Text | Kulturation 2014 | Dieter Kramer | Krise der Privatisierung - Zum aktuellen Verständnis von commons, Gemeinnutzen und Genosse
| Eine kulturwissenschaftliche Sicht
Notwendige Unterscheidungen
Über Gemeinnutzen und commons wird in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Die commons,
Gemeinschaftsgüter, meint Rainer Rilling, „beziehen sich auf
gemeinschaftlich besessene, geteilte oder genutzte Naturgüter und
materielle Ressourcen (Wasser, Fischbestände, Rohstoffe, Wald, Land,
Luft, Wildbestände) oder auch auf gemeinschaftliche soziale und
kulturelle Ressourcen (Plätze, Wissen, Ideen, Traditionen). commons meint Öffentlichkeit (die auf dem Diskurs von Privateigentum aufbauen kann); es meint öffentlicher Raum (Public Space), den zu unterschiedlichen Zwecken frei zu betreten und zu nutzen Jede/r das gleiche Recht hat; es meint Public Domain
(als handlungs- und damit nutzungsoffenen Raum, der nicht durch
juristische Formen wie dem Copyright geschützt ist – in der
Rechtsprechung freilich in der Regel nur als unbestimmte
Residualkategorie behandelt wird); es meint öffentliche Güter, Gemeinschaftsressourcen, Netzwerkökonomie oder Geschenkökonomien, es meint endlich eine Kultur und Ökonomie des communi-care, des Gemeinsam-machens Teilens, Mit-Teilens, auch des Sich-Kümmerns um das Gemeinsame. Die commons
stehen somit für vielfältige Facetten einer anderen Ökonomie und Kultur
als der politischen Ökonomie des Privaten.“ (Rilling 2009: 175/176; s.
auch Helfrich 2011)
Ähnlich argumentiert Dieter Klein: „Bedroht sind die ‚commons‘, sind elementare öffentliche Güter.
Als natürliche öffentliche Güter gelten zunächst gemeinschaftlich
besessene und nutzbare Naturgüter, zu denen grundsätzlich alle Menschen
freien Zugang ohne Zahlung haben (Wasser, Land, Luft, belebte Natur).“
(Klein 2009:158).
Will man commons in die aktuellen politischen
Diskussionen einführen, bringt es allerdings wenig, so unpräzis zu
definieren. Zu längst nicht allen dieser genannten commons
haben alle Menschen ohne Begrenzung Zugang: Es gibt ihn zu Luft und
Sonnenlicht (auch nicht immer!), aber in den meisten anderen Fällen
handelt es sich um Güter mit geregeltem Zugang. Wasserrechte,
Waldrechte, Weiderechte, Wegerechte sind seit altersher auf
verschiedenste Weise begrenzt. commons sind, wie auch Garrett
Hardin zugeben musste, geregelte und verwaltete Gemeingüter; als solche
sind sie vielfach noch heute wichtig und werden sie auch in Zukunft
eine Rolle spielen. commons sind für Kulturwissenschaften wie
die Europäische Ethnologie alte Themen (Kramer 1986, 1993, 2012), und
auch hier ist es schade, dass die Kultur- und Sozialwissenschaften so
wenig Kenntnis voneinander nehmen.
Man kann commons oder Gemeingüter (eingeschlossen virtuelle Gemeingüter wie Höflichkeit usf.) als Oberbegriff verwenden, muss dann von Gemeinnutzen als der geregelten Nutzung von Gemeingütern
reden, und schließlich lassen sich spezifische Formen dieser geregelten
Nutzung unterscheiden. Zur großen Familie der Gemeinnutzen gehören
Allmende, Almweiden, Waale oder Sionen als Bewässerungseinrichtungen in
den Alpen, andere Nutzergemeinschaften, auch Genossenschaften.
Eine andere Form von Gemeingütern sind im Wertesystem
verankerte gemeinschaftlich geteilte und eingeforderte Grundregeln des
Miteinander (der Kultur), Wertevorstellungen und Verhaltensstandards,
wie sie mit der Sozialisation erworben und im sozialkulturellen Prozess
immer neu ausgehandelt werden. Ohne sie kann keine Gemeinschaft
existieren (eingeschlossen sind z. B. Verkehrsregeln, bei denen es ein
Gemeingut ist, dass die meisten Menschen sich daran halten). Die
intensivste, den Staat verpflichtende aber gleichzeitig immer wieder
neu zu interpretierende Form des Gemeingutes sind die sozialen oder
materiellen Grundrechte der Verfassungen. Sie gehören neben den
liberalen Grundrechten (Freiheitsrechten) zu deren Grundbestand. Auch
„global peace“ (D. Klein 159) ist (genau wie die Einigung Europas) ein
immer wieder abzusichernder Gemeinnutzen.
Infrastruktur und meritorische Güter
Immer
gehört das Gemeingut der formell oder informell gemeinschaftlich
organisierten Infrastruktur zu den Voraussetzungen gesellschaftlichen
Lebens. Erst recht gilt das in der bürgerlichen Gesellschaft. Auf dem
Höhepunkt der fordistischen Urbanisierung war es so, dass der Staat
„sich in größerem Maße um die Bereitstellung der kollektiven Mittel der
Produktion und Reproduktion kümmerte. Alle möglichen Formen der
Infrastruktur, Sozialwohnungen, Gesundheits- und Freizeiteinrichtungen
und alle möglichen Formen sozialer Dienste wurden kollektiv
organisiert, häufig durch Schulden finanziert, aus dem privaten
Zirkulationsprozess des Kapitals herausgenommen und durch kollektives
Kapital weitergeführt, das der Staat investierte und kontrollierte. Es
war eben jene kollektive Bereitstellung der Mittel zur Produktion und
Reproduktion, die die Akkumulation des Kapitals und die
Mehrwertproduktion in anderen Sphären erhöhte, erleichterte und
unterstützte.“ (Swyngedouw 2009: 106).
Der Wohlfahrtsstaat hat mit den sozialen und materiellen
Grundrechten öffentliche und soziale Güter für ein Leben jenseits von
Verwertungszwängen gefördert, konnte also auch Lebensqualität stark
gewichten (Hermann u.a. 2009: 126).
Das war die hohe Zeit der Infrastruktur-Politik, in der
in den 1970er Jahren auch Freizeiteinrichtungen als notwendige
Bestandteile der Infrastruktur und der gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Reproduktion (für die
Wirtschaft, konkret) angesehen werden konnten (Kramer 2011). Gesprochen
wurde vom „Datenkranz“, der die Rahmenbedingungen für das Wachstum
herzustellen hatte (Güther 1977: 9). Unterstellt wurde, dass die
Strukturen zur Produktion des Arbeitsvermögens (ebd.: 72) „weder dem
Zufall noch der kapitalistischen Arbeitsteilung und Warenproduktion
überlassen werden“ können (ebd.: 73), deswegen wurde eine soziale
Infrastruktur einschließlich der Einrichtungen zur physischen
Reproduktion der individuellen Arbeitskraft wie Sport (Trimm
Dich-Bewegung) und Freizeiteinrichtungen gefördert.
Privatisierung unterwirft solche Strukturen und Güter dem
Markt. „Akkumulation durch Enteignung“ nennt man den „Prozess der
Kommodifizierung und der anschließenden Privatisierung von Gütern, die
während des 20. Jahrhunderts weitgehend nicht in den
Zirkulationsprozess des Privatkapitals integriert waren, sondern
öffentlich, genossenschaftlich oder in anderen Formen kollektiv
organisiert gewesen waren.“ (Swyngedouw 2009: 110)
Die neoliberale Theorie spricht bei sozialen Grundrechten
und Infrastruktur von „meritorischen Gütern“ (für mich wirkt das schon
wegen der Wortwahl entwertend). Es „ sind solche, deren Konsum
unabhängig von Wirtschaftlichkeitserwägungen gesellschaftlich erwünscht
ist. Sie sind gleichsam halböffentlich. Der Begriff, der darauf
anspielt, dass jeder Mensch den Zugang zu diesen Gütern unabhängig von
seiner Zahlungskraft ‚verdient‘, wurde in den fünfziger Jahren von dem
Wirtschaftswissenschaftler Richard Musgrave geprägt. Meritorische Güter
bestehen aus zwei Komponenten: einer teilbaren und potentiell
rivalisierenden, die marktfähig ist, und einer zweiten, für die sich
kein Preis bilden und mithin kein Verkauf bewerkstelligen lässt. Ein
gutes Beispiel ist die Gesundheit. Meine Gesundheit ist zwar nicht
rivalisierend, da sie die anderer keineswegs ausschließt: dennoch lässt
sie sich von deren Gesundheit trennen, sie ist also teilbar, und
deshalb sind gesundheitsfördernde Maßnahmen ohne weiteres marktfähig.“
(Crouch 2011: 64/65; 112) Ähnlich ist es mit Bildung und mit „Gütern“,
wie sie durch die Kulturinstitutionen vorgehalten werden. Auch für den
Wettbewerbsstaat wird „Vermarktlichung“ favorisiert (Candeias 2009: 42)
Die „objektivierende“ Interpretation der Infrastruktur in
den 1970er Jahren wies einige Leerstellen auf. Das Denken war auch bei
der Linken so auf Produktion und Arbeitskraft fixiert, dass andere
Bereiche weitgehend ausgeblendet blieben. Das gilt z. B. für die
allgemeinen Lebensgrundlagen der Gemeinschaft, was die
zusammenhaltenden Werte betrifft („ideelle Lebensgrundlage“, Grundwerte
usf., „Kultur“ im Sinne der unterscheidenden Charakteristika einer
Gemeinschaft, wie die Ethnologen sie beschreiben können; man kann auch
von sozialkulturellen Ressourcen sprechen). Christian Meier (1993) hat
mit dem Hinweis auf die „mentale Infrastruktur“, die im antiken Athen
von Theater vermittelt wurde, eine Dimension angesprochen, die noch
darüber hinaus geht.
Nicht berücksichtigt wurde auch die Dynamik der
Konsumwelten. Telekommunikation ist ein Beispiel: Das Monopol der Post
wurde aufgebrochen, und rasch entwickelte sich ein gigantischer Markt
von Endgeräten und Datentransort-Dienstleistungen mit entsprechenden
Anforderungen an eine öffentlich bereitzustellende Infrastruktur. Die
Enquete-Kommission IUK Informations- und Kommunikationstechniken hat
den Weg dazu gebahnt. Mit den neuen Technologien wurden Wünsche
befriedigt, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben
(Stöcker 2011: 168/169). Eingeholt und aufgezehrt, ja in einem
Rebound-Effekt überkompensiert wurden alle Möglichkeiten,
Produktivitätsgewinne in Lebensqualitäts- und Freizeitgewinne zu
verwandeln (Kramer 2011).
Andere Leerstellen, die beim Infrastruktur-Konzept
erscheinen, sind strukturell denen ähnlich, die beim neoliberalen
Projekt auftauchen. Die materielle natürliche Lebenswelt und die
Begrenztheit ihrer Ressourcen, wie sie mit „Global 2000“ und dem ersten
Bericht des „Club of Rome“ thematisiert wurden, kamen kaum in den
Blick.
Ähnlich ist es mit der Leerstelle „Lebensqualität“. Diese
wird weder damals noch heute in den Mittelpunkt von Politik und
Wirtschaft gestellt. Wenn man die Bürger für eine andere Politik
gewinnen will und nicht an ein gewaltförmiges „Transformationsregime“
oder eine „Ökodiktatur“ denkt, dann muss man Verständnis für die Motive
der Alltagsakteure entwickeln. Dazu gehört es, ihre Standards des guten
und richtigen Lebens, damit ihre Maßstäbe für Lebensqualität, zu kennen
und Politik darauf auszurichten.
Charme der Privatisierung
In
einem anderen Zusammenhang konnte das neoliberale Konzept Attraktivität
entwickeln. Gefangen im Entfremdungsdiskurs, hatte die Linke wenig
Sensibilität für Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit (durch das
Konzept „Humanisierung der Arbeit“ konnte Einiges davon aufgegriffen
werden, am wenigsten aber auf der subjektiven Ebene).
Ich darf dazu meine eigenen Erfahrungen aus der
öffentlichen Verwaltung anführen. Das „Tilburger Modell“ von
Qualitätsmanagement und Produktorientierung in der Reform der
öffentlichen Verwaltung und deren „Verbetriebswirtschaftlichung“
(Candeias 2009: 28) wurde in den 1990er Jahren überall, auch in
Frankfurt, propagiert und diskutiert. Von den Experten der „proaktiven“
Bertelsmann-Stiftung wurde es den Kommunen angetragen, und das
geschieht heute noch, auch durch die Autoren von „Kulturinfarkt“
(Haselbach u.a. 2012). Verbunden damit war die Verschlankung der
Hierarchien in der Verwaltung. Es gehörte programmatisch dazu die
Aufwertung der unmittelbaren Akteure am Arbeitsplatz dadurch, dass
ihnen mehr Eigenverantwortung zugebilligt wurde. Das trug zur
Attraktivität des Reformprogramms bei. In der informellen Programmatik
der damaligen ÖTV spiegelte sich das in der Forderung, nicht nur
bessere Entgelte, sondern auch bessere Rahmenbedingungen zu bekommen,
um als anständig und befriedigend empfundene Arbeit leisten zu können.
Noch das Cluetrain-Manifest aus der digitalen Arbeitswelt (Das
Cluetrain-Manifest 2000) lebt von diesem Geist. Die Skepsis und
Gegenwehr des Establishments etwa auf der Amtsleiter-Ebene in der
Verwaltung wurde damals als Selbstverteidigung von Privilegien
gewertet. Niemand hat bei diesen Reformen auf die neoliberalen
Implikationen geachtet, geschweige denn einschlägige Analysen
öffentlichkeitswirksam präsentiert. Erst Naomi Klein (2007) und Colin
Crouch (2011) haben für mich diese Zusammenhänge erkennbar werden
lassen.
Die Aufwertung des „Dritten Sektors“ jenseits von Staat
und Markt, wie ihn Management-Theoretiker wie Peter F. Drucker (1989)
vertraten, ist Teil dieser (ambivalenten) Attraktivität. Aber die dort
vertretene ökonomische Vernunft ist etwas anderes als Ökonomisierung.
Propagiert wird zwar ein Denken, das „betriebswirtschaftlich“ Aufwand
und Ertrag in eine überprüfbare Relation zu bringen vermag, aber es
verweigert sich der Unterwerfung unter Prinzipien der
Gewinnmaximierung.
Privatisierung und De-Privatisierung
Bei
der „Akkumulation durch Enteignung“ (Swyngedouw 2009: 110) werden
öffentliche (gemeinschaftliche) Güter und Dienstleistungen zu Mitteln
der Kapitalverwertung. Es ist der „Prozess der Kommodifizierung und der
anschließenden Privatisierung von Gütern, die während des 20.
Jahrhunderts weitgehend nicht in den Zirkulationsprozess des
Privatkapitals integriert waren, sondern öffentlich, genossenschaftlich
oder in anderen Formen kollektiv organisiert gewesen waren.“ (ebd.:
110)
Eine Fülle von Strategien zur Privatisierung öffentlicher
Infrastruktur ging einher mit dem Siegeszug des Neoliberalismus (Klein
2007). Inzwischen ist die Privatisierung an Grenzen gelangt und es gibt
eine Gegenbewegung (Candeias u.a. 2009).
Failed Privatisations produzieren Effizienz- und
Profitabilitätskrisen (ebd.: 14), Staatsintervention wird wieder nötig.
In dieser Situation soll freilich auch nicht blindlings
rekommunalisiert werden. „Rekommunalisierungen beispielsweise müssen
umfassender gedacht werden: Ziel ist es, die allgemeinen
Reproduktionsbedingungen für jede und jeden Einzelnen im Sinne eines
sozialen Rechts zu garantieren, d.h. allen günstige (oder gar
kostenlose) qualitativ hochwertige Dienstleistungen zur Verfügung zu
stellen, dabei hohe Umwelt- und Gesundheitsstandards zu gewährleisten,
gute und tariflich abgesicherte Beschäftigung zu schaffen,
Investitionen in allen wichtigen Bereichen zu sichern
(Quersubventionierung) und allen – einschließlich der Beschäftigten und
Nutzer – weitgehende demokratische Einflussmöglichkeiten auf die
Gestaltung von Produktion und Distribution der öffentlichen
Dienstleistungen zu eröffnen.“ (Candeias 2009: 23). Dies ermöglicht es
zwar, Lebensqualität ins Zentrum zu stellen, bleibt aber in jenem
Rahmen, in welchem dem Staat und der öffentlichen Hand entsprechende
Aufgaben zugewiesen werden. Dass Lebensqualität auch etwas damit zu tun
hat, dass Individuen mit ihren Eigenschaften und Motiven aktiv
gefordert, einbezogen und anerkannt werden, bleibt hier zunächst
unberücksichtigt.
Partizipation und geregelte Gemeinnutzen
„Der
Ausbau des Öffentlichen muss zugleich eine partizipative Veränderung
des Staates sein. Weder der paternalistische und fordistische
Wohlfahrtsstaat noch der autoritäre Staatssozialismus, schon gar nicht
ein neoliberaler Umbau von öffentlichen Diensten auf Wettbewerb und
reine betriebswirtschaftliche Effizienz waren besonders emanzipativ.
Ein linkes Staatsprojekt muss also die Erweiterung der
Partizipationsmöglichkeiten und Transparenz realisieren (bis hin zur
Absorption des Staates in die Zivilgesellschaft, wie es bei Gramsci
heißt).“ (Candeias 2009: 24) Aber das geht vielleicht weniger über
„partizipative Haushalte“ und ähnliche Experimente des
Bürgerschaftlichen Engagements, sondern muss auch Selbsttätigkeit der
Bürger einbeziehen, etwa Vereinswesen, Gemeinnutzen, solidarische
Ökonomie, commons als Formen der Selbstorganisation des
Alltagslebens und der Bedürfnisbefriedigung. Man könnte darüber
nachdenken, die Menschen zu befähigen, sich selbst und mit anderen
zusammen selbsttätig-gemeinschaftlich Lebensqualität zu generieren,
„Empowerment“ zu betreiben (weit über Bürgerschaftliches Engagement
hinaus). Dass man dabei sie nicht ermutigen soll, in blickdichte
Parallelwelten abzudriften, versteht sich. Mit diesem Dilemma versuchte
die Enquete-Kommission Bürgerschaftliches Engagement umzugehen, indem
sie auch an „negatives Engagement“ erinnerte.
Derzeit haben wir es anscheinend nicht nur mit einer
Krise der politischen Beteiligung zu tun, sondern es ist grundlegender
eine Krise der Demokratie. „Das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich
Heine) handelt in seinen Basisbewegungen ebenso wie in vielen Wahlen
(vor allem außerhalb Europas) auf eine Weise, die oft genug mit den
Grundwerten der “aufgeklärten“ Demokratie nicht zu vereinbaren
scheinen. Die im 20. Jahrhundert (fast) überall zur Geltung gekommenen
Vorstellungen von der Demokratie werden in dieser Krise der Demokratie
auf die Probe gestellt. „Politikverdrossenheit“, eine zunehmende Zahl
von Nichtwählern in spezifischen Milieus auf der einen Seite,
„partizipative Demokratie“, „Demokratie von unten“ „Wutbürger“
„Zivilgesellschaft“ auf der anderen Seite lassen die Heraufkunft eines
anderen Modells von Demokratie für das 21. Jahrhundert denkbar werden.
Weihnachten 1989, in einem Treffen zur Wende in der
Ost-Berliner Akademie der Künste, warnt Rainer Kirsch (DDR) davor,
jetzt einen falschen Gott durch einen richtigen, „das Volk“, zu
ersetzen. Er fragt: Wird man je wieder sagen können, dass auch das Volk
irren kann? Freimut Duve verteidigt daraufhin vehement das Prinzip der
demokratischen Mehrheitsentscheidung und gibt den Ball zurück: Ob
Mehrheiten irren, sei auch eine Frage des Engagements der Künstler. Er
deutet damit an, dass eine funktionierende Demokratie sozialkulturelle
Öffentlichkeiten und Strukturen braucht, in denen Gemeinsamkeit und
Verantwortlichkeit immer wieder bestätigt werden. Die „Einbettung“ des
gesellschaftlichen und des wirtschaftlichen Lebens in sozialkulturelle
Zusammenhänge trug und trägt dazu bei.
„In der Privatisierungskrise – wie in der
Wirtschaftskrise – kommt der Staat zu sich selbst.“ (Brangsch 2009:
25). Das staatszentrierte Denken des Marxismus, bereits in den
Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts über Staatshilfe oder
Selbsthilfe angelegt, ist bei den Linken ein Hindernis, die Bedeutung
der (vom Staat gesicherten und bestätigten, auch unterstützten) Formen
der Selbstorganisation im dynamischen Fließgleichgewicht der
Organisation des gemeinschaftlichen Lebens anzuerkennen. Tendenziell
war die Selbstorganisation immer ein Element der Linken, sonst hätte
sie nie ihre Stärke erlangt, aber sie wurde nur als Vorstufe zu endlich
zu erkämpfenden sozialistischen Staat verstanden, der dann alles
regelt. Möglicherweise besteht eine der interessantesten Formen der
Partizipation darin, immer mehr Menschen über die aktive (Verantwortung
tragende) Teilnahme an Gemeinnutzen als Mitgestalter des öffentlichen
Lebens zu gewinnen.
Genossenschaften in der Familie der Gemeinnutzen
Um
Gemeinnutzen heute für linke Politik zu kommodifizieren, müssen sie
angemessen interpretiert werden. In der historischen Entwicklung des
liberalen Staates und der Arbeiterbewegung wie der Linken treten Staat
und Gebietskörperschaften als allumfassende Fürsorger programmatisch an
die Stelle der Nutzergemeinschaften im Rahmen der kommunalen und
korporatistischen Selbstorganisation der Ständegesellschaft.
Wenn man „Staatlichkeit oder den genossenschaftlichen Charakter
von Gütern, Diensten und Unternehmen“ (Rilling 2009: 176) in einem
Atemzug nennt, dann entwertet dies die Genossenschaften: Sie stehen der
großen Familie der (von Nutzergemeinschaften geregelten) Gemeinnutzen
näher als dem Staat. Aber sie sind sie in vielen ihrer Formen auch Teil
des privatwirtschaftlichen Systems. Die Handlungslogiken der
Profitmaximierung werden im Neoliberalismus nicht nur auf staatliche
Unternehmen übertragen, sondern auch auf Genossenschaften (ebd.: 176,
189). Die aktuelle Hegemonie des Privaten im liberalen
Marktradikalismus zwingt auch den Genossenschaften die „marktlichen
Operations- und Denkweisen wie Zielwerte“ weitgehend auf (ebd.: 183).
Freilich gibt es eine „ständige Irritation des Privaten durch die
Kultur des commons“. Rilling führt in diesem Kontext auch die
Welterbe-Programmatik der UNESCO an (ebd.: 184), aber es geht ja viel
weiter. Nicht umsonst wird im Umfeld der grün-linken Bewegungen (etwa
bei der TAGESZEITUNG) die Genossenschaftsidee intensiv propagiert.
Probleme liegen gleichwohl in der Einbindung der
Genossenschaften in das Marktsystem. Hagen Henrÿ (2012) von der
Universität Helsinki erinnert an einschlägige Formen. Eine
„Stellungnahme des internationalen Genossenschaftsbundes zur
genossenschaftlichen Identität“ hat Genossenschaftsprinzipien
festgelegt, die 2002 von der ILO übernommen wurden und das Prinzip der
Nachhaltigkeit bekräftigen. Es kann „zwischen der Rechtsstruktur des
Unternehmens Genossenschaften und nachhaltiger Entwicklung eine
funktionale Beziehung“ geben (Henrÿ 2012: 68/69). Es können sich
„Genossenschaften wegen ihrer Rechtsstruktur vergleichsweise gut für
die Umsetzung des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung eignen“, aber
„die aktuelle Genossenschaftsgesetzgebung“ läuft dem zuwider, „da sie
die Alleinstellungsmerkmale der Genossenschaften aushöhlt“. Erkennbar
dominant ist der „seit circa vier Jahrzehnten anhaltende Trend die
Genossenschaften durch die Gesetzgebung den Kapitalgesellschaften in
ihrer Struktur anzugleichen“ (Henrÿ 2012:69). „Die zum Teil ohne
notwendige Anpassung auf die Genossenschaften anzuwendenden Regeln des
Arbeitsrechts, des Wettbewerbsrechts, des Steuerrechtes sowie der
Buchführungs- und Rechnungslegungsvorschriften macht dabei das gesamte
Ausmaß der ‚Verkapitalgesellschaftung‘ deutlich. Hinzu kommt ein durch
die Rechtsvergleichung gestützter Drang die angeblichen Kosten von
Rechtspluralismus zu senken. Passen sich zudem die Genossenschaften
selbst dieser Vereinheitlichung der Unternehmensformen nach dem Muster
der Kapitalgesellschaften an, indem sie die sich ausweitende
Satzungsautonomie ausschöpfen, dann wird die Berufung auf nicht mehr
gelebte, identitätsstiftende Genossenschaftswerte und –prinzipien in
der rechtspolitischen Debatte fragwürdig.“ (Henrÿ 2012: 69/70). Auch zu
kritisieren „sind die durch die ‚Verkapitalgesellschaftung‘
ermöglichten Investitionen in Genossenschaften und wachsender Abstand
zwischen Management und Mitgliedern und damit der Verlust der Identität
der Genossenschaften“ (71). Mit anderen Worten: Die Genossenschaften
und ihre Prinzipien geraten unter die Räder des Neoliberalismus.
Dabei ist die Diversität auch der Unternehmensformen, so
Henrÿ, ein wichtiger Teil der zu fördernden sozialkulturellen Vielfalt
und unersetzlich auch, wenn es um nachhaltige Entwicklung geht. Zentral
für diese sind vier Aspekte: ökologische Ausgeglichenheit,
wirtschaftliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, politische
Stabilität, letztere „vorrangig eine Funktion sozialer Gerechtigkeit
und nicht eine Funktion von Wohlstand, wie in der Armutsdebatte häufig
angenommen“ (Henrÿ 2012: 71).
So hat der Gesetzgeber Aufgaben nicht nur zur Sicherung
des Genossenschaftsprinzips, sondern auch bei der Neuorientierung ihrer
Aufgaben ohne Gefährdung ihrer Identität.
Genossenschaften lassen sich als „Problemlöser“ empfehlen
(und sie werden vielfach als solche genutzt), wenn es um Probleme
kleiner Kommunen oder einen „Nahversorgungs-Notstand“ geht. Vor allem
gilt dies in Situationen, in denen man keinesfalls immer den Staat als
Helfer anrufen kann. Hier sind Kräfte der Selbstorganisation gefragt
(Brazda 2012; s. auch Scherhorn 2011). In einer Art Zangenbewegung sind
es auf der einen Seite die Selbstorganisations-Versuche „von unten“,
auf der anderen Seite die Neuentdeckung und Aufwertung des „commons“-Prinzips durch die Ökonomen, die sich aufeinander zu bewegen, aber dabei auf eine Menge von Problemen aufmerksam machen.
Für
die Genossenschaften ist die „Aufhebung des Verbots von
Nicht-Mitgliedergeschäften“ wichtig, die es ermöglicht, ihren
„Förderüberschuss“ auch für Bürgerstiftungen oder Regionalfonds
auszugeben (Brazda 2012: 78). Energiegenossenschaften, Projekt- und
Strukturentwicklungsgenossenschaften, die unternehmerisch, aber nicht
gewinnorientiert arbeiten, können z. B. in Vorarlberg auch mit
juristischen Mitgliedern gebildet werden (ebd.: 79). Überlegungen zu
dem „Lebenszyklus“ solcher Aktivitäten sind nützlich: Wie lange wollen
und können Individuen, ausgesetzt dem Druck einer ökonomisch denkenden
Umwelt (der gewiss auch, je nach vorherrschenden Denkstrukturen und
Erfahrungen, unterschiedlich sein kann) auf Dauer „kooperativ“ sein
(ebd.: 80): Sanktionsmöglichkeiten, selbstverständlich auch bei
vorindustriellen Nutzergemeinschaften (commons), können dabei durchaus hilfreich und akzeptiert sein, aber da wächst die Furcht vor Enge und sozialer Kontrolle.
Das
alles mag manchen angesichts der „Vielfachkrise“ marginal sein. Aber:
„Im Vorfeld von ökonomischen oder politischen Brüchen oder auch
unabhängig von ihnen ereignen sich molekulare Veränderungen in den
gesellschaftlichen Verhältnissen, alltäglicher Ausdruck der
Bewegungsformen gesellschaftlicher Veränderungen, die zunächst kaum als
solche sichtbar sind.“ (Candeias 2011: 47). Es sind Elemente einer
„kleinen Transformation“ als Vorstufe und über die
wachstumsfetischisiernde Marktgesellschaft hinausweisender Veränderung
in Richtung auf eine „große Transformation“. Solche „molekularen
Veränderungen“ sind es, in denen das Morgen im Heute zu tanzen beginnt (Klein 2013).
Literatur
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Hermann, C.; Mahnkopf, B. : Europäisches Sozialmodell. In: Candeias 2009, S. 123- 141.
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Hans-Jürgen und Christian von Heusinger (Hg.): Frieden, Tradition und
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unter dem Neoliberalismus. In: Candeias u.a. 2009, S. 99-122.
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Prof. Dr. Dieter Kramer (Univ. Wien) Unterstraße 8 D 56348 Dörscheid/Verbandsgemeinde Loreley (kramer.doerscheid@web.de) Samstag, 31. Mai 2014.
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