Text | Kulturation 2/2003 | Volker Petzold | Unser ureigenes Sandmännchen
Eine deutsch-deutsche Kinderfernsehfigur in „Klassenkampf“ und Politik
| Als sich
im Jahre 1966 das 3. Programm des Westdeutschen Rundfunks mit seinem
Chef, dem bekannten Fernsehjournalisten Werner Höfer, an den Deutschen
Fernsehfunk (DFF) gewandt hatte, um 50 Folgen der in kurzer Zeit
populär gewordenen „Sandmännchen-Rahmen“ unter durchaus günstigen
Konditionen anzukaufen, wehrte der damalige Ost-Programmdirektor mit
den markigen Worten ab, diese Sendereihe inclusive Figur sei „eine
ureigene Sache des Deutschen Fernsehfunks der Deutschen Demokratischen
Republik.“/1/ Es ist bezeichnend, dass Hans Höschel schon in den
wenigen Jahren seit der Geburt des beliebten Schlafbringers ganz
offenbar an mangelndem Geschichtsbewusstsein bzw. Erinnerungsvermögen
litt oder es vielleicht auch nicht besser wusste. Denn gerade diese
europäische Fabelfigur und ihre zeitgemäße mediale Erfindung waren eben
nicht allein auf dem „ureigenen“ Boden der DDR gewachsen, sondern
Produkt eines langjährigen Prozesses des Schlagabtausches ost- und
westdeutscher Medieneinrichtungen, der sich beim genaueren Hinsehen
eher als gegenseitiges, uneingestandenes Geben und Nehmen entpuppt. Ein
seltener, wenn nicht sogar einmaliger Fall in der Geschichte des
deutsch-deutschen Fernsehens. Gewiss, der sonntägliche
Weinschoppen-Genießer war im innerdeutschen Medienkrieg für die
SED-Oberen ein rotes Tuch, doch in punkto Sandmännchen zeigte Höfer
sich außerordentlich DDR-freundlich: „Der Deutsche Fernsehfunk in
Ostberlin hat nämlich zum ersten Mal auf deutschem Boden die
Sandmännchen-Figur zu einer Attraktion für Kinder gemacht.“/2/
Mittlerweile gehört der Sandmann, der zumeist unter seiner
Diminutiv-Bezeichnung über deutsche Fernsehbildschirme hopste und
liebevoll Sandmännchen genannt ward, mit seinen über 40 Sendejahren zu
den dienstältesten Akteuren nicht nur des Kinderfernsehens, sondern des
deutschen Fernsehens überhaupt. Phänomen und Wirkung dieser wohl am
häufigsten und längsten ausgestrahlten Fernsehserie sind einzigartig –
Generationen von Kindern wurden mit seinen Geschichten gespeist, und
Eltern reiben sich (mit den Großeltern) noch immer die Augen, wenn die
wohlbekannte Melodie erklingt. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte
Sandmännchen neben der unvermeidlichen Erzieherrolle vor allem eine
Funktion zu erfüllen: Die Kleinen möglichst stressfrei ins Bett zu
bringen und den Platz vor der Guckröhre für die ältere Generation zu
räumen. Später rückte der pädagogische Zeigefinger mehr in den
Hintergrund, der Spaß an den Geschichten und heitere Unterhaltung für
die Kinder vor dem Zubettgehen wurden wichtiger. Ob der Sandmann sich
heute noch inmitten Dutzender Fernsehkanäle, Werbeglimmer und
konkurrierender Kinderserien behaupten kann, mag umstritten sein,
Tatsache ist jedoch, dass er nach wie vor lebt und seit dem 1. Januar
1997 im Kinderkanal von ARD und ZDF sogar deutschlandweit einheitlich
zu empfangen ist.
Es mag indes verwunderlich erscheinen, dass sich solch ein
„unschuldiges“ und traditionell an die Kinder gerichtetes Geschöpf bei
seiner Entstehung vor über 40 Jahren überhaupt in das Getriebe des
weiland zwischen beiden deutschen Staaten tobenden Klassenkampfes
zerren ließ. Oder war es nur der Osten, der damals kräftig draufschlug
im vermeintlichen Wettlauf der Systeme? Vieles deutet darauf hin, dass
die Kalten Krieger in diesem Falle vor allem im DFF saßen. Denn dass
der Sender am 22. November 1959 zum ersten Mal eine Puppentrick-Figur
mit dem Titel „Unser Sandmännchen“ zur gefälligen Umrahmung der bereits
bestehenden „Abendgrüße“ über die noch nicht so zahlreichen Bildschirme
hupfen ließ, hatte bereits etwas mit der vermeintlichen Konkurrenz des
„Gegners“ zu tun; schon allein Erstsendedatum und Titel waren
ausschließlich durch die Aktivitäten des unsichtbaren „Klassenfeindes“
zustande gekommen. Offenbar am 4. November 1959 nämlich fiel dem
damaligen Programmchef und stellv. Intendanten des DFF, dem später zu
einiger Berühmtheit gelangten Polit-Dokumentarfilmer Walter Heynowski,
eine Presse-Information des SFB in die Hände, wie sie mit dem nötigen
Vorlauf für die Programm-Zeitschriften üblich war und ist. Heynowski,
erst seit drei Jahren im Fernsehgeschäft tätig, hatte als vormaliger
Chefredakteur der satirischen Wochenzeitschrift „Eulenspiegel“ zunächst
versucht, die politische Karikatur – welche vornehmlich auf den anderen
deutschen Staat gerichtet war – im aufblühenden elektronischen
Bildmedium zu etablieren. Mit seiner Sendereihe „Zeitgezeichnet“ und
dem neuen „Studio für Zeichen- und Puppensatire“ (der „Urform“ des
späteren DFF-Trickfilmstudios) legte er 1956 den Grundstein für
kommende Generationen von wirkungsvollem Know How an Tricktechniken,
künstlerischer Bildgestaltung und visueller Effektbildung./3/
Was Heynowski nun seinerzeit an jener West-Meldung aufhorchen ließ, war
weniger die Information über ein neues Kinderfernseh-Format – das war
nicht sein Metier und damals auch kaum das seiner Protegés Gerhard
Behrendt und Rolf Sperling –, als vielmehr die vermutlich dahinter
stehende Absicht, „der Westen“ wolle mit einer allabendlichen
Kindersendung ab 1. Dezember 1959 dem DFF die Zuschauer streitig machen:
„ ... daß der SFB mit seinem ‚Sandmännchen‘ unseren ‚Abendgruß’ zur
gleichen Minute täglich kontern will. Es zeigt sich also, dass wir mit
unserer Sendung [den Abendgrüßen] auch bei den Westberliner Kindern und
deren Eltern ‚ankommen‘. Also große politische Wirkung durch Emotionen
[...] Die gegnerische Absicht, uns Zuschauer abzunehmen, darf nicht
unterschätzt werden.“/4/
Wachsamkeit war geboten, und darin war Heynowski als klassenbewusster
Herr über streitbare Zeichenstifte Meister, und Eile ohnehin. In
offensichtlicher Folge jener Furcht um jede Minute im Medienkrieg
wurden die Verantwortlichen des Kinderfernsehens beauftragt, dem SFB
Paroli zu bieten – und es geschah das schier Unglaubliche: Eine gute
Woche vor dem Start des ersten „West-Sandmännchens“ – eben an jenem 22.
November – flimmerte erstmals ein künftiger Medienstar über die
ostdeutschen Bildschirme: „Es wurde übers Knie gebrochen.“/5/ Und er
hiess – in Abgrenzung zu seinem Bruder aus dem westlichen
Frontstadtteil – „Unser Sandmännchen“, ein Titel, der kurioserweise
noch heute besteht.
Da man ganz offensichtlich nicht wusste, was der Westen so vorbereitet
hatte, aber die Nase vorn haben wollte, war das Beste gerade gut genug.
Mit Behrendt hatte sich Heynowski drei Jahre zuvor aus dem Dresdner
Trickfilmstudio einen Mann geholt, der sich ausgezeichnet im
Puppentrick auskannte und im DFF auch schon fleißig damit
experimentiert hatte. Und durchaus „linientreu“ war. Behrendt schuf für
das „Sandmännchen“ die ersten Puppen und die Szenerie, animierte und
führte Regie, Horst Walter bediente die Trickkamera. Und ein Lied
musste her – von Wolfgang Richter an einem Abend komponiert nach einem
Text von Bestseller-Kinderbuchautor Walter Krumbach, ein Ohrwurm bis
heute. Vielleicht aber hatte Heynowski sich die Schimäre vom bösen
Klassenfeind in den Rängen des Westberliner Kinderfernsehens nur
aufgebaut – um besser an Mittel für die aufwendige eigene Produktion zu
kommen?!
So weit, so gut! Doch was geschah eigentlich im Westen? Was die
„Ostler“ nicht wussten, war, dass die ersten Folgen von
„Sandmännchen-West“ bereits im Mai 1959 geplant und im Sommer 1959
abgedreht waren./6/ Man wartete für die Ausstrahlung lediglich die
günstige Vorweihnachtszeit ab, von Eile oder gar Klassenkampfallüren
keine Spur. Was die vom DFF überdies nicht ahnten, war, dass
SFB-Konkurrentin Ilse Obrig im eigenen Hause kaum Unterstützung für
ihre Idee fand. Das Budget war knapp und an aufwendigen Trickfilm
überhaupt nicht zu denken. Eine einfache Handpuppe, gestaltet von der
Puppenspielerin und engen Obrig-Mitarbeiterin Johanna Schüppel, führte
die Kinder über reichlich zwei Jahre an die abendlichen Geschichten in
unkomplizierten Formen. Mehr noch, glaubt man den wenig überkommenen
Dokumenten des SFB aus jener Zeit, so war es der Macherin Dr. Obrig
quasi lediglich als „Trostpflästerchen“ von der Leitung des SFB
gestattet worden, ihr „Sandmännchen“ zu produzieren. „Die Obrig“, die
bereits in den 20er und 30er Jahren Kinderfunk produzierte, nach dem
Krieg von den Sowjets für den in der Westberliner Masurenallee
agierenden Berliner Rundfunk angeworben wurde und dort seit 1947 u. a.
ein „Abendlied“ für die Kinder gestaltete, wechselte 1950 zum RIAS und
baute schließlich ab 1951 das Kinderfernsehen beim NWDR und beim SFB
auf. Seit Mitte der 50er Jahre gerieten jedoch ihre pädagogische
Haltung und die Machart ihrer Sendungen – insbesondere im Zuge der
Koordinierung der Kinderfernsehsendungen im Rahmen der ARD – immer mehr
ins Kreuzfeuer der Kritik, was sich zu 1958/59 hin massiv verschärfte,
wie folgende Pressekritik verdeutlicht: „Aus Berlin zum Beispiel wird
eine Art von tantiger Verkitschung des kindlichen Weltbilds geliefert,
die der Chronist für jugendgefährdender hält als jeden Western.“/7/
Die SFB-Leitung wollte sie unter allen Umständen weg vom Bildschirm
haben und bescheinigte ihr, „dass ihre Kindersendungen inhaltlich die
besten, jedoch formal die ‚unerträglichsten‘ des Deutschen Fernsehens
seien“/8/, bzw. kritisierte „Ilses veraltete und überholte
Kinderpsychologie und Pädagogik“/9/. Mit dem „Sandmännchen“ glaubten
die Verantwortlichen, sie ruhig zu stellen: „Anschließend besprachen
wir sehr ausführlich das Erscheinen von Frau Dr. Obrig vor der Kamera.
[...] dass sich ihre Mitwirkung in dem festgelegten Rahmen halten
müsse, [...] nachdem ihr die Produktion der ‚Sandmännchen-Grüsse‘
genehmigt worden sei.“/10/
So wurde ein Trostpflaster für die ehemalige „Zonenflüchtige“ und
(West-)Berliner Kinderfunktante zum Motor für Kreativität im
Ostfernsehen und damit zu einer Wurzel für eine der erfolgreichsten
deutschen Fernsehsendungen überhaupt. Am Zustandekommen des
Fernseh-Sandmännchens in Ostberlin hatte Ilse Obrig auf weitere Weise
indirekt Anteil. Das von ihr kreierte „Abendlied“ im Berliner Rundfunk
bestand bei Radio DDR bis Anfang Mai 1956 kontinuierlich weiter, bis
dann daraus der Radio-„Sandmann“ wurde. Und die seit Oktober 1958 im
DFF bestehenden – noch „sandmannlosen“ – Abendgrüße lassen sich direkt
auf diese Hörfunksendungen zurückführen:
„Neue Reihe: ‚Abendgrüße des Kinderfernsehens‘. Diese Reihe, die jeden
Tag 3-6 Minuten, 19.00 Uhr, vor Beginn des künftigen Abendprogramms
laufen soll, hat folgende Absicht: 1) Anknüpfend an die Tradition des
Demokratischen Rundfunks, den Kindern vor dem Schlafengehen noch eine
kleine Geschichte oder ein Lied, verbunden mit einigen Hinweisen auf
dem Gebiet der charakterlichen Erziehung, zu bringen.“/11/
Doch damit nicht genug. Als seinerzeit das allererste Mal das
Sandmännchen über die DDR-Bildschirme sprang, war auch im gesendeten
„Abendgruß“, also im „Innenteil“, Obrigscher Geist anwesend. Es lief
nämlich eine Folge von „Gisela und die Fernsehfinken“, eine Reihe, die
bereits seit längerer Zeit im DFF präsent war. An jenem Abend
musizierte Gisela Hein – ehemalige Mitarbeiterin von Ilse Obrig beim
Hörfunk – mit den Studiokindern und sang das Schnecken- und
Schmetterlingslied. Ilse Obrig’s „Spezialität“ war genau dieses Singen
und Musizieren gemeinsam mit den Kindergruppen im Studio vor laufendem
Mikrophon, eines ihrer ersten kleinen Ensembles waren die
„Rundfunkspatzen“. Die „Fernsehfinken“ hörten zwar Mitte 1960 auf, im
DFF zu zwitschern, 16 Jahre später aber wurde die alte, ausgestorbene
Reihe neu in den „Abendgrüßen“ belebt mit den „Liederspielplätzen“.
Die Legende vom „Klassenkampf“ bei der „Sandmännchen“- Entstehung wurde
zu DDR-Zeiten nie öffentlich thematisiert. Keiner fragte je nach dem
Zustandekommen des eigentlich „unrunden“ Erstsendedatums/12/, niemand
nach der Herkunft des mehrtausendmal verbreiteten Titels nebst
DDR-typischen Possesivpronoms „Unser Sandmännchen“ (auch der Diminutiv
ist vermutlich auf das Obrigsche Vorbild zurückzuführen, denn in Radio
DDR hieß die Figur bekanntlich „Der Sandmann“, und ebenso weist das
berühmte DFF-Lied in der Krumbachschen Textvorlage keine
Verkleinerungsform auf!). Erst 1993 meldete sich die vormalige
Redakteurin und Autorin des DFF, Inge Trisch, zu Wort und gab Kunde von
jener, jahrzehntelang verschwiegenen politischen Initialzündung des
DDR-Schlafbringers./14/ In der Folgezeit wurde die Mär vom „Wettlauf“
immer wieder gern in diesbezüglichen Publikationen aufgegriffen, ohne
jedoch zu hinterfragen, was im Westen wirklich geschah. Abgesehen
davon, dass keiner der Autoren, meist ehemalige DFF-Fernsehmacher, je
wirklich eine genaue Angabe über den Sendestart beim SFB geben
konnten./14/
Totgeschwiegen, aber hinter vorgehaltener Hand von Insidern des DFF
immer gern weitererzählt, wurde indes auch jene erwähnte Offerte des
WDR, die ein halbes Jahrzehnt nach der im Kalten Krieg erfolgten Geburt
des Traumsandstreuers an die ostdeutschen Fernsehchefs erging.
Inzwischen waren einige ereignisreiche Jahre „übers Fernsehland“
gegangen und auch beim „West-Sandmännchen“ hatte sich einiges getan.
Längst war die Obrig-Schüppelsche Kreation abgelöst von einer Figur,
der ein ehemaliger Kollege von Behrendt aus dem Dresdner
Trickfilmstudio, Herbert K. Schulz, im Herbst 1962 filmisches Leben
eingehaucht hatte. Schulz, der 1958-60 auch in den Berliner Ateliers
des DFF gearbeitet und gewiss die Sandmännchen-Produktion hautnah
erlebt, wenn nicht sogar beratend unterstützt hatte, ging Anfang 1961
in den Westteil der Stadt und ergriff mit neu gegründeter eigener Firma
die Chance seines künftigen Berufslebens: die von NDR, HR und SFB
geforderte Neukonzipierung des „Sandmännchens“ in der ARD. Unterstützt
hatte ihn dabei neben den in Dresden erworbenen Fähigkeiten zur
Trickfilm-Produktion die zunächst beim HR, später beim NWF/NDR wirkende
Redakteurin Helga Mauersberger, die auch aus der DDR stammte.
Allerdings war der Schulzschen Sendung – zumindest was die
Rahmenhandlungen anbelangte – nicht solch ein Erfolg beschieden wie der
aus der ungeliebten DDR; und nichts anderes war der Grund, warum Werner
Höfer im Jahre 1966 mit gutem Westgeld ein ostzonales TV-Produkt kaufen
wollte. Allein, trotz permanenter DDR-Devisenknappheit wollten die
Chefs des DFF „unsere“ Kreation mitnichten in den anderen Teil
Deutschlands verhökern, obgleich wenige Jahre später der ostdeutsche
Schlafbringer zu einem Exportschlager auch in westlichen Ländern werden
sollte; den Beginn machten Zypern und Schweden. Der WDR schuf sich ein
„Sandmännchen International“, das jedoch noch weniger an die
erfolgreiche Karriere des Kontrahenten aus Ost-Berlin anknüpfen konnte.
Dass letzterer „die Lokomotive für ideologisch-propagandistische
Beigaben abgeben“ musste, wie Höfer seinerzeit in seinem Brief an BILD
vermerkte, ist unbestritten und oft genug beschrieben./15/ Sowohl in
den über 350 Rahmen, als auch in den „Abendgrüßen“ (etwa 10.000) wurde
immer wieder Zeitkolorit transportiert – was im übrigen auch zum
Erfolgsrezept gehörte –, welches nicht zuletzt auch mit deutlichen
politischen Inhalten ausgefüllt war. Aber eine immer wieder – bis
heute!/16/ – mit konstanter Boshaftigkeit verbreitete Legende muss
jedoch als nichts anderes als hanebüchener Unsinn bezeichnet werden –
die Mär von der herbeigewollten Ähnlichkeit der Figur mit einem
gewissen ostdeutschen Parteichef, „bewiesen“ einzig am typischen
Bartgewächs. Sie ist durch nichts belegt, wird von allen Machern (vor
allem vom „Sandmann-Vater“ Gerhard Behrendt) auch nach der Wende –
trotz vieler „Enthüllungsgeschichten“ – strikt geleugnet und lediglich
durch eine unbedarfte, hemdsärmlig-eilfertige Journaille am Leben
erhalten. Sie ist auch vom Wahrheitsgehalt her sehr unwahrscheinlich,
da die Figur in ihrer Entstehungszeit 1959/60 eine nicht
unbeträchtliche Wandlung durchmachte und quasi in verschiedenen
Entwicklungsstadien auftrat. Das sich letztlich herausgebildete
Kopfprofil mit leicht gebogener Zipfelmütze und geschwungenem Spitzbart
lässt sich dem Vernehmen nach auf eine Idee von DDR-Stargrafiker Werner
Klemke zurückführen und weist auf einen, mit dem abendlichen
Schlafbringer durchaus verwandten Halbmond, nicht aber auf den
sächselnden Politiker./17/
Noch einmal geriet Sandmännchen Ost ins Kreuzfeuer eines
deutsch-deutschen Gefechtes, als sein Kollege im Westen längst
abgeschafft war./18/ In der Zeit des Medienumbruches in der
untergehenden DDR wurde er plötzlich wieder in das Licht der großen
Öffentlichkeit gestellt. Das Schicksal des Deutschen Fernsehfunks war
eigentlich besiegelt, doch würde der Sandmann weiterleben? Diese Frage
beschäftigte seinerzeit Medienpolitiker, Sandmann-Macher, Eltern und
vor allem die Kinder. Eigentlich war der Abendgruß zu jener Zeit noch
nicht in unmittelbarer Gefahr. Das geplante ostdeutsche Programm „O 3“,
das dann ab 15. Dezember 1990 als „Länderkette“ auf den Frequenzen des
DFF II gesendet wurde, sah bereits in frühen konzeptionellen Phasen den
Altgewohnten und Vertrauten der Kindheiten auf den bekannten
Programmplätzen vor. Auch in den Regionalprogrammen der ARD in
Ostdeutschland, die vom „Tag X“ an auf den Frequenzen von DFF I würden
gesehen werden, sollte Sandmann präsent sein: „Das KINDERFERNSEHEN ist
mit wöchentlichen Halbstundensendungen und dem ‚Sandmännchen‘ in den
ostdeutschen Regionalfenstern des ARD 1 Programms vertreten. Für ‚O 3’
kommen in Frage:
[.....] Ebenfalls das tägliche ‚Sandmännchen’ (18.50 Uhr).“/19/
Nicht viel anders war es gekommen. Trotzdem brach im Herbst ‘90 ein
Sturm der Besorgnis und Entrüstung um Sandmann‘s vermeintliches
Schicksal los. Die ohnehin übersensibilisierte Öffentlichkeit wurde
insbesondere von zwei Zeitungsartikeln aufgeschreckt. In der
DDR-Programmzeitschrift/20/ berichtete das Ehepaar Sabine und Thomas
Bruse aus Berlin (West) von einer medienpolitischen Veranstaltung des
SFB-Rundfunkrates, auf der von Verantwortlichen des Berliner Senders
vorgeschlagen wurde, den Sandmann aus Kostengründen abschaffen und an
seine Stelle „eine Erzähloma mit Bildergeschichten installieren“ zu
wollen. Das Paar rief zur „Aktion“ auf und gab neben der eigenen die
Kontaktadresse des gleichgesinnten Ehepaars Birgit und Karsten Reile
aus Berlin (Ost) an. Zur selben Zeit missverstanden viele Zuschauer die
beabsichtigte Einführung der Länderkette als Abschaltung oder Auflösung
des Deutschen Fernsehfunks. Und am 14. Oktober 1990, dem Tag der
ostdeutschen Landtagswahlen, war der „Abendgruß“ zum vermutlich ersten
Mal in seiner langen Geschichte ausgefallen. Die ehemalige
FDJ-Tageszeitung richtete ihre Wut an den neuernannten
Rundfunkbeauftragten Rudolf Mühlfenzl: „Wenn Sie in diesem Land an
einem Mann scheitern können, so ist es der Sandmann!“/21/ Der
Geschmähte aus dem „bayerischen Wald“ konterte scharf: „Gerade diese
beliebte Kindersendung ist in den letzten Wochen zu einem Politikum
geworden. Von einer bestimmten Presse, wie zum Beispiel dem ehemaligen
FDJ-Magazin ‚Junge Welt’, wurde uns immer wieder unterstellt, wir
wollten das Sandmännchen streichen. Das ist nicht so. Ich würde doch
auch nicht in Bayern den Pumuckl verbieten.“/22/ Er entdeckt sein Herz
für den „kleinen Wicht“ und machte „Unser Sandmännchen“ fortan zur
Chefsache. Indes, die Protestlawine rollte: Unterschriftenlisten,
Resolutionen, Aufrufe. Es kam gar zu Demonstrationen. Hunderte Briefe
aus allen Teilen der Ex-DDR treffen bei den Kontaktadressen der
„Interessengemeinschaft Sandmännchen“ ein, einige zigtausend
Unterschriften. Die Sammlung wurde dem Rundfunkbeauftragten übergeben
und gilt als Mahnung für künftige Programmgestalter bis heute. Denn
obgleich in jenen politisch stürmischen Herbsttagen des Jahres 1990 der
Fernsehsandmann nicht wirklich bedroht war, hatte der Proteststurm doch
seine noch immer ungebrochene Beliebtheit überdeutlich gemacht und
letztlich ganz offenkundig mit zu seinem Fortbestehen sogar im zunächst
noch sperrigen NDR/Mecklenburg-Vorpommern Anfang 1993 und schließlich
im heutigen ARD-Gefüge beigetragen./23/ Dass dennoch Fernsehmacher
immer wieder an der beliebten Sendung rütteln wollen, zeigen die
gegenwärtig geplanten und vollzogenen Veränderungen in den
Vorabendprogrammen von NDR und RBB. Scheint die Abschaffung des
„Sandmännchens“ im Norden bereits beschlossene Sache, so setzen sich in
Berlin/Brandenburg Publikum und Presse gegen entsprechende Pläne der
Nachfolgeanstalt von SFB und ORB mit Vehemenz zur Wehr. „Unser
Sandmännchen“ bleibt ein Politikum bis heute ...
Literaturangaben:
1 Höschel, Hans: Entscheidung über Verkauf von
Sandmännchen-Vor- und Abspänne. DFF-Hausmitteilung. Berlin, 7. Juli
1966. BArch, Bestand DFF, DR 8/52.
2 Höfer will ein qualifiziertes Sandmännchen: Werner Höfer in
einem Brief an die BILD-Zeitung. Abgedruckt in ebenda am 5. August 1968.
3 Zu diesen Aktivitäten vgl.: Forster, Ralf; Thiel, Jens: „SS
wählt Adenauer“, Die Bundesrepublik im politischen Trickfilm des
DDR-Fernsehens bis 1961; in: Filmblatt, Herausgegeben von CineGraph
Babelsberg e.V., Nr. 17/2001, S. 4 ff.
4 Hausmitteilung an das Kinderfernsehen vom 4. November 1959. BArch-SAPMO, DR 8/224.
5 So erinnert sich die damalige Abendgruß-Redakteurin Inge Trisch. Gespräch mit dem Autor am 9. Februar 1999 in Berlin.
6 Informationen von Johanna Schüppel in verschiedenen Gesprächen mit dem Autor, u. a. 5. Februar 1999 und 27. März 2003.
7 Ferber, Christian: Eine Woche vor dem Fernsehschirm. Nette,
aber halbe Sachen - Nachmittags tut sich manchmal was. Die Welt. 4.
August 1958.
8 Kluwe, Sven: SFB-Fernsehen an Goldberg/SFB-Sendeleitung vom 29. August 1958. DRA/SFB-Deposit Nr. 3174.
9 Kluwe, Sven: SFB-Fernsehen an Goldberg/SFB-Sendeleitung vom 2. Februar 1959. Ebenda.
10 Fambach, Dagmar: Protokoll über die Besprechung mit Herrn
Programmdirektor Fischer und Herrn Goldberg, Sendeleitung, am 25. Mai
1959. DRA/SFB-Deposit Nr. 3213.
11 DFF-Kollegiumsvorlage Nr. 48/58. Deutscher Fernsehfunk –
Kinderfernsehen. Berlin, 27. Juni 1958: Herbst-und Winterplan vom
Oktober 1958 bis März 1959, S. 21. BArch, Bestand DFF, DR 8/11-12.
12 Im Gegensatz zum „Sandmann-Datum“ 22. November 1959 fand der
Start der vorerst „sandmannlosen“ „Abendgrüße“ ein reichliches Jahr
zuvor, am 8. Oktober 1958, statt. Vorgesehen war eigentlich der 7.
Oktober - Republiksgeburtstag –, doch an jenem Abend waren die allseits
beliebten Feierlichkeiten auch in der „Röhre“ angesagt. Das hinderte
indes „Meister Nadelöhr“ und „Meister Briefmarke“ im „Abendgruß“ am 7.
Oktober 1959 nicht daran, den Sendestart in einem Akt von
Geschichtsfälschung retrospektiv wieder um einen Tag vorzuverlegen, um
der politischen Konformität genüge zu tun: „... denn heute, genau vor
einem Jahr, haben wir damit begonnen, auch im ‚Abendgruß’ ‚Gute Nacht’
zu sagen.“
13 In einem Interview mit dem Medienwissenschaftler Wolfgang
Mühl-Benninghaus. Fernseh-Informationen. München, 1993, Nr. 7 (April),
S. 203.
14 Neben Inge Trisch beispielsweise Hans-Jürgen Stock in:
Handbuch des Kinderfernsehens. Hg. von Hans Dieter Erlinger u. a.
Konstanz, 1995. S. 74; oder der ehemalige Aktuelle-Kamera-Chef Erich
Selbmann in: DFF Adlershof: Wege übers Fernsehland. Berlin, 1998. S.
58; Sogar der ehemalige (West-)Sandmännchen-Redakteur beim NDR, Arno
Alexander, manifestiert offenkundige Verwirrung. Vgl. Alexander, Arno:
Am Anfang war das Wort ... Zeichentrick und Sandmann im deutschen
Kinderfernsehen. In: Kinderfernsehen. Vom Hasen Cäsar bis zu Tinky
Winky, Dipsy und Co. Hrsg. von Wolfgang Buresch. Frankfurt am Main
2003. S. 160.
15 Vgl. u. a. Hoff, Peter: Sandmann, unser Zeitgenosse. In:
Sandmann auf Reisen. Ausstellungskatalog, Filmmuseum Potsdam. Berlin,
1993. S. 22 ff.
16 Zuletzt gefunden bei: Gritzmann, Eva: Der Sandmann und das
geheime Deutschland. Deutschlandfunk, Studiozeit Neue Medien. Sendung
v. 21. Dezember 2001. Manuskript unter:
www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-medien/88.html.
17 Nach Eberhard Neumann; als Grafiker Klemke-Schüler, später
Trickfilmer und in der Nach-DFF-Zeit Geschäftsführer der
Sandmann-Studio Trickfilm GmbH.
18 Auch diese Legende hält sich hartnäckig bis heute, dass
nämlich in der deutsch-deutschen Medien-Wendezeit 1991/92 das
Ost-Sandmännchen die gleichnamige Sendung im Westen abgelöst hätte, wie
beispielsweise in der jüngsten Publikation „Kinderfernsehen. Vom Hasen
Cäsar bis zu Tinky Winky, Dipsy und Co.“. A. a. O., wo in der Zeittafel
auf S. 208 zu lesen ist, „ab 1992 ging es dann mit dem ehemaligen
Ost-Sandmännchen weiter“. Das ist schlichtweg falsch, denn keine der
dort angegebenen Anstalten sendete den West-Sandmann bis 1991. Schulz
produzierte die letzten Folgen 1982/83, er verstarb 1986. Der NDR
versuchte es unter der Redaktion von Arno Alexander ab 1983 mit einigen
Alternativ-Figuren, bis die Reihe dort Anfang 1989 endgültig vom
Bildschirm verschwand. Das SFB-Familienprogramm nahm unter der Leitung
von Uwe Rosenbaum die Sendung bereits Ende 1983 vom Sender und ersetzte
sie durch die noch heute bestehenden Cartoon-Figuren „Wolff und
Rüffel“. Im SWF wiederum war Sandmännchen-West in Wiederholungsteilen
mindestens bis Mitte 1993 zu sehen.
19 Internes Diskussionspapier der vier Chefredakteure des DFF. Berlin, 25. September 1990.
20 Sandmännchen im Schlamassel. In: F.F. dabei. Berlin, Nr. 48 vom 22. November 1990.
21 Andreas Kurtz in: Junge Welt. 4. November 1990.
22 In: Die Welt am Sonntag. 9. Dezember 1990.
23 Er ist im übrigen die einzige, von der ARD übernommene Kindersendung des DFF!
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