Text | Kulturation 1/2006 | Renate Schuster | Die Wende - ein „Mythensturz“?
... immer noch fragen, was die DDR eigentlich war?
| Lieber Freund,
Du weißt, ich beherrsche nicht die „Kunst der vorgestellten
Unterredung“, die jedem wärmstens zu empfehlen ist, der sich zu Wort
meldet in einer strittigen Sache.
Ich brauche die lebendige Vorstellung eines, wenigstens eines
Gesprächspartners, von dem ich weiß, dass meine Anmerkungen einen
Gegenstand berühren, der auch ihm nicht gleichgültig ist.
Du hast mir das Wort „Mythensturz“ in unernster, wenn auch
freundlicher Absicht geschenkt. Der Bezug zur
„DDR-Geschichtsschreibung“ als „Spurensicherung“ drängte sich mir auf,
und da die eigene Biographie selbst „Spur“, wie winzig auch immer, in
jenem Lebenszusammenhang war, da andererseits inzwischen so viele
Berufene und Unberufene ihre Urteile - ja, auch über mich - gesprochen
haben, wollte ich nun doch auch einmal mein unmaßgebliches Stimmchen im
Deutungschor erklingen lassen, ganz ohne die Erwartung, damit
irgendeinen Wohl- oder Missklang zu bedienen, nur sagen dürfen: So kam
ich unter die Deutschen, mein Bellarmin!
Die Schwierigkeit zu benennen, was „Wir“ waren (die Ossis, bevor
sie Ossis wurden), die Mühen, in einer auch für den Rest der Welt
verständlichen Sprache aufzuarbeiten diese „40 Jahre Zusammenleben“,
die Versuchung auch, die nunmehr geltenden Regeln dessen, was man
„gesellschaftlichen Diskurs“ nennt, entweder zu ignorieren oder ganz
streng zu beachten, wie unangemessen das Vokabular für die bezeichneten
Gegenstände auch immer sein mag, all dies könnte solch irritierten
Gemütern wie mir natürlich das Bedürfnis nahe legen, sich dem
„Unaussprechlichen“ nur noch metaphorisch, also mehrdeutig, poetisch
verhüllt, auf jeden Fall selbstironisch zu nähern.
Herr Altvater sagt es in seinem neuesten Buch: „Das Ende des
Kapitalismus wie wir ihn kennen“ ganz klar (und nicht nur deshalb
verehre ich ihn): “Begriffe verleihen Definitionsgewalt über reale
Entwicklungen, da sie die Diskurse strukturieren“ (ich würde hinzufügen
wollen: „ Diskurse verhindern, wenn es denn angeraten scheint“). Wer
also z. B. verkündet, der Kommunismus sei gescheitert, der unterstellt,
dass es irgendwo auf der Welt realiter Kommunismus gab, was jeder
einigermaßen aufgeklärte Kommunist sofort verneinen würde. Vor allem
aber drückt der erleichterte Verkünder aus, dass das, was gescheitert
ist (ob realiter oder nur als Idee) ja auch wirklich das Letzte sei,
was man der Menschheit zumuten sollte. Und schon haben wir wieder ein
„ordentliche Gespenst“ (nicht nur in Europa) und lassen es umgehen.
Dass ein Papst für seine unschätzbaren Verdienste beim Verscheuchen des
Gespenstes möglicherweise heilig gesprochen wird, grenzt für mich nicht
an Wunder. Dass aber manch einer, der sich bisher stolz Kommunist
nannte, nun doch lieber „nur“ Sozialist, Demokrat, Humanist oder gar
nicht „dabei“ gewesen sein will, das „bewundere“ ich als eben
„nachhaltige“ Wirkung „ausgeübter Definitionsgewalt“.
Wie gesagt, Altvater darf das Wort von der „Diskurse
strukturierenden Definitionsgewalt“ sagen, und ich bin froh, dass er es
sagt, wir dürfen es nicht, noch nicht. Wir müssen uns tarnen, wir
müssen den Eindruck erwecken, als suchten wir den geistigen „Anschluss“
an das vermeintliche oder unterstellte wissenschaftliche Niveau, die
Begrifflichkeit und Wertungshorizonte einschlägig forschender
Westdenker oder endlich geläuterter Ostdenker. Uns wird nahe gelegt zu
sagen, ohne rot zu werden (bloß nicht rot), das waren vielleicht „nur“
40 Jahre einer speziellen Variante „nachholender Modernisierung“, wobei
schon das Wort „Modernisierung“, weil eindeutig positiv besetzt (außer
vielleicht bei „Körnerfressern“), und dann natürlich erst recht das
Wort „nachholend“ anklingen lassen, was als „normal“ und wünschenswert
zu gelten hat. Und solche Wertung enthält für mich auch unterschwellig
die Botschaft: Machen wir uns nichts vor! Im Grunde hatten sich doch
die Ostherden auf denselben Weg wie die des Westens in ungeahnte
Weidegründe gemacht, und sie sind nur deshalb zurückblieben, weil sie
sich allerlei Umwege gönnten und die falschen Hirten an ihrer Spitze
duldeten.
Ich sehe das inzwischen so:
Natürlich war „es“ auch ein Versuch „nachholender Modernisierung“,
ganz besonders da, wo die Minimalvoraussetzungen einer sozialistischen
Gesellschaft noch gar nicht ausgebildet und/oder infolge von Kriegen
demoliert waren, weshalb ja auch seinerzeit Erwartungen einer
„Systemkonvergenz“, eines Wettstreits gar um die besten „Antworten“ auf
wissenschaftlich-technische, ökologische, soziale, kulturelle
Herausforderungen der „Moderne“ in jenen (auch Politik beratenden)
sozialwissenschaftlichen Analysen zu finden waren, die mit einer
längeren Phase des Nebeneinanderbestehens „unterschiedlich verfasster“
(aber offensichtlich vergleichbarer) Gesellschaften rechneten und
vielleicht auf einen friedlichen „Wandel durch Annäherung“ hofften,
wobei der „Wandel“ dann natürlich vor allem den Rivalen heimsuchen
sollte. Angesichts der idiotischen Rüstungsspirale wäre eine solche
„Mission“ nicht die ehrenrührigste für ein „sozialistisches Experiment“
gewesen, zumal sich ja jetzt zeigt: für Rüstungsgewinne findet sich
immer eine “Bedrohung“. Kurzum: „Modernisierung – ja“, “nachholend“ (wo nötig) - ja, aber war „es“ nur das und dann noch nicht einmal ordentlich?
Unmittelbar vor der Wende warf ich einen interessierten Blick auf
die Resultate bundesdeutscher DDR-Forschung verschiedener Färbung und
möchte nun behaupten: Auch die westlichen Sozialwissenschaftler hatten
mit ihren Methoden und Denkmodellen wenig zur realistischen Überlebens-
oder Untergehensprognose der DDR beizutragen vermocht. Will man nun
nicht unterstellen, Gorbi hätte alles vermasselt, glaube ich ganz
ketzerisch: Wenn sogar jene Forscher überrascht wurden von dem, was da
unterging, sich selbst verwarf etc., dass vielleicht überhaupt die
theoretischen Instrumente zum Begreifen der Ostgesellschaften erst noch
erfunden werden müssen, um die „eigentümliche Logik des eigentümlichen
Gegenstandes“ erfassen zu können. Und das scheint mir keine Frage der
unzureichender Datenbereitstellung, wie man den DDR-Forschern ja noch
hätte zugute halten können, sondern vielleicht eine Frage tragfähiger
und eben ganz spezifischer Analyse- und Deutungsinstrumente, wie sie
selbst Marx nicht entwickeln konnte, weil er mit diesen, seiner
Prognose widersprechenden Kuriosa von Gesellschaftstypen, wohl gar
nicht gerechnet hat.
Ein wenig pathetisch formuliert:
Dass ein Land gezwungen sein würde, gleichzeitig die „ursprüngliche
Akkumulation des Kapitals“ wie seinerzeit in England auf Kosten der
Landwirtschaft und die Ansätze sozialistischer Planwirtschaft
(„Sowjetmacht plus Elektrifizierung“) unter bürgerkriegsähnlichen
Bedingungen in Angriff zu nehmen, dass dieses Land keine 30 Jahre
später eine ganze Industrie ins Hinterland verlagern bzw. unter
Kriegsbedingungen aus dem Boden stampfen musste und in der Folge einen
Großteil seiner Akkumulationskraft und Technologiefortschritte auf
einen „kalten Krieg“ konzentrieren würde, der ihm zwar nach außen
(Gleichgewicht des Schreckens, Weltraumerfolge), aber immer weniger
nach innen Prestigegewinne brachte, das alles wäre Marx ( auch ohne die
Verbrechen eines überforderten Diktators) sicher sehr abenteuerlich
vorgekommen, aber es ist geschehen.....
Ich habe für mich in all meiner Verwirrung nun beschlossen:
Solange ein brauchbares wissenschaftliches Instrumentarium nicht
zur Verfügung steht, scheint mir eine bekennend gleichnishafte,
suchende Sprache die angemessenste, weit entfernt von
wissenschaftlicher „Durchdringung“, für mein Selbst- und
Weltverständnis aber brauchbar. Ich darf das in all meiner
Narrenfreiheit.
Und so spiele ich denn mit allerlei Förmchen und fiktiven Akteuren in der Buddelkiste meiner Wach- und Albträume:
Ich nehme den Standpunkt eines Archäologen ein, der „Befunde“
datieren und interpretieren will. Er wird zuerst ganz trocken und
leidenschaftslos (weil nicht anders als forschend verwickelt) die
„Scherben“ beschreiben und irgendwann den Vergleich mit anderen
Scherben, schon datierten und eindeutig zugeordneten herstellen. Mit
Vorsicht und Skepsis wird er die ersten Hypothesen wagen über das
Umfeld, in dem diese Scherben einst noch zu einem Ganzen, zu einem
Produktions-, Tausch-, Lebens- oder gar Bestattungsalltag gehörten. Und
so, Schritt für Schritt, wird er - immer auf Überraschungen und
Korrekturen gefasst – das Gemeinwesen gedanklich zu rekonstruieren
versuchen, sein Werden, sein Eingebettetsein in größere
soziale/natürliche Zusammenhänge, sein Vergehen.
Um die Ergebnisse zu benennen, um solche Gemeinwesen von anders
verfassten abzugrenzen, müsste er Bezeichnungen erfinden, mit deren
Hilfe es möglich wäre, die wesentlichen, typisierenden Merkmale
herauszuheben, und er würde sich hüten, die einstigen Selbst- und
Fremdbezeichnungen kritiklos zu übernehmen. Er würde damit natürlich
den Grund zu erneuten Irrtümern und Verzerrungen legen, aber das nimmt
er vorerst in Kauf, um nicht vorschnell Analogien herzustellen, wo
diese zwar bequem sind, weil sie auf das schon Bekannte verweisen, am
Ende aber doch auf einen Holzweg führen, dann nämlich, wenn sie den
Blick für Spezifika und damit vielleicht das Wesen verstellen.
Wie nun, habe ich mir vorgestellt, könnte man sich (archäologisch)
dem Gebilde nähern, dessen Werden und Vergehen man selbst erlebt, das
man liebend, leidend, wütend begleitet hat? (Ja, ich weiß, „Missionare
im Ruderboot“ können wir nicht sein.)
Ich hätte z.B. folgende Idee:
Mein Archäologe sagt, unsicher den Kopf wiegend, zum anderen: Ich
glaube, diese „Scherbe“ (z. B. ein Roman) wäre in jene Epoche zu
datieren, in der das entstand, was man vielleicht (ein Arbeitsbegriff)
„Verheißungsgesellschaften“ nennen könnte. So nenne ich Gesellschaften,
die zwar bestimmte Voraussetzungen hatten, sich auch nicht nur
gedanklich ankündigten, sich dann aber fast ausschließlich im Gefolge
gewaltiger gesellschaftlicher Krisen (Kriege etc.) bildeten, also
beinahe zufällig, und zwar zuerst dort, wo die Krisenauswirkungen
besonders hart bedrückten, kaum abgefangen werden konnten und das Volk,
bewaffnet wie es gerade war, kurzerhand die „Gewehre umdrehte“ und
später seinen (opferreichen militärischen) Siegeszug über das eigene
Land hinaus dorthin ausdehnte, woher schon wieder Schlächter gekommen
waren, und denen eins über den Schädel ... dies übrigens zunächst, aber
nur vorübergehend im Bündnis mit jenen, die unter dem übelsten
Schlächter auch gelitten hatten.
Solange es nur darum ging, die vermeintlich oder tatsächlich
Schuldigen an dem großen Massensterben zu bestrafen und zu entmachten
und ihnen ihre Waffenschmieden und Kornkammern zu entreißen, konnten
die Führer solcher Revolten bei vielen Menschen auf Zustimmung rechnen,
zumal (und das wurde nun auch ganz schnell und mit allen Mitteln ins
Bewusstsein gehoben) ja schon eine ganze Weile, vor allen in den
ökonomisch entwickelteren Gesellschaften, die Idee herumgeisterte, man
müsste eigentlich das ganze Zusammenleben auf völlig neue Grundlagen
stellen. Die Ergiebigkeit der Arbeit sei inzwischen so gestiegen, dass
die weiterhin ungleiche Verteilung ihrer Resultate nunmehr nicht nur
ungerechtfertigt, sondern sogar ein Hemmschuh geworden sei, man sehe
ja, was die Mächtigen mit den abgepressten Überschüssen anstellten –
Kriege.
So weit. So gut, zumindest einleuchtend.
Es entstanden also (nicht zufällig gerade im ärmeren Teil der
nördlichen Welt) die - wir nennen sie einfach mal so –
„Verheißungsgesellschaften“. Solche wachsen nicht gleichsam
naturwüchsig, durch Markt- und Wertrelationen spontan, durch
organisierte Großgruppen und ihre politischen Instrumente beinahe
bewusst reguliert, sondern sie organisieren sich mehr oder weniger
schwerfällig wie ein Großunternehmen, das alle materiellen wie
geistigen Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsprozesse im
Inneren planvoll abgestimmt zu meistern versucht, um nach außen
erfolgreich kooperieren bzw. in der Konkurrenz bestehen zu können. Und
wie jedes Großunternehmen, kann auch dieses nur mit einer klar
hierarchisch geordneten Verfügungsgewalt über Ressourcen, Kräfte,
Mitbestimmungs-, Funktions- und Konsumtionsspielräume überleben. Das
Besondere dieser Unternehmen bestand nun nicht darin, dass sie eine
bisher unbekannte, auf jeden Fall unerprobte und in ihrer Komplexität
kaum überschaubare Größenordnung annahmen, auch nicht darin, dass sie
sich allerlei Unbilden bei ihrer Selbstbehauptung gegen anders
verfasste Unternehmen gegenübersahen und darauf scharf und in der Folge
misstrauisch reagierten, auch nach innen, gar nicht davon zu reden,
dass sie weder materiell-technisch, noch organisatorisch, noch
personell auf ihre schwere Fahrt in eine unbekannte Zukunft
vorbereitet, sondern, wie schon gesagt, die schwer lädierten
„Geschöpfe“ umfassender Krisen waren, die mitunter kaum mehr als
Hoffnung, Enthusiasmus mitbrachten. Das eigentlich Besondere war die
Tatsache, dass sich diese Unternehmen nur durch „Verheißung“
legitimierten, durch einen Entwurf gewissermaßen, durch ein
„Versprechen“ an die „Belegschaft“. Sie nannten es „die Sache“. Etwa
so: Wenn wir es gemeinsam so und so machen, dann geht alles viel
besser: Und jetzt wurde aufgezählt, was alles viel besser geht und
schon ist, und es wurde aufgezählt, was dann, wenn man noch viel
Besseres erreichen wollte, aber auch zu beachten, zu akzeptieren,
vielleicht auch vorerst zurückzustellen wäre. Jeder verantwortungsvolle
Manager hätte angesichts solch unwägbarer, ja geradezu beschissner
Rahmenbedingungen seine „Geschäftsidee“ verworfen, zurück gestellt
oder, wenn die „Sache“ schon begonnen war, Konkurs angemeldet bzw. die
mehr oder weniger „freundliche Übernahme“ zu möglichst günstigen
Konditionen herbeigeführt. Manche taten das auch (Gorbi?), aber erst,
als die Belegschaft ohnehin nicht mehr mitspielen wollte und als - wie
immer zustande gekommene - Mehrheiten, die „Fleischtöpfe“ Ägyptens dem
inzwischen abgewirtschafteten und knechtig gewordenen eignen
Unternehmen vorzogen.
Manche gewannen dabei, viele verloren, die Relationen sind nicht
das spannende, bemerkenswert ist: eine „Verheißungsgesellschaft“ wird
ganz einfach anders bewertet und auch anders verworfen als eine
„natürlich“ gewachsene: „Natürliche“ Gesellschaften können sich
geschichtlich noch so blamiert haben, Berge von Leichen,
himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Vernichtungsfeldzüge gegen
unterlegene Völker, gegen die Lebensgrundlagen der Menschheit
überhaupt, gegen Anstand, Würde gehäuft, es wird ihnen verziehen, weil
sie „natürlich“ sind, weil ihre Verwerfungen, Krisen,
Unmenschlichkeiten als Folge von „Sachzwängen“, Irrtümern,
Lernprozessen, mehr oder weniger zufälligen Gaunereien einzelner (z.B.
„Heuschrecken“, na eben Naturwesen) gelten usw., weil sie für sich ja
auch gar nicht in Anspruch nehmen, ihre Existenz einem „Entwurf“ zu
verdanken (wenn man von den „heroischen Illusionen“ der geistigen
Wegbereiter bürgerlicher Revolutionen absieht), sondern sie sind
gewachsen und haben sich weltweit behauptet mit dem Streben der
Menschen nach Reichtum oder auch nur nach besseren Lebensbedingungen,
koste es, was es wolle. Was man ihnen zugute halten und bestenfalls
abverlangen kann, ist, dass sie Formen der Konfliktlösung entwickeln,
mit deren Hilfe sie Katastrophen, wenn nicht verhindern, so doch
mildern und vor allem die Verantwortung auf breitere Schulter verteilen
können. So erscheinen diese Welten als die besten, weil möglichen. Sie
gleichen zwar immer noch dem heidnischen Götzen, der den Nektar aus den
Schädeln Erschlagener trinkt und dabei wächst und immer fetter wird.
Trotzdem werden sie wie er angebetet.
Das Volk einer „Verheißungsgesellschaft“ aber kann man enttäuschen,
und wenn es nun den Eindruck gewinnt, es hätte den falschen Herren
gewählt, was heißt überhaupt „gewählt“, und es würde Zeit, den Herrn zu
wechseln, weil es sich selbst – wie immer begründet - nicht als Herr
seines Lebens begreift, erfährt, behauptet und vor allem verhält – dann
bricht das Gefüge einer solchen Gesellschaft zusammen. Der Zeitpunkt
des Zusammenbruchs kündigt sich an mit idiotischen Zugeständnissen der
Manager oder mit Repression, meist mit beidem (Zuckerbrot und Peitsche
also), er rückt näher mit Fluchtaktionen und Revolten, er vollendet
sich, wenn die Repressionsgewalt versagt oder ihr Einsatz vermieden
wird, indem schließlich alle Machtpositionen auch den Händen der
Revoltierenden (!) entgleiten. Sie mögen, wenn das allmählich und
friedlich geschieht, den Zusammenbruch als Sieg erleben und missdeuten,
seinem Wesen nach, auf die „Verheißung“ bezogen, ist er natürlich eine
Niederlage.
Wenn man von den Besonderheiten der DDR absieht, kann der „Wechsel
des Herrn“ dann eben bedeuten, man vertraut lieber den Mechanismen der
„natürlich“ gewachsenen Gesellschaften als den schlecht
funktionierenden der eigenen, weil letztere mit ihren Defiziten zu
allem Überfluss auch noch Akklamation fordern, und das nervt.
Die Archäologen fanden übrigens den Begriff der „natürlichen
Gesellschaften“ (wenn er auch einen Widerspruch in sich darstellte)
recht passend als „Arbeitshypothese“, weil er poetisch schillernd,
vielfältig ausdeutbar war. Mit ihm konnte man Positives assoziieren:
Wachstum, das vor allem, Lebendigkeit, Triebkraft, Unschuld,
rhythmisches, (zyklisches) Werden und Vergehen, Spontaneität,
wunderbare Erneuerungsfähigkeit. (Verheerende Brände, so hatte man
beobachtet, lieferten kostbaren Dünger den erschöpften Böden und
„bereinigten“ Lebensraum für neues frisches Leben).
Man konnte sich aber auch erinnert fühlen an: Blindheit,
unergründliche Vernichtungswellen, absolute Gleichgültigkeit gegen
mühsam Erworbenes, an ein sinn- und verantwortungsloses einfaches
Da-Sein, das selbst für sein eigenes Nichtmehr-Sein keinerlei
sentimentale Gefühle zu hegen schien.
Wie gesagt, ein ungenauer, aber doch sprechender Begriff, wie das
beim „mythischen“ Sprechen nicht anders sein kann, bei blumig tastender
geistiger Annäherung an die exakte begriffliche (Er-) Fassung von Welt.
Zurück zum „Fund“ des Archäologen, einem Roman, z.B. „Franziska Linkerhand“ oder so.
Nachdem er sich mühsam ein Bild gemacht hätte vom Typ der
Gesellschaft, in die er den Fund hypothetisch einordnen würde, könnte
ihm nun aber tatsächlich manches verständlicher werden.
Aha, würde er denken, die Autorin teilt den Emanzipationsanspruch
dieser Gesellschaft, und sie misst an ihm. Zum Vergleich herangezogene
andere „Scherben“ dieser Art könnten seine Vermutung (Befürchtung )
bestätigen: Diese Autoren lebten und schrieben in einem Gemeinwesen,
das sich nicht an tatsächlichen Reifegraden von Produktivität, an
möglichen Emanzipationsschritten, an wirklichen Bedürfnissen, sondern
an Idealen orientierte, und sie fragten doch tatsächlich, was ja bei
einiger Realitätsnähe schon naiv genug wäre, in welchem Maße das Ideal
schon verwirklicht sei, und der Adressat ihrer Fragen schien ganz
merkwürdig diffus. Dass sie in solchen Gesellschaften und als
„Idealverwalter“ genauso gut auch hätten sich selbst fragen können,
schien ihnen wohl wiederum eher lebensfremd und demagogisch, womit sie
ja auch nicht ganz falsch lagen. Also irgendwer musste für die
Einlösung von Versprechen zuständig sein. Wer nur? Na ja, wie Kinder
eben so denken und fragen in einer richtigen Familie.
Und nun könnte der Archäologe folgende Hypothese formulieren,
verkürzt, zugespitzt, eben metaphorisch: Die Hauptsünde aller
„Verheißungsgesellschaften“ scheint wohl die Ungeduld gewesen zu sein
„Ich stelle mir vor“, sagt er zu seinem Kollegen, „das Ziel war
gewaltig, umstritten und weit entfernt, der Weg beschwerlich, und die
Menschen - wie auch heute noch - sterblich, also wurde gnadenlos zur
Selbstverleugnung angehalten, gelogen, dass sich die Balken bogen, und
zwar auf allen Ebenen, gemault wie im Kindergarten, d.h. die Kinder
maulten, die Erzieher maulten, und gestraft wurde auch wie im
Kindergarten, na ja manchmal noch ein bisschen schärfer, ganz schön
schärfer sogar. Die Zaungäste (natürlich war der Kindergarten
eingezäunt, im Interesse der Kinder, versteht sich), die Zaungäste also
quittierten dieses Getöse (wie im alten Rom oder beim Stierkampf) mit
anfeuernden Zurufen, mal an die Erzieher, mal an die Kinder gerichtet,
manche begleiteten auch alles mit einem traurigen Kopfschütteln, und
obwohl einige von ihnen einst auch mit solchen Modellen, nicht nur
geistig gespielt hatten (z.B. in Spanien, Chile, Portugal), beeilten
sie sich, einander und der Welt zu verkünden, dass dieser Kindergarten
natürlich vom Standpunkt der „Verheißung“ eine Affenschande sei und die
tolle Verheißungsidee in Misskredit bringe. Viele Kinder diesseits der
Zäune, wenn sie davon hörten, fanden das auch, aber sie waren auch der
Meinung, dass die Schlauberger da draußen doch bisher nicht einmal so
etwas zustande gebracht hätten, also sie sollten doch lieber schweigen
und sich mit Ihren eigenen Herren auseinandersetzen, und sei es nur,
damit die den Eingezäunten nicht immer wieder in die Suppe spuckten und
sie dann noch verhöhnten, wenn die Suppe immer weniger genießbar war.“
Der Archäologiekollege merkt nun an, für diese Eigenart gäbe es
doch schon den Begriff der „Erziehungsdiktatur“, worauf jener, der
vorschlug diese Gebilde „Verheißungsgesellschaften“ zu nennen, meinte,
„Erziehungsdiktatur“ fasse zwar eine wesentliche Seite, nämlich die
harschen Umgangsformen zwischen selbsternannten, nicht immer sehr
erzogenen und kaum wissensschweren Erziehern und murrenden, mitunter
sehr renitenten Zöglingen, aber er sei dennoch zu eng wie alle
Begriffe, die nur das Verhältnis von Führenden und Geführten mehr oder
weniger genau beschrieben – wie: diktatorisch, totalitär, autoritär,
paternalistisch etc. Wenn man diese Gesellschaften jedoch als komplexe
Großunternehmen auffasste, selbstverständlich planmäßig nach innen
organisiert, wie jeder ordentlich geführte Betrieb, und so etwas
wollten sie im großen Maßstab auf jeden Fall auch sein, so eigneten
sich jene Begriffe bestenfalls, um den Führungsstil, nicht aber den
Charakter der Unternehmen zu verstehen, denn das Ziel des Wirtschaften
wie auch seine ökonomische Basis, ihre treibenden (oder
hintertreibenden) Kräfte hatten schon ihre Besonderheiten, waren
geschichtlich von neuer Art und mit Begriffen, die für
Herrschaftsformen gefunden worden waren, eigentlich nicht hinreichend
abzubilden.
Im Übrigen: Müsste man nicht vielleicht die Frage aufwerfen, ob ein
mehr oder weniger demokratisch und dabei(?) effizient geführtes
Großunternehmen, zugleich gewissermaßen sich selbst eingestehen und der
Welt verkünden dürfte, es sei eigentlich so etwas wie ein riesiges
Forschungslabor, indirekt (aber eben nur indirekt) beauftragt von den
Mühseligen und Beladenen in aller Welt, zu erproben, wie man Mühsal und
Beladung von den Menschen durch diese selbst nehmen und dabei zugleich
noch tausendmal besser als jedes effiziente Großunternehmen alten Typs
funktionieren könnte?
Dass sie besser wären, nicht nur ganz anders, haben sie – die
Leiter des Unternehmens – zwar immer verkündet, umso lauter, je weniger
glaubwürdig, auch um die allmählich ermüdeten und ohnehin skeptischen
Mitarbeiter und Zaungäste bei Laune zu halten, aber sie haben nach den
bisherigen „Befunden“ (sagt der Archäologe) nie etwas von ihrer eigenen
Unsicherheit und Unerfahrenheit erzählt und davon, dass alles nur ein
Großversuch sei, dem „mildernde Umstände“, Irrtümer zugebilligt werden
müssten, dass alle Beteiligten mit Havarien, unvorhersehbaren Störungen
durch bisher nicht berücksichtigte Randbedingungen zu rechnen hätten,
dass ihnen vielleicht manches Opfer zugemutet würde, und wenn sie es
überlebten, vielleicht erst ihre Nachkommen sich besser fühlten. Sie
haben sich auch nicht in der Tradition jener gesehen (obwohl sie es
waren) die – wie Owen und Fourier – mit ähnlichen Experimenten
gescheitert sind. Dabei hätten sie aus diesem Scheitern, vor allem
daraus, viel lernen können über die inneren und äußeren Voraussetzungen
eines wenigstens kurzen Erfolgs. Sie hielten ihr Wirken nicht für das,
was es war, nämlich den, wenn auch halbherzigen Versuch, eine Utopie,
eine Sehnsucht, eben eine grandiose „Verheißung“ dem Urteil (oder
Strafgericht oder Beifall oder wenigsten einer Duldung) der
Weltgeschichte, der Praxis zu überantworten. Die Tragik liegt darin:
Selbst wenn sie es gewusst und offen gelegt hätten und zwar von Anfang
an: die einen hätten hämisch gelacht im Bewusstsein ihrer
Überlegenheit, und die anderen hätten verweigert, und es wäre gar nicht
zu dem Großversuch gekommen, wahrscheinlich jedenfalls, man wird es nie
beweisen können.
In diesem, äußerste Skepsis ausdrückenden Sinne, hatte einer ihrer
Führer gesagt: Siegen muss man, dann hat man Recht (nicht Machiavelli,
sondern Lenin). Er baute nicht auf den Heroismus und die
Selbstverleugnung der Akteure und schon gar nicht auf die Einsicht und
das freiwillige Zurücktreten von der Macht bei den Ausbeutern, sondern
auf die Überzeugungskraft, und heute würde man sagen, auf die
„Nachhaltigkeit“ des Sieges. Und ihm war wie seinen geistigen Vätern
bewusst, dass der Sieg nicht nur ein militärischer, nicht einmal nur
ein ökonomischer mit allen seinen Konsequenzen für Akkumulationskraft,
Naturschutz, und ein „gutes Leben für alle“ sein musste, sondern vor
allem ein kultureller in dem Sinne, dass die gewaltigen Produktivkräfte
und die Gesamtverantwortung für ihre Nutzung „unter alle“ (d.h. unter
jeden einzelnen in Gemeinschaft mit allen, und das ist nicht nur eine
Abstraktion von „alle“) subsumiert werden mussten.
Gelang das nicht und die Bedingungen dafür, dass es gelingen
konnte, waren denkbar ungünstig, so war es nur eine Frage der Zeit,
dass die Mühseligen und Beladenen ihren angestammten Herren die
abgerungene „Verfügungsgewalt“ über einen Teil der ökonomischen Macht
wieder zu Füßen legten und versicherten, sie hätten es - wie Goethes
Zauberlehrling - schon bereut und ja auch erwiesenermaßen nicht
vermocht, nun aber wollten sie ganz brav sein und nicht mehr mit des
alten Meisters Utensilien herumspielen, und sie würden versprechen, die
bewährten Spielregeln nunmehr hoch zu halten, denn nur das sei doch der
Schlüssel zum Erfolg.
Und in der Tat hieß es dann in den Erfolgsberichten aus der Zeit,
als „ alles vorbei war“: „Und sie hingen an den Lippen der selbst
ernannten Jünger des alten Meisters, lauschten andächtig und bewegten
jedes der Worte in ihrem beschämten Herzen, und sie prägten sich die
noch ungewohnten Worte ein und wussten endlich, wer sie selbst waren,
sein sollten und nie mehr, wirklich nie mehr sein wollen sollten,
sollten, sollten … amen.“
Übrigens, die Sachwalter der Ideale waren auch sehr kleinlaut
geworden. Man hatte ihnen rechtzeitig gesagt, nun würde es sich zeigen,
wer sich auf dem Markt (der Sensationen) Gehör verschaffen könnte.
Jetzt würde sich die „Spreu vom Weizen“ trennen. Es zeigte und trennte
sich. Einer von ihnen, ein besonders renitenter Barde, den die
genervten Erzieher schon lange vorher des Kindergartens und an die
Zaungäste verwiesen hatten, dieser nun erlebte und gestaltete noch
einmal (s)eine große Stunde, als die der Heimholung gefeiert wurde und
er als nunmehr „Wissender“ auch mahnende Worte an die noch
Freiheitstrunkenen richtete. Es gab die Legende, er habe kurz nach
seiner vorzeitigen „Heimreise“ gesungen: „Bin gekommen vom Regen in die
Jauche!“ Na ja, Legenden eben. Aber da sieht man wieder einmal: Man
kann es den „Idealverwaltern“ eben nie Recht machen.....
Dieses Bild jedenfalls haben die Archäologen aus den verstreuten
Zeugnissen vom Ende jener Verheißungsgesellschaften rekonstruieren
können, wobei sie nicht ausschließen wollten, dass solche Überlieferung
– wie sie es auch von anderen Epochen kannten - nicht alles war, was
hätte Zeugnis ablegen können, und dass manche dieser Gedanken eben die
dann später wieder herrschenden, also die Gedanken der Herrschenden,
also die Gedanken einer Herrschaft waren, demnach nicht alle gedachten
Gedanken, denn wo Herrschaft, da gab es immer auch Knechte, und die
dachten nicht nur die herrschenden, sondern auch ihre eigenen Gedanken,
aber die waren ja nur spärlich überliefert, weil keiner sie für würdig
hielt, gespeichert zu werden und auch weil die Knechte sich selbst
dieser Gedanken schämten, denn es waren ja eben die Gedanken der
Knechtschaft und zwar der „frei gewählten“. Und nun gab es auch keinen
Adressaten mehr für ihr Maulen, denn bis auf den ersten Verführer, den
mit den „blühenden Landschaften“, genau den, hat keiner mehr etwas
versprochen. Wozu auch? Sie waren doch alle wieder zu Hause, d. h. bei
ihren Herren und als Knechte.
Gute Archäologen verabscheuen das Spekulieren, das schließt aber
nicht aus, dass sie nach getaner Arbeit noch zusammensitzen und ein
wenig plaudern, dass sie wie die alten Briests nach Effis Tod ihren
ganz persönlichen und für die Wissenschaft unmaßgeblichen Gedanken
nachhängen, noch einmal das kurze Leben der Verblichenen Revue
passieren lassen, um schließlich - wie der alte Briest - resignierend
den Spruch vom „zu weiten Feld“ ins nächste Jahrtausend zu hauchen.
„Tja“, sagt vielleicht der eine Archäologe, irgendwie angerührt, „
das waren schon merkwürdige Leute. Man kann sich das heute kaum mehr
vorstellen, dass so etwas ‚Unprofessionelles’ überhaupt mehr als einen
Winter überstehen konnte!“
Nun aber erinnert ihn sein Kollege daran, dass es damals, wie die
Geologen herausfanden, zwar manchen harten Winter gab, aber die
Nordhälfte der Erde immerhin noch – jedenfalls drei Viertel des Jahres
– weitgehend eisfrei war, ja sogar grünte.
„Tja“, sagt da der erste Archäologie wieder, „das kann man sich nun schon erst recht nicht vorstellen“!
In diesem Sinne, genießen wir wenigsten noch ein Weilchen den keimenden Frühling und Sommer der Nordhälfte!
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