente. Danach konnte kein Intellektueller mehr
gewiss sein, ob seine Kritik an der Populärkultur nicht einfach dem
distinktiven Impuls seines sozialen Habitus entsprang: Selbsterhöhung
unter dem Vorwand, den Massen der Unterprivilegierten zum rechten
Durchblick zu verhelfen.
Den Ort, um mit Hilfe solcher Anregungen eine „neue“
Massenkulturforschung zu entwickeln, fand ich (wie andere) in den
Volkskunde-Nachfolgefächern der alten Bundesrepublik: Europäische
Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie. Dabei
spielte eine wichtige Rolle, dass in diesem Fach seit den 1970ern eine
lebendige Arbeiterkulturforschung betrieben wurde – die sich aber lange
kaum mit kommerziellen Massenkünsten und Vergnügungen beschäftigte: aus
den genannten Gründen. Das begann sich in den 1980ern zu ändern. Die
Studien, die seither auf diesem Feld entstanden, möchte ich durch drei
Es kennzeichnen, die für mich als Leitsterne der
Populärkulturkulturforschung unverzichtbar geworden sind:
ethnographisches Herangehen an Praktiken und Kontexte der Nutzung
populärer Künste und Vergnügungen; Interesse am und Respekt vor dem
Eigensinn der Lektüren und Gebrauchsweisen in den Unterschichten (so
inzwischen die überwiegende Bezeichnung seitens der volkskundlichen
Kulturwissenschaft); Anwenden der emischen Perspektive mit dem Versuch,
die Sinnhorizonte der Unterschichtakteure „von innen“ zu
rekonstruieren.
Die Entwicklung von den 1970ern bis in die 1990er wurde hier bisher
als Ergebnis innerer argumentativer Logik und als Fortschreiten zu
differenzierterer Erkenntnis dargestellt. Diese Sicht ist zwar wohl
nicht völlig unbegründet, aber sie unterschlägt doch die tiefen,
dramatischen, folgenreichen Brüche, die darin eingeschlossen waren. Ich
verkürze in der ohnehin holzschnitthaften Darstellung noch einmal: In
diesen Jahrzehnten verloren viele aus vielen – persönlichen wie
welthistorischen – Gründen die Orientierung an der „historischen
Mission der Arbeiterklasse“ (oder sie verzichteten bewusst darauf). Das
ist in unserem Zusammenhang nicht als politisches Faktum, sondern als
Veränderung im theoretischen Feld bedeutsam. Denn damit verband sich
der Verlust einer scheinbar eindeutigen Position aus, von der man die
reale Populärkultur im Kapitalismus beurteilen und kritisieren konnte.
Das fiel zunächst nicht so auf, weil mit dem neuen Ansatz, der nach
Sinn und Nutzen des Gebrauchs populärkultureller Angebote aus der Sicht
und in der Lebenswelt der unterbürgerlichen Akteure fragte, so viel an
Perspektiven und Erkenntnissen zu gewinnen war und weil aus diesem
Blickwinkel auch deutlich wurde, wie weitgehend die traditionelle
marxistische Kritik der Massenkultur, der Amerikanisierung etc. der
bürgerlichen Kulturkritik gefolgt war (beginnend mit dem Bürger Marx
selbst). Nicht zuletzt unter dem Eindruck Bourdieus kam es zu einem
Pendelschlag, der die Legitimation und Verteidigung unterschichtlicher
Aneignungsweisen und Geschmäcker gegen die willkürliche Abwertung
seitens gebildeter Habitusformen in den Vordergrund rückte.
Unverkennbar ist jedoch seit einiger Zeit, dass in der neuen
Massenkulturforschung auch ein erhebliches Romantisierungspotenzial
steckt, das noch in den fragwürdigsten Praktiken der Populärkultur
Widerständigkeit, Subversion, Eigensinn zu entdecken gewillt ist. In
dem Maße, wie Studien sich einlinig auf diesen Aspekt fixieren und
beschränken, wächst die Wahrscheinlichkeit, sich mit solchen Argumenten
wider Willen an der Seite solcher Kulturunternehmungen zu
positionieren, deren Produkte radikal zu kritisieren sind (unabhängig
davon, ob aus ihnen da und dort auch widerständige Energien entwickelt
werden). Etwas schlichter formuliert: Der neuen Populärkulturforschung
mangelt es seit längerem und aus systematischen Gründen an der
Fähigkeit zur rational begründeten Kritik ihrer Gegenstände.
Die Zeit ist reif, so scheint es, für eine neue Debatte. Wie lässt
sich (kulturhistorisch begründeter) Respekt vor den Menschen, die die
Massenpublika bilden, vor ihrer Lebensführung und vor den Weisen, in
denen sie populäre Künste und Vergnügungen für ihr Bemühen um
„gelingendes Leben“ (H.-O. Hügel) nutzen, verbinden mit der
systematischen argumentativen Entwicklung von kritischer Distanz
gegenüber diesen Lebensweisen und der Rolle, die Angebote der
Populärkultur darin spielen? Auch dazu gab es in den 1970ern schon
Überlegungen, und nicht alle davon sind heute obsolet. Doch selbst die,
die sich damals schon engagiert haben, sind heute nicht mehr die
selben, und so könnten und sollten wir uns auf eine wirklich lebhafte
Debatte mit originellen Beiträgen einstellen.
Was ich mit all dem sagen wollte: Rückblickend bin ich froh über
die Verkettung von Zufällen, die mich meinen Weg als
Kulturwissenschaftler in den Geleisen der Mühlberg-Schule aufnehmen
ließen. Die davon geprägte Beschäftigung mit der Massen- und
Populärkultur hat sich eigentlich fast immer „gut angefühlt“, und es
scheint, als würde sie weiter spannend bleiben.
Danke!
Literaturhinweise
Autorenkollektiv der Arbeitsgruppe Kulturtheorie in der Sektion
Ästhetik und Kunstwissenschaften [sic] der Humboldt-Universität zu
Berlin. Leitung: Dietrich Mühlberg: Der Beitrag von Marx und Engels zur
wissenschaftlichen Kulturauffassung der Arbeiterklasse. Ausgearbeitet
1970-1975. Manuskriptdruck, o.J. o.O. [Berlin].
Dietrich Mühlberg (Hg. und Leiter des Autorenkollektivs):
Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert. Leipzig, Wien,
Köln, Graz 1986.
John Clarke u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurt/M. 1979
Kaspar Maase: "Der Feind, den wir am meisten hassen ...". Über
gutes Leben, Intellektuelle und den Unverstand der Massen. In: Manfred
Bobke-von Camen u.a.: Der Trümmerhaufen als Aussichtsturm. Historische,
aktuelle und perspektivische Vermessungen einer gründlich veränderten
Situation. Marburg 1991, S. 183-200.
Kaspar Maase: 'Amerikanisierung der Jugend'. Eine Studie zur
kulturellen Verwestlichung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren.
Habilschrift Bremen 1992.
Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen? Zum Unbehagen in der
Unterhaltungskultur. In: Brigitte Frizzoni/Ingrid Tomkowiak (Hg.):
Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich 2006, S. 49-67.
Susanne Binas-Preisendörfer
Susanne Binas-Preisendörfer
Kulturwissenschaft und Kulturpolitik
Zunächst muss ich klarstellen, dass ich keine echte Kulturwissenschaftlerin bin, dafür aber eine leidenschaftliche.
Für die Studenten der Musikwissenschaft (1982 – 1987) gehörte der
Besuch der Einführungsveranstaltungen in die Kulturtheorie und Ästhetik
zum Pflichtprogramm. Der berühmte – von Prof. Mühlberg empor gezeigte –
Kulturbeutel gehört zu meinen bleibenden Erinnerungen an dieses Studium
an der HUB. Später belegte ich sehr freiwillig die Oberseminare zur
Medienästhetik bei Prof. Günther Mayer. Er war es wohl auch, der ganz
maßgebliche Impulse aus dem internationalen Avantgarde-Popbereich
vermittelte und damit eine Art spiritus rector des expander des fortschritts
wurde, eine Band in der ich zusammen mit zwei echten
Kulturwissenschaftlern, Uwe Baumgarten und Eckehard Binas, den
Ostberliner offground intellektualisierte.
Musik – Kultur und Politik – diese Gemengelage sorgte dafür, dass
sich damals – Mitte der 80er Jahre – nahezu ein Drittel der
Musikwissenschaftsstudenten von jenen Seminaren abwandte, in denen ein
am klassisch romantischen Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts gebildetes
Musik- und also auch Kulturverständnis zelebriert wurde. Wir sahen in
Schuberts ‚Tod und das Mädchen’ keine Vorlage zur erwarteten peniblen
Analyse von Metrik und Funktionsharmonik, sondern eine zu
politisierende Projektion romantischer Ästhetik.
Eigentlich aber interessierten uns Populär- und Massenkultur
(Rockmusik, Unterhaltungskunst, Dokumentarliteratur), kulturelle
Praktiken und Symbole des Widerstandes. Als mich in meiner
Zwischenprüfung zur Systematischen Musikwissenschaft Prof. Kaden
fragte, was ich denn einmal werden möchte, antwortete ich frech und
etwas überheblich: Kulturministerin. Das war natürlich nicht im
Geringsten ernst gemeint, andererseits aber durchaus getragen von dem
Wunsch, sich an den Stellschrauben des Staates einzubringen,
Wissenschaft und Kunst als Option der Veränderung zu begreifen. Es muss
doch möglich sein, Wissen in Politik umzusetzen.
Wenn Sie mich heute fragen, ob das möglich ist … diese Frage ist
schwer zu beantworten. Ich vermute, dass ein Großteil der hier
anwesenden, auch der Wissenschaftler und Künstler (ich erinnere an
einige Lieder von H.E. Wenzel am gestrigen Abend), Wissenschaftlerinnen
und Künstlerinnen es ohnehin despektierlich finden, im
unübersichtlichen Feld der Politikberatung zu agieren.
Seit der 15. Wahlperiode (2003) arbeite ich als Sachverständiges
Mitglied des Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland’ des Deutschen
Bundestages. Ende dieses Jahres wird diese Kommission dem Parlament in
Berlin seinen Abschlussbericht übergeben. Für diesen Bericht habe ich
einige Textbausteine erarbeitet. So ‚Künstlerbild und Kreativität zu
Beginn des 21. Jahrhunderts’, den über die ‚wirtschaftliche Lage von
Künstlern’ und auch das Kapitel ‚Kultur- und Kreativwirtschaft’ habe
ich „federführend“ – wie man so schön sagt – „verantwortet“. Aufmerksam
verfolgt habe ich des Weiteren die Unterkapitel ‚Kultur und Migration’
und ‚Demographischer Wandel’.
Eine Enquete-Kommission gilt als das unmittelbarste Instrument der
Politikberatung. Die Funktion einer Sachverständigen besteht darin,
insbesondere inhaltlichen und systematischen Input zu liefern, aktuelle
kulturwissenschaftliche und kulturpolitische Entwicklungen zu
transferieren, Experten für Anhörungen vorzuschlagen,
Leistungsbeschreibungen für Gutachten zu formulieren, eingehende
Exposés für entsprechende Gutachten zu sichten, Vorschläge zur Vergabe
zu unterbreiten etc. Während der Anhörungen sind sowohl Politiker als
auch Sachverständige aufgerufen, Ihre Fragen an die geladenen Experten
zu stellen. Die fertig gestellten Gutachten sind daraufhin zu
überprüfen, ob sie der Leistungsbeschreibung entsprechen, ihre Annahme
ist zu empfehlen oder Nachbesserungswünsche zusammenzustellen. Am Ende
der Kommissionsarbeit müssen die einzelnen Textbausteine formuliert
werden, wobei davon ausgegangen wird, dass v. a. die Sachverständigen
zur Feder greifen. So auch in meinem Falle. Die Textentwürfe werden
anschließend in den Arbeitsgruppen diskutiert. Und spätestes zu diesem
Zeitpunkt, kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen um Begriffe,
Argumentationen und Schlussfolgerungen. (Ziel sind
Handlungsempfehlungen und Gesetzesvorschläge)
Mein zentrales wissenschaftliches Interesse galt in den vergangenen
Jahren den Institutionen, Organisationen bzw. Akteuren des
Kulturprozesses, deren Binnenstrukturen, Wertschöpfungsmomenten,
Rechtssubjekten einerseits und den Aushandlungsdiskursen zwischen all
diesen Ebenen andererseits. Daher also auch mein Interesse am
Berufsstatus von Künstlern, deren Selbstbild, den
Vermittlungsleistungen von Verlagen, Agenturen, Galerien, Fragen der
Kultur- und Kreativwirtschaft und der wirtschaftlichen Situation aller
am diesem Prozess Beteiligten.
Wissenschaftlich begründete argumentative Annäherungen sind in
kulturpolitischen Texten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren
geläufig. Es gibt wohl kaum ein Feld der kulturpolitischen Diskussion –
denken Sie dabei v. a. an die sog. Neue Kulturpolitik, besser
vielleicht bekannt unter dem Slogan ‚Kultur für alle’ – das seine
Legitimation auf eine so unendliche Fülle kulturwissenschaftlicher
Theoriebildung gründet: Kultur als Gesellschaftspolitik und damit auch
als ein Handlungs- und Politikfeld, das sich wissenschaftlicher
Argumentationen und Beratung umfänglich bedient bzw. wo Kulturpolitiker
selbst als Wissenschaftler gearbeitet haben (so die Professoren Hilmar
Hoffmann, Hermann Glaser, Julian Nida-Rümelin, Dietrich Mühlberg und
auch Dr. Thomas Flierl)
Allerdings tut sich v. a. dann ein Graben auf, wenn Kategorien ins
Spiel kommen, mit der die Künste scheinbar nichts zu tun haben: Markt
und Ökonomie. Als ich in gewohnter wissenschaftlicher Manier von
einigen historischen Wahrheiten schreiben wollte, z. B. von der
Verbürgerlichung des Kulturbetriebes, der Produktion von Kunst für
einen anonymen Markt ohne konkrete Auftraggeber und ohne konkretes
Publikum schlug mir großes Unverständnis entgegen. Was hätte denn das
mit der wirtschaftlichen Lage von Künstlern, mit dem Künstlerbild etc.
zu tun? Zugegeben, in der eben zitierten holzschnittartigen Passage
steckt viel Ungenaues und deshalb vielleicht auch Missverständliches.
Grundsätzlich ist es höchst schwierig, komplexe Prozesse in
politischen Zusammenhängen angemessen zu reflektieren. Dies wird dann
eher – wie Günther Grass neulich im Gespräch mit Pierre Bourdieu in der
auf Arte gesendeten Aufnahme thematisierte – als „zersetzende Analyse“
abgewiesen. Diese Erfahrung wird wohl jede Wissenschaftlerin machen,
die sich in entsprechende Zusammenhänge begibt.
Dennoch gibt es auch Genugtuung. Fürstenerziehung ist vielleicht
das falsche Wort, aber das Anschieben von politischen Entscheidungen,
Programmen oder Fördertopfen kann bisweilen gelingen. Anfang dieses
Jahrzehntes haben wir in Berlin beispielsweise mit der Club-Commission
– deren kulturpolitische Beraterin ich damals war – den Blick der
(Wirtschafts-) Verwaltung für infrastrukturelle Bedingungen auf
Bezirks- und Landesebene geöffnet. In der Politik spricht man vom
Bohren dicker Bretter, denn es vergeht stets sehr viel Zeit, ehe
bestimmte Ideen umgesetzt werden können und zweifellos braucht es dabei
auch seitens der Wissenschaft ein Selbstverständnis, dass sich am
Kulturprozess und nicht so sehr an seinen Werken orientiert. Diese
Perspektive hatte sich für mich bereits während meines Studiums an der
HUB aufgetan.
Susanne Binas-Preisendörfer ist Professorin für „Musik und Medien“ am Institut für Musik der Universität Oldenburg.
Bernd Lindner, (Foto Joachim Scheel)
Bernd Lindner
Gesellschaft(en) hinterfragen – Kultursoziologie im Kontext zweier Systeme
Die Geschichte der Kultursoziologie ist weltweit von
Diskontinuitäten geprägt. Phasen stärkerer Bedeutung in Wissenschaft
und Gesellschaft folgten immer wieder solche mit geringerer Nachfrage
bzw. Relevanz. Das gilt auch für die Kultursoziologie in
Ostdeutschland.
In der DDR war sie zwar ein zartes, aber dennoch blühendes
Pflänzchen. Beginnend Anfang der 1970er Jahren entfaltete sich in einer
Reihe von kulturellen und künstlerischen Teilbereichen ein erstaunlich
breites thematisches Spektrum an kultursoziologischen
Forschungsansätzen und -projekten: von Freizeitstudien über Befragungen
zu den Lebensweisen der Menschen in unterschiedlichen
Siedlungsstrukturen und Wohnformen bis hin zu theater-, film- und
literatursoziologischen Studien. Manches davon blieb eine
‚Eintagsfliege’, aber es entstanden auch kontinuierliche
Forschungsgruppen wie z. B. die um Fred Staufenbiel in Weimar im
Bereich der Architektursoziologie oder die um Dietrich Sommer und
Dietrich Löffler zur Leseforschung in Halle.
Ich hatte das große Glück, zeitlich ziemlich passgenau, in diesen
Konstituierungsprozess hineinwachsen zu können. Als Student des
Direktstudienganges 1974-78 war ich an der Durchführung und Auswertung
der UNESCO-Kulturstudie Nr. 1, deren DDR-Part von den
Kulturwissenschaftlern gemeinsam mit den Soziologen der
Humboldt-Universität realisiert wurde, intensiv beteiligt. Diese
international vergleichende Studie hat mein, davor in Ansätzen bereits
vorhandenes Interesse an kultursoziologischen Fragestellungen weiter
gefördert. Durch Hintergrundrecherchen für den neu entstehenden
Studentenclub der Humboldt-Universität in der Linienstraße, an dem wir
Studenten der Kulturwissenschaft aktiv beteiligt waren, bekam ich dann
einen ersten Kontakt zum Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung
(ZIJ). Der erweiterte sich, als Lothar Bisky (damals Leiter der
Abteilung Kultur- und Medienforschung am ZIJ) seine nebenberufliche
Tätigkeit als Dozent für Kultursoziologe bei den Kulturwissenschaftlern
in Berlin aufnahm. Ich absolvierte ein Praktikum am ZIJ, verfasste
meine Diplomarbeit mit Daten aus filmsoziologischen Studien des
Instituts - wofür ich zuvor im Eilverfahren erst einmal „VD
verpflichtet“ werden musste („VD“ bedeutete: zur Einsicht in
„Vertrauliche Dienstsachen“ zugelassen; in der DDR unterlagen nahezu
alle soziologischen Daten einer der vier Geheimhaltungsstufen NfD, VD,
VS und VVS). Dann bekam bekam ich sogar die Möglichkeit, nach dem
Studium dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter einsteigen zu können.
Sicher ein weiterer Glücksumstand in meinem Wissenschaftlerleben: Nicht
nur hinsichtlich der interessante Forschungsaufgaben, die dort auf mich
warteten, sondern vor allem auch wegen des offenen, kritischen Klimas,
das an diesem Institut herrschte. Das ZIJ stand von seiner Gründung
1965 bis zu seinem Ende 1990 unter der Leitung von Prof. Walter
Friedrich, einem in jeder Hinsicht außerordentlichen Wissenschaftler
und Menschen. Sein Grundverständnis von sozialwissenschaftlicher
Jugendforschung in der DDR war, dass nur eine Forschung diesen Namen
verdiene, die sich selbst keine Tabus hinsichtlich ihrer Fragen an die
Gesellschaft auferlegte.
Ein für die DDR sehr kühnes Unterfangen, das er aber nahezu 25
Jahre (mit Hilfe seiner ca. 100 Mitarbeiter, darunter ca. 60
Wissenschaftler) im wahrsten Sinne des Wortes durch gestanden hat;
trotz vieler, vor allem politischer Widernisse. Walter Friedrichs
Ansatz spiegelte sich auch in der Struktur des Instituts wieder. Neben
Fachabteilungen, die sich wichtigen sozialen Teilgruppen unter der
Jugend der DDR zuwandten (also den Lehrlingen und jungen Arbeitern, den
Studenten und der Landjugend; einzig eine eigenständige Abteilung zur
Schuljugend blieb uns versagt - da war Margot Honecker vor), wurde das
Forschungsprofil des ZIJ durch thematische Querschnittsabteilungen zu
den Bereichen Junge Ehe und Familie, Sexualverhalten Jugendlicher,
Jugend und Politik, Jugend und Bildung (später auch
Kreativitätsforschung), Jugend und Recht sowie zum Freizeit- und
Medien- und Kulturverhalten Jugendlicher geprägt. Dahinter stand der
Anspruch, die soziale Wirklichkeit Jugendlicher in der DDR möglichst
umfassend mit soziologischen Mitteln zu erforschen.
Die oben beschriebene Grundhaltung am ZIJ hatte noch einen
unschätzbaren Vorteil für mich: Ich musste die kritischen
Geisteshaltung, die uns während des Studiums in Berlin vermittelt
worden war, nicht unterdrücken, sondern konnte sie sogar produktiv
einbringen. Insgesamt war ich 13 ½ Jahre am ZIJ tätig. Ich beschäftigte
mich dort mit dem Leseverhalten Jugendlicher (worüber ich auch 1985 bei
Karin Hirdina promovierte), führte zahlreiche Studien zur Rezeption
bildender Kunst in den Kunstausstellungen der DDR durch (darunter auch
repräsentative Besuchererhebungen auf der IX. und X. Kunstausstellung
in Dresden) und setzte mich mit den, in den 1980er Jahren immer
differenzierter werdenden jugendkulturellen Szenen im Land auseinander.
Ich konnte dabei sowohl auf das wissenschaftliche Know-how des ZIJ in
punkto Befragungen zurückgreifen als auch neue methodische Ansätze
(insbesondere im qualitativen Bereich und dessen Verknüpfung mit
repräsentative Erhebungsdaten) mit entwickeln helfen. Vor allem aber
konnte ich Felder besetzten, die ich für gesellschaftlich relevant
hielt und bekam dafür von dem Direktor des Hauses wie meinen Kollegen
in der Abteilung Kultur- und Medienforschung (die nach Lothar Biskys
Wechsel nach Berlin, von Dieter Wiedemann geleitet wurde, der seit 1996
Rektor der Filmhochschule in Potsdam ist) absolute Rückendeckung.
Inhaltlich hervorheben möchte ich besonders die Frage nach der Kunst
als Ersatzöffentlichkeit in einer begrenzt offenen Gesellschaft, die
ich anhand des DDR-Publikums in Kunstausstellungen untersucht habe
(offiziell lautete die Überschrift der Studie: Soziologische Erhebungen
zu sozialen Gebrauch bildender Kunst in der DDR am Beispiel von
Besuchern der …“). Sowohl im Verband Bildender Künstler als auch im
Kulturministerium konnte ich dafür wichtige Partner gewinnen; auch wenn
deren Intentionen, diese Forschung zu fördern, sehr breit streuten. Das
Spektrum reichte hier vom wirklichen Interesse am Gegenstand bis zur
Sicherung von Herrschaftswissen.
Denn wir lebten und arbeiten am ZIJ natürlich nur scheinbar auf
einer „Insel der Seeligen“. Dies wurde uns immer wieder dann besonders
bewusst, wenn wir die Ergebnisse unserer Forschungen in den
gesellschaftlichen Verwertungs- und Erkenntnisprozeß zurückfließen
lassen wollten. Sich immer wieder auftuende politische Engräume
einerseits, wie die ständige Kontrolle durch unsere vorgesetzten
Dienststellen andererseits (von denen es mit dem Amt für Jugendfragen,
der Abteilung Jugend im ZK der SED und dem Zentralrat der FDJ mehr als
genug gab), verhinderten permanent, dass allzu viele unserer Ergebnisse
eine breite Öffentlichkeit erreichten. Sie zu publizieren war - je nach
Themengebiet - nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Auch wenn -
als ich 1978 zum ZIJ dazu stieß - die schlimmsten Auswüchse dieses
Abschottungsdenkens überwunden waren, vor diversen Rückfällen waren wir
nie sicher. Damit wir unsere Ergebnisse aber nicht nur für den
Panzerschrank produzierten, wurden wir zu ‚Wanderpredigern’ in eigener
Sache. Ich hielt pro Jahr ca. 25 bis 30 Vorträge bei
Weiterbildungsveranstaltungen in Kulturakademien, beim Kulturbund, in
den Künstlerverbänden etc.
Hervorzuheben an den Arbeitsmöglichkeiten am ZIJ ist vor allem auch
die große Kontinuität, mit der man sich dort Forschungsfelder
erschließen und in aufeinander aufbauenden empirischen Studien
schrittweise ausfüllen konnte. Forschungsplanungen über einen Zeitraum
von mehreren Jahren hinaus waren die Regel, nicht die Ausnahme.
Dies sollte sich nach 1990 alles schlagartig ändern. Das
international hoch geschätzte ZIJ wurde - trotz intensiver Bemühungen
unsererseits und massiver Unterstützung renommierter westlicher
Fachkollegen – Ende dieses Jahres geschlossen. Obwohl (oder gerade weil
?) wir binnen weniger Wochen das Funktionieren unseres
Forschungsinstitutes unter quasi bundesdeutschen Verhältnissen
nachgewiesen, eine funktionierende (vorher so in der DDR nicht
existierende) Meinungsforschung aufgebaut und bereits die erste
vergleichende deutsch-deutsche Schülerstudie realisiert hatten (lange
bevor die erste vergleichende Shell-Jugendstudie überhaupt an den Start
ging).
Nachdem auch die geplante Gründung eines gesamtdeutschen
Jugendforschungsinstitutes mit zwei gleichberechtigten Standorten in
Leipzig und München erfolgreich hintertrieben wurde, fiel das ZIJ - von
über 60 auf 12 Wissenschaftler reduziert - als Außenstelle an das
Deutsche Jugendinstitut München. Ich war einer der Übernommenen, der
einzige aus einer Abteilung von ehemals acht Mitarbeitern. Zwar waren
auch die Münchner Kollegen brennend an den Ergebnissen der, z. T. über
15 Jahre und länger laufenden Intervallstudien des ZIJ interessiert;
zur Finanzierung weiterer Intervalle fand sich jedoch kein Geldgeber.
Forschungsvorhaben werden in der Bundesrepublik, so mussten wir lernen,
in der Regel stets nur über eine Laufzeit von zwei Jahren gefördert.
Dann ist die Weiterförderung des Projekts erneut zu beantragen. Ob sie
erfolgt, kann vorher nicht gesagt werden.
Mit dem DJI (damals unter Leitung des Familienforschers Prof. Hans
Bertram, heute Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität)
lernte ich eine hoch qualifizierte aber zugleich auch hoch
spezialisierte Forschungseinrichtung kennen. Eine Gesamtsicht auf die
bundesdeutsche Jugend wurde gar nicht erst angestrebt. Forschung
erfolgte nur nach Förderung. Die Förderung war stets Projekt
orientiert. Der Zugriff auf die Jugendwirklichkeit musste somit
fragmentiert bleiben. Ganze, gesellschaftlich relevante Bereiche (wie
z. B. der Übergang von der Schule ins Berufsleben, die studentische
Jugend, junge Ehen und Familien) fanden in der Forschung keinen
Niederschlag. Und auch die komplexen Umbrüche im Osten Deutschlands
wurden nur punktuell untersucht. Als ich Anfang 1992 mit Hilfe eines
Habilstipendiums der DFG die Möglichkeit erhielt, meine Forschungen zur
Rezeption bildender Kunst im Osten Deutschlands fortzuführen, war ich
keineswegs traurig das Terrain der Jugendforschung nunmehr verlassen zu
müssen.
Ich fand mit meinen Habilprojekt an der Universität Karlsruhe bei
den Professoren Hans-Joachim Klein und Bernhard Schäfers eine gute
Heimstatt. 1995 habilitierte ich mich dort als einer der ersten
ostdeutschen Sozialwissenschaftler an einer westdeutschen Universität.
2001 ernannte mich die Universität Karlsruhe zum apl. Professor für
Kultur- und Jugendsoziologie. Hajo Klein ist der renommierteste
Besucherforscher der alten Bundesrepublik. Doch während er über 20
Jahre vor allem Studien zum Besucherverhalten in kulturhistorischen,
zeitgeschichtlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Museen
durchgeführt hatte, konnte ich ihn bei unserem Kennenlernen 1990 mit
meinen methodisch breit angelegten Studien zu
Kunstausstellungsbesuchern durchaus überraschen. Dass hier in den alten
Bundesländern ein großes Forschungsdefizit bestand, wurde spätestens
deutlich, als auf der documenta IX in Kassel - der weltgrößten
Kunstausstellung - 1992 erstmals eine Besucherbefragung stattfinden
sollte. Ich wurde als Fachberater dafür engagiert, konnte auf diese
Weise meine Erfahrungen in diese Befragung einfliesen lassen und
zugleich meine Forschungen zur Kunstrezeption Ostdeutscher bis in die
unmittelbare Gegenwart fortführen. Allerdings war der Anteil der
Besucher aus den neuen Bundesländern an der dIX mit 5 Prozent sehr
gering, obwohl Kassel unmittelbar in der Nähe der ehemaligen
Zonengrenzen liegt; erste Zeichen einer bis heute partiell weiter
anhaltenden Fremdheit zwischen Ost und West.
Nach den Besucherbefragungen in Kassel realisierte ich noch weitere
repräsentative Evaluationen im Sprengel Museum Hannover und für das
Haus der Geschichte in Bonn (vergleichende Studie zum
Geschichtsverständnis von Museumsbesuchern). Bei dieser Stiftung bin
ich seit 1995 hauptberuflich angestellt, mache nun selbst Ausstellungen
für ein großes Publikum. Im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig (meinem
Stammhaus) habe ich bereits fünf thematische Wechselausstellungen
realisiert, die danach auch im Haus der Geschichte in Bonn und in
anderen Städten der Bundesrepublik gezeigt wurden. Zuletzt kuratierte
ich die Ausstellung „Rock! Jugend und Musik in Deutschland“, die in
Leipzig, Bonn und Berlin ca. 350.000 Besucher sahen.
Aber auch innerhalb der Stiftung bin ich weiterhin in Sachen
Besucherevaluation tätig. Im Zeitgeschichtlichen Forum habe ich seit
seiner Eröffnung im Jahr 1999 mehrere repräsentative Besucherstudien in
der Dauerausstellung unseres Hauses und in Wechselausstellungen
durchgeführt. Seit 1994 führe ich darüber hinaus an der HTWK Leipzig im
Rahmen des Museologie-Studiums Lehrveranstaltungen zur „Einführung in
die Besucherforschung“ durch, an deren Ende die Studenten Befragungen
in konkreten Ausstellungen in Leipziger Museen durchführen. Auf diese
Weise erhalten nicht nur kleinere Museen, die sich kommerzielle
Erhebungen nicht leisten können, kostenlos Angaben zu ihren
Besucherstrukturen, sondern ich kann auch meine Erfahrungen in diesem
Bereich an künftige Museumsmitarbeiter weiter geben.
Auch der Jugendsoziologie habe ich noch nicht abgeschworen. Seit
Mitte der 1990er Jahre entwickele ich ein Modell der Jugendgenerationen
der DDR, indem meine Erfahrungen aus der Jugendforschung ebenso
einfließen wie die als Zeit- und Kulturhistoriker, als der ich heute
hauptsächlich tätig bin. Derweil die kultursoziologische Forschung
(nicht nur im Osten Deutschlands) wieder einmal von weniger
gesellschaftlicher Relevanz erscheint …
Günter Kracht (Foto: Scheel)
Günter Kracht
Kulturwissenschaft als Wissenschaft der modernen Gesellschaft
Thesen
Außerhalb meiner eigentlichen Ausführungen möchte ich mit einer
interessanten Information beginnen: Über 44 Jahre
kulturwissenschaftliche Ausbildung an der Humboldt-Universität kritisch
nachzudenken, retrospektiv nach ihrer möglichen Zukunft zu fragen, muss
m. E. nicht resignativ ausfallen. Das Studienfach, das Sie dort vor
einiger Zeit studierten, ist nach wie vor an ihr präsent. Informationen
der Universitätszeitung zufolge haben sich im Wintersemester 2007/08 im
Ranking der Bewerbungen – so der gegenwärtige Wortgebrauch – auf einen
Studienplatz der Kulturwissenschaft mehr als 20 Bewerbungen (genau 24)
eingefunden! Mehr Bewerbungen finden wir nur noch bei den
Erziehungswissenschaften.
Sie sehen an diesem doch beeindruckenden Zahlenverhältnis das große
Interesse am Studienfach Kulturwissenschaft und welche große
Aufmerksamkeit sie unter künftigen Studenten findet. Zumindest in
dieser Hinsicht hat sich gegenüber früher eigentlich nichts geändert.
Auch in den vergangenen Zeiten hofften viele auf den begehrten
Studienplatz mit dem magischen Namen Kulturwissenschaft, sogar
möglicherweise mit ähnlichen individuellen Motiven.
Einstimmende Vorbemerkung:
In meinen Bemerkungen werde ich einige Perspektiven der
Kulturwissenschaft umreißen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich dabei
auf eine Kulturwissenschaft, die sich an der Kultur der gegenwärtigen
Gesellschaft ‚abarbeitet’. Die Ausführungen sind natürlich nur
kursorisch, gelegentlich überspitzt und möglicherweise auch sehr
einseitig. Mir geht es vor allem um Grundlinien eines
kulturwissenschaftlichen Denkansatzes, d. h. um eine
Kulturwissenschaft, die sich ihrer Herkunft vergewissert, um daraus
ihre gegenwärtige und künftige Funktion abzuleiten. Ich greife dabei
Ergebnisse des cultural turn der Sozialwissenschaften auf, setze das
anhaltende Interesse an der Kulturwissenschaft in der
Wissenschaftslandschaft und den Hochschulen voraus, also die große
Aufmerksamkeit, die der Kulturwissenschaft – aus welchen Gründen auch
immer – seit einiger Zeit zufällt. In dieser Aufmerksamkeit sehe ich
eine große Chance für die Verbreitung kulturwissenschaftlicher
Erkenntnisse, soweit man das für eine der Wissenschaft eher
desinteressiert gegenüber stehenden (politischen) Öffentlichkeit
überhaupt sagen kann. Wenn es heute hier um eine Standortbestimmung des
Kulturwissenschaftlichen geht, dann schließt das aus meiner Sicht eine
Problemschärfung wie Problemerweiterung notwendigerweise ein, nein
setzt diese voraus.
I.
Es ist ein Gemeinplatz geworden: Kulturwissenschaft scheint eine
anerkannte Disziplin im Fächerkanon der Geistes- resp.
Sozialwissenschaften geworden zu sein. Ein Ende ihrer Konjunktur -
zumindest an den Hochschulen und in der öffentlichen Wahrnehmung - ist
im Moment noch nicht abzusehen. Die unmittelbar den Problemen der
Kulturwissenschaft zugewandten Publikationen füllen mittlerweile ganze
Bücherregale. Monographien, Aufsatzsammlungen und umfangreiche Lexika
dokumentieren das immense Interesse an dieser denkwürdigen
Wissenschaft. Dieser eher quantitative Gesichtspunkt steht in einem
eigentümlichen Verhältnis zu den heterogenen Standpunkten und
Auffassungen, die wir in den Texten finden. Die Kulturwissenschaft, das
ist schnell erkennbar, ist weit von einer konsensuellen Sicht auf ihren
Gegenstand, ihre Methoden und ihren Platz im Fächerkanon entfernt.
Selbst angesehene Vertreter des Fachs kokettieren gelegentlich mit der
Meinung, dass sie auch nicht genau wissen würden, was eigentlich
Kulturwissenschaft ist, die sie ja gerade betreiben.
Diese Umstände sind Ihnen alle mehr oder weniger auf` das Beste
bekannt. Wir verkörpern ja heute auch eher das Heterogene, fast ist man
geneigt zu sagen, das Hybride, welches sich auf dem imaginären Boden Kulturwissenschaft
zu treffen versucht. Ob wir auch nur Ähnliches meinen, wenn wir von
Kulturwissenschaft sprechen, ist eine offene Frage. Eine stimmige
Antwort kann letztlich nur jeder einzelne für sich finden.
II.
Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich pointiert meine
Auffassung zur Kulturwissenschaft darlegen und soweit das notwendig
erscheint, etwas ausführlicher begründen. Ich werde versuchen, Ihnen in
äußerst gedrängter Form eine Auffassung von Kulturwissenschaft
vorzustellen, von der ich meine, dass sie in die Zeit gehört, ja
geradezu erforderlich ist, dass man die offensichtliche theoretische
Not, in der sich die Kulturwissenschaft anscheinend befindet, in eine
Notwendigkeit ihrer nachhaltigen wissenschaftlichen Existenz überführen
muss. Das zeigt sich unmittelbar auch an wissenschaftlichen und
alltagspraktischen Aufgaben, die einer kulturwissenschaftlichen
Auseinandersetzung bedürfen. Natürlich gibt es auch andere
Möglichkeiten, Kulturwissenschaft zu begründen, ich konzentriere mich
in meinen Ausführungen auf jene Seite der Kulturwissenschaft, die man
‚Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft als Kultur’ nennen
kann. Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, ist es notwendig, einen
kurzen Blick auf die Geschichte der Kulturwissenschaft zu werfen.
III.
Die Geburtsstunde der Kulturwissenschaft schlägt mit der Entstehung
der modernen Gesellschaft und der Herausbildung einer modernen Kultur.
Vormoderne Gemeinschaften kannten und brauchten keine
Kulturwissenschaft. Sie hatten Kultur, aber kein soziales Interesse
oder keine wissenschaftlichen Möglichkeiten, sich dieser reflektierend
zu nähern. Die Kulturwissenschaft ist - wie die Soziologie - ein
legitimes Kind der Moderne. Sehr vereinfacht können wir sagen, dass sie
die soziologische Frage: Wie ist Gesellschaft (nicht Gemeinschaft!)
überhaupt möglich? mit dem Hinweis auf Kultur beantwortet. Die
entstehende Kulturwissenschaft schlägt im 18. Jahrhundert damit
zugleich eine Erkenntnisbrücke zu ihrer legitimen Schwester, der
Anthropologie, die das Besondere der menschlichen Existenz in seiner
Kultur sieht. Menschliches Leben und soziale Lebensformen bedingen sich
einander und werden nun erkennbar aufgrund ihrer gemeinsamen Grundlage:
Kultur.
Auch wenn einzelne Elemente moderner Gesellschaft und Kultur schon
eine längere Geschichte aufweisen, ist man sich gegenwärtig einig, dass
sich dieser Übergang allmählich im 17. und 18. Jahrhundert in einigen
Ländern Europas vollzog und ein grundlegend verändertes Denken (Kultur)
sich herauskristallisierte - gemeint ist die Denkbewegung von der
Aufklärung, der Erklärung der Menschenrechte über die Klassik bis zur
Romantik. Von nun an wurde die moderne Gesellschaft einer fortlaufenden
‚Kulturalisierung’ unterworfen. Kulturwissenschaftliches Denken
verbirgt sich in jener Zeit noch in der Sozial- und Moralphilosophie,
in der Historiographie, in den Staatswissenschaften, in der
Anthropologie; wenige Jahrzehnte später finden wir sie überwiegend im
Gewand der Soziologie. Sehen wir einmal von der Kulturgeschichte und
der Kulturphilosophie ab, dann bildet sich mit den Sozialwissenschaften
um 1900 zugleich eine Kulturwissenschaft deutlich heraus. Man kann
sogar den Standpunkt vertreten, dass wir es bei den Begründern der
Soziologie in Deutschland, F. Tönnies, M. Weber und G. Simmel,
eigentlich mit Kulturwissenschaftlern zu tun haben. Das ließe sich
leicht an den Hauptaussagen ihrer Werke nachweisen. Tönnies Dualismus
von Gesellschaft und Gemeinschaft, Webers Verständnis von sozialem
Handeln oder Simmels Formen der Vergesellschaftung, stets begegnen uns
kulturwissenschaftliche Denkfiguren. Mir kann es hier noch nicht einmal
im Ansatz um eine Art Wissenschaftsgeschichte gehen. Ich möchte darauf
aufmerksam machen, dass sich eine moderne Kulturwissenschaft in
Reflexion der modernen Gesellschaft gebildet und entwickelt hat, sie
hat das Kulturelle als Deutungsrahmen des Sozialen beobachtbar gemacht.
Hier ist vor allem wichtig zu betonen, dass sich die Kulturwissenschaft
in Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft entwickelte und
damit ihre inhaltliche Kontur erhielt.
M. a. W.: Die Begründer der Kulturwissenschaft verstanden darunter
eine Möglichkeit zur Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, die
nämlich nur aufgrund einer kulturellen Auslegung einer Deutung und
Erklärung zugänglich ist. A. Comte wollte die Soziologie noch als eine
„Naturwissenschaft des Sozialen“ begründen. Simmel und Weber erkannten,
dass die Natur des Sozialen kulturell ist. Menschliche Gesellschaften
sind kulturell, d. h. sinnhaft fundiert; ohne Kultur (d. h. nur
aufgrund des Vorhandenseins eines Mediums – zumindest des menschlichen
Körpers und der Lautsprache – das sie einsetzen, um sich und der Welt
eine Bedeutung zu geben) gibt es keine uns bekannte menschliche
Sozietät. Möglich wurde ihnen diese Erkenntnis durch eine intensive
Beschäftigung mit der Gesellschaft (Moderne), in der sie lebten.
Während Simmel und Weber diese Auffassung soziologisch gewannen,
können wir sie heute auch naturwissenschaftlich begründen. In einem
grundsätzlichen Sinn ist Kultur die Natur des Menschen. Kultur ist die
Natur des Menschen lehren uns Evolutionsbiologen, Paläontologen,
Anthropologen, Hirnforscher u. a. Es ist dieser enge Zusammenhang von
moderner Gesellschaft und Kulturwissenschaft, der im Zentrum meiner
weiteren Aufmerksamkeit steht.
IV.
Auffällig an der frühen Kulturwissenschaft ist ihr Status als
‚Krisenwissenschaft’. Weder Simmel noch M. Weber waren an einer
Wissenschaft interessiert, die auf Versöhnung und Einheit ausgerichtet
war. Für sie war klar, dass eine moderne Wissenschaft die Konflikte der
(modernen) Kultur erfassen und beschreiben müsse. Eine solche Sicht auf
Kultur stand (in der Wilhelminischen Gesellschaft) und steht wohl auch
heute quer zu der kommunizierten Auffassung von Kultur, in der eine
Gesellschaft mehr das Einheitliche, das Gemeinsame sehen möchte und
weniger das Differente, Gegensätzliche und Widersprüchliches beachtet
und anerkennt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts boten sich für das
angestrebte Einheitliche und idealisierte Gemeinsame die Idee der
Nation und Klassenkulturen an. Da aber Simmel und Weber keine
harmonisierenden Kulturkonzepte zur Verfügung stellten, wurden sie
weniger als Kulturwissenschaftler anerkannt und rückten in die
Ahnenreihe der Soziologie ein. Was als Kulturwissenschaft reüssierte
war Kulturkritik oder Kulturphilosophie, später mit unterschiedlicher
kulturwissenschaftlicher Gewichtung philosophische Anthropologie
(Scheler, Plessner, Gehlen). Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die
Kulturkritik der Kritischen Theorie. Sie trug wenig zur Wiederbelebung
einer modernen Kulturwissenschaft bei. Kultur rückte etwas aus dem
Gesichtsfeld der Wissenschaften.
Die in den 1960er Jahren zögerlich einsetzende Wiederbelebung
kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Bundesrepublik wie in der DDR
hatten viele Ursachen und Gründe. Das auch nur anzudeuten zu versuchen,
wäre in diesem Zusammenhang mehr als fahrlässig. Eins scheint aber
festzustehen: Die in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren
stattfindenden Wandlungen trugen ein Kulturetikett ebenso wie die in
der DDR beabsichtige ‚sozialistische Kulturrevolution’. Beide Vorgänge
haben Anteil an der Bildung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen,
schließlich an der Entstehung einer Kulturwissenschaft (und der
Ausrichtung von Kunst- und Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaften).
Das alles ist Geschichte und erfordert eine sachliche und kritische
Auseinandersetzung unter Einbeziehung der marxistischen Traditionen
zwischen 1917 und 1989.
Was ist und vor allem was kann Kulturwissenschaft heute? Welches
Selbstverständnis muss sie haben, um jenseits der skizzierten
historischen Achse in der Gegenwart zu wirken und von einem
spezifischen Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wahrgenommen zu
werden? Dem versuche ich in den weiteren Thesen nachzugehen.
V.
Ich bin der Auffassung, dass eine moderne Kulturwissenschaft in
einem transdisziplinären Verbund zeigen kann, dass die Grundlagen
menschlicher Entwicklung kultureller Natur sind, dass die biologische
Evolution des menschlichen Lebewesens eine kulturelle Fortsetzung in
sozialen Lebensformen gefunden hat. Viele wichtige Diskussionspunkte
der Gegenwart wurzeln in diese Zusammenhang von Natur und Kultur, von
Leib, Körper und Bewusstsein usw. In diesem Sinn ist eine moderne
Kulturwissenschaft eine Basiswissenschaft, die grundsätzlich erklären
kann, wie ihr Gegenstand Kultur evolutionär in die Welt kam. Sie
synthetisiert zu diesem Zwecke Erkenntnisse vieler anderer
Wissenschaften, verallgemeinert deren Aussagen zu einem Konzept Kultur.
Sie wird damit nicht zu der Leitwissenschaft oder gar Überwissenschaft.
Sie ist aber fähig, die Schlüsse bspw. der Evolutionsbiologie für
Annahmen der kulturellen Evolution der Menschen zu nutzen. M. a. W.:
Während uns der Biologe erklärt, wie sich bestimmte menschliche
Potentiale ausgebildet haben, zeigt die Kulturwissenschaft in Form
einer Historischen Anthropologie wie Menschen mit diesem Potential
umgegangen sind bzw. umgehen. Eine moderne Kulturwissenschaft operiert
also nicht mit dem Gegensatz von Natur und Kultur, sondern
konzipiert Kultur der Menschen konsequent als Fortsetzung der Natur des
Menschen und erinnert zudem auch stets daran, dass die Natur die
Voraussetzung ist, wir als Gattung wie als einzelne Individuen von ihr
unabdingbar abhängig sind, unsere so genannte instrumentelle Vernunft
möglicherweise am ‚Desinteresse’ der Natur an uns scheitern kann.
Nur ein instrumentelles Kulturkonzept, das Kultur als Beherrscherin
der Natur denkt, kann darin einen unauflöslichen Konflikt sehen und
kommuniziert borniert den Dualismus von Natur und Kultur weiter. Kultur
als Konsequenz einer Evolution von Lebensformen kennt diesen Konflikt
nicht, eher die Erfahrung, dass an Menschen und ihren spezifischen und
historischen Lebensformen mehr ‚Natur’ als ‚Kultur’ ist.
VI.
Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts bedeutet
Wissenschaft in einem schwierigen Gelände zu sein. Es gehört heute fast
zum guten sozialwissenschaftlichen Ton, in Ansehung der Gesellschaft in
der wir leben zu sagen, dass wir überhaupt nicht wissen, in welcher
Gesellschaft wir leben. Die Gesellschaft – so der Soziologe U. Beck und
anderen – ist uns weitestgehend (begrifflich) unbekannt geworden.
Nachdem postmoderne Theorien ihre Anziehungskraft verloren haben und
wir zunehmend merken, dass wir vielleicht erst dabei sind, ‚modern’ zu
werden, stehen wir zu Recht vor der Frage, wie diese Gesellschaft, in
der wir heute leben, adäquat zu beschreiben wäre. Was die
gesellschaftliche Situation gegenwärtig kennzeichnet ist ihre
‚Unbeschriebenheit’, ihr Unbekanntsein; aus einer
kulturwissenschaftlichen Perspektive können wir sagen, der Gesellschaft
fehlt eine stimmige Kulturalisierung. Diese Erkenntnis sollte m. E. am
Beginn einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen
Gesellschaft stehen, was ja vor allem bedeutet, dass uns die passenden
Begriffe fehlen. Das bedeutet: Wir müssen überkommene Begriffe kritisch
prüfen, fragen, ob wir ihre Inhalte, ihre Deutungsrahmen verändern,
erweitern müssen oder sie vielleicht löschen und durch andere ersetzen
sollten. Das ist nicht die alleinige Aufgabe der Kulturwissenschaft.
Sie nimmt daran anteilig bestimmte Fragen und Probleme wahr, fühlt sich
für die ‚kulturelle Seite’ zuständig. Was sie einbringen kann, scheint
mir aber gewichtig genug, um von der Kulturwissenschaft als einer
Wissenschaft der modernen Gesellschaft zu sprechen: Es ist neben dem
gewonnenen modernen Kulturverständnis (der moderne Kulturbegriff) ihr
Potential zur Behandlung der Frage nach der Gesellschaft, in der wir
künftig leben wollen bzw. in der wir künftig leben werden. Aus meiner
Sicht scheint es der Kulturwissenschaft möglich zu sein, die
Gesellschaft kulturell ‚aufzuspannen’ zwischen ihren gegebenen
Wirklichkeiten und den darin beobachtbaren Möglichkeitshorizonten.
Ich verwies schon eingangs auf den Zusammenhang von moderner
Gesellschaft und modernem Kulturbegriff. Das Eine ist ohne das Andere
nicht zu haben. Mit diesem Kulturbegriff (besser vielleicht:
Kulturverständnis/Kulturkonzept) verfügt die moderne Gesellschaft über
ein Instrumentarium adäquater Selbstbeschreibung, denn es gestattet die
Beobachtung fundamentaler Widersprüche/Gegensätze, Anomalien, aber auch
die Beobachtung von Einheit und Zusammenhang. Die moderne Kultur
integriert Ordnung und Eindeutigkeit wie Ambivalenz und Pluralität. Sie
selbst legt sich nicht fest, sie verweigert klare Vorgaben und
abschließende Definitionen. Wenn Kulturwissenschaft dann die Frage „Wie
sind soziale Ordnungen möglich?“ durch Kultur beantwortet, beschreibt
sie u. a. die Möglichkeit der Individuen, die Unbestimmtheit ihres
individuellen Verhaltens in die Bestimmtheit(en) sozialen Handelns zu
transformieren. Dieser Vorgang ist konstitutiv für jede soziale
Ordnungen! Er lief in Wildbeutergemeinschaften ebenso ab wie im
unmittelbaren Moment meines kurzen Vortrags. Er läuft zudem fast
unbewusst ab. Kultur als die Voraussetzung für jenen Prozess ist dabei
unsichtbar. Sie wird benutzt, angewandt. Nur in der Reflexion wird sie
sichtbar und kommunikativ behandelbar. Und hier finden wir das Problem
der Kultur der modernen Gesellschaft: Sie wird einerseits als Kultur
kommuniziert. Während – sehr grob gesprochen – andere soziale Ordnungen
Kultur hatten, weiß die Moderne, dass für sie eine bestimmte Kultur
konstitutiv ist. Zum anderen ist diese Kultur dadurch charakterisiert,
dass sie den sozialen Akteuren keine eindeutigen Orientierungen für ihr
Verhalten in die Hand geben kann. Die Folgen sind Unsicherheiten im
sozialen Handeln. Der Verlust an klarer Orientierung ist aber kein
spätes Ergebnis moderner Kulturentwicklung, sondern tritt schon mit
ihrer Entstehung auf. Die kommunikative Verfasstheit der frühen Moderne
verhinderte aber, dass solche Einsichten verstärkt und erfolgreich
kommuniziert werden konnten. Denken wir nur an die begrenzte
Wirkmächtigkeit der Kulturüberlegungen der Frühromantik. Das hat sich
im Zuge der Modernisierung der Moderne rasch und tief greifend
geändert. Die Moderne ist eine Gesellschaft mit einem offenen
Sinnhorizont. Permanent werden richtige und gangbare Wege zu diesem
Horizont simuliert. Zu diesem Bewusstsein ist sie im Laufe ihrer
Entwicklung gekommen. Im frühen 19. Jahrhundert war dieses Wissen
latent und durch Fortschrittsphantasien abgesichert, spätestens seit
1900 und dann eingedenk der Erfahrungen der 20. Jahrhunderts können wir
uns dieser kulturellen Gemengelage nicht mehr verschließen. Die
Verhältnisse werden unübersichtlich und (kultur-) wissenschaftliche
Rettung ist nicht in Sicht. In Sicht ist eher eine Verdrängung dieser
Erkenntnis.
Nie war Kulturwissenschaft (andere Sozial- und Kulturwissenschaften
ebenso) wichtiger für die Gesellschaft, die sich das Label
‚Wissensgesellschaft’ gegeben hat, nie wurden deren Einsichten und
Erkenntnisse mehr übersehen und abgewertet. Wenn es nicht in den
jeweiligen Denkrahmen passt, wird der Wissenschaft schon einmal schnell
Unverständlichkeit; Realitätsferne oder ‚Soziologendeutsch’
vorgeworfen!
VII.
Die Kulturwissenschaft befindet sich in einer ambivalenten, ja
paradoxen Situation. Soll sie nicht im Stadium einer Kulturkritik à la
Frankfurter Schule verharren, muss sie sich in einem schwierigen
theoretischen Terrain festlegen, d. h. theoretische Entscheidungen
treffen: Beobachtet sie ihre eigenen Grundlagen als differente oder
avisiert sie ihre eigenen Hoffnungen an und formuliert sie eine Kultur
der Einheit. M. a. W.: Basiert Kulturwissenschaft auf einer
Kulturtheorie der Differenz, des Dissens oder der Ordnung, der klaren
Klassifikationen, bearbeitet sie das Kontingente, Ambivalente oder
versucht sie es auszuschließen, zu eliminieren. Die Entscheidung dürfte
eigentlich nicht schwer fallen. M. E. hat eine moderne
Kulturwissenschaft nur als Wissenschaft des Differenten eine Zukunft,
u. a. auch, weil jede Kulturwissenschaft der Ordnung, des
Nichtdifferenten fast schon bei ihrer Formulierung überholt scheint.
Denken wir nur an einige Begriffskarrieren der letzten Jahrzehnte:
‚Risikogesellschaft’, ‚Kommunikationsgesellschaft’,
‚Erlebnisgesellschaft’, ‚Wissensgesellschaft’,
‚Multioptionsgesellschaft’ und nicht zuletzt die vorschnelle Ausrufung
einer gesellschaftlichen Postmoderne.
VIII.
Eine moderne Kulturwissenschaft muss das Komplexe denken können.
Notwendige theoretische Reduktionen des Komplexen (Vereinfachungen,
Simplifizierungen) geraten dabei nicht aus dem Blick. Reduktion
beseitigt nicht die Komplexität, sondern macht sie nur theoretisch
handhabbar. Das muss betont werden, um keiner Kulturwissenschaft der
Simplifizierung das Wort zu reden. Eine solche Kulturwissenschaft einer
komplexen Welt stößt auf Akzeptanzprobleme in einer Welt der
Vereinfachung. Wo einfache Antworten erwartet werden, können sie von
der Kulturwissenschaft nicht gegeben werden, so man nicht den Anspruch
verlieren möchte, moderne Kultur zu thematisieren. Solche einfachen
Antworten finden wir in der rhetorische Formel von der Sicherheit der
Renten und der ‚Vollbeschäftigung’ – in einer Zeit des demographischen
Wandels und dramatischer Veränderungen des Arbeitsmarktes! -, der
Leugnung von Unterschichten oder dem Argument, das Fernsehen dick, dumm
und aggressiv mache.
Eine Kulturwissenschaft des Komplexen und Differenten scheint mir
in der Lage zu sein, solche einfachen Denkfiguren aufzulösen und damit
zumindest auf der Höhe der Beschreibung von bestehenden kulturellen
Problemen und Konflikten zu argumentieren.
IX.
Eine Kulturwissenschaft des Differenten und Komplexen nimmt das
Problem einer möglichen Zukunft ins Visier, um in der Gegenwart
Antworten auf mögliche gesellschaftliche Zustände zu finden. Sie
thematisiert m. a. W. die Frage nach unserer sozialen Zukunft. Gemeint
ist damit nicht eine Auferstehung des Utopischen in Gestalt der
Kulturwissenschaft. Es geht um die Beschreibung von Lebensformen, die
wir erstreben wollen, weil wir sie heute für erhaltenswert finden.
Angesichts der Problemfülle fällt es nicht schwer, auf einige wichtige
kulturelle Sachverhalte hinzuweisen, die für die nähere Zukunft
erstrebenswert sind, weil sie gegenwärtig bedroht scheinen: die
Bewahrung eines verfassten Rechtsstaat, die Legitimität von politischen
Entscheidungen durch demokratische Verfahren, einen säkularen Staat und
eine säkulare Gesellschaft, die bürgerlichen Freiheiten der Individuen,
die Autonomie der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst, die
Bewahrung und Verteidigung des Privaten. Es steht Vieles auf dem Spiel
in der Gegenwart. Antimoderne Kulturen führen in unserer Gesellschaft
längst kein Schattendasein mehr. Parallelgesellschaften konstituieren
sich über Gegenkulturen. Nicht geringe Teile der Bevölkerung der
Bundesrepublik Deutschland (das gilt auch für andere europäische
Gesellschaften) leben jenseits einer modernen Kultur, lehnen diese
nicht nur ab, sondern bekämpfen diese tagtäglich. Verachtet werden
individuelle Freiheiten, die selbst gewählten Ausdrucksmöglichkeiten
der Kunst, ein verfasstes Recht, säkulare Verhältnisse in der
Öffentlichkeit, Meinungsfreiheit, individuelle Selbstbestimmung usw.
usf. Damit rücken nicht automatisch, quasi reflexhaft Migrantenkulturen
in den Blick, es sind vielmehr Kulturen aus der so genannten Mitte der
deutschen Gesellschaft, die sich zunehmend um einfache Antworten auf
komplexe Fragen (u. a. der Globalisierung) gebildet haben.
Dabei verkenne ich nicht, dass sich auch widerständige Kulturen
ausbilden können, doch was ich hier vor Augen habe, sind kulturelle
Strategien, die bewusst um Bedeutungskerne einer längst vergangenen
Vergangenheit sich aufbauen, alte Vorurteile kultivieren und diese
geschickt als Orientierungspotential nutzen.
X.
Die Kulturwissenschaft, die ich hier im Ansatz zu entfalten
versuche, entspricht der modernen Gesellschaft, die sie zu beschreiben
versucht. Diese pendelt zwischen Schließung und Öffnung,
Differenzierung und Entdifferenzierung, Inklusion und Exklusion,
Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, Normierung und laissez fair,
Disziplinierung und Spontaneität hin und her und vergewissert sich
ihrer selbst durch die Annahme, dass nichts beständiger ist als der
kontinuierliche Wechsel. Eine solche Kultur, wie sie dann in der
Kulturwissenschaft beschrieben wird, überfordert möglicherweise die
Individuen, reißt sie mit ihren Aussagen aus ihren realen oder
vermeintlichen Sicherheiten. Kulturwissenschaft kann ihnen aber keinen
Trost spenden (wie einige Studierende dieser Wissenschaft hoffen) oder
gar neue Sicherheiten versprechen, eher Menschen auf neue kulturelle
Zumutungen einstellen. Temporäre Sicherheiten müssen sich Menschen
selbst suchen und dafür auch gute Gründe finden: Eine Variante
wäre eine Renaissance der Bürgerlichkeit, die Erkenntnis, dass die
Individuen als Bürger eine Bürgergesellschaft bilden können. Die
Schaffung einer Bürgergesellschaft und die aktive Teilhabe an ihr
könnte ein Garant für die Abwehr religiöser oder politischer
Fundamentalisierungen sein. Denn die Gefahr besteht, dass solche
Bestrebungen die moderne Kultur zerstören, das Spiel von
Differenzierung und Entdifferenzierung politisch oder religiös
zugunsten des Homogenen und nicht des Heterogenen entschieden wird,
eine kulturelle Ordnung des Eindeutigen etabliert wird Eine
funktionierende Zivilgesellschaft würde eine Kultur kommunizieren, die
sich der Notwendigkeit einer konsequenten Exklusion jeglichen
Totalitarismus verpflichtet weiß. Ein zentraler Punkt wäre die
konsequente Verteidigung des Privaten!
XI.
Folgen wir Niklas Luhmann, dann ist Kultur das Gedächtnis der
Gesellschaft, bezogen auf das gerade Gesagte bedeutet das, dass der
Gesellschaft all jene Erinnerungen entnommen würden, die sie zu einem
Gedächtnis einer modernen Gesellschaften werden ließen. Was dahinter
verbirgt, kann sich jeder schnell vorstellen, der an die Geschichts-
und Identitätspolitik nichtmoderner Gesellschaften resp. Kulturen
denkt. Die jüngere Kulturgeschichte liefert dafür Beispiele und
Anhaltspunkte in reichhaltiger Form.
XII.
Das Gesagte enthält viele Konsequenzen für die Ausbildung von
Kulturwissenschaftlern. Die Kulturwissenschaft muss – hier greife ich
eine Überlegung von Hans-Ulrich Gumbrecht auf - Menschen mit
Komplexität konfrontieren. Das bedeutet, Studierende nicht mit Lösungen
und Weltsichten zu überhäufen, wichtiger ist Begegnung mit dem
Komplexen, die Bindung der Aufmerksamkeit an das Überraschende und
Neue. In der Kulturwissenschaft gilt es Wege zum Noch-Nicht-Gedachten
auszuschreiten, die Schaffung von Möglichkeitsräumen aufgrund der
realen Praxen, in denen die Kulturwissenschaft selbst involviert ist
und nicht das blumige Ersinnen luftiger Welten im Irgendwo. Wer, so
frage ich, könnte der Frage nach dem Wie unseres Lebens in der näheren
Zukunft besser nachgehen als Kulturwissenschaft, indem sie ihre
Vergleichshorizonte möglicher Welten in unsere Gegenwart einzieht.
XIII.
An einem anderen Beispiel seien Möglichkeiten heutiger
Kulturwissenschaft zumindest angedeutet: am Verhältnis von Mensch und
Natur. Längst ist die Behauptung, dass die Natur uns Menschen nicht
benötigt, zu einer Gewissheit geworden. Metaphorisch gesprochen kann
die Natur auf die menschliche Natur gut und gerne verzichten, zumal die
reflektierende Natur – das heißt der Mensch – sich in diese Lage
manövriert hat. Einen großen und gewichtigen Anteil daran hat das
Kulturverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts mit seinem Fortschritts-
und Beherrschungskriterium gegenüber der Natur, auch der
Disziplinierung der eigenen menschlichen Natur. Heute muss ein modernes
Verständnis von Kultur ihre ureigenste semantische Bedeutung
reaktivieren: sie muss auf Pflege, Bewahrung, Hege, ja auch Verehrung,
Bewunderung sich umstellen. Kulturwissenschaft muss in der Gesellschaft
überzeugend kommunizieren, was Odo Marquard auf die prägnante Formel
brachte, dass man die Welt nicht verändern, sondern schonen solle. Wenn
Sie nun fragen, was Kulturwissenschaft zu solchen Leistungen
prädestiniert, dann sage ich Ihnen: ihr Gegenstand Kultur, d. h. das
Gedächtnis sozialer Systeme, die Sinnform der Rekursivität sozialer
Kommunikation (Luhmann). Wir können es auch etwas anders formulieren:
Kulturen sind Immunsysteme des Gesellschaftlichen, m. a. W. eingebaute
Lernmechanismen des Sozialen. Kulturen entscheiden über die
Lernfähigkeit einer Gesellschaft und damit über die ‚Lebensfähigkeit’
sozialer Systeme. Kulturen modernen Gesellschaften zeigen, welche
Lernpotentiale sie besitzen und zur weiteren gesellschaftlichen
Entwicklung bereitstellen. Auf diese rekurriert die Kulturwissenschaft,
legt sie bloß, aktiviert oder reaktiviert sie. Wenn ‚Kultur die
Dekomposition aller Phänomene mit offenen Rekompositionshorizonten’
(Luhmann) ermöglicht, dann liegt darin einerseits das Potential der
modernen Kultur und andererseits die Chance von Kulturwissenschaft.
Eine andere Welt ist möglich sagen Globalisierungskritiker, eine
moderne Kulturwissenschaft kann sagen: Eine andere Welt ist notwendig!
Ohne in Prophetie zu verfallen entfaltet sie wissenschaftliche
Szenarien, die zeigen, dass unsere kulturelle Moderne nicht die Modere
für 6,5 Milliarden Menschen auf der Welt sein kann, sondern dass das
die Katastrophe wäre, und zwar das schnellste aller Erdenenden. In
dieser realen Aufgabe sehe ich u. a. eine große wissenschaftliche
Herausforderung für die Kulturwissenschaft, die das Überleben der
Menschheit im Visier hat und keine Kämpfe von Gestern
kulturwissenschaftlich begleitet und nachträglich kommentiert. Wir
können das auch so formulieren: Kulturwissenschaft muss in der
Gegenwart operieren!
Der Kulturwissenschaft fiele die Aufgabe zu, eine Kultur des
Rückbaus der Moderne zu konzipieren und anderen Kulturen eine Kultur
partnerschaftlicher Partizipation anzubieten. Kulturwissenschaft
formuliert eine Kultur der anderen Perspektiven und überschreitet damit
schon gezogene Perspektiven. Wir müssten nun nicht gleich das
konsumistische Manifest (N. Bolz) aufkündigen, aber es als das
erkennen, was es wohl ist: eine neue gängige Zivilreligion vor ihrer
baldigen Entzauberung.
XIV.
Der heutige Kulturwissenschaftler ist ein Navigator im Offenen und
für das Offene. Für ihn ist die Kultur der modernen Gesellschaft –
besser vielleicht der modernen Gesellschaften – kein fester Regelkanon,
oder ein starres Klassifikationssystem, eher ein sich ständig
wandelndes Meer von Optionen. Seine Aufgabe besteht im Wahrnehmen der
Alternativen, der Reduktion von symbolischen Übertreibungen oder in der
Steigerung von Verharmlosungen. Er sucht das Maß und findet vorläufige
Antworten, die er mit Skepsis ausspricht. Selbst der Ideologie nahe,
entlarvt er das Ideologische. Er wirbt für den Dissens, das Differente
der eigenen modernen Kultur, weil er in ihnen das Fundament jedweder
Kultur sieht. Während andere Kulturen die Differenz in sich selbst
überblenden und unwirksam machen wollen, weiß der moderne
Kulturwissenschaftler um die Produktivität des Differenten,
Ambivalenten, Heterogenen. So arbeitet er bspw. am Bild des Fremden, um
ihm fremd zu bleiben, aber nicht Feind zu werden. Er nimmt nicht die
Komplexität aus der Welt, sondern geht mit ihr um. Im Verbund der
Sozial- und Geisteswissenschaften betont er inhaltliche Öffnungen
gegenüber thematischen Schließungen.
Kulturwissenschaft – dieser Gedanke kann gar nicht genug
ausgesprochen werden - steht nicht für eine neue Überwissenschaft.
Kulturwissenschaft generiert sich auch nicht als Leitwissenschaft für
das 21. Jahrhundert. Sie stellt – fortlaufend kritisch prüfend - der
(modernen) Gesellschaft ihr historisches gewachsenes Selbstbewusstsein
zur Verfügung und zeigt dieses Selbstbewusstsein - die Summe der in der
Gesellschaft kommunizierten Selbstbeschreibungen - als gewordenes und als
wandelbares. Aus der Wahrnehmung des Kontingenten aller
Selbstbeschreibungen gewinnt Kulturwissenschaft Momente ihrer
Notwendigkeit. Hier liegen hinreichende Gründe für ihr Gebrauchtwerden
in unserer Gesellschaft.
Jörg Petruschat
Jörg Petruschat
Wie ich von der Kulturwissenschaft zur Gestaltung kommen konnte
Ich bin hier zu einer persönlichen Stellungnahme eingeladen worden
und ich schildere gern wohin es mich - ausgestattet mit einem auch
kulturwissenschaftlichen Studium - heute getrieben hat.
Zunächst:
Der Charme der Kulturwissenschaft (der Berliner Schule) besteht in
ihrem überschaubaren begrifflichen Repertoire. Mit den Begriffen der
"Lebensbedingungen", die den "Individuen", die "sich entfalten wollen"
eine Grundlage und einen Kontext geben und dem Begriff von
"Lebensweise(n)", die diese subjektive Seite mit den objektiven
Bedingungen "vermitteln", kann man in zwei Stunden jedem, der noch nie
etwas von Kulturtheorie gehört hat, halbwegs umreißen, wonach eine
Wissenschaft von der Kultur fragen kann, was ihre hauptsächlichen
Untersuchungsgegenstände sind und worin ihre gesellschaftliche und
politische Bedeutung (der Wissenschaft wie der Kultur als praktischer
Vorgang) besteht. Alles andere ist Erfahrung - also:
(Kultur-)Geschichte. Wenn es da nicht noch zwei Bereiche gäbe, die
schon während des Studiums in den achtziger Jahren begriffliche
Anstrengung erfordert haben und - heute gewiss unter anderer Reklame -
noch erfordern: die damals von Irene Dölling erarbeitete
"Persönlichkeitstheorie" und - zweitens - die sinnliche oder eben
ästhetische Seite, die "Ästhetische Kultur", deren Konzept aus meiner
Sicht vor allem Günter Mayer entwickelt hat.
Das Konzept der "Ästhetischen Kultur" stellte für mich das Angebot
zu einem Brückenschlag dar zwischen den gegeneinander selbständigen
Lehrgebieten Kulturtheorie/Kulturgeschichte auf der einen und Ästhetik
als philosophischer und philosophiegeschichtlicher Disziplin auf der
anderen Seite - ein Brückenschlag, der von Seiten der Ästhetik erfolgte
und ausging. Das Konzept der "Ästhetischen Kultur" nahm die Berliner
Theorie der Kultur ernst und auf, prüfte und verwendete es in
ästhetischen Analysen künstlerischer und gestalterischer Praxis,
konkretisierte es in Fragen zu Medien- und Massenkultur, der Ästhetik
von Alltagsphänomen, von Formgestaltung, Architektur, Städtebau und den
Problemgeschichten, die diese "nichtkünstlerischen" Bereiche
strukturierten. Von der Ästhetik als philosophischer Disziplin, deren
Wirkung in meinem Studium und Prägung bis heute gar nicht überschätzt
werden kann, ist hier nicht Ort noch Zeit zu reden.
Die Persönlichkeitstheorie liegt mir bis heute am Herzen, weil sie
mir zu fragen erlaubt, unter welchen Bedingungen Individuen
handlungsmächtig werden. Das geschah in den achtziger Jahren in
durchaus kritischer Absetzung zur "Kritischen Psychologie"
(insbesondere Ute Osterkamps "Grundlagen der psychologischen
Motivationsforschung"). Irene Döllings Konzept der
Persönlichkeitstheorie ermöglichte es mir dann später, an einem
Subjektbegriff und Subjektkonzept festzuhalten und weiter zu arbeiten,
als unter der Posaune poststrukturalistischer Diskurse die Rede vom
Subjekt in weiten Teilen der Philosophie und Kulturwissenschaften als
antiquiert und überholt galt. Mir war und ist bis heute wichtig, das
Besondere des Individuums vor einem Hintergrund denken zu können, der
entwicklungsgeschichtlich und anthropologisch, aber auch psychologisch
und soziologisch gebaut ist, und der es mir erlaubt, dies Besondere
nicht als Abweichung, sondern als einen gesellschaftlichen Reichtum
vorzustellen.
Als vor etwa zwei Jahren eine Dissertation aus Wien auf meinen
Schreibtisch kam mit der zentralen Frage: Sind Designobjekte Medien? -
konnte ich nur müde lächeln. Denn wer - wie ich in Berlin - mit einem
materialistischen Kulturkonzept groß geworden ist, kann in der
gegenständlichen Vermittlung von Bedeutungen und Kommunikationen, von
Konformität und Non-Konformität nicht gerade eine neuartige
Fragestellung erblicken.
Aber dieses Geschenk "Persönlichkeitstheorie", das ich von der
Kulturwissenschaft erhielt, wurde mir erst wirklich etwas wert im
Kontext des Konzepts der "Ästhetischen Kultur". Denn erst in diesem
Zusammenhang wird die Frage nach der Handlungsmacht (den
Handlungsmöglichkeiten) des Individuums befreit von Perspektiven, die
das individuelle Handeln letztlich wieder auf Verstand und Einsicht eng
führen. Im Konzept einer "ästhetischen" Kultur wurde ja nicht auf eine
"Kultur" neben anderen orientiert, sondern zunächst nur darauf
verwiesen, dass Kultur eben nicht nur auf Rationalität (und damit auf
Regeln einer linear operierenden Logik und Argumentation, auf "Einsicht
in Notwendigkeiten") hinausläuft. Wie soll auch, so fragte ich mich
seinerzeit, in mechanisch aufgesetzten Denkschemata Entwicklung
stattfinden? Als ehernes Gesetz oder als Anweisung "von oben"? Ich
finde Theorien, die dem Individuum keine Chance geben, auf
gesellschaftliche Entwicklungen einzuwirken, oder die diese Idee für
absurd ausgeben, feuilletonistisch schlau: sie therapieren und trösten,
selbst und gerade dann, wenn sie mit analytischem Engagement auftreten.
Aber als Theorien, als Denkräume für ein Handeln, sind sie deprimierend
und ungeeignet. Ich habe mich in Abgrenzung dazu bemüht, das
Individuelle als Anreger und Initiator "gesellschaftlicher"
Entwicklungen aufzufinden. Mich interessierte "Kultur" als ein
Bildungs- und das heißt: Entdeckungsraum (der Passepartout-Begriff der
"Emanzipation" stand lange - verblendend - dafür ein), nicht als eine
wie auch immer verschleierte (politische) Aufzuchtsmaschine.
Die Begriffe "Sinnlichkeit", "Ästhetisches" beschreiben Funktionen
der Selbstbewusstwerdung und damit auch der Anerkenntnis, dass der
"Film", der in unserem Kopf abläuft, "tatsächlich" unser Film ist:
"bio-graphisch" und deshalb einmalig. Sie thematisieren Prozesse der
Selbstgewisswerdung (der Meinigkeit). Man kann "Sinnliches", besser:
"Ästhetisches" physiologisch und neurophysiologisch vertiefen,
somatisch verankern, so dass die Besonderheit des "In-der-Welt-Seins"
eines jeden Individuums plausibel wird.
Mir ist diese sinnliche, nicht auf Rationalität reduzierbare Seite
menschlichen (Er-)Lebens ein so wichtiger Grundpfeiler meiner Arbeit,
weil ich damit etwas erklären kann, worüber bisher weniger nachgedacht
wurde, nämlich: Was ist Gestaltungsvermögen? Was ist es, dass uns
Menschen Dinge "entwerfen" lässt? Und das heißt: Was lässt uns die
Umstände, die wir vorfinden, anders imaginieren als sie uns tatsächlich
vor den Sinnen sind? Worin gründet das Vermögen, diese Umstände
praktisch - wie es heißt - zu "verändern"? Welche Rolle spielen dabei
bewusste, vorbewusste, nicht mehr bewusste Prozesse? Und: Ist diese,
die Bewusstseinsschwelle unterminierende wie übersteigende Kreativität,
von der es heißt, sie würde Menschen von allem anderen Getier
unterscheiden - "Tiere entwerfen nicht" - tatsächlich ein so genanntes
menschliches Spezifikum, das erst mit "dem Menschen" auftritt und an
dessen gesellschaftliche (sprich: technischen)Vermittlungen gebunden
ist? Oder steht Kreativität in einem längeren naturgeschichtlichen
Entwicklungsprozess, der das, was vielen als unverrückbar "menschlich"
gilt - die technische Dominanz von "Natur" - marginalisieren wird, weil
Kreativität nicht auf Herrschaft geht (also Komplexität reduziert),
sondern andere, informativere und reichhaltigere Realitäten
hervorbringt und modelliert als jene, die den Kreaturen vor Augen und
vor den Füßen liegen?
Das sind keine bloß scholastischen Fragen. An ihnen entscheidet
sich, ob wir, wie noch immer viele meinen, unsere "Menschheit" (unsere
"Kultur") der Technik zu verdanken haben und sich also in der
Verschmelzung mit ihr unser Menschsein erfüllen wird oder ob das
Technische auf Kultur gegründet ist und gegenüber einer technisch
figurierten Welt auch Autonomie ("Freiheit") möglich ist. Diese
Entscheidung jedenfalls steht in jedem Gestaltungsprojekt, das
Technisches und Menschliches arrangiert, an.
Ich möchte hier ein paar Worte zum systemtheoretischen Ansatz von
Günther Kracht sagen, den er eben vorgestellt hat und den man - wenn es
bloß um Worte ginge - für kongruent zu meinem Denken halten könnte,
weil auch Günter Kracht von Natur und Kultur spricht, indem er sagt,
"Kultur (sei) … die Natur der Menschen". Die Verwendung gleicher Worte
täuscht über ihren Doppelsinn hinweg - mein Denken ist seinem gegenüber
diametral anders. Mich interessiert Kultur gar nicht als ein Konzept,
das - wer auch immer - verwenden kann, um, wie Günter Kracht eben
ausführte, das "Heteronome" und "Verschiedene" in eine - begriffliche
oder gar machtpolitische - Klammer zu zwingen, um Prozesse in der
Gesellschaft "zu beherrschen". Mich hat schon immer das Widerständige
und Wider- ja Aussätzige gegenüber der Konformität von Religion und
einer Kultur interessiert, die - durchaus modern und in atheistischer
Allüre - zunächst als deren Substitut begrifflich figuriert wurde.
Mir ist die Verschiedenartigkeit von Individuen, die ich hier so
hoch feiere, zunächst eine Beobachtung, kein moralinsaurer Wert "an
sich". Es macht schon einen Unterschied, ob individuelle
Verschiedenartigkeit zu exklusiven Lebensformen privatistisch
zugerichtet ist, oder ob sie als Formen eines gesellschaftlichen
Reichtums erscheinen, der auf dem Austausch der Differenz und
Besonderheit individueller Erfahrung und individuellen Erlebens
basiert.
Kultur, das sind in meiner hier locker wiedergegebenen Auffassung,
die ("objektiven" wie "subjektiven") Bedingungen, die dem Einzelnen
gegeben sind, aus sich etwas Besonderes zu machen. (Wir Menschen sind
dabei zu poetischen Taten fähig, aber das Thema des Individuellen und
seiner Reichweiten hebt an lange bevor Homo erectus seine Blicke über
diesen Planeten schweifen ließ.)
Ich will mit dieser lockeren Bestimmung nicht allen anderen
Kulturauffassungen gegenüber Recht haben. Auch nicht gegenüber Günter
Kracht, dessen Plädoyer für eine systemtheoretisch fundierte
Kulturauffassung sehr schön zeigt, dass Kulturwissenschaft - wie jede
andere Wissenschaft auch - aus einer Vielfalt von Perspektiven und
Methoden besteht, die dann ebenso vielen Interessenslagen
gesellschaftlicher Akteure günstig oder auch ungünstig sind.
"Mein" Begriff und Konzept von Kultur ist meinem Engagement
geschuldet im Bereich des Produktdesigns. Ich möchte Theorien
weiterentwickeln, mit denen Designer etwas Produktives beginnen können,
Theorien also, die einer Berufsgruppe hilfreich sind, deren Arbeit
darin besteht, durch vorauseilende Empathie anderen Leuten
Lebensmöglichkeiten zu eröffnen und anzubieten, Lebensmöglichkeiten
(oder schlicht "Erlebnisse"), von denen diese Betroffenen vielleicht
eine Ahnung hatten aber keine konkrete und ihnen verfügbare Form.
In den letzten zehn Jahren ist viel von "Kreativität", in den
letzten sechs Jahren noch mehr von "Kreativen Industrien" die Rede.
Wenn ich vorhin angedeutet habe, mich würde interessieren, was
"Gestaltungsvermögen" in einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive
ist oder warum es etwas wert sein kann, dann interessiert mich
natürlich auch, was gestaltende Arbeit (in einem ökonomischen Sinne)
"wert" ist, warum neuerdings Geld in kreative Industrien geschossen
wird, damit es sich durch Gestaltungsarbeit rasch rentiere. Eine
Antwort ist: sie lässt sich leicht ausbeuten. Das kann man natürlich
nur sagen, wenn man weiß, was Ausbeutung ist. Ich musste darüber etwas
nachdenken. Schließlich erschien es mir ökonomisch und kulturell
passend, Ausbeutung (von Mensch und Natur) zu begreifen als das
Unterlaufen der Reproduktionszeiten jener Ressourcen, um die es geht.
So sind Gurken der Ausbeutung nicht besonders günstig, weil es sich
hierbei um zyklische Produkte handelt, die alljährlich oder doch in
absehbaren Rhythmen und unter starker Beteiligung der so genannten
"freien" Güter - Licht, Luft, Wasser - heranreifen, wohingegen es sich
für einige wenige lohnt, für Erdöl zum Geschoss zu greifen, denn hier
reichen die Reproduktionszeiten weit über das Menschenleben, ja über
das bisherige Menschengeschlecht hinaus - es entsteht Knappheit und mit
ihr Ökonomien der Vorteilsnahme und der Konkurrenz.
Bei der Kreativität liegen die Dinge etwas, aber nicht prinzipiell
anders, denn auch hier wird von Natur und Gesellschaft etwas entwickelt
und bereit gestellt, dass im kapitalistischen Getriebe knapp gehalten,
privat und konkurrierend ausgebeutet wird. Ich will das, worum es bei
der Ausbeutung von Kreativität geht, der Einfachheit halber "neue
Lebenswelten" nennen. Bezahlt wird im kreativen Sektor die Zeit, die es
braucht, die Ideen zu diesen "neuen Lebenswelten" verwertungsbezogen zu
kommunizieren: sie aufzuzeichnen, in Prototypen vorzustellen, ihre
Reichweite zu präsentieren und ihre Implementierung in kulturelle
Muster und in "Wertschöpfungsketten" zu argumentieren. Die Gemeinkosten
hingegen, die nötig waren, um Individuen zu befähigen, virtuell und
beispielgebend den Status quo ihrer kulturellen Situiertheit verlassen
zu können, oder kurz, die Zeit, Ideen zu entwickeln und zu haben, diese
Zeiten der Ausbildung einerseits und die ebenso anstrengenden wie oft
auch trostfreien Zeiten der Ideensuche, der Konfrontation mit
gleichgültig flimmernden Schirmen und weißen Blättern, das alles wird
nicht entlohnt und damit dem Einzelnen, seinen Gefährten und der
Gesellschaft zur Vergütung überlassen (in Rechnung gestellt).
Mit etwas Geld vom Freistaat, in dem ich arbeite, kann ich zur Zeit
im Rahmen eines kleinen Institutes, das ich gemeinsam mit einem
Kollegen vor Jahresfrist gegründet habe, und zwei MitarbeiterInnen, die
ich für dieses Geld einstellen konnte, untersuchen, wie
Gestaltungsarbeit in designgetriebenen Unternehmen unterschiedlicher
Größenordnung in Europa und in den USA budgetiert wird, welche Macht
man den Gestaltern in Erzeugnisentwicklungsprozessen einräumt und
welchen Wert kulturelle Innovationen haben im Unterschied zur
bornierten deutschen Auffassung, innovativ können nur Dinge sein, die
technischen Entwicklungen entspringen.
Es sieht nämlich so aus, als wüchse den Designern eine neue Macht
und Möglichkeit der Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse zu.
Seit das Geld, das mit dem An- und Verkauf von Unternehmen verdient
wird, lukrativer ist, als das Geld, das mit der Herstellung von
Produkten verdient wird, werden alte Arbeitsteilungen überholt.
Designer arbeiten nicht mehr nur daran, das in Technologie investierte
Kapital in möglichst viele Drapierungen zu kleiden, um die Behäbigkeit
dieser Investitionen durch möglichst viele unterschiedliche Staffagen
vergessen zu machen. Heute sind Designer an eine Stelle gerückt, die
viel wertvoller ist als Staffage und Maskierung. Heute sind sie nötig,
die Performance der Unternehmen an der Börse zu verbessern.
Traditionen, langfristige Produktstrategien, festgelegte Maschinenparks
sind da eher im Wege. Vorhersehbares erregt - bei Maklern - wenig
"Phantasie". Die eine Seite dieses Prozesses ist (von Sennett) etwas
schief mit "Flexibilisierung" benannt worden und hat die Zerstörung
kultureller Gefüge zur Konsequenz. Die andere Seite aber gibt den
"Kreativen" Macht in die Hand, denn sie können sich aufspielen als
Kenner und Trendsetter kultureller Entwicklungen. Sie sind es, die
gefragt werden, welchen "Inhalt" die Verwertung haben soll. Dafür hört
man ihnen sogar längere Zeit zu.
Entlang dieses Prozesses erscheinen Gestalter (Designer) als
Initiatoren oder Verstärker tiefgreifender kultureller Entwicklungen.
Ohne Designer kein iPod, ohne iPod kein "Podcasting". Die technischen
Lösungen, die zu dieser Entwicklung geführt haben, waren alle
vorhanden. Selbst das berühmte Click-Wheel war - als technisches
Prinzip - schon einmal auf dem Markt bevor die Designer bei Apple es
verbauten.
Der Wert kultureller Innovationen im Unterschied zu bloß technisch
intonierten ist auch Thema eines der nächsten Bücher von Form+Zweck,
einer Publikationsreihe, die als Zeitschrift für Gestaltung in diesem
Jahr 51 Jahre alt wurde und die im Verlag einer Kulturwissenschaftlerin
der Berliner Schule erscheint - sie heißt Angelika Petruschat und hat
zwei Jahre vor mir ihr Diplom gemacht.
Ein weiteres Buch, das Anfang Februar auf dem Tisch liegen wird,
beschäftigt sich mit Tangible User Interfaces. Das sind
Gestaltungsprojekte aus den Bereichen Kommunikationstechnik, Informatik
und Design, die uns Computer und durch Computer gesteuerte Maschinen
zugänglich machen sollen, ohne dass für diesen Zugang Tastaturen oder
Wortbefehle oder Menüs erst mühsam erlernt werden müssen. "Tangible"
heißt der Versuch, digitale Datenverarbeitung zu einem
selbstverständlichen und damit auch intuitiv verwendbaren Teil unserer
Lebensumwelt zu machen. Dabei geht es weniger darum, die Komplexität,
zu der digitale Prozesse auflaufen können, auf weniger als vier
An/Aus-Schalter zu reduzieren (und also zu verschleudern), damit jeder
Depp sie, wie es so verräterisch heißt, "bedienen" kann, als vielmehr
darum, das Unersetzbare digitaler Welten zu erkennen und es uns
"analog" verfügbar zu machen. Das Buch wird im Februar auf der TEI 2008
(Tangible and Embedded Interaction), der wichtigsten Internationalen
Konferenz zu diesem Thema vorgestellt (siehe www.formundzweck.de) und
erscheint in Deutsch und Englisch.
Im letzten Jahr habe ich auch ein Designwörterbuch
(deutsch/englisch) auf den Weg gebracht, das mit mittlerweile 10.000
Lemmata und einige Zeichnungen kurz vor der Drucklegung steht. Nach
meiner Vorstellung ist das ein Zugang zur Fachsprachlichkeit im Design
und hilft, all jene Kompetenzen zu erfassen, die für Gestaltungsarbeit
notwendig sind und die sie in und für Kooperationen auch bereit hält.
Mit dem Wörterbuch geht es uns nicht um einen lexikalischen
Anspruch in dem Sinne, dass wir definieren, was unter bestimmten
Begriffen zu verstehen sei. Ich habe beobachtet, dass es eine Vielfalt
von Arten gibt, in der Design geschieht und entworfen wird. Wir wollen
diesen Reichtum nicht gleich im ersten Schritt definitiv platt machen.
Worte sind in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen
"Bedeutungsanker", "tags", an denen bestimmte Bedeutungsfelder
"festgemacht" und aufgerufen werden können. Deshalb interessieren uns
in sprachübergreifenden Projekten eher die Unterschiede, mit denen
Design in Deutschland und in anderen Ländern betrieben und
kommuniziert, und d.h. zuerst ganz schlicht: wörtlich aufgefasst wird.
Wir planen Folgeausgaben in anderen Sprachkombinationen, um
Entwurfsstile und Entwurfsmentalitäten in anderen Regionen der Welt
kennen zu lernen und die Frage beantworten zu können, worin denn die
besonderen Qualitäten von Ausbildungen, von kulturellen
Entwurfskontexten bestehen und wie verschiedene Entwurfsmentalitäten
zueinander passen. Wir erwarten auch, dass sich an der Diskussion um
Worte in verschiedenen Kontexten ein Netzwerk an Personen bildet, die
sich einen Gewinn davon versprechen, kulturelle Besonderheiten im
Entwerfen zu erkennen.
Ich habe einige meiner Fragen hier angedeutet, weil ich mich auch
freuen würde über Interesse an Zusammenarbeit auf diesem oder jenem
Gebiet.
Jörg Petruschat studierte von 1979 bis 1984 Kulturwissenschaft
und ist heute Professor für Kultur- und Zivilisationstheorie sowie für
Geschichte der Gestaltung am Fachbereich Gestaltung der Hochschule für
Technik und Wirtschaft Dresden (www.fb-gestaltung.de) und Leiter des
Instituts für Innovation und Design "i_id" (www.institut-id.de). Er
arbeitet für "form+zweck" (www.formundzweck.de) als Herausgeber und
konzeptionsbildender Redakteur.
Eckehard Binas
Eckehard Binas
Die Leere Mitte – Kommentar zu einem Konzeptlebenszyklus
Drei Zugänge erzählen, die mich dazu geführt haben, diesen Titel zu wählen:
1. Kulturwissenschaft und berufliche Lebensmitte
(mein beruflicher Weg und die Gründe und Kräfte die diesen Weg
geprägt haben, Seefahrt, Musik, / FDJ-Kulturpolitik und –arbeit,
Musikwissenschaft, Revitalisierung von „Brachen“,
Kulturpolitikwissenschaft/Organisationsforschung, Themenentwicklung und
-pflege in kulturpolitischen Kunstverbänden, Komponieren und tingeln /
eremitischer Exhibitionist sein, Hochschulorganisateur mit eigener
Meinung, (HS Zi/ Gr)).
2. Kulturwissenschaft als Königsweg bzw. Königswissenschaft
und das Identitätsproblem. Ihr Weg in die Diversität, ihr Selbstverlust
in den Ebenen der Applied Sciences, der empirischen Forschung und
politisch, respective wirtschaftlich pragmatischen Forderungskataloge
sowie ihre Wieder-Annäherung an das Stammtischverständnis ihres
Zentralbegriffs. Komplementarität, Hilfsdisziplinen, Zweckehen …, was
ist alles aus uns geworden, wer ist noch Kulturwissenschaftler /
Kulturarbeiter? Brauchen wir noch einen angestrengten,
widerstandsfähigen Kulturbegriff?
3. Applikationsversuche:
der (philosophische) Ansatz – Kultur ist Perspektivoption
die Beispiele (Aktie als Kulturform, Stauforschung, Kunst …)
Abstract:
Die (Berliner) Kulturwissenschaft beginnt ihren (Konzept-)
Lebenszyklus in den Mauern der philosophischen Fakultät der HUB, probt
den Aufstand und den Auszug, erprobt sich auf dem „Felde der
Kulturarbeit während sich ihre immer noch wissenschaftliche Vorhut -
inzwischen in der behütet beobachteten und gelegentlich bedrohten
Experimentiernische – in Komplementär- und Zweigdisziplinen
diversifiziert, Zweckehen mit Operationsfeldokkupanten,
Definitionsjunkies und Parteiideologen eingeht. Inzwischen hat sie
ihren Singular aufgegeben, liegt auf der Therapeutencouch und fragt –
sich an die gute alte Zeit erinnernd – wer sie nun sei und warum sie
nicht mehr mit sich selbst identisch, sondern eine Dame im mittleren
Alter aber ausgestattet mit multiplen und gelegentlich unverträglichen
Eigenschaften, also besetzt, besessen und dem Wahnsinn nahe. Im Übrigen
ist wohl der Auszug in die Wüsten der empirischen Forschung gleich
einem Realitätsverlust, für den Psychologen das Wort Wahnsinn gemeinhin
verwenden. Frage ist nun: kehrt sie zurück in ihr Geburtshaus, das
inzwischen Altenheim geworden ist? Oder versammelt sie alle gleich
Leidenden zu einem Chor der Deskriptivisten, Pluralisten, politisch
Korrekten, Unverbindlichkeitsartisten, Risikopropheten und
Autoreferentialisten. Oder gründet sie endlich ihre eigene Fakultät?
Mit anderen Worten: kann sie von der Couch springen und sehen, dass
ihre Reife die einer methodologisch fundierten eigenen Disziplin ist,
oder gar sehen, dass sich in wohl den meisten philosophischen Gebäuden
ein unvermeidliches konstruktives, ja fundierendes, Stabilität
erzeugendes Element findet, das ein Begriff, nein eine Kategorie
„Kultur“, ein philosophischer Begriff ist, der zur Deklination ins
Empirische und Praktische taugt, allerdings ohne nun wieder erneut den
Leidensweg des Identitätsverlusts zu gehen, gehen zu müssen.
Ergo: Kulturwissenschaft, so sie sich eigenständig, autonom
begründet, identitätsstiftend und nachhaltig konsistent und fachlich
kohärent begründen will, beginnt bei Philosophie und steigt auch wieder
in deren Abgründe zurück. Allerdings dann ohne dabei beim Aufstieg und
Ausstieg in die Vielfalt jenes zu verlieren, was ihr den Namen
verliehen hat.
Wo sie das nicht vermag oder anstrebt, leeret sie sich aus, ihre
Mitte, ihre Identität, ihr Selbst wird leer. Und wer nun beruflich
genau diese Mitte zu vertreten hat, wird zum Zirkusdirektor der
Verschiedenheit und Kuriositäten, der hin und her springt zwischen
Ethnologen retribalisierter europäischer Jugendkulturen,
kulturpolitischen Kreisquadrateuren (Stichwort Soziokultur) oder den
Unternehmensberatern, Regionalentwicklern, Rettern schrumpfender
Regionen, schrumpfender Parteimitgliedschaften, den
Kunstkonzeptjongleuren, Denkmalpflegern, Archäologen, Anthropologen und
Design-, Architektur-, Sound- und Websiteavantgardisten, den
Netzwerkutopisten, den neuen Bohemiens und vereinzelten
Paläomoralisten.
Eckehard Binas ist Professor für Kulturgeschichte,
Kulturphilosophie und Ästhetik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
der Fachhochschule Görlitz – Universität für angewandte Wissenschaften.
Dort betreut er auch den Studiengang „Kultur und Management“.
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