Text | Kulturation 2/2009 | Dieter Kramer | Prosperitätsgesellschaften und globale Probleme - gestern und heute
|
(Beitrag zur Tagung der KulturInitiative'89 „Was lebt fort in der Kultur?“ am 17. Oktober 2009 in Berlin)
Vorspann
Wahlkampf 2009 und Große Koalition haben Zukunftsprobleme
weitgehend ausgeklammert und unter einer Dunstglocke von
Wachstumseuphorie verborgen. Im Folgenden wird in neun Thesen erörtert,
wie in Anknüpfung an Diskussionen aus der Prosperitätsphase vor 1990
ein neuer Anlauf genommen werden kann, Zukunftsprobleme in die Politik
einzubringen. Die dazu notwendige Begriffsarbeit wird in dem
darauf folgenden Text angestoßen. Er ist hervorgegangen aus einem
Vortrag bei der Tagung der Kulturinitiative ´89 am 17. Oktober 2009 im
Salon Rohnstock, Berlin. Nachgedacht werden soll über die Vorstellung
von einem „nachhaltigen Entwicklungstyp“, der „ökologischem Umbau,
Modernisierung der Arbeitsgesellschaft und Begründung einer
vielgestaltigen und reichhaltigen Lebensweise“ verbindet (Gregor Gysi
"Zwölf Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus" vom August
1999).
Nicht angesprochen sind in den folgenden Thesen Bildungs- und
Wissenschaftspolitik sowie Medienpolitik; die Themen Neue Technologien,
Wirtschaft und Haushalt sind nur implizit enthalten. Das Schwergewicht
liegt auf der Rolle Deutschlands im Kontext von „globalen Problemen“
wie Nachhaltigkeit und Klimawandel und entsprechenden
Langzeitstrategien.
Gliederung:
I.
Neun Thesen für eine Politik des „nachhaltigen Entwicklungstyps“
(Qualitatives Wachstum; Umverteilung der Arbeit; Arbeit für
alle, die arbeiten wollen, aber kein Arbeitszwang; Soziale Sicherheit
durch Solidarität; Rettet unser Miteinander jetzt! Lebensqualität auch
ohne Profit; Risikominderung; Begrenzung der Finanzspekulation und der
Wirtschaftsmacht; Internationaler Dialog und gemeinsame Verantwortung)
II.
Die nicht realisierte Prosperitätsdividende. Begriffsarbeit für veränderte Verhältnisse
(Das Ende der der Prosperitätsgesellschaft; Apokalyptische
Prognosen; Begriffsarbeit; Neue Trends; Das Programm des Übergangs zu
einem „neuen, ökologischen Entwicklungstyp“; Nach den Wahlen: Eine neue
APO in der Zivilgesellschaft)
I.
Neun Thesen für eine Politik des „nachhaltigen Entwicklungstyps“
1. Qualitatives Wachstum kann wieder diskutiert werden. Was
zu Beginn der Wachstumskrise vor einigen Jahrzehnten zum Thema wurde,
hat jetzt wieder neue Chancen: Ernst Ulrich von Weizsäckers „Faktor
Vier“, das Prinzip „Nutzen statt Verbrauchen“, in der Ulmer Hochschule
für Gestaltung und vom Deutschen Werkbund weiterentwickelt, neue
Energienutzungsformen und viele andere punktuell längst erprobte
Strategien für neue Pfade der Nachhaltigkeit in den Industriestaaten
sowie eine Neudefinition von Entwicklung und Lebensqualität in den
armen Ländern des Südens gehören dazu. Die Steuerung durch den
„Gewährleistungsstaat“, der nicht alles selber machen muss, aber
Anstöße und Hilfen dazu gibt, kann neue Kombinationen öffentlicher und
privater Initiative nutzen.
2. Die Umverteilung der Arbeit ist seit dem einst vermuteten
„Ende der Arbeitsgesellschaft“ in den 1980er Jahren so viel diskutiert
worden, dass die Realisierung in der Prosperität und in den Ansätzen zu
mehr „Zeitsouveränität“ im „Freizeitpark Deutschland“ (Kanzler Helmut
Kohl) auch möglich schien. In der gewollt herbeigeführten Vergrößerung
der Kluft zwischen Armut und Reichtum und in der Krise ist unter
veränderten Bedingungen ein neuer Anlauf denkbar. Er kann sich dabei
stützen z. B. auf Überlegungen von Gerhard Scherhorn vom
Wuppertal-Institut, der schon 1997 mit bedenkenswerten Begründungen den
Verzicht auf das „Normalarbeitsverhältnis“ empfahl (und damit die
Möglichkeit eröffnete, einen ohnehin eingetretenen Prozess als
Gestaltungsaufgabe zu begreifen): Es „hat den allgemeinen Wohlstand
nicht nur gefördert, es hat ihn in bestimmter Hinsicht auch gefährdet,
weil es die Möglichkeiten der Selbstversorgung fast auf Null reduziert
hat. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, daß der Markt der Gesellschaft
besser dient, wenn die Menschen nicht vollständig von ihm abhängig sind
(Polanyi).“ (in E.U. v. Weizsäcker: Grenzenlos. 1997, S. 164) Deshalb,
meinte Scherhorn, soll die Diskriminierung des informellen Sektors
beseitigt werden. Arbeitszeitverkürzungen und eine „planvolle Stärkung
der informellen Produktion“ mit Eigenarbeit und Elementen der
Subsistenzproduktion bei gleichzeitiger Förderung der Eigenständigkeit
der Regionen sind nicht nur Elemente nachhaltiger Entwicklung, sondern
generieren auch soziale Lebensqualität durch neue Vernetzungen.
Veränderte Verteilungen auch der Lebensarbeitszeit sind
diskutierenswert: Einerseits ist es in vielen Bereichen (z. B. für
Professoren und Politiker) ein Privileg, über die schematische
Altersgrenze von 65 Jahren hinaus arbeiten zu dürfen, andererseits
wünschen sich viele ein früheres Ausscheiden ohne Einkommensverzicht
aus übermäßig anstrengenden oder unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen.
3. Arbeit für alle, die arbeiten wollen, aber kein Arbeitszwang
für die, die freiwillig auf die Vorteile einer anerkannten und
angemessen entlohnten Arbeit verzichten! Auch beim Umgang mit
Arbeitslosigkeit geht es um die Stellung des Menschen, den subjektiven
Sinn seiner Existenz im sozialen Kontext– um die alte Diskussion um das
Verhältnis von Leben und Arbeit: Wenn disponible (nicht unbedingt von
Anstrengung, mittelhochdeutsch arebeit, freie) Zeit der eigentliche
Reichtum der Menschen ist, dann kann es nicht nur um Erwerbsarbeit
gehen. Repressionsfreie soziale Sicherung und Grundeinkommen (jetzt mit
dem „Bürgergeld“ als staatliche Subvention für billige Arbeitsplätze
von der FDP aufgegriffen) sind hier zu diskutieren. Eine Menge von
Problemen ist damit verbunden, aber die Diskussion kann neu eröffnet
werden.
4. Soziale Sicherheit durch Solidarität: Bürgerschaftliches
Engagement im sozialen und kulturellen Bereich, anknüpfend an die
Traditionen der Selbsthilfe und der Solidarität in der Arbeiterbewegung
und der nachbarschaftlichen Netzwerke der Vergangenheit, als freies,
nicht paternalistisch gesteuertes Engagement für Lebensqualität und
Miteinander gepflegt, ist keine Entlastung für den sich arm rechnenden
Staat, sondern unerlässlicher Notanker in prekären Situationen, mit dem
Integration (auch von Menschen mit Migrationshintergrund) erleichtert
und soziale Probleme erträglicher gestaltet werden können. Eine solide
Sozialpolitik, in der Menschen nicht als Bittsteller behandelt werden,
sondern mit eigenen Rechten auftreten, wird damit nicht überflüssig.
5. Rettet unser Miteinander jetzt! Das kann das Motto für
eine neue kulturelle Offensive werden. „Rettet unsere Städte jetzt!“
war 1972/1973 der Hilferuf des Deutschen Städtetages, mit dem der
Ausbau der kulturellen Infrastruktur der Städte eingeleitet wurde.
Kulturpolitik wurde als Gesellschaftspolitik begriffen, Soziokultur und
soziokulturelle Animation halfen, lebendige kulturelle Milieus für
möglichst viele und in allen Teilen der Städte und in den Regionen (für alle)
entstehen zu lassen. Heute geht es darum, auseinanderdriftende Milieus
der Gesellschaft auf der kommunikativen Ebene wieder zusammenzubringen
(wie einst Hermann Glaser formulierte) und die Menschen in ihren
Lebensverhältnissen zu stabilisieren. Eine Bewegung, mit der für
Jugendliche, aber auch Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund
die Lebensqualität durch gemeinschaftsfördernde Strukturen verbessert
wird: Es geht dabei um Stadtteilzentren, Strukturen für Freizeit und
für Selbsthilfe, gefördert in der Mischkalkulation von privaten und
öffentlichen Kräften sowie getragen von Bürgerschaftlichem Engagement,
Künstler einbeziehend und mit den Ganztagsschulen zusammen einen
Rückhalt des Miteinander schaffend, eingeschlossen die aktive
Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.
6. Lebensqualität auch ohne Profit: Bildung zur Mündigkeit
und Stärkung der Fähigkeit, das eigene Leben zu führen können als Ziel
der Sozialpolitik definiert werden. Das beinhaltet Stärkung der
Konsumentensouveränität mit unterschiedlichsten Strategien. Einst
verlacht oder, wie das Bruttowohlbefindensprodukt des Staates Bhutan,
exotisiert, im Human Development Index (seit 1990) ansatzweise bereits
angedacht, spielt heute die Frage nach den „Wohlstandsindikatoren“ und
den Faktoren des Wohlergehens eine Rolle. Sie ist Teil der notwendigen
Begriffsarbeit. (vgl. Werner Balsen, Bernd Salzmann: Wie eigentlich
misst man „Wohlstand? Frankfurter Rundschau v. 17.09. 2009 – sogar
Nicolas Sarkocy und die EU-Kommission interessieren sich dafür, und
eingeschlossen sind Leistungen, die nicht gegen Entgelt erbracht
werden). Nutzer- und lebensweltfreundliche öffentliche Verkehrssysteme
gehören dazu: Es ist nicht hinzunehmen, wenn Nachtflugverbote bei
Flughäfen im Bereich dicht besiedelter Regionen der Wirtschaftlichkeit
wegen aufgehoben werden. Verkehr und Müll sind nach dem Prinzip zu
behandeln: Erst geht es um das vermeiden, dann um den vernünftigen
Umgang mit dem Rest.
7. Risikominderung durch dezentrales Wirtschaften und
fehlerfreundliche Strukturen, Ausstieg aus nicht fehlerfreundlicher
Nuklearenergie und vorsichtigem Umgang mit anderen Großtechnologien
(Genforschung, Nanontechnologie usf.) wird seit Jahrzehnten intensiv
diskutiert und ist leicht auf den neuesten Stand zu bringen.
8. Begrenzung der Finanzspekulation und der Wirtschaftsmacht: Der Börsenumsatzsteuer und der Tobin-Steuer
werden jetzt in der Krise plötzlich auch national Chancen eingeräumt.
Nicht nur eine globale Aufsicht über die Finanzmärkte, sondern auch
Klima- und umweltfreundliche Entwicklungspfade mit einem „Green New
Deal“ sind politikfähig geworden (vgl. Sauer, Thomas, Silke Ötsch,
Peter Wahl (Attac): „Das Kasino schließen! Hamburg: VSA Verl. 2009).
Darüber hinaus lohnt es sich, Schlüsselindustrien wie Energie,
Rohstoffe und Verkehrsträger sowie Unternehmen der Daseinsvorsorge
stärker demokratisch (nicht unbedingt staatlich) zu kontrollieren. Das
ist ein eigenes Thema für die Wirtschaftsexperten.
9. Internationaler Dialog und gemeinsame Verantwortung: Auf
der internationalen Ebene geht es um konsequente Dialogorientierung als
Grundlage für Friedens- und Bündnispolitik. Risikominderung durch
Lockerung der Abhängigkeit von fremden Ressourcen (vor allem Energie)
trägt dazu bei, die Handlungsfähigkeit der Außenpolitik zu vergrößern.
Deutschland soll gemäß seiner Wertegrundlagen ein besonderes Gewicht
auf die Erarbeitung von Methoden der gewaltarmen Regelung von
Konflikten legen und auf erkennbare Weise für den internationalen Raum
solche Praktiken entwickeln und propagieren. Dadurch kann es sein
besonderes Profil in den globalen Verhältnissen herausarbeiten und dazu
beitragen, dass auch Europa entsprechend agiert. Militärische
Interventionen unter der Oberhoheit der UN sollen dem nachgeordnet
sein. Das muss die Außenpolitik und die Auswärtige Kulturpolitik
prägen.
II.
Die nicht realisierte Prosperitätsdividende. Begriffsarbeit für veränderte Verhältnisse
Das Ende der der Prosperitätsgesellschaft
Die vorstehenden neun Thesen sind entstanden auf dem Hintergrund von Überlegungen zu Entwicklung und Zusammenbruch der Wohlstandsgesellschaft. Zwei oder drei Jahre vor der Wende
habe ich in Berlin/DDR mit den Kulturwissenschaftlern der
Humboldt-Universität meine Interpretation des Brundtland-Berichtes
„Unsere gemeinsame Zukunft“ von 1986/7 (Hauff, Volker (Hg.): Unsere
gemeinsame Zukunft. Weltkommission für Umwelt und Entwicklung .
Greven 1987) und seiner Konsequenzen diskutiert. Damals konnte ich
beide Staaten, die DDR und die BRD, im globalen Vergleich als
Wohlstandsgesellschaften bezeichnen, und ich sah beide vor die Aufgabe
gestellt, sich in den „Grenzen des Wachstums“ und den Diskussionen um
Nachhaltigkeit (damals hieß es noch Dauerhafte Entwicklung) neu zu
positionieren.
DDR und BRD waren somit damals Prosperitätsgesellschaften, konnten
aber aus unterschiedlichen Gründen nur unzureichend auf die „globalen
Probleme“ reagieren: die DDR wegen der Systemkonkurrenz, die BRD wegen
der Dynamik des Marktes.
Die Diskussion um globale Probleme verband in gewisser Weise die
konkurrierenden Systeme. In Erice/Sizilien prognostizierten Anfang der
1980er Jahre Atomforscher aus Ost und West für die Nordhalbkugel der
Erde im Falle eines auch nur „kleinen“ Kernwaffenkrieges einen extrem
lebensfeindlichen „atomaren Winter“, hervorgerufen durch Staub- und
Rauchwolken. Sie ermutigten damit zu deutlichen
Abrüstungsvereinbarungen. Andere „globale Probleme“ wie
Ressourcenbegrenzung, Bevölkerungswachstum und nicht beherrschbare
Wachstumsfolgen wurden damals immerhin nicht nur vom Club of Rome,
sondern im gleichen Jahrzehnt auch von Sagladin/Frolow aus der
Sowjetunion und dem Bericht „Global 2000“ aus den USA angestoßen.
Heute sind alte und neue Bundesländer keine „gefühlten
Wohlstandsregionen“ mehr, obwohl sie es im internationalen Vergleich
immer noch gut dastehen. Die regionale und schichtspezifische neue
Kluft zwischen Arm und Reich macht eine solche Charakterisierung nicht
mehr ohne Widerspruch möglich. Unmittelbare Betroffenheit von der Krise
und die Angst, von ihr betroffen zu werden, bedeuten völlig neue
Befindlichkeiten und Realitäten. Auch Elend ist wieder gekommen –
vielleicht im internationalen Vergleich auf hohem Niveau, aber für die
Betroffenen nicht weniger traumatisch (und, wie Richard Sennett schon
vor Jahren betonte, Angst und Betroffenheit reichen bis in den
Mittelstand hinein).
Noch vor kaum mehr als zehn, fünfzehn Jahren konnte über Neue
Wohlstandsmodelle diskutiert werden, unter anderem, nachdem Hans Magnus
Enzensberger „entdeckt“ hatte, dass Luxus auch Werte beinhaltet, die
man nicht kaufen kann. Weder Luxese als Verbindung von Luxus und Askese, noch eine Ästhetik der Subsistenz haben heute noch eine Chance.
Einst (damals) ging es um eine akzeptierte Lebensweise in Einklang
mit den Prinzipien der "Nachhaltigkeit", und damit waren nicht nur
Technik und staatliche Ordnungsfunktionen gemeint, sondern auch ein
sozialkultureller Unterbau von entsprechenden Werten und Standards. Das
traditionelle Wohlstandsmodell der Industriegesellschaften schien in
eine innere und äußere Begrenzungskrise geraten zu sein. Im Äußeren
erwies sie sich als nicht mehr weltweit übertragbar, im Inneren gingen
die Versprechungen der mit dem Wohlstand geschaffenen Lebensweise nicht
mehr auf: Immer mehr vom Gleichen bedeutete nicht mehr Lebensqualität.
Die kulturelle Dimension der „neuen Wohlstandsmodelle“ versuchte mit
Suchbewegungen für „Zeitsouveränität“, „Weniger ist mehr“ und weitere
neuen kulturellen Prägungen einen Ausweg aus dieser (leicht zu ertragenden) Krise zu finden.
Jetzt haben Markt und Globalisierungskrise es geschafft, solche
wachstumsgefährdenden Selbstbegrenzungsstrategien der Individuen
auszuhebeln: Auf jeder Status-Stufe denken die Menschen heute zwar
nicht mehr an immer mehr vom Gleichen, wohl aber müssen sie
sich um die nachhaltige Sicherung des Erreichten kümmern statt mit
neuen Wohlstandsformen zu experimentieren.
Apokalyptische Prognosen
Darüber hinaus ängstigen erneut globale Krisenpotenziale. Harald
Welzer summiert in Übereinstimmung mit Claus Leggewie in einem
Interview die „Zukunftsprobleme – Klimawandel, schwindende Ressourcen,
wachsender Wasser- und Nahrungsmangel, Ansteigen des globalen
Konfliktpotenzials durch Raubbau an der Zukunft unserer Kinder“
(Feddersen, Jan: „Ja, wir wollen die Welt verbessern“.
Die Krisen auf mehreren Ebenen summieren sich zu einer Mega-oder
Meta-Krise (Leggewie, Claus, Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir
sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt
am Main: S. Fischer 2009, 278 S.; vgl. dazu Walther, Rudolf: Alle reden
vom Klima, wir auch. Frankfurter Rundschau v. 08.09.2009, S. 38): „Die
Metakrise ist eine Systemkrise, die ‚die Endlichkeit eines
Gesellschaftssystems’ anzeigt, das rund 250 Jahre ‚erfolgreich’
funktioniert hat“ (Walther a.a.O.). Es ist die Krise der „karbonen“
Gesellschaft.“ Sie deckt ihren Energiebedarf seit 250 Jahren fast
ausschließlich aus Kohle, Erdöl und Erdgas; „Billigenergie,
Wachstumsparadigma“ sind daran gekoppelt. Die Autoren nennen auch Holz
als Grundlage dieser modernen „karbonen“ Gesellschaft - aber Holz und
andere klimaneutrale nachwachsende Rohstoffe sind eigentlich schon
immer Primärenergiequelle für die Menschen. Deswegen ist die
Bezeichnung „fossilistischer Fordismus“ von Mohssen Massarrat (ders.:
Mittlerer und Naher Osten. Eine Einführung in Geschichte und Gegenwart
der Region. Münster: Agenda Verl. 1996, S. 286, 295) präziser, weil
darin die Nutzung der endlichen und klimaschädlichen fossilen
Energiequellen mit dem Modell von Massenproduktion und Massenwohlstand
verbunden werden.
Der im Oktober 2009 vorgestellte Weltentwicklungsbericht der
Weltbank entwirft apokalyptische Visionen für 2050 bei der
optimistischen Annahme einer bescheidenen Erderwärmung von einem Grad:
„Oslo wird Temperaturen wie in Zentralspanien erleben und Berlin wie
Nordalgerien. … Berlin werde seine Infrastruktur neu erfinden müssen“
(Die Tageszeitung v. 10./11. Oktober 2009, S. 10). Selbst wenn die
befürchteten schlimmsten Folgen nicht eintreten (und in manchen Fällen
ist das ja auch so gewesen, denken wir an die früheren Prognosen
bezüglich des Waldsterbens), ist Umsteuern sinnvoll und schafft
Zukunft. Claus Leggewie formuliert: „Eine Abkehr von der Leitkultur der
Verschwendung und der Zivilreligion des Wachstums würde auch ohne
Klimawandel und Finanzkrise Sinn machen – und Spass.“ (Feddersen, Jan:
„Ja, wir wollen die Welt verbessern“.
Seit mindestens 25 Jahren sind die Probleme beschrieben worden, und
immer wieder waren sie zwischenzeitlich auch politiknah präsent. Aber
eine entscheidende Umkehr hat nicht stattgefunden – auch die jetzigen
Strategien zur Einschränkung des Klimawandels bleiben im
(kapitalistischen) Wachstumspfad. Vermutlich würden die Politiker auf
entsprechende Fragen mit der alten Argumentation antworten, dass die
negativen Folgen in Zukunft durch Innovationen und erweiterte
Anstrengungen leichter zu bewältigen wären als deutliche schmerzhafte
Einschränkungen jetzt.
Nach einem Wahlkampf in Deutschland, bei dem Zukunftsfragen nicht
thematisiert wurden, und bei einem Regierungsprogramm des
Durchwurstelns ist zu erwarten, dass es keine hinreichend grundlegenden
neuen Ansätze in der Politik geben wird.
Begriffsarbeit
Um die neue Situation zu reflektieren und Strategien dafür zu
entwickeln, ist „Begriffsarbeit“ notwendig. Worte verändern nichts,
aber überall, wo sich etwas verändert, muss eine Menge von Worten
gewechselt werden (auch in Koalitionsverhandlungen).
Ich hole etwas weiter aus, um an einige (überholte) Grundlagen des
heutigen Denkens zu erinnern. Einst, als 1968 in der Tschechoslowakei
der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ vorbereitet wurde, hat der
Richta-Report Perspektiven einer sozialistischen Wachstumsgesellschaft
unter den Bedingungen der erwarteten technischen Innovationen
imaginiert (Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts.
Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die
Produktionsverhältnisse. Hg. v. Radovan Richta und Kollektiv. Frankfurt
am Main: Makol Verl. 1968): Einige Jahre vor den skeptischen Mahnungen
an die „Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome (1972) hieß es dort:
„Die unerhört dynamische Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis
in den letzten Jahrzehnten nimmt – ebenso wie die stürmische Entfaltung
der materiellen Basis des menschlichen Lebens – die Form qualitativer
revolutionärer Umwälzungen an, die in Zukunft den Charakter der
Zivilisation verändern und den Bemühungen um eine neue Gesellschaft
ungeheure Möglichkeiten öffnen können.“ (Vorwort, S. 13) Gegeben ist,
heißt es, damit die Chance der „Entfaltung des Menschen als
Selbstzweck“ (50) „Die Aufdeckung, Schaffung neuer Bedürfnisse, die
Kultivierung eines Menschen mit reichen, allseitigen Bedürfnissen“ war
auch die Vorstellung von Karl Marx, und „… darin erweist sich das Wesen
des Menschen als ein solches, das durch Schrankenlosigkeit seiner
Bedürfnisse und ihre Erweiterungsfähigkeit gekennzeichnet ist.“(196)
Der Richta-Report sah unter den Bedingungen einer gelenkten
Wirtschaft eine Chance für „das aus der menschlichen Zivilisation
selbst geborene Bedürfnis des Menschen, sich zu entfalten“
(196) – mündend das beziehungsreiche, allseitig entfaltete Individuum,
dessen eigentlicher Reichtum in der freien (disponiblen) Zeit als Zeit
menschlicher Entwicklung besteht. Der Bericht knüpfte damit an jenes
vom Humanismus der Klassik gespeiste anthropologische Programm von Marx
und Engels an, dessen Zielvorstellungen in der Entfaltung des
Beziehungsreichtums der vergesellschafteten Individuen mündeten. In
zahlreichen sozialistischen utopischen Entwürfen finden wir dies
wieder.
Theoretisch kann gewiss auch eine sozialistische Gesellschaft
dieses Typs die ökologische Krise bewältigen, aber Ansätze dazu wurden
einst wenig diskutiert: Die Entdeckung der prinzipiellen
Friedensfähigkeit des Kapitalismus (Dieter Klein) wurde nicht ergänzt
durch die Diskussion eines nachhaltigkeitsfähigen Sozialismus.
Das Programm des Richta-Reports einer sozialistischen
Wachstumsgesellschaft hatte keine Chancen. Es wurde ausgehebelt durch
die Dynamik des kapitalistischen Wachstums, bei dem die „stürmische
Entfaltung der materiellen Basis des menschlichen Lebens“ in eine
Konsumgesellschaft mündete, die nicht die Entfaltung des Individuum,
sondern ihr vorangestellt diejenige des wirtschaftlichen Systems zum
Ziel hatte, gemäß einer neuen Interpretation einer grundlegenden
Maxime: „Alle Staatsgewalt geht von der Wirtschaft aus. Ihrem Wohl hat
die gesamte staatliche Tätigkeit zu dienen.“
Wenn der Massenwohlstand zu einer "Pflicht zum Konsum" tendiert
(Baudrillard, zit. bei Scherhorn in Grenzen-los? S. 161/161), dann
entstehen Spannungen und Widersprüche, etwa zu dem Ziel Nachhaltigkeit.
Man kann nicht den unzureichenden privaten Konsum beklagen und
gleichzeitig ökologische Nachhaltigkeit wünschen (oder man muss dazu
völlig neue Strategien einschlagen). Die Abhängigkeit der
Konjunkturentwicklung vom Privatkonsum und die Bedeutung der
Binnenkonjunktur in den Prosperitätsregionen für den Weltmarkt werden
meist einfach zur Kenntnis genommen, ohne dass die Folgen für die
genannten Meta-Krisensymptome beachtet werden. Wohlstand für alle ist
„auch in Zeiten der Globalisierung möglich, wirtschaftlich nützlich,
sozial gerecht und demokratisch unabdingbar“, wird argumentiert (Robert
Misik: Wohlstand für alle ist möglich. Die Tageszeitung v. 8./9. August
2009, S. 25, zu Bofinger Peter: Ist der Markt n och zu retten? Warum
wir einen starken Staat brauchen. Berlin: Econ 2009), aber die globalen
Folgen bleiben unberücksichtigt.
Allenfalls ein Vorteil könnte in dieser Situation relevant
sein: Wenn überschüssige Kaufkraft und anlagesuchendes Kapital in den
privaten Konsumsektor gelenkt werden statt in den nach
Rüstungsverwertung strebenden Sektor der Schwerindustrie und Rüstung,
dann ist das vielleicht doch interessant (aber darüber müssen Ökonomen
nachdenken).
Andere Visionen wie die von Bruno Kreisky (der einst der
Schwerindustrie Auftrieb verleihen wollte mit einem
Eisenbahnbau-Programm für Schwarzafrika) oder Daniel Cohn-Bendit (der
nutzerfreundliche öffentliche Verkehrsysteme nach dem Modell der
Straßenbahnen in Europa verbreiten will), versprechen eine ähnliche
Absorption von anlagesuchendem Kapital.
Eine moderne Variante des einstigen Programms des
Beziehungsreichtums können wir als subjektbezogenes Programm bei Martha
Nussbaum wieder finden. Sie fragt: „Was braucht der Mensch?“ Und sie
nennt „Körperliche Integrität, Entwicklung des Verstandes, der
Emotionen und der Sinne, Geselligkeit, Für-sich-Sein, Kontakt zur Natur
und Spiel“ (Szegin, Hilal: Nicht vom Brot allein. Die Zeit v.
20.05.2009, S. 37) Ähnlich wie Amartya Sen, ihrem langjährigen Partner,
entwickelt sie daraus den capability approach, „um eine spezifische
Form der Entwicklungspolitik voran zutreiben: eine Förderung, die sich
nicht allein am Bruttosozialprodukt und nicht an den papiernen Rechten,
sondern an der tatsächlichen Fülle oder Armut menschlichen Lebens im
jeweiligen Land orientiert.“ (a.a.O.) Sie kann sich dabei auf die seit
der Antike diskutierten Konzepte des „guten Lebens“ beziehen (vgl. auch
die Diskussion über Glück, z. B. Richard E. Easterlin: Vom Glück,
glücklich sein zu können. In: Frankfurter Rundschau v. 20.10.2009,
24/25, und Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie
der Gegenwart. Mit einem aktuellen Vorwort des Autors. Frankfurt am
Main/New York: Campus 2005).
Neue Trends
Etwas freilich ist dennoch neu. Damals wurde gefragt: Wer, wenn
nicht wir in den Prosperitätsregionen der Welt, kann freiwillig Pfade
einer nachhaltigen Entwicklung beschreiten? (vgl. Dieter Kramer: Wer,
wenn nicht wir ... Von der Verantwortung der Modell-Europäer. In:
Blätter für deutsche und internationale Politik 1990 S. 218-221.
Heute, 2009, werden unter dem Druck der nationalen und
internationalen Öffentlichkeit Pfade in der Dynamik und
Widersprüchlichkeit des Marktes thematisiert. Alle reden vom Klima und
nicht mehr von gesellschaftlicher Veränderung. Elektroautos sind zwar
für kaum eines der aktuellen Verkehrsprobleme eine wirkliche Lösung
(Cohn-Bendits Vorschlag einer nutzerfreundlichen Straßenbahn-Offensive
ist da interessanter), auch Mega-Solarkraftwerke in der Sahara, mit
ähnlichen Mega-Hoffnungen begleitet wie einst die friedliche Nutzung
der Kernkraft, sind vermutlich keine zureichende Perspektive. Ähnliches
gilt für die meisten aufwändig zu erzeugenden nachwachsenden
industriell nutzbaren Rohstoffe. Die meisten entsprechenden Phantasien
bleiben im Rahmen des Gigantismus des Fortschrittsdenkens wie die nicht
realisierten Projekte des Gibraltar-Staudammes in der
Zwischenkriegszeit oder die der Umleitung der sibirischen Ströme nach
Süden in der Sowjetunion des Kalten Krieges: Zum Glück sind manche
solche Ideen schon vor der Projekt-Ebene wieder aufgegeben worden.
Dennoch, die Suche nach neuen Lösungen ist heute mehr als nur
Etiketten-Schwindel: Man wird sie nicht alles gleich wieder durch
Fundamentalkritik wegwischen oder abtun als Bestandteil der unnützen
Versprechungen, dass die durch das Wachstum produzierten Probleme durch
weiteres Wachstum zu lösen seien: Wandlungen haben stattgefunden, neue
Chancen sind entstanden – aus „großartigen Widersprüchen“, wie Jürgen
Kuczynski hätte sagen können.
Krisen werden gemeinhin als Chancen begriffen. Beim Nachbeten der
entsprechenden Schumpeter´schen Thesen wird allerdings oft vergessen,
dass diese primär auf industriell-betriebswirtschaftliche und
ökonomische Prozesse bezogen sind. Für die Gesellschaft und die
Individuen können Krisen mindestens vordergründig gegenteilig wirken:
Sie werden zurückgeworfen auf die einfachsten Stufen der
Existenzsicherung und müssen ihre nackten, einfachsten
Überlebensbedürfnisse in den Vordergrund stellen. Die Chancen, dabei
Innovationspotenzial zu entwickeln, sind gering.
Gerhard Scherhorn vom Wuppertal-Institut betont schon 1997, dass
eine einseitige Aufkündigung des fordistischen Gesellschaftsvertrages
von Massenkonsum und Massenproduktion, wie ihn Marktradikale immer
wieder androhen, selbst in der Krise nur begrenzte Chancen hat, denn er
„dürfte zu unberechenbaren Reaktionen führen“ (163) Deshalb wird ein
„neuer Gesellschaftsvertrag“ empfohlen, der eine "ökologische
Steuerreform" (163) einschließt sowie den Verzicht auf das
„Normalarbeitsverhältnis“ (vgl. These 2). Die Begründungen sind
bedenkenswert. Das Normalarbeitsverhältnis „hat den allgemeinen
Wohlstand nicht nur gefördert, es hat ihn in bestimmter Hinsicht auch
gefährdet, weil es die Möglichkeiten der Selbstversorgung fast auf Null
reduziert hat. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, daß der Markt der
Gesellschaft besser dient, wenn die Menschen nicht vollständig von ihm
abhängig sind (Polanyi).“ (164) Deshalb soll die Diskriminierung des
informellen Sektors beseitigt werden, die Strukturvorgaben für die
Bedürfnisentwicklung verändert werden (165) usf. Sinnvoll sind auch
Arbeitszeitverkürzung und eine andere intrapersonale Arbeitssteilung
(165), eine „planvolle Stärkung der informellen Produktion“ (166),
Eigenarbeit und Subsistenz sowie Eigenständigkeit der Regionen (167).
Scherhorns „hoffnungsvolle Perspektiven ... von der
Gemeinschaftsarbeit über die immateriellen Güter bis hin zu der
völligen Neubewertung des informellen Sektors“ (170) sind 1997 auch für
Hans Günter Danielmeyer, ehemaliges Vorstandsmitglied der Siemens AG,
die „natürliche Fortsetzung“ seiner eigenen Überlegungen: Die
Industriegesellschaft hat bei uns „schon im wesentlichen erreicht ...,
was sie sollte und konnte.“ Deshalb ist eine „neue Vorlage“ mit
„gesellschaftlichen Innovationen vom Kaliber der bisherigen
technisch-organisatorischen“ nötig (170), hieß es damals - das wird
nicht ohne eine neue Kultur gehen.
Das Programm des Übergangs zu einem „neuen, ökologischen Entwicklungstyp“
Ein solche „neue Vorlage“ ist auch gefordert in Gregor Gysis „Zwölf
Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus“ vom August 1999, in
denen Perspektiven und reale Chancen gekoppelt werden: „Die Verbindung
von ökologischem Umbau, Modernisierung der Arbeitsgesellschaft und
Begründung einer vielgestaltigen und reichhaltigen Lebensweise könnte
einen nachhaltigen Entwicklungstyp schaffen, der die Schranken des
fordistischen Kapitalismus überwindet, umweltverträglich wird und die
wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine freiere Entwicklung aller
ermöglicht.“ Er soll den „sozial gebändigten Kapitalismus der
Nachkriegszeit“ ablösen. Das konkretisiert sich zunächst nur in den
Forderungen zum Übergang zu "ökologischer Nachhaltigkeit" und einer
globalen Offensive zur Überwindung von Armut, Hunger und
Unterentwicklung. Dann heißt es: "Eine moderne Arbeitsgesellschaft muß
auch eine neue Verbindung von Erwerbsarbeit und schöpferischer
gemeinschaftlicher und individueller Eigenarbeit ermöglichen.“
„Die Erschließung reichhaltiger und sinnerfüllter Felder für
Gemeinschafts- und Eigenarbeit kann bei der ökologischen Umgestaltung
der Lebenswelt beginnen, muß die Rückgewinnung der Gestaltungshoheit
über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten der Kommunen und Regionen
umfassen und wird in die Entwicklung einer Vielzahl sozialer und
kultureller Projekte münden.“ Die Rede ist auch davon, dass die
Erweiterung der Förderung von Kreativität dafür sorgen soll, dass alle
"an Erwerbsarbeit und Eigenarbeit nach dem Maß ihrer Fähigkeiten und
ihrer Bedürfnisse partizipieren, Sinn für die Verbindung von Arbeit,
Leben und Genuß entwickeln und Erfüllung finden".
In Verbindung mit der Forderung nach Überwindung des Massenkonsums
und der Massenproduktion durch allgemeine Verfleißigung in dem
"fordistischen Kapitalismus" kann das angeschlossen werden an die
Vorstellung von einer Gesellschaft, in der auch der freiwillige Rückzug
vom Arbeitsmarkt möglich ist und positiv gewertet wird. Gefordert wir
die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung für
ein menschenwürdiges Leben: "Modern" wären Sozialsysteme, die "den
Übergang auf einen neuen, ökologischen Entwicklungspfad und eine neue
Verbindung von Wirtschaft und Lebensweise unterstützten." (Vgl.
Gerechtigkeit ist modern. Frankfurter Rundschau v. 4. August 1999,
(Dok.), S. 22; Vgl. Dieter Kramer: Was kommt nach dem Ende der
Vollerwerbsgesellschaft? In: Sabine Hess, Johannes Moser (Hg.).: Kultur
der Arbeit – Kultur der neuen Ökonomie. Kuckuck … Sonderband 4, Graz
2003, S. 49 – 71, S. 61).
Dieses Programm lässt ahnen, dass Sozialismus allein die Probleme
nicht löst. Ohne Markt gibt es in vielen Bereichen keine zureichende
Allokation von Ressourcen, und neue, ökologisch kompatible Lebensweisen
entstehen nicht automatisch, sondern müssen erst durch „Begriffsarbeit“
und neue Vorbilder entwickelt werden. Der einst im Kapitalismus wie im
Sozialismus übliche Hinweis auf die Lösung aller Probleme durch die
Erschließung des Springquells gesellschaftlichen Reichtums hat seine
Bedeutung verloren. Erst entsprechende Politik macht daraus
Lebensqualität, und diese kann durchaus den bewussten Verzicht auf
Möglichkeiten und auf ständig mehr vom Gleichen einschließen.
Überlegungen dieser Art gibt es bei Experten aller Parteien, aber
selten gelangen sie in den Vordergrund der politischen Diskussion.
Eine Aufwertung der sozialen Gemeinschaften über das
Bürgerschaftliches Engagement hinaus kann hier eine Rolle spielen. Die
Studien der diesjährigen Nobelpreisträgerin für Ökonomie Elinor Ostrom
können dabei helfen. Sie beziehen sich auf „Fischgründe in der Bucht
von Izmir, Almen im Wallis, Grasweiden in der Mongolei oder
Wasserquellen in Nepal. Dies alles sind sogenannte Allmendgüter: Knappe
Ressourcen, die von einer Gemeinschaft von Menschen bewirtschaftet
werden. Ostrom hat Tausende solcher Beispiele herangezogen … Bisher
haben Ökonomen und Politikwissenschaftler … angenommen, dass die
gemeinsame Nutzung solcher Güter eigentlich nur Probleme bereite. Viele
Forscher gehen ja pessimistisch von Menschen aus, die kühl ihre Kosten
und ihren Nutzen abwägen und darauf schauen, was am Ende für sie selbst
herausspringt. Nach dieser Logik steht es schlecht um Fischgründe,
Wasserquellen und Alm-Ökotope. Wenn alle gemeinsam wirtschaften, will
am Ende jeder mehr herausholen, als ihm eigentlich zustünde. Dann wird
überfischt, überweidet, und die Quellen versiegen. Als Tragedy of the Commons
beschrieb der Biologe Garrett Hardin dieses Problem. Seither lautet die
Standardempfehlung vieler Experten: Allmenden sollten aufgeteilt und an
mehrere private Eigner übertragen werden, oder eine Behörde muss
darüber wachen. Doch wenn man so genau hinschaut wie Ostrom, sieht man,
dass sich die Menschen in Wirklichkeit besser aufführen als in der
Theorie. Viele Allmenden sind erstaunlich gut verwaltet. Offenbar
neigen die Menschen dazu, untereinander Regeln auszumachen und sie dann
auch einzuhalten und durchzusetzen.“ (Fischermann, Thomas: Ran an die
Fische. Die Zeit v. 15.Oktober 2009, S. 25)
Ethnologen wissen das schon längst. Das immer wieder zitierte Bild
von der "Tragödie der Gemeindewiesen" (Hardin, Garrett: The Tragedy of
the Commons. In: Science 162 (1968), 1243-1248) lässt sich mit
Hinweisen aus der Kulturgeschichte deutlich relativieren. Die
mitteleuropäische Agrarverfassung z. B. als
korporativ-genossenschaftlicher Verband von Hausvätern hat die
Fähigkeit der nachhaltigen Nutzung von Gemeineigentum von Wasser, Wald
und Weide hoch differenziert entwickelt und über Jahrhunderte hinweg
praktiziert und mit sozialkulturellen Strukturen verbunden (vgl.
Kramer, Dieter: Grenzgänge. Die "Tragödie der Gemeindewiesen" und die
europäische Kulturgeschichte. In: Häßler, Hans-Jürgen und Christian von
Heusinger (Hg.): Frieden, Tradition und Zukunft als Kulturaufgabe. Wie
gestalten wir die Zukunft des Planeten Erde? Würzburg 1993, 433-441.
Auch in: Vf.: Von der Notwendigkeit der Kulturwissenschaft. Marburg
1997, S. 35-42)
Töricht sind auch Behauptungen von Marktideologen wie Hans-Werner
Sinn: „Bevor es Märkte gab, herrschten Anarchie, Raub und Krieg. Die
Marktwirtschaft ist eine Friedensordnung, weil sie bedeutet, dass man
nicht mehr reich werden kann, indem man jemandem etwas wegnimmt,
sondern indem man fleißig ist.“ Sinn nennt als Beispiel die Wikinger
(Hans-Werner Sinn in: „Das System war faul. Sarah Wagenknecht und
Hans-Werner Sinn, Gespräch in Die Zeit v. 25. Juni 2009, S. 23 vgl.
ders.: Kasino-Kapitalismus. 2009). Schade, dass Sarah Wagenknecht in
dieser Diskussion nicht mit ein bisschen kulturgeschichtlicher
Information dieser Arrogranz des Ökonomen entgegengetreten ist.
Servitute, Pflichtkorporationen, berufsständische Verbände,
Nachbarschaften – sie alle repräsentieren soziale Techniken, in die
einst der Markt „eingebettet“ war und mit denen Menschen früher ihr
Gemeinschaftsleben organisierten. Sie sind längst nicht ausgestorben,
sondern leben in vielen Strukturen informell, teilweise auch formell
weiter und sind aktivierbar (vgl.; Enquete-Kommission Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements Schriftenreihe Bd. 4, Opladen: Leske +
Budrich 2002, S. 56 – 108, S. 167 – 173 und Sondervotum André Habisch,
S. 729 – 741). Die „Freiwilligen Feuerwehren“, in vielen Regionen
Pflichtkorporationen für die erwachsenen männlichen Einwohner, aus
denen man sich freilich durch Zahlungen dispensieren kann, sind ein
Beispiel. Bei ihnen wird auch erkennbar, dass Pflichten durch
attraktive festliche Rituale begleitet werden.
Die Aktivierung sozialen Kapitals in der Zivilgesellschaft, nicht
um den Staat zu ersetzen, sondern als Notanker in Situationen des
Staatsversagen, ist legitimer Teil einer solchen Strategie: Die
Individuen nutzen Selbsthilfe und praktizierte Solidarität für ihre
Lebensqualität.
Eine moderne Variante des einstigen Programms des
Beziehungsreichtums können wir als subjektbezogenes Programm vielleicht
auch bei Martha Nussbaum wieder finden. Sie fragt: „Was braucht der
Mensch?“ Und sie nennt „Körperliche Integrität, Entwicklung des
Verstandes, der Emotionen und der Sinne, Geselligkeit, Für-sich-Sein,
Kontakt zur Natur und Spiel“ (Szegin, Hilal: Nicht vom Brot allein. Die
Zeit v. 20.05.2009, S. 37) Ähnlich wie Amartya Sen, ihrem langjährigen
Partner, entwickelt sie daraus den capability approach, „um
eine spezifische Form der Entwicklungspolitik voran zutreiben: eine
Förderung, die sich nicht allein am Bruttosozialprodukt und nicht an
den papiernen Rechten, sondern an der tatsächlichen Fülle oder Armut
menschlichen Lebens im jeweiligen Land orientiert.“ (a.a.O.) Sie kann
sich dabei auf die seit der Antike diskutierten Konzepte des „guten
Lebens“ beziehen (vgl. auch die Diskussion über Glück, z. B. Richard E.
Easterlin: Vom Glück, glücklich sein zu können. In: Frankfurter
Rundschau v. 20.10.2009, 24/25, und Schulze, Gerhard.)
Zu berücksichtigen ist, dass hinderlich ist, zwischen „Moderne“ und
„Vormoderne“ eine scharfe Zäsur zu setzen: Sie hindert daran, die
gesamten sozialen Ressourcen der vergesellschafteten Menschen zu nutzen
(auch die unentgeltlich erbrachten Leistungen. Weiterlebende
„vormoderne“ Formen prägen, etwa wenn es um Strategien der
Selbstbegrenzung geht, auch den Umgang mit den heutigen Konsumwelten.
„Neben eher spielerischen und eher freizeitlich-luxurierenden mehren
sich zudem notgeborene Rückgriffe auf vormoderne Lebensweisen“
(Warneken 89) in aktuellen Krisensituationen, bemerkt der Tübinger
Europäische Ethnologie Bernd-Jürgen Warneken. Auch der Kleingarten,
eine wertvolle Ressource für den Arbeitslosen oder Rentner, der über
Zeit, aber wenig Geld verfügt, bedeutet nicht rückschreitendes
„Reenactment“ (90), sondern „Vermehrung von Denk- und
Handlungsmöglichkeiten“ (89 – inzwischen gibt es sogar in den
Großstädten der USA Experimente zur Aufwertung der partiellen
Selbstversorgung durch Nutzpflanzenanbau). Es muss freilich der Umgang
auch dieser Ressource erlernt sein, am besten in früher Jugend (Hans
Carossa: Eine Kindheit und Verwandlungen einer Jugend. Leipzig: Insel
1942, S. 37 ff. ist ein Beispiel für das Erlernen der Gartenpflege).
An der Entwicklung und Realisierung der „neuen Vorlagen“ müssen
alle Milieus beteiligt sein – etwa in der Form der Weitergabe von
Erfahrungen und situationsadäquaten, der Lebenswelt angemessenen
Interpretationen, aber auch von „Suchbewegungen“, in denen ohne
Vorgaben und Anleitungen (freilich auch beeinflusst durch Strategien
der Nutzer) neue Chancen ausgelotet werden. Hergestellt werden muss die
Verbindung zu Lebensqualität.
Für den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosigkeit ergeben sich
ebenfalls Perspektiven. Wenn ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ oder
eine „repressionsfreie Grundsicherung“ die Individuen in die Lage
versetzt, unter Verzicht auf einige Annehmlichkeiten, aber mit
Sicherung der gesellschaftlichen Mindeststandards (auch der
Gesundheitsdienstleistungen) aus dem Erwerbsleben (mindestens temporär)
auszuscheiden, bringt dies zwar auch eine Menge von Problemen mit sich,
bedeutet aber für viele Menschen eine Wunschperspektive. Der
Arbeitsmarkt würde dadurch entlastet.
Der Umgang mit Krisenerscheinungen verlangt (sozial-)kulturelle
Antworten. Es gibt, wie Jared Diamond belegt, „keinen einzigen Fall, in
dem man den Zusammenbruch einer Gesellschaft ausschließlich auf
Umweltschäden zurückführen könnte“ (zit. Walther a.a.O.). „Wichtig sind
immer auch die politische(n) Reaktionen der Eliten eines Landes und der
Gesellschaft auf Umweltschäden, Klimaveränderungen,
Bevölkerungswachstum, Armut und Reichtum. Einen ‚Umweltdeterminismus’
hält Diamond für ebenso naiv wie absurd.“ Kulturelle Faktoren, nämlich
die „ideelle Lebensgrundlage“ und das System der Werte und Standards
einer Gesellschaft sind entscheidend. „Zukunft ist ein kulturelles
Programm“ hat deswegen Hilmar Hoffmann gesagt.
Meinhard Miegel und Stefanie Wahl (Miegel, Meinhard, Stefanie Wahl:
Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich
selbst. München 1993; vgl. Dieter Kramer: Schwencke-Festschrift) haben
1993 angesichts des Bevölkerungsschwundes mit apokalyptischem Gestus
vor schlimmen Folgen der demographischen Entwicklung gewarnt (in Wellen
werden immer wieder solche Ängste geschürt). Aber auch hier kommt es
darauf an, wie eine Gemeinschaft kulturell und institutionell damit
umgeht.
Nach den Wahlen: Eine neue APO in der Zivilgesellschaft
Die Umweltkrise bedeutet auch für die Demokratie ein Problem:
Harald Welzer sagt im Interview: „Das ist ja unsere Analyse: dass die
Demokratie von zwei Seiten unter Druck gerät – durch das Herausrücken
des Westens aus dem Zentrum der Weltgesellschaft und durch innere
Erosionsprozesse, ablesbar an sinkender Wahlbeteiligung, abnehmender
Zustimmung zur Demokratie und so weiter und so fort. Genau deshalb muss
jetzt die Repolitisierung der Zivilgesellschaft und eine neue
außerparlamentarische Opposition kommen.“ (Feddersen a.a.O.) Das ist
eine interessante Perspektive: Angesichts des Politikversagens geht es
um Kräfte der Zivilgesellschaft (dass auch diese einst Nähe zu Parteien
hatten und von ihnen gefördert, aber nicht kontrolliert wurden, weiß
man).
Und es bedarf der Begriffsarbeit – dazu braucht es Intellektuelle,
das betonen auch Leggewie und Welzer. Die Diskussion ist wieder
eröffnet: Neben den genannten Autoren haben sich Nicholas Stern (Der
Global Deal. München: C.H. Beck 2009) und Anthony Giddens (Politics of
Climate Change. Cambridge 2009) zu Wort gemeldet. Prognos hat in einer
Studie aufgewiesen, wie Deutschland eine Industrienation bleiben und
gleichzeitig praktisch klimaneutral und unabhängig von fossiler
Import-Energie werden kann (Fritz Vorholz: Reich und sauber. Die Zeit
v. 15. Oktober 2009, 23)
Zur Begriffsarbeit gehört es, dass herausgearbeitet wird, dass alle
Menschen in ihrem Alltag ja ohnehin schon Selbstbegrenzungsstrategien
und ansatzweise Nachhaltigkeit praktizieren: Sie sind zu mehr bereit
als die Politik ihnen zumutet. Elinor Ostrom hat durch ihre Forschungen
bestätigt, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften dazu
in der Lage sind.
Die nationalen und globalen Konfliktpotenziale sind die Rohstoffe,
aus denen durch Begriffsarbeit überzeugende Programme, auf Stichworte
und Slogans verkürzbare Strategien destilliert werden müssen. Die
gelb-schwarze „Tigerenten-Koalition“ mit Angela Merkel will versuchen,
allen Linken das Wasser abzugraben, meint Bernd Ulrich. Sie will das
erreichen, indem sie soziale Härten vermeidet, eine nachhaltige
Finanzpolitik avisiert, eine offensive Politik der Integration von
Migranten betreibt, eine aktive vorbeugende Gesundheitspolitik und
nicht nur eine Politik zur Senkung der Krankheitskosten betreibt,
ferner die Diskussion um die Laufzeiten für Kernkraftwerke dadurch
entschärft, dass sie die Extragewinne in die Weiterentwicklung
regenerativer Energien lenkt (Bernd Ulrich: Was sie wirklich vorhat.
Die Zeit v. 15. Oktober 2009, S. 2). Dem kann die Linke begegnen mit
einem offensiven Programm des gesellschaftlichen Wandels, bei dem die
bereits vorhandenen weiterreichenden Ideen und Praktiken verstärkt
werden und wo die erwarteten neuen sozialen Bewegungen
organisatorischen Rückhalt (wie einst die Friedensbewegung) finden
können. Fast alles, was heute ansteht, ist schon gedanklich
vorbereitet, muss allerdings ergänzt und vor allem in die öffentliche
Diskussion gebracht werden. Eine Menge von Ideen, die zwischenzeitlich
wegen der Globalisierung als unrealistisch zurückgewiesen, können heute
als erste Anregung für ein aktuell erweitertes Programm dienen. In den
neun Thesen am Anfang dieses Textes wird dies versucht.
In diesen (und vielleicht auch noch anderen) Elementen liegen die
Rohstoffe für die Begriffsarbeit und die Themen, die von der
Zivilgesellschaft und der Opposition vorangetrieben werden kann und
muss. Die neun Thesen zu Beginn dieses Textes versuchen einiges davon
zu bündeln.
|
| |