KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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TextKulturation 1/2006
Renate Schuster
Die Wende - ein „Mythensturz“?
... immer noch fragen, was die DDR eigentlich war?
Lieber Freund,
Du weißt, ich beherrsche nicht die „Kunst der vorgestellten Unterredung“, die jedem wärmstens zu empfehlen ist, der sich zu Wort meldet in einer strittigen Sache.

Ich brauche die lebendige Vorstellung eines, wenigstens eines Gesprächspartners, von dem ich weiß, dass meine Anmerkungen einen Gegenstand berühren, der auch ihm nicht gleichgültig ist.

Du hast mir das Wort „Mythensturz“ in unernster, wenn auch freundlicher Absicht geschenkt. Der Bezug zur „DDR-Geschichtsschreibung“ als „Spurensicherung“ drängte sich mir auf, und da die eigene Biographie selbst „Spur“, wie winzig auch immer, in jenem Lebenszusammenhang war, da andererseits inzwischen so viele Berufene und Unberufene ihre Urteile - ja, auch über mich - gesprochen haben, wollte ich nun doch auch einmal mein unmaßgebliches Stimmchen im Deutungschor erklingen lassen, ganz ohne die Erwartung, damit irgendeinen Wohl- oder Missklang zu bedienen, nur sagen dürfen: So kam ich unter die Deutschen, mein Bellarmin!

Die Schwierigkeit zu benennen, was „Wir“ waren (die Ossis, bevor sie Ossis wurden), die Mühen, in einer auch für den Rest der Welt verständlichen Sprache aufzuarbeiten diese „40 Jahre Zusammenleben“, die Versuchung auch, die nunmehr geltenden Regeln dessen, was man „gesellschaftlichen Diskurs“ nennt, entweder zu ignorieren oder ganz streng zu beachten, wie unangemessen das Vokabular für die bezeichneten Gegenstände auch immer sein mag, all dies könnte solch irritierten Gemütern wie mir natürlich das Bedürfnis nahe legen, sich dem „Unaussprechlichen“ nur noch metaphorisch, also mehrdeutig, poetisch verhüllt, auf jeden Fall selbstironisch zu nähern.

Herr Altvater sagt es in seinem neuesten Buch: „Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen“ ganz klar (und nicht nur deshalb verehre ich ihn): “Begriffe verleihen Definitionsgewalt über reale Entwicklungen, da sie die Diskurse strukturieren“ (ich würde hinzufügen wollen: „ Diskurse verhindern, wenn es denn angeraten scheint“). Wer also z. B. verkündet, der Kommunismus sei gescheitert, der unterstellt, dass es irgendwo auf der Welt realiter Kommunismus gab, was jeder einigermaßen aufgeklärte Kommunist sofort verneinen würde. Vor allem aber drückt der erleichterte Verkünder aus, dass das, was gescheitert ist (ob realiter oder nur als Idee) ja auch wirklich das Letzte sei, was man der Menschheit zumuten sollte. Und schon haben wir wieder ein „ordentliche Gespenst“ (nicht nur in Europa) und lassen es umgehen. Dass ein Papst für seine unschätzbaren Verdienste beim Verscheuchen des Gespenstes möglicherweise heilig gesprochen wird, grenzt für mich nicht an Wunder. Dass aber manch einer, der sich bisher stolz Kommunist nannte, nun doch lieber „nur“ Sozialist, Demokrat, Humanist oder gar nicht „dabei“ gewesen sein will, das „bewundere“ ich als eben „nachhaltige“ Wirkung „ausgeübter Definitionsgewalt“.

Wie gesagt, Altvater darf das Wort von der „Diskurse strukturierenden Definitionsgewalt“ sagen, und ich bin froh, dass er es sagt, wir dürfen es nicht, noch nicht. Wir müssen uns tarnen, wir müssen den Eindruck erwecken, als suchten wir den geistigen „Anschluss“ an das vermeintliche oder unterstellte wissenschaftliche Niveau, die Begrifflichkeit und Wertungshorizonte einschlägig forschender Westdenker oder endlich geläuterter Ostdenker. Uns wird nahe gelegt zu sagen, ohne rot zu werden (bloß nicht rot), das waren vielleicht „nur“ 40 Jahre einer speziellen Variante „nachholender Modernisierung“, wobei schon das Wort „Modernisierung“, weil eindeutig positiv besetzt (außer vielleicht bei „Körnerfressern“), und dann natürlich erst recht das Wort „nachholend“ anklingen lassen, was als „normal“ und wünschenswert zu gelten hat. Und solche Wertung enthält für mich auch unterschwellig die Botschaft: Machen wir uns nichts vor! Im Grunde hatten sich doch die Ostherden auf denselben Weg wie die des Westens in ungeahnte Weidegründe gemacht, und sie sind nur deshalb zurückblieben, weil sie sich allerlei Umwege gönnten und die falschen Hirten an ihrer Spitze duldeten.

Ich sehe das inzwischen so:
Natürlich war „es“ auch ein Versuch „nachholender Modernisierung“, ganz besonders da, wo die Minimalvoraussetzungen einer sozialistischen Gesellschaft noch gar nicht ausgebildet und/oder infolge von Kriegen demoliert waren, weshalb ja auch seinerzeit Erwartungen einer „Systemkonvergenz“, eines Wettstreits gar um die besten „Antworten“ auf wissenschaftlich-technische, ökologische, soziale, kulturelle Herausforderungen der „Moderne“ in jenen (auch Politik beratenden) sozialwissenschaftlichen Analysen zu finden waren, die mit einer längeren Phase des Nebeneinanderbestehens „unterschiedlich verfasster“ (aber offensichtlich vergleichbarer) Gesellschaften rechneten und vielleicht auf einen friedlichen „Wandel durch Annäherung“ hofften, wobei der „Wandel“ dann natürlich vor allem den Rivalen heimsuchen sollte. Angesichts der idiotischen Rüstungsspirale wäre eine solche „Mission“ nicht die ehrenrührigste für ein „sozialistisches Experiment“ gewesen, zumal sich ja jetzt zeigt: für Rüstungsgewinne findet sich immer eine “Bedrohung“.
Kurzum: „Modernisierung – ja“, “nachholend“ (wo nötig) - ja, aber war „es“ nur das und dann noch nicht einmal ordentlich?

Unmittelbar vor der Wende warf ich einen interessierten Blick auf die Resultate bundesdeutscher DDR-Forschung verschiedener Färbung und möchte nun behaupten: Auch die westlichen Sozialwissenschaftler hatten mit ihren Methoden und Denkmodellen wenig zur realistischen Überlebens- oder Untergehensprognose der DDR beizutragen vermocht. Will man nun nicht unterstellen, Gorbi hätte alles vermasselt, glaube ich ganz ketzerisch: Wenn sogar jene Forscher überrascht wurden von dem, was da unterging, sich selbst verwarf etc., dass vielleicht überhaupt die theoretischen Instrumente zum Begreifen der Ostgesellschaften erst noch erfunden werden müssen, um die „eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes“ erfassen zu können. Und das scheint mir keine Frage der unzureichender Datenbereitstellung, wie man den DDR-Forschern ja noch hätte zugute halten können, sondern vielleicht eine Frage tragfähiger und eben ganz spezifischer Analyse- und Deutungsinstrumente, wie sie selbst Marx nicht entwickeln konnte, weil er mit diesen, seiner Prognose widersprechenden Kuriosa von Gesellschaftstypen, wohl gar nicht gerechnet hat.

Ein wenig pathetisch formuliert:

Dass ein Land gezwungen sein würde, gleichzeitig die „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ wie seinerzeit in England auf Kosten der Landwirtschaft und die Ansätze sozialistischer Planwirtschaft („Sowjetmacht plus Elektrifizierung“) unter bürgerkriegsähnlichen Bedingungen in Angriff zu nehmen, dass dieses Land keine 30 Jahre später eine ganze Industrie ins Hinterland verlagern bzw. unter Kriegsbedingungen aus dem Boden stampfen musste und in der Folge einen Großteil seiner Akkumulationskraft und Technologiefortschritte auf einen „kalten Krieg“ konzentrieren würde, der ihm zwar nach außen (Gleichgewicht des Schreckens, Weltraumerfolge), aber immer weniger nach innen Prestigegewinne brachte, das alles wäre Marx ( auch ohne die Verbrechen eines überforderten Diktators) sicher sehr abenteuerlich vorgekommen, aber es ist geschehen.....

Ich habe für mich in all meiner Verwirrung nun beschlossen:
Solange ein brauchbares wissenschaftliches Instrumentarium nicht zur Verfügung steht, scheint mir eine bekennend gleichnishafte, suchende Sprache die angemessenste, weit entfernt von wissenschaftlicher „Durchdringung“, für mein Selbst- und Weltverständnis aber brauchbar. Ich darf das in all meiner Narrenfreiheit.

Und so spiele ich denn mit allerlei Förmchen und fiktiven Akteuren in der Buddelkiste meiner Wach- und Albträume:

Ich nehme den Standpunkt eines Archäologen ein, der „Befunde“ datieren und interpretieren will. Er wird zuerst ganz trocken und leidenschaftslos (weil nicht anders als forschend verwickelt) die „Scherben“ beschreiben und irgendwann den Vergleich mit anderen Scherben, schon datierten und eindeutig zugeordneten herstellen. Mit Vorsicht und Skepsis wird er die ersten Hypothesen wagen über das Umfeld, in dem diese Scherben einst noch zu einem Ganzen, zu einem Produktions-, Tausch-, Lebens- oder gar Bestattungsalltag gehörten. Und so, Schritt für Schritt, wird er - immer auf Überraschungen und Korrekturen gefasst – das Gemeinwesen gedanklich zu rekonstruieren versuchen, sein Werden, sein Eingebettetsein in größere soziale/natürliche Zusammenhänge, sein Vergehen.

Um die Ergebnisse zu benennen, um solche Gemeinwesen von anders verfassten abzugrenzen, müsste er Bezeichnungen erfinden, mit deren Hilfe es möglich wäre, die wesentlichen, typisierenden Merkmale herauszuheben, und er würde sich hüten, die einstigen Selbst- und Fremdbezeichnungen kritiklos zu übernehmen. Er würde damit natürlich den Grund zu erneuten Irrtümern und Verzerrungen legen, aber das nimmt er vorerst in Kauf, um nicht vorschnell Analogien herzustellen, wo diese zwar bequem sind, weil sie auf das schon Bekannte verweisen, am Ende aber doch auf einen Holzweg führen, dann nämlich, wenn sie den Blick für Spezifika und damit vielleicht das Wesen verstellen.

Wie nun, habe ich mir vorgestellt, könnte man sich (archäologisch) dem Gebilde nähern, dessen Werden und Vergehen man selbst erlebt, das man liebend, leidend, wütend begleitet hat? (Ja, ich weiß, „Missionare im Ruderboot“ können wir nicht sein.)

Ich hätte z.B. folgende Idee:
Mein Archäologe sagt, unsicher den Kopf wiegend, zum anderen: Ich glaube, diese „Scherbe“ (z. B. ein Roman) wäre in jene Epoche zu datieren, in der das entstand, was man vielleicht (ein Arbeitsbegriff) „Verheißungsgesellschaften“ nennen könnte. So nenne ich Gesellschaften, die zwar bestimmte Voraussetzungen hatten, sich auch nicht nur gedanklich ankündigten, sich dann aber fast ausschließlich im Gefolge gewaltiger gesellschaftlicher Krisen (Kriege etc.) bildeten, also beinahe zufällig, und zwar zuerst dort, wo die Krisenauswirkungen besonders hart bedrückten, kaum abgefangen werden konnten und das Volk, bewaffnet wie es gerade war, kurzerhand die „Gewehre umdrehte“ und später seinen (opferreichen militärischen) Siegeszug über das eigene Land hinaus dorthin ausdehnte, woher schon wieder Schlächter gekommen waren, und denen eins über den Schädel ... dies übrigens zunächst, aber nur vorübergehend im Bündnis mit jenen, die unter dem übelsten Schlächter auch gelitten hatten.

Solange es nur darum ging, die vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen an dem großen Massensterben zu bestrafen und zu entmachten und ihnen ihre Waffenschmieden und Kornkammern zu entreißen, konnten die Führer solcher Revolten bei vielen Menschen auf Zustimmung rechnen, zumal (und das wurde nun auch ganz schnell und mit allen Mitteln ins Bewusstsein gehoben) ja schon eine ganze Weile, vor allen in den ökonomisch entwickelteren Gesellschaften, die Idee herumgeisterte, man müsste eigentlich das ganze Zusammenleben auf völlig neue Grundlagen stellen. Die Ergiebigkeit der Arbeit sei inzwischen so gestiegen, dass die weiterhin ungleiche Verteilung ihrer Resultate nunmehr nicht nur ungerechtfertigt, sondern sogar ein Hemmschuh geworden sei, man sehe ja, was die Mächtigen mit den abgepressten Überschüssen anstellten – Kriege.

So weit. So gut, zumindest einleuchtend.

Es entstanden also (nicht zufällig gerade im ärmeren Teil der nördlichen Welt) die - wir nennen sie einfach mal so – „Verheißungsgesellschaften“. Solche wachsen nicht gleichsam naturwüchsig, durch Markt- und Wertrelationen spontan, durch organisierte Großgruppen und ihre politischen Instrumente beinahe bewusst reguliert, sondern sie organisieren sich mehr oder weniger schwerfällig wie ein Großunternehmen, das alle materiellen wie geistigen Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsprozesse im Inneren planvoll abgestimmt zu meistern versucht, um nach außen erfolgreich kooperieren bzw. in der Konkurrenz bestehen zu können. Und wie jedes Großunternehmen, kann auch dieses nur mit einer klar hierarchisch geordneten Verfügungsgewalt über Ressourcen, Kräfte, Mitbestimmungs-, Funktions- und Konsumtionsspielräume überleben. Das Besondere dieser Unternehmen bestand nun nicht darin, dass sie eine bisher unbekannte, auf jeden Fall unerprobte und in ihrer Komplexität kaum überschaubare Größenordnung annahmen, auch nicht darin, dass sie sich allerlei Unbilden bei ihrer Selbstbehauptung gegen anders verfasste Unternehmen gegenübersahen und darauf scharf und in der Folge misstrauisch reagierten, auch nach innen, gar nicht davon zu reden, dass sie weder materiell-technisch, noch organisatorisch, noch personell auf ihre schwere Fahrt in eine unbekannte Zukunft vorbereitet, sondern, wie schon gesagt, die schwer lädierten „Geschöpfe“ umfassender Krisen waren, die mitunter kaum mehr als Hoffnung, Enthusiasmus mitbrachten. Das eigentlich Besondere war die Tatsache, dass sich diese Unternehmen nur durch „Verheißung“ legitimierten, durch einen Entwurf gewissermaßen, durch ein „Versprechen“ an die „Belegschaft“. Sie nannten es „die Sache“. Etwa so: Wenn wir es gemeinsam so und so machen, dann geht alles viel besser: Und jetzt wurde aufgezählt, was alles viel besser geht und schon ist, und es wurde aufgezählt, was dann, wenn man noch viel Besseres erreichen wollte, aber auch zu beachten, zu akzeptieren, vielleicht auch vorerst zurückzustellen wäre. Jeder verantwortungsvolle Manager hätte angesichts solch unwägbarer, ja geradezu beschissner Rahmenbedingungen seine „Geschäftsidee“ verworfen, zurück gestellt oder, wenn die „Sache“ schon begonnen war, Konkurs angemeldet bzw. die mehr oder weniger „freundliche Übernahme“ zu möglichst günstigen Konditionen herbeigeführt. Manche taten das auch (Gorbi?), aber erst, als die Belegschaft ohnehin nicht mehr mitspielen wollte und als - wie immer zustande gekommene - Mehrheiten, die „Fleischtöpfe“ Ägyptens dem inzwischen abgewirtschafteten und knechtig gewordenen eignen Unternehmen vorzogen.

Manche gewannen dabei, viele verloren, die Relationen sind nicht das spannende, bemerkenswert ist: eine „Verheißungsgesellschaft“ wird ganz einfach anders bewertet und auch anders verworfen als eine „natürlich“ gewachsene: „Natürliche“ Gesellschaften können sich geschichtlich noch so blamiert haben, Berge von Leichen, himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Vernichtungsfeldzüge gegen unterlegene Völker, gegen die Lebensgrundlagen der Menschheit überhaupt, gegen Anstand, Würde gehäuft, es wird ihnen verziehen, weil sie „natürlich“ sind, weil ihre Verwerfungen, Krisen, Unmenschlichkeiten als Folge von „Sachzwängen“, Irrtümern, Lernprozessen, mehr oder weniger zufälligen Gaunereien einzelner (z.B. „Heuschrecken“, na eben Naturwesen) gelten usw., weil sie für sich ja auch gar nicht in Anspruch nehmen, ihre Existenz einem „Entwurf“ zu verdanken (wenn man von den „heroischen Illusionen“ der geistigen Wegbereiter bürgerlicher Revolutionen absieht), sondern sie sind gewachsen und haben sich weltweit behauptet mit dem Streben der Menschen nach Reichtum oder auch nur nach besseren Lebensbedingungen, koste es, was es wolle. Was man ihnen zugute halten und bestenfalls abverlangen kann, ist, dass sie Formen der Konfliktlösung entwickeln, mit deren Hilfe sie Katastrophen, wenn nicht verhindern, so doch mildern und vor allem die Verantwortung auf breitere Schulter verteilen können. So erscheinen diese Welten als die besten, weil möglichen. Sie gleichen zwar immer noch dem heidnischen Götzen, der den Nektar aus den Schädeln Erschlagener trinkt und dabei wächst und immer fetter wird. Trotzdem werden sie wie er angebetet.

Das Volk einer „Verheißungsgesellschaft“ aber kann man enttäuschen, und wenn es nun den Eindruck gewinnt, es hätte den falschen Herren gewählt, was heißt überhaupt „gewählt“, und es würde Zeit, den Herrn zu wechseln, weil es sich selbst – wie immer begründet - nicht als Herr seines Lebens begreift, erfährt, behauptet und vor allem verhält – dann bricht das Gefüge einer solchen Gesellschaft zusammen. Der Zeitpunkt des Zusammenbruchs kündigt sich an mit idiotischen Zugeständnissen der Manager oder mit Repression, meist mit beidem (Zuckerbrot und Peitsche also), er rückt näher mit Fluchtaktionen und Revolten, er vollendet sich, wenn die Repressionsgewalt versagt oder ihr Einsatz vermieden wird, indem schließlich alle Machtpositionen auch den Händen der Revoltierenden (!) entgleiten. Sie mögen, wenn das allmählich und friedlich geschieht, den Zusammenbruch als Sieg erleben und missdeuten, seinem Wesen nach, auf die „Verheißung“ bezogen, ist er natürlich eine Niederlage.

Wenn man von den Besonderheiten der DDR absieht, kann der „Wechsel des Herrn“ dann eben bedeuten, man vertraut lieber den Mechanismen der „natürlich“ gewachsenen Gesellschaften als den schlecht funktionierenden der eigenen, weil letztere mit ihren Defiziten zu allem Überfluss auch noch Akklamation fordern, und das nervt.

Die Archäologen fanden übrigens den Begriff der „natürlichen Gesellschaften“ (wenn er auch einen Widerspruch in sich darstellte) recht passend als „Arbeitshypothese“, weil er poetisch schillernd, vielfältig ausdeutbar war. Mit ihm konnte man Positives assoziieren: Wachstum, das vor allem, Lebendigkeit, Triebkraft, Unschuld, rhythmisches, (zyklisches) Werden und Vergehen, Spontaneität, wunderbare Erneuerungsfähigkeit. (Verheerende Brände, so hatte man beobachtet, lieferten kostbaren Dünger den erschöpften Böden und „bereinigten“ Lebensraum für neues frisches Leben).

Man konnte sich aber auch erinnert fühlen an: Blindheit, unergründliche Vernichtungswellen, absolute Gleichgültigkeit gegen mühsam Erworbenes, an ein sinn- und verantwortungsloses einfaches Da-Sein, das selbst für sein eigenes Nichtmehr-Sein keinerlei sentimentale Gefühle zu hegen schien.

Wie gesagt, ein ungenauer, aber doch sprechender Begriff, wie das beim „mythischen“ Sprechen nicht anders sein kann, bei blumig tastender geistiger Annäherung an die exakte begriffliche (Er-) Fassung von Welt.

Zurück zum „Fund“ des Archäologen, einem Roman, z.B. „Franziska Linkerhand“ oder so.

Nachdem er sich mühsam ein Bild gemacht hätte vom Typ der Gesellschaft, in die er den Fund hypothetisch einordnen würde, könnte ihm nun aber tatsächlich manches verständlicher werden.

Aha, würde er denken, die Autorin teilt den Emanzipationsanspruch dieser Gesellschaft, und sie misst an ihm. Zum Vergleich herangezogene andere „Scherben“ dieser Art könnten seine Vermutung (Befürchtung ) bestätigen: Diese Autoren lebten und schrieben in einem Gemeinwesen, das sich nicht an tatsächlichen Reifegraden von Produktivität, an möglichen Emanzipationsschritten, an wirklichen Bedürfnissen, sondern an Idealen orientierte, und sie fragten doch tatsächlich, was ja bei einiger Realitätsnähe schon naiv genug wäre, in welchem Maße das Ideal schon verwirklicht sei, und der Adressat ihrer Fragen schien ganz merkwürdig diffus. Dass sie in solchen Gesellschaften und als „Idealverwalter“ genauso gut auch hätten sich selbst fragen können, schien ihnen wohl wiederum eher lebensfremd und demagogisch, womit sie ja auch nicht ganz falsch lagen. Also irgendwer musste für die Einlösung von Versprechen zuständig sein. Wer nur? Na ja, wie Kinder eben so denken und fragen in einer richtigen Familie.

Und nun könnte der Archäologe folgende Hypothese formulieren, verkürzt, zugespitzt, eben metaphorisch: Die Hauptsünde aller „Verheißungsgesellschaften“ scheint wohl die Ungeduld gewesen zu sein „Ich stelle mir vor“, sagt er zu seinem Kollegen, „das Ziel war gewaltig, umstritten und weit entfernt, der Weg beschwerlich, und die Menschen - wie auch heute noch - sterblich, also wurde gnadenlos zur Selbstverleugnung angehalten, gelogen, dass sich die Balken bogen, und zwar auf allen Ebenen, gemault wie im Kindergarten, d.h. die Kinder maulten, die Erzieher maulten, und gestraft wurde auch wie im Kindergarten, na ja manchmal noch ein bisschen schärfer, ganz schön schärfer sogar. Die Zaungäste (natürlich war der Kindergarten eingezäunt, im Interesse der Kinder, versteht sich), die Zaungäste also quittierten dieses Getöse (wie im alten Rom oder beim Stierkampf) mit anfeuernden Zurufen, mal an die Erzieher, mal an die Kinder gerichtet, manche begleiteten auch alles mit einem traurigen Kopfschütteln, und obwohl einige von ihnen einst auch mit solchen Modellen, nicht nur geistig gespielt hatten (z.B. in Spanien, Chile, Portugal), beeilten sie sich, einander und der Welt zu verkünden, dass dieser Kindergarten natürlich vom Standpunkt der „Verheißung“ eine Affenschande sei und die tolle Verheißungsidee in Misskredit bringe. Viele Kinder diesseits der Zäune, wenn sie davon hörten, fanden das auch, aber sie waren auch der Meinung, dass die Schlauberger da draußen doch bisher nicht einmal so etwas zustande gebracht hätten, also sie sollten doch lieber schweigen und sich mit Ihren eigenen Herren auseinandersetzen, und sei es nur, damit die den Eingezäunten nicht immer wieder in die Suppe spuckten und sie dann noch verhöhnten, wenn die Suppe immer weniger genießbar war.“

Der Archäologiekollege merkt nun an, für diese Eigenart gäbe es doch schon den Begriff der „Erziehungsdiktatur“, worauf jener, der vorschlug diese Gebilde „Verheißungsgesellschaften“ zu nennen, meinte, „Erziehungsdiktatur“ fasse zwar eine wesentliche Seite, nämlich die harschen Umgangsformen zwischen selbsternannten, nicht immer sehr erzogenen und kaum wissensschweren Erziehern und murrenden, mitunter sehr renitenten Zöglingen, aber er sei dennoch zu eng wie alle Begriffe, die nur das Verhältnis von Führenden und Geführten mehr oder weniger genau beschrieben – wie: diktatorisch, totalitär, autoritär, paternalistisch etc. Wenn man diese Gesellschaften jedoch als komplexe Großunternehmen auffasste, selbstverständlich planmäßig nach innen organisiert, wie jeder ordentlich geführte Betrieb, und so etwas wollten sie im großen Maßstab auf jeden Fall auch sein, so eigneten sich jene Begriffe bestenfalls, um den Führungsstil, nicht aber den Charakter der Unternehmen zu verstehen, denn das Ziel des Wirtschaften wie auch seine ökonomische Basis, ihre treibenden (oder hintertreibenden) Kräfte hatten schon ihre Besonderheiten, waren geschichtlich von neuer Art und mit Begriffen, die für Herrschaftsformen gefunden worden waren, eigentlich nicht hinreichend abzubilden.

Im Übrigen: Müsste man nicht vielleicht die Frage aufwerfen, ob ein mehr oder weniger demokratisch und dabei(?) effizient geführtes Großunternehmen, zugleich gewissermaßen sich selbst eingestehen und der Welt verkünden dürfte, es sei eigentlich so etwas wie ein riesiges Forschungslabor, indirekt (aber eben nur indirekt) beauftragt von den Mühseligen und Beladenen in aller Welt, zu erproben, wie man Mühsal und Beladung von den Menschen durch diese selbst nehmen und dabei zugleich noch tausendmal besser als jedes effiziente Großunternehmen alten Typs funktionieren könnte?

Dass sie besser wären, nicht nur ganz anders, haben sie – die Leiter des Unternehmens – zwar immer verkündet, umso lauter, je weniger glaubwürdig, auch um die allmählich ermüdeten und ohnehin skeptischen Mitarbeiter und Zaungäste bei Laune zu halten, aber sie haben nach den bisherigen „Befunden“ (sagt der Archäologe) nie etwas von ihrer eigenen Unsicherheit und Unerfahrenheit erzählt und davon, dass alles nur ein Großversuch sei, dem „mildernde Umstände“, Irrtümer zugebilligt werden müssten, dass alle Beteiligten mit Havarien, unvorhersehbaren Störungen durch bisher nicht berücksichtigte Randbedingungen zu rechnen hätten, dass ihnen vielleicht manches Opfer zugemutet würde, und wenn sie es überlebten, vielleicht erst ihre Nachkommen sich besser fühlten. Sie haben sich auch nicht in der Tradition jener gesehen (obwohl sie es waren) die – wie Owen und Fourier – mit ähnlichen Experimenten gescheitert sind. Dabei hätten sie aus diesem Scheitern, vor allem daraus, viel lernen können über die inneren und äußeren Voraussetzungen eines wenigstens kurzen Erfolgs. Sie hielten ihr Wirken nicht für das, was es war, nämlich den, wenn auch halbherzigen Versuch, eine Utopie, eine Sehnsucht, eben eine grandiose „Verheißung“ dem Urteil (oder Strafgericht oder Beifall oder wenigsten einer Duldung) der Weltgeschichte, der Praxis zu überantworten. Die Tragik liegt darin: Selbst wenn sie es gewusst und offen gelegt hätten und zwar von Anfang an: die einen hätten hämisch gelacht im Bewusstsein ihrer Überlegenheit, und die anderen hätten verweigert, und es wäre gar nicht zu dem Großversuch gekommen, wahrscheinlich jedenfalls, man wird es nie beweisen können.

In diesem, äußerste Skepsis ausdrückenden Sinne, hatte einer ihrer Führer gesagt: Siegen muss man, dann hat man Recht (nicht Machiavelli, sondern Lenin). Er baute nicht auf den Heroismus und die Selbstverleugnung der Akteure und schon gar nicht auf die Einsicht und das freiwillige Zurücktreten von der Macht bei den Ausbeutern, sondern auf die Überzeugungskraft, und heute würde man sagen, auf die „Nachhaltigkeit“ des Sieges. Und ihm war wie seinen geistigen Vätern bewusst, dass der Sieg nicht nur ein militärischer, nicht einmal nur ein ökonomischer mit allen seinen Konsequenzen für Akkumulationskraft, Naturschutz, und ein „gutes Leben für alle“ sein musste, sondern vor allem ein kultureller in dem Sinne, dass die gewaltigen Produktivkräfte und die Gesamtverantwortung für ihre Nutzung „unter alle“ (d.h. unter jeden einzelnen in Gemeinschaft mit allen, und das ist nicht nur eine Abstraktion von „alle“) subsumiert werden mussten.

Gelang das nicht und die Bedingungen dafür, dass es gelingen konnte, waren denkbar ungünstig, so war es nur eine Frage der Zeit, dass die Mühseligen und Beladenen ihren angestammten Herren die abgerungene „Verfügungsgewalt“ über einen Teil der ökonomischen Macht wieder zu Füßen legten und versicherten, sie hätten es - wie Goethes Zauberlehrling - schon bereut und ja auch erwiesenermaßen nicht vermocht, nun aber wollten sie ganz brav sein und nicht mehr mit des alten Meisters Utensilien herumspielen, und sie würden versprechen, die bewährten Spielregeln nunmehr hoch zu halten, denn nur das sei doch der Schlüssel zum Erfolg.

Und in der Tat hieß es dann in den Erfolgsberichten aus der Zeit, als „ alles vorbei war“: „Und sie hingen an den Lippen der selbst ernannten Jünger des alten Meisters, lauschten andächtig und bewegten jedes der Worte in ihrem beschämten Herzen, und sie prägten sich die noch ungewohnten Worte ein und wussten endlich, wer sie selbst waren, sein sollten und nie mehr, wirklich nie mehr sein wollen sollten, sollten, sollten … amen.“

Übrigens, die Sachwalter der Ideale waren auch sehr kleinlaut geworden. Man hatte ihnen rechtzeitig gesagt, nun würde es sich zeigen, wer sich auf dem Markt (der Sensationen) Gehör verschaffen könnte. Jetzt würde sich die „Spreu vom Weizen“ trennen. Es zeigte und trennte sich. Einer von ihnen, ein besonders renitenter Barde, den die genervten Erzieher schon lange vorher des Kindergartens und an die Zaungäste verwiesen hatten, dieser nun erlebte und gestaltete noch einmal (s)eine große Stunde, als die der Heimholung gefeiert wurde und er als nunmehr „Wissender“ auch mahnende Worte an die noch Freiheitstrunkenen richtete. Es gab die Legende, er habe kurz nach seiner vorzeitigen „Heimreise“ gesungen: „Bin gekommen vom Regen in die Jauche!“ Na ja, Legenden eben. Aber da sieht man wieder einmal: Man kann es den „Idealverwaltern“ eben nie Recht machen.....

Dieses Bild jedenfalls haben die Archäologen aus den verstreuten Zeugnissen vom Ende jener Verheißungsgesellschaften rekonstruieren können, wobei sie nicht ausschließen wollten, dass solche Überlieferung – wie sie es auch von anderen Epochen kannten - nicht alles war, was hätte Zeugnis ablegen können, und dass manche dieser Gedanken eben die dann später wieder herrschenden, also die Gedanken der Herrschenden, also die Gedanken einer Herrschaft waren, demnach nicht alle gedachten Gedanken, denn wo Herrschaft, da gab es immer auch Knechte, und die dachten nicht nur die herrschenden, sondern auch ihre eigenen Gedanken, aber die waren ja nur spärlich überliefert, weil keiner sie für würdig hielt, gespeichert zu werden und auch weil die Knechte sich selbst dieser Gedanken schämten, denn es waren ja eben die Gedanken der Knechtschaft und zwar der „frei gewählten“. Und nun gab es auch keinen Adressaten mehr für ihr Maulen, denn bis auf den ersten Verführer, den mit den „blühenden Landschaften“, genau den, hat keiner mehr etwas versprochen. Wozu auch? Sie waren doch alle wieder zu Hause, d. h. bei ihren Herren und als Knechte.

Gute Archäologen verabscheuen das Spekulieren, das schließt aber nicht aus, dass sie nach getaner Arbeit noch zusammensitzen und ein wenig plaudern, dass sie wie die alten Briests nach Effis Tod ihren ganz persönlichen und für die Wissenschaft unmaßgeblichen Gedanken nachhängen, noch einmal das kurze Leben der Verblichenen Revue passieren lassen, um schließlich - wie der alte Briest - resignierend den Spruch vom „zu weiten Feld“ ins nächste Jahrtausend zu hauchen.

„Tja“, sagt vielleicht der eine Archäologe, irgendwie angerührt, „ das waren schon merkwürdige Leute. Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen, dass so etwas ‚Unprofessionelles’ überhaupt mehr als einen Winter überstehen konnte!“

Nun aber erinnert ihn sein Kollege daran, dass es damals, wie die Geologen herausfanden, zwar manchen harten Winter gab, aber die Nordhälfte der Erde immerhin noch – jedenfalls drei Viertel des Jahres – weitgehend eisfrei war, ja sogar grünte.

„Tja“, sagt da der erste Archäologie wieder, „das kann man sich nun schon erst recht nicht vorstellen“!

In diesem Sinne, genießen wir wenigsten noch ein Weilchen den keimenden Frühling und Sommer der Nordhälfte!