Text | Kulturation 2/2006 | Dietrich Staritz | Realer Sozialismus, Staatssozialismus, Staatskapitalismus – oder was ?
Wissenschaftliche Befunde zum Gesellschaftstyp DDR
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Mit diesen und anderen mehr oder weniger griffigen Vokabeln, die zum
Charakterisieren der sozialen Substanz der DDR gewählt werden,
verbinden sich etliche Probleme, von denen ich vorerst drei nennen
will.
Erstens werden sie nicht von allen mit der Intention benutzt, den
Ertrag einer Gesellschaftsanalyse zusammenzufassen, sondern häufig auch
oder zugleich in der Absicht, ein politisches Urteil zu formulieren.
Sie können also sowohl als wissenschaftliche Termini daherkommen wie
als Worte aus der Sprache der Politik.
Zweitens bilden die wissenschaftlich gemeinten die sozialen
Realien immer auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau ab, geben also
nicht die tatsächlichen, widersprüchlichen Strukturen einer
Gesellschaft wieder, sondern bringen sie zuweilen in eine Fasson, die
in den Sozialwissenschaften seit Max Weber ein Idealtypus genannt wird.
Und der hat nicht den Ehrgeiz, Wirklichkeiten möglichst adäquat zu
erfassen, sondern ist gedankliches Komprimat einer bestimmten sozialen
Konstellationen, nach Weber ein „Gedankengebilde“, das durch
interpretierende „einseitige Steigerung... eines oder einiger
Gesichtspunkte“ gewonnen und zu einem prägnanten Bild verdichtet wird.
Ebenso ist zu bedenken , dass es wohl nur sehr wenige
Gesellschaften gab – eventuell die so genannten „primitiven“ –, die
ganz und gar einem bestimmten Typus entsprechen, gleich, ob er
empirisch oder wie der Webersche Idealtypus „einseitig“ durch
intellektuelle Anstrengung gewonnen wurde. Vielmehr waren und sind alle
Gesellschaften nur gemäß der jeweils vorherrschenden Form der
gesellschaftlichen Produktion benannt, und so gesehen, gab es so wenig
„reine“ Agrar-, Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaften wie
allein durch Technologien, Informationen oder Wissen geprägte. Sie
gleichwohl einem Typus zuzuordnen, ist aber schon deshalb sinnvoll,
weil es dabei helfen kann, die mittel- oder langfristigen Trends des
sozialen Wandels zu identifizieren.
Drittens schließlich wäre es nicht vernünftig und im Übrigen auch
kaum zu leisten, ein Gesellschaftssystem analytisch von seinem
Herrschaftssystem abzulösen, schließlich sind bislang wohl alle
Gesellschaften durch ungleiche Verteilung von Macht- oder
Herrschaftspositionen, also objektiv politisch verfasst gewesen, waren
also auch durch ihr politisches System vermittelt, die einen mehr, die
anderen weniger. Im 2O. Jahrhundert eher mittelbar die
privatwirtschaftlich geprägten westlichen Industriegesellschaften, eher
unmittelbar die staatswirtschaftlichen, plangesteuerten Gesellschaften
sowjetischen Typs, zu denen trotz ihrer Besonderheiten (Erbin des
besiegten Aggressors, Teilgesellschaft) vernünftigerweise auch die DDR
gezählt wird.
Und weil das so ist – ich bin nun beim Thema - hat sich die
geschichts- und politikwissenschaftliche DDR-Analyse nach dem „Wende“
vor allem auf das Herrschaftssystem kapriziert, und es wurden, wie die
Bilanzen des mittlerweile erreichten Forschungsstandes zeigen[1], nur
sehr wenige gesellschaftstheoretisch orientierte Analysen vorgelegt.
Das hing auch damit zusammen, dass viele zunächst wohl meinten, mit den
seinerzeit revitalisierten Totalitarismus-Konzepten auch die Totalität
der sozialökonomischen Beziehungen zutreffend beschreiben und
begrifflich hinreichend komprimiert erfassen zu können. Aber auch jene
Historiker, die sich später (und seither in relativ breiter Front) mit
eher sozialhistorischen Fragen der DDR zuwendeten und ein insgesamt
nuancenreiches Bild zeichnen, auch sie arbeiten mit einer eher
politikwissenschaftlichen Begrifflichkeit. Sie beschreiben die DDR
zumeist - im Vergleich mit den hochdifferenzierten westlichen
Gesellschaften - als sozial weithin homogenisiert, gewissermaßen
entpluralisiert oder als „entdifferenziert“[2] sowie als
staatsozialistisch verfasst, bzw. als eine Gesellschaft, in der
differierende Interessen, wenn überhaupt, nur in parteigesteuerten
Institutionen und Verbänden verhandelt und in der Regel durch mehr oder
weniger erzwungene Konsense berücksichtigt wurden. Sie gilt ihnen als
„durchherrscht“, einigen jedoch aufgrund eines gewissen „Eigen-Sinns“
von Individuen, Kollektiven oder Milieus zugleich als teilresistent und
die politische Ordnung, generell zutreffend, als Diktatur - mal mit dem
Hinweis verbunden, dass sie nun schon die zweite in Deutschland und der
ersten womöglich arg nahe gewesen sei, mal mit dem Adjektiv „modern“
(in Abgrenzung zur vormodernen Tyrannis), mal als „Konsens“- oder
„Fürsorgediktatur“ bzw. als „paternalistischer Wohlfahrtsstaat
staatssozialistischer Provenienz“[3] oder, eher spöttisch, als
„Diktatur der Liebe“[4].
***
Um den Gesellschaftstyp der DDR haben sich bislang allein
Soziologen explizit gekümmert. Und für sie gab es da recht eigentlich
keine grundsätzlich neue Frage. Denn so wie die nachstalinsche
Sowjetunion von amerikanischen Soziologen - zu nennen ist hier vor
allem Talcott Parsons[5] - als moderne Gesellschaft verstanden wurde,
galt seit Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ aus
dem Jahre 1965 auch die DDR (wenn auch nie gänzlich unumstritten) - als
modern, als modern im Sinne der Überwindung traditionaler, vom
Feudalismus ererbter Strukturen: also nicht mehr durch eine
herkunftsbedingte Schichtung, nicht mehr durch festgeschriebene
Geschlechterrollen, nicht mehr durch Teilhabeblockaden geprägt, sondern
durch industrielle Produktion und erhebliche soziale Mobilität
bestimmt, zudem profaniert, also frei von einer religiös fundierten
Kultur und Herrschaftslegitimation.
So besehen war die DDR damals für Dahrendorf „die erste moderne
Gesellschaft auf deutschem Boden“, eine Gesellschaft, „in der die
französische Revolution zu ihrem 1789 noch kaum geahnten äußersten
Extrem geführt worden“ sei, eine Gesellschaft, in der die Menschen „am
sozialen und politischen Prozess nahezu nur noch als öffentliche Wesen“
teilnähmen. Nicht als „Bürger“ freilich, fügte er hinzu, sondern als
„Genossen“, weshalb er sich fragte, ob man denn diese Modernität wollen
könne, ob sie „nicht das Ende aller menschlichen Fülle, ja aller
Freiheit“ bedeute.[6]
Gleich, wie man seine Frage beantwortet: Für die Analyse sozialer
Zusammenhänge taugen Kategorien wie „moderne Gesellschaft“ oder „die
Moderne“ tatsächlich nur bedingt. Und das nicht nur, weil sie der
Werbealltag beinahe verschlissen hat, sondern auch deshalb, weil sie
recht eigentlich nur eine konkrete Vor- und eine unbestimmte
Nachmoderne zulassen und so geräumig sind, dass unter ihrem Dach sowohl
die Aufklärung wie das Nazireich und eben auch die DDR Platz finden.
Weshalb denn auch vorgeschlagen wurde, die Nazidiktatur – bloß
scheinbar paradox - als „reaktionären Modernismus“ zu kennzeichnen[7] –
worauf ich hier nicht eingehen kann - während mit Blick auf das
Vergesellschaftungskonzept sowjetischen Typs und also auch auf die DDR,
wenn auch noch vage, von der „anderen Moderne“ gesprochen wird.
(Ettrich). Was daran erinnern soll, dass der östliche
Modernisierungspfad ursprünglich ja zum selben Ziel führen sollte wie
der westliche, zum Einlösen der großen Losungen von 1789, jedoch im
weithin vormodernen Russland durch ein Gelände führte, das die
Modernisatoren – um im Jargon zu bleiben – mit eher „vormodernen“
Methoden erschlossen, was sie schließlich veranlasste, auch ihre Ziele
zu modifizieren. Erst die sowjetischen Avantgardisten, dann ihre
weltweite Nachhut.
Wer Dahrendorfs Frage, ob man diese Modernität denn wollen könne,
mit Nein beantwortete, modernisierungstheoretische Ansätze aber für
nützlich hielt, jedoch nur Positives modern nennen mochte, für den lag
es nach 1989 nahe, die ostdeutsche Gesellschaft als nichtmodern,
antimodern oder als vormodern zu charakterisieren, oder sie wie Artur
Meier[8] als einen vertikal gegliederten „Ständestaat mit
Kastenherrschaft“ und ständig wachsendem Modernisierungsrückstand zu
beschreiben. Und auch der systemtheoretisch argumentierende Detlef
Pollack, der die DDR ansonsten als eine, wenn auch mit erheblichen
Abstrichen moderne Gesellschaft begreift, skizzierte beim eher
heiteren, jedoch sehr präzisen Benennen dessen, was er die ostdeutsche
„Organisationsgesellschaft“ nennt, durchaus vormodern- hierarchische
Verhältnisse, wenn er formulierte: „Die SED-Führung behandelte die
DDR-Gesellschaft wie eine Organisation, die auf ein bestimmtes
Führungspersonal, ein festes Programm und eine vorgegebene Struktur
verpflichtet werden kann. Den einzelnen Bürger sah sie als Mitglied
dieser Organisation an. Von ihm erwartete sie, dass er dem fixierten
Programm folgt und von ihm nichts weniger als begeistert ist. Im
Unterschied zu Organisationen in modernen Gesellschaften war es in der
Organisationsgesellschaft DDR jedoch nicht erlaubt auszutreten“.[9]
Nun liefern, wenn Soziologen von der modernen Gesellschaft
sprechen, gewöhnlich die westlichen Industriegesellschaften die
Kriterien, anhand derer die anderen evaluiert werden, sowohl die der
politisch versunkenen Zweiten Welt als auch die der jetzt nicht mehr so
genannten Dritten. Unter diesem Aspekt hat denn auch Habermas den
Untergang der Gesellschaften sowjetischen Typs als eine „nachholende
Revolution“ gedeutet, die den Weg frei gemacht habe für einen
gesellschafts- wie verfassungspolitischen Anschluss an das Erbe der
bürgerlichen Revolution und die Verkehrs- und Lebensformen des
entwickelten Kapitalismus.[10] Das Orientieren an diesen Kriterien kann
jedoch – denke ich – so lange als vernünftig gelten, so lange auch
Entscheidungen über Pfade in die Zukunft respektiert werden,
intellektuell wie politisch, die von dem abweichen, den die heute
vermeintlich hochentwickelten Gesellschaften gegangen sind,
einschließlich ihrer Umwege, Sackgassen und Opfer. Denn so
unterschiedlich die Bedingungen auch sein mögen, unter denen sich
sozialer Wandel vollzieht, es lässt sich von der „ersten Welt“ durchaus
lernen, aus ihren Fehlern ebenso wie aus ihren Erfolgen.[11]
Auch dafür, wie eine Gesellschaft von demokratisch-sozialistischem
Zuschnitt verfasst sein sollte und wie nicht, liefern ihre Erfahrungen
Anhaltspunkte -: für eine Gesellschaft, die möglichst produktiv und
solidarisch funktionieren und sich so organisieren will, dass sie
möglichst Vielen Freiheit und Chancengleichheit gewährleistet und
zugleich strukturell fähig bleibt, den Wandel ihrer Binnenverhältnisse
und Umweltbedingungen produktiv zu verarbeiten, ohne ihre
Verfassungsprinzipien in Frage zu stellen. Zu den Voraussetzungen einer
solchen Fähigkeit zu innovativer Problemverarbeitung zählen
Modernisierungstheoretiker wie Wolfgang Zapf - bewusst allgemein - die
Konkurrenzdemokratie, eine wettbewerborientierte Wirtschaftsweise sowie
den Wohlfahrtsstaat samt Massenkonsum und Sozialstaat. Sie gelten ihm
als die Grundinstitutionen der modernen Gesellschaft, und er geht – und
zu Recht – davon aus, dass Gesellschaften die diese Institutionen
entwickeln, erfolgreicher, anpassungsfähiger, d.h. „moderner“ sind als
die, die es nicht tun.[12]
Allerdings haben diese Theorien, auch wenn sie so offen gehalten
werden, ein „Geschmäckle“, wie man im Südwesten sagt. Schon, weil der
Großteil ihres „Materials“ aus der Geschichte der westlichen
Gesellschaften stammt, haftet ihnen der Geruch des Normativen an; und
zuweilen sind sie ja auch so gemeint. Dennoch lassen sich mit ihnen
recht gut die Defizite bestimmen, deretwegen die Gesellschaften
der„anderen Moderne“ die Systemauseinandersetzung verloren und
schließlich untergingen. Eine elaborierte Mängelliste findet sich bei
Pollack. Auch wenn er zuweilen eher idealtypisch gebildete
Strukturelemente der modernen Gesellschaft heranzieht und an ihnen die
DDR misst, hat er doch die Differenz zwischen der Papierform und ihrer
Realität im Blick. So überzeichnet er zwar die Funktionstüchtigkeit der
westlichen Gesellschaften ein wenig, nicht aber die Funktionsschwächen
der DDR. Sein wesentlicher Befund: Die sozialen Strukturen der DDR
seien durchaus modern gewesen, ihre Entwicklungspotentiale aber durch
politisch induzierte Modernisierungsbarrieren erheblich behindert
worden.[13]
Zu ähnlichen Resultaten kommt bei seiner kritischen Durchsicht der
einschlägigen Forschungsresultate Frank Ettrich. Allerdings stieß er
auch auf Studien, die mit herrschaftstheoretischen Ansätzen Weberscher
Provenienz die Gesellschaften des sowjetischen Typs als
neotraditionalistisch, als vormodern also, deuten, indem sie die
herrschende Partei und ihre Funktionsweise als charismatisch
charakterisieren und ihren Funktionärskörper als eine
Ständeorganisation interpretieren, deren materielle und politische
Interessen vorrangig ihr selbst galten und erst dann dem Lande. Ettrich
verweist dazu u. a. auf eine Studie des amerikanischen Sowjetologen Ken
Jowitt[14], der diese Lesart am Beispiel der Breschnjewschen
Sowjetunion formulierte. Und gleich, ob man die nun
neotraditionalistisch nennen mag: Seine Aussagen über die Klientel- und
Privilegienordnung dort hatten mit der Wirklichkeit tatsächlich viel
gemein.
***
Bin ich auf dem Laufenden, dann wurden die Strukturen der DDR
bislang nur von Meyer[15] so beurteilt. Beim Blick auf die Bräuche der
ostdeutschen Führer wird seit dem (von vielen wohl ohnehin nur
behaupteten) „Wandlitz-Schock“ kaum noch auf den relativ freien Zugriff
der Spitzenkader auf Westimporte und Villen als Charakteristika des
Herrschaftssystems zurückgegriffen oder auf das „Durchstellen“ ihrer
Entscheidungen auf die mittleren und unteren Ebenen oder das
Eingabewesen als gewissermaßen vormoderne Herrschaftsformen. Und auch
ihre befremdlichen Jagdgelüste oder die Herrenabende in aristokratisch
abgelegenen Jagdhäusern gelten – und wohl zurecht – mehr als Indizien
für die kulturevolutionären Intentionen und Horizonte dieser Männer
denn als Belege für neotraditionalistische Herrschaft.
Statt dessen gilt die Aufmerksamkeit dem Staat. Als
staatskapitalistisch jedoch wird die DDR – so weit ich sehen kann -
heute nur noch von denen rezipiert, die trotzkistische Analytiker[16]
gelesen haben, die anmerkten, dass in den Blockländern das
gesellschaftlich Erzeugte wie im Kapitalismus nur von wenigen und nicht
gesellschaftlich angeeignet wurde, von der parteietatistischen
Bürokratie, die es gemäß ihren Interessen und ihrer Deutung des
gesellschaftlich Notwendigen verwaltete und umverteilte. Dabei
berücksichtigen diese Autoren allerdings nicht, dass der Kapitalismus
vom Privateigentum begrifflich recht eigentlich nicht abzutrennen ist.
In den Siebzigern noch, im Kontext des chinesisch-sowjetischen
Zerwürfnisses, hatten alle Maoisten die Gesellschaften sowjetischen
Typs als revisionistisch zu verurteilen, als Gesellschaften auf dem
Rückweg zum Kapitalismus, weil man im „sozialistischen Lager“ damit
begonnen hatte, die zentralistische, auf Mengen zielende
Wirtschaftsplanung aufzulockern. Das Ziel, eine an Kosten, Gewinn, und
Gebrauchswerten orientierte Wirtschaftsweise, galt damals in China als
konterrevolutionär.[17] Wie man darüber heute an der Pekinger
Parteihochschule denkt, weiß ich nicht.
Gegenwärtig dominiert, wenn die Gesellschaften sowjetischen Typs
verortet werden sollen, das Koppeln von Staat und Sozialismus.[18] Mit
der generalisierenden Titulatur, mit dem „sowjetischen Typ“, habe ich
keine Schwierigkeit. Schließlich ist unstrittig, dass sich die
Führungen der Blockstaaten beim Umbau, wenn auch nicht immer beim
Ausbau ihrer Gesellschaften weithin am Modell der Sowjetunion
orientierten und auch zu orientieren hatten, dass trotz der erheblichen
sozialstrukturellen, ökonomischen und politisch-kulturellen
Entwicklungsunterschiede überall politische Systeme des selben
demokratisch-zentralistischen Zuschnitts entstanden, weil alle dem
Lenin-Stalinschen Konzept der Partei neuen Typus folgten, alle die
wesentlichen Produktionsmittel verstaatlichten und verbindliche
Produktions- und Verteilungspläne formulierten, was wiederum überall
die Führungskader in die Lage versetzte, die Entwicklung der
Gesellschaft auch durch die Kontrolle ihrer materiellen Ressourcen zu
steuern.
Was es allerdings rechtfertigt, diesen Vergesellschaftungsmodus
als sozialistisch zu kennzeichnen, wird in der Regel so wenig
diskutiert wie die Frage, was diesen „Staatsozialismus“ von dem früher
so genannten unterscheidet, etwa von Lassalles Idee, mit Hilfe des
(Bismarck-) Staates Produktivgenossenschaften der Arbeiter zu schaffen,
um so zu einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu kommen (was Marx als
Irrweg verwarf, die Sozialdemokratie aber als Option aufbewahrte), oder
von dem, der Bismarcks Entscheidung für eine Staatsbahn nachgesagt
wurde, bzw. dem, den in Deutschland heute gern die Marktradikalen
zitieren, wenn sie das „Verschlanken“ des ihnen immer noch zu fetten
Sozialstaats fordern.
Zwar hat Wolfgang Engler schon 1992 „Versuche über den
Staatssozialismus“ veröffentlicht[19], vier Jahre später präsentierte
Michael Schneider eine „Bilanz des Staatssozialismus“[20], im Jahre
2003 war der bereits zitierte Detlef Pollack „Auf dem Wege zu einer
Theorie des Staatssozialismus“, und im vergangenen Jahr schließlich
legte der ebenfalls schon genannte Frank Ettrich mit seiner
Aufsatzsammlung „Die andere Moderne“ „Soziologische Nachrufe auf den
Staatssozialismus“ vor. Doch weder in den Texten, die das Phänomen bilanzieren wollen,
noch in denen, die es theoretisieren möchten, und schon gar nicht in
den vielen, die das Wort wie eine etablierte Diskurs-Münze in Umlauf
halten, gibt es mehr als beiläufige Verweise auf Staatseigentum,
Planwirtschaft, Parteiherrschaft und Sozialstaatlichkeit, also auf
Elemente der Gesellschaftsverfassung, die so wohl noch nicht einmal den
bescheidenen „realsozialistischen“ Erwartungshorizont von Kommunisten
der Honecker-Generation ausfüllten, und noch viel weniger der Intention
des klassischen Sozialismus-Vision entsprechen. Bei anderen Nutzern
scheint das Wort dagegen schlicht für das zu stehen, wohin in ihrer
Sicht alle Formen von Gemeinwirtschaft und Kollektivität notwendig
führen müssen: zum Ende der Vernunft des Marktes und zur staatlichen
Reglementierung aller sozialen Verhältnisse.
Gemeinsam ist beiden Lesarten mithin das Repetieren dessen, was an
der DDR und ihrem Herrschaftsgefüge ganz offensichtlich war, die
parteistaatliche Verfügung über die wesentlichen materiellen Ressourcen
der Gesellschaft sowie über die Institutionen und Verfahren, die für
die Sozialisation und Kommunikation ihrer Mitglieder geschaffen wurden.
Und gemeinsam ist ihnen damit implizit der Verweis auf den eklatanten
Mangel an dem, was in der Tradition der Arbeiterbewegung recht
eigentlich als Sozialismus gilt, nämlich ein „erhebliches Maß an
Volksherrschaft, Selbstverwaltung, Produzentendemokratie und
Mitbestimmung der arbeitenden Massen“, wie es Ossip Flechtheim einmal
gebührend allgemein zusammenfasste.[21] Die Entwicklung der
Ostblockgesellschaften jedoch wies, anfangs noch stärker als später, in
eine andere Richtung. Hier wurde – ironischerweise unter Berufung auf
Marx und Engels – nicht der Staat vergesellschaftet, sondern – da folge
ich Sigrid Meuschel - die Gesellschaft tendenziell verstaatlicht,
jedenfalls beim Ausprägen ihrer Pluralität und der Artikulation ihrer
unterschiedlichen Interessen blockiert.[22]
Vom Klassenziel war die DDR also weit entfernt, und misst man mit
Flechtheims Maßstab, dann lassen sich allenfalls in einigen Gesetzen,
Regelungen und Institutionen potenzielle Keime demokratiedienlicher
Verfahren ausmachen, beispielsweise in der verfassungsrechtlichen
Ausstattung des FDGB, in den Betriebskollektivverträgen, in der
Plandiskussion, in den Wählervertreterkonferenzen, in den
Konfliktkommissionen und Gesellschaftlichen Gerichten oder – ebenfalls
bloß in Spurenelementen – in der potentiell intermediären
Funktionsweise der Massenorganisationen und Blockparteien. Mögliche
Keime, wie gesagt, denn bis zuletzt funktionierten diese Verbände fast
ausschließlich als Transmittoren der Zentrale. Eine Informations-,
Konfliktpräventions- oder gar Konsultationsfunktion wurde ihnen fast
nur von auswärtigen Beobachtern zugeschrieben. Im DDR- Alltag wirkten
sie in der Regel als Elemente des vielgliedrigen Herrschaftsapparats
von oben nach unten.
Erst in den letzten Jahren der DDR, unter dem Eindruck der
schließlich auch in der Parteispitze wahrgenommenen ökonomischen und
politischen Krise des Landes, aber auch angeregt von „Glasnost“ und
„Perestroika“ kamen bei der republikweiten Suche nach „Reserven“ und
womöglich brachliegenden „Triebkräften“ auch die Strukturen und
Organisationen des politischen Systems in den Blick. So erwartete der
X. SED-Parteitag von den Blockparteien und Massenorganisationen
„eigenständige Beiträge“ zur „gemeinsamen sozialistischen Sache“, und
1983 beschwerte sich der Hochschulminister Hans-Joachim Böhme
(gewissermaßen im Vorgriff auf Gorbatschow) über die FDJ-Vertreter in
den Leitungsgremien der Hochschulen, die dort viel zu passiv agierten,
obwohl man doch die „offene, aktive, kritische, wenn auch manchmal über
das Ziel hinausschießende Einschätzung und Meinung unserer Studenten“
brauche „wie die Luft zum Leben“, um „realistische Einschätzungen zu
erhalten ...“[23] Doch dazu war die FDJ so wenig in der Lage wie die
anderen in Jahrzehnten auf Erziehung und Mobilisierung trainierten
Verbände, zumal unklar blieb, ob auch eine Änderung der hemmenden
Rahmen-, genauer: der Anleitungsbedingungen vorgesehen war, unter denen
sie bis dahin arbeiteten.
Selbst unter reformerischen Staats- und Sozialwissenschaftlern
blieb offenbar strittig, wie weit man gehen könne. Zwar war einigen
1985 bewusst, dass „bereits die notwendige Verbindung von ökonomischer
Dynamik und politischer Stabilität ein Verständnis der Stabilität als
bloße Beharrung“ ausschließe. Und 1986 stichelten die selben, für „die
Wirksamkeit politischer Strukturen“ „sei entscheidend, „dass sie dem
lebendigen Dialog zur Ermittlung und Durchsetzung der Interessen Raum
geben“, wozu „die Einführung bzw. der Ausbau von
Konsultationsmechanismen in die Elemente der politischen Organisation
der Gesellschaft“ eine „wesentliche Bedingung“ sei, wobei wiederum
einer „breiten Öffentlichkeit“ eine „außerordentliche Rolle“ zukomme,
denn nur sie gewährleiste, dass die Interessen tatsächlich „zutage
treten“ und bewertet werden können. Das waren ziemlich unverhüllte (und
deshalb auch nur im nur bedingt zugänglichen „Bulletin
Wissenschaftlicher Kommunismus“ sowie in der Deutschen Zeitschrift für
Philosophie publizierte) Plädoyers für die Demokratisierung der DDR.
Doch sie waren inkonsistent, weil die Diskutanten das Konzept der
„führenden Rolle“ der Partei nicht thematisieren wollten (oder konnten)
und ihre Stoßrichtung nur vage angaben, wenn sie formulierten, es sei
besser, „akzeptierte politische Formen mit neuen Inhalten auszustatten,
als neue Formen in der Gesellschaft zu installieren“.
Doch ihre zentrale (system- wie modernisierungstheoretisch
inspirierte) Aussage, die notwendige Verbindung von ökonomischer
Dynamik und politischer Stabilität schließe ein „Verständnis der
Stabilität als bloße Beharrung“ aus, war offenkundig an die gelähmte
DDR-Führung adressiert und ließ sich als Paraphrase einer Überlegung
lesen, die Talcott Parsons schon 1964 als „Prognose“ formuliert hatte:
Die „kommunistische Gesellschaftsorganisation“, schrieb er, werde sich
„als instabil erweisen und entweder Anpassungen in Richtung auf die
Wahlrechtsdemokratie und ein pluralistisches Parteiensystem machen oder
in weniger entwickelte und politisch weniger effektive
Organisationsformen ’regredieren’“[24], also im Systemwettbewerb nicht
bestehen.
***
Wer also die DDR-Gesellschaft als staatssozialistisch verfasst
beschreiben will, kann sich beim Blick auf den Staat auf breite und
seriöse Überlieferungen stützen, die seine bedeutende (und zuweilen
überwältigende) Rolle als Instrument der Partei belegen. Es wird ihm
aber schwer werden, die sozialistische Substanz der Gesellschaft
nachzuweisen. Wer das Label trotzdem wählt und nicht aus Not um einen
angemessenen Begriff oder in der Absicht, ihn generell zu
diskreditieren, der geht wohl davon aus, der Sozialismus sei ein
grundsätzlich vernünftiges, freilich zeitaufwendiges Projekt und nutzt
den Terminus zum Erfassen jener Phase, für die die „Klassiker“ dem
siegreichen Proletariat empfohlen hatten, sich als Staat zu
konstituieren, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu
entreißen, es vorübergehend in den Händen des Staates zu zentralisieren
und die Produktionsmittel dann in die Verwaltung der „assoziierten
Produzenten“ zu geben. Für den war die DDR anscheinend eine
Übergangsgesellschaft, die den Staat zwar noch brauchte, sich demnächst
aber selbst verwaltet hätte, wäre ihr nur mehr Zeit geblieben. Zumal ja
nach Marx und Engels, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch
den Staat, „sein letzter selbständiger Akt als Staat“ war, sein
„Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse“ nach und nach
„überflüssig“ werde und er schließlich „von selbst“ einschlafen
könne.[25] Das war eine Vision, die offenbar bei vielen bis zuletzt
lebendig blieb und einige immer wieder zur Kritik an der Realität des
bürokratischen Etatismus herausforderte. Bahro nannte das in der DDR
Gewordene daher „Sozialismus im Larvenstadium“, oder
„Protosozialismus“[26], und Mandel hielt die Gesellschaft sowjetischen
Typs für eine „eingefrorene Übergangsgesellschaft“.[27] Womit beide
andeuteten, dass diese gesellschaftliche Verhältnisse trotz ihrer
Deformation entfaltet oder aufgetaut werden könnten.
In diese Richtung dachte in den Führungsetagen des
„sozialistischen Lagers“ allerdings kaum noch jemand. Schon seit der
Zeit, in der sich Lenin vom Theoretiker zum praktizierenden Politiker
wandelte, und erst recht nicht mehr, nachdem Stalin seinen
Marxismus-Leninismus durchgesetzt, die aktive Rolle des Überbaus
dogmatisiert, den Staat als Hauptinstrument beim Aufbau des Sozialismus
ideologisch legitimiert hatte und es lebensgefährlich wurde, so zu
denken. Immerhin aber wurde nach seinem Tod in der KPdSU und in anderen
Kommunistischen Parteien wieder über den Wandel des Staates und seiner
Funktionen diskutiert, statt von der Diktatur des Proletariats vom
Staat des ganzen Volkes gesprochen und prognostiziert, man werde nach
relativ kurzen Zwischenetappen in näherer Zukunft zum Kommunismus
gelangen.
Auch wenn die Etappenziele im Wesentlichen ökonomisch definiert
waren, so gab es doch in den sechziger Jahren unter Philosophen und
professionellen Parteiarbeitern einen schließlich auch
parteiprogrammatisch fixierten Konsens darüber, dass Staatsfunktionen
sukzessive in die Gesellschaft zu verlagern, also zu vergesellschaften
seien und der Staat mit dem Einebnen der Klassen seine Bedeutung
verlieren, also, wie einst antizipiert, „absterben“ oder „einschlafen“
werde. Offen blieb allerdings, wann das angesichts des kräftigen
kapitalistischen Widerparts abgeschlossen werden könne. Und ausgemacht
war auch noch nicht, was aus der Partei werde, wenn es ihr gelungen
sei, alle Gesellschaftsglieder auf ihr intellektuelles Niveau zu heben,
sie ihr Bewusstsein also nicht mehr ins Volk tragen müsse.
Zwar wurden diese Diskussionen damals vor allem in der Sowjetunion
geführt. Doch vielleicht gab es auch in der DDR-Führung noch
Erinnerungen an die eigentliche Substanz des Sozialismus-Projekts. Und
neben der erhofften Magnetwirkung einer sozialistischen DDR auf den
Westen des Landes waren es eventuell auch sie, die Ulbricht
veranlassten, dieses Ziel nicht durch voreilige Vollzugsmeldungen zu
diskreditieren. Jedenfalls wurden seit 1952 erst die „Grundlagen des
Sozialismus“ errichtet, dann,1958, die „Vollendung des sozialistischen
Aufbaus“ zum Programm“, 1963 (nach der Kollektivierung) nicht der
Aufbau des Sozialismus abgeschlossen, sondern nur der „Sieg der
sozialistischen Produktionsverhältnisse“ konstatiert und 1967
programmatisch mit der „Gestaltung des entwickelten Systems der
Sozialismus“ begonnen, wobei der Sozialismus als „relativ eigenständige
Gesellschaftsformation“ galt, also nicht als kurze Etappe auf dem Wege
zum Kommunismus, sondern als etwas, was sich auf seinen „eigenen
Grundlagen“ entwickeln werde. Anders als die anderen KP-Führer wollte
Ulbricht von einem Sieg des Sozialismus noch nicht sprechen, dafür sei
ein „höheres Niveau“ erforderlich, womit er Recht hatte.
In diesen Kontext gehört auch der in den sechziger Jahren
unternommene Versuch, das System der zentralistischen Detailplanung und
die Leitungsstrukturen so zu reformieren, dass sie mit der Dynamik der
Weltwirtschaft Schritt halten, wohlstrukturiertes Wachstum fördern und
Innovationen beschleunigen können. Zwar ging damals wohl kaum einer der
NÖS - Strategen so weit, im Interesse dieses Ziels die
Entscheidungskompetenz der Führungsgremien wirklich in Frage zu
stellen, oder wie Fritz Behrens in den fünfziger Jahren für die
„Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Werktätigen“ auf der
Grundlage von Daten einer Rahmenplanung zu plädieren, weil doch die
Vorstellung, „dass der Staat alles könne“ und sich um alles kümmern
müsse, „auch um die privateste Angelegenheit“, weder ökonomische
Effizienz bewirke noch sozialistisch sei, sondern recht eigentlich
„preußisch“.[28] Dennoch war den Akteuren durchaus bewusst, dass mit
den überkommenen starren Strukturen, Verfahren und Denkfiguren die
gewünschten Effekte nicht zu erreichen waren, dass es dafür, woran
seinerzeit zuweilen Uwe-Jens Heuer erinnerte, der Demokratie bedürfe,
die er als die „Fähigkeit der Menschen“ definierte, „individuell oder
kollektiv über die eigenen Angelegenheiten zu entscheiden“[29], sich
also selbst zu regieren.
Doch in Sorge um die Macht verzichtete die Parteiführung auf
tiefer greifende Reformen, bewirkte vielmehr durch halbherzige und
widersprüchliche Entscheidungen auf der Grundlage illusionärer
Prognosen zu Beginn der siebziger Jahre eine krisenhafte Situation. Und
da das Experimentieren mit der Planwirtschaft in der Sowjetunion unter
Breschnjew ebenso als Abweichung galt wie Ulbrichts eigenwilliges
Periodisieren der gesellschaftlichen Entwicklung, wurde unter Honecker
rezentralisiert; und wie die Führer der anderen Blockstaaten ihre
Länder, nannte nun auch die SED die DDR eine „entwickelte
sozialistischen Gesellschaf“. In der aber sollte die Bedeutung des
Staates nicht ab-, sondern im Gegenteil kontinuierlich zunehmen. Nicht
nur, weil „die öffentliche Gewalt niemals ihren politischen Charakter
verlieren“ könne, „solange der Kommunismus nicht im Weltmaßstab“
gesiegt habe, wie es hieß, sondern ebenso deshalb, weil die Partei die
Gesellschaft und deren Zukunft eben auch weiterhin mit dem Staat, ihrem
Hauptinstrument, zu gestalten gedenke. So etwa steht es noch in der
letzten Auflage der letzten Ausgabe des Kleinen politischen Wörterbuchs
aus dem Jahre 1989.[30] Sicher, ich habe den Text ein wenig gerafft,
aber wesentlich beredter oder gar plausibler erläutert er den
prognostizierten Bedeutungszuwachs des Staates nicht, auch wenn er
schon ein bißchen anspruchsvoller ist als die 1972 in Umlauf gebrachte
intellektuell deprimierende Formel vom „real existierenden
Sozialismus“, die noch nicht einmal dieses Wörterbuch für erwähnenswert
hielt.
Auch so gesehen gibt es also keinen Anlass, die DDR, so wie sie
war, als „auf dem Sprung“ zu begreifen, als eine Gesellschaft, die von
der Partei zum Sozialismus geführt werden sollte, zwar noch vom Staat
regiert, also gewissermaßen noch „staatssozialistisch“, demnächst aber
sich selbst verwaltend.
***
Nun ist allerdings zu fragen, ob die Gesellschaften sowjetischen
Typs (unabhängig vom Vergesellschaftungskonzept der kommunistischen
Parteien) mit dem Marx/Engelsschen Konzept der Übergangsgesellschaft
überhaupt angemessen analysiert werden können. Schließlich gingen deren
Überlegungen ja von der Annahme aus, die Revolution werde in den
hochentwickelten Ländern und „auf einmal“ passieren, dort, wo die
„Macht, gegen die man revolutioniert“, die „Masse der Menschheit als
durchaus ‚Eigentumslos’ erzeugt und zugleich“ in „Widerspruch zu einer
vorhandenen Welt des Reichtums und der Bildung“ gebracht habe, was
beides eine „große Steigerung der Produktivkraft und einen hohen Grad
ihrer Entwicklung“ voraussetze, und dieser Entwicklungsstand der
Produktivkräfte schon deshalb eine „absolut notwendige praktische
Voraussetzung“ für den Erfolg der Revolution sei, weil ohne ihn „nur
der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um
das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich [wieder]
herstellen müsste.“ Eine in ihrer Sicht „absolut praktische
Voraussetzung“ aber auch deshalb, weil der Kommunismus „als Lokalität“
nicht existieren könne, ihn „jede Erweiterung des Verkehrs“ vielmehr
„aufheben“ würde, weshalb er „empirisch nur als die Tat der
herrschenden Völker ‚auf einmal’ und gleichzeitig möglich“ sei.
Auf diese Stelle folgte in der 1957er Ausgabe der Deutschen
Ideologie, in der ich diesen Text zum ersten Mal las[31], die
redaktionelle Anmerkung Nr.8. Sie lautet: „Die Schlussfolgerung, daß
die proletarische Revolution nur gleichzeitig in den fortgeschrittenen
kapitalistischen Ländern möglich sei und es damit unmöglich wäre, die
Revolution in einem einzelnen Land siegreich durchzuführen, fand ihre
endgültige Formulierung in Engels’ Schrift ‚Grundsätze des Kommunismus’
(1847); sie war richtig für die Periode des vormonopolistischen
Kapitalismus. Unter den neuen historischen Bedingungen [jedoch] kam
W.I. Lenin, ausgehend von dem von ihm entdeckten Gesetz der
Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung des
Kapitalismus in der Epoche des Imperialismus, zu der neuen
Schlussfolgerung, daß der Sieg der sozialistischen Revolution zunächst
in einigen oder sogar nur in einem einzelnen Land möglich sei und hob
damit die Unmöglichkeit des gleichzeitigen Sieges der Revolution in
allen oder den meisten Ländern hervor.“
Das hat mich damals zunächst getröstet, dann aber stutzig gemacht,
weil es Marx und Engels 1843 doch darum gegangen war, die
Voraussetzungen für einen Erfolg des von ihnen noch ohne sozialistische
Vorstufe gedachten Kommunismus-Projekts gedanklich einzukreisen, und
die waren doch in Russland überhaupt nicht und international ebenfalls
nur bedingt gegeben. Weshalb sich Marx auf Anfragen russischer
Revolutionäre stets so skeptisch äußerte wie in seiner 1882er Vorrede
zur russischen Ausgabe des „Manifests“. Und diese Einsicht gehörte zum
Gemeingut der europäischen Sozialdemokratie, war Plechanow so präsent
wie Lenin, der daraus allerdings nicht den Schluss zog, die
Modernisierung Russlands abzuwarten, sondern meinte, es ei möglich, die
anstehende bürgerlich-demokratische Revolution in eine sozialistische
überzuleiten, zugleich aber immer wusste, dass dieser Gedanke nur dann
eine Chance hatte, wenn „die russische Revolution das Signal einer
proletarischen Revolution im Westen [werde], so daß beide einander
ergänzen...“, so, wie es Marx in der erwähnten Vorrede formuliert
hatte.[32]
Erst später lernte ich, dass in der Anmerkung Nr. 8 nicht nur
dieses nachklang, sondern auch jene Zeit, in der in der Sowjetunion
angesichts der ausgebliebenen Revolution im Westen darüber gestritten
wurde, ob Sozialismus nicht gleichwohl in nur einem Lande möglich sei,
in Russland. Eine Debatte, die schließlich von Stalin entschieden wurde
und in der Politik mündete, die Dahrendorf später fragen ließ, ob man
diese Modernität denn wollen könne. Schon in den dreißiger Jahren hatte
das Karl August Wittfogel [33] dazu anregt - in seiner Nachfolge
während der Siebziger auch Rudi Dutschke[34] und Rudolf Bahro[35] - die
Vergesellschaftungsweise der Sowjetunion mit Blick auf das
„halbasiatische“ bzw. „despotische“ Erbe Russlands, zu untersuchen ,
aber auch in Anbetracht der Stalinschen Grausamkeiten und des
bürokratischen Etatismus danach.
Nach dem Ende des „sozialistischen Lagers“ und beim Anschauen der
DDR zitierte denn auch der Philosoph Peter Ruben die Marx/Engels
Metapher vom „rohen Kommunismus“, der aus einer unzeitgemäßen
Revolution folgen müsse[36], und ein paar Jahre später fand der
Soziologe Frank Ettrich[37] die „beeindruckendste und anregendste
Kennzeichnung des „Staatssozialismus sowjetischen Typs“ in den
ökonomisch- philosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844, in denen
Marx jedem „rohen Kommunismus“ aufgrund der „Notdurft“ seiner unreifen
Verhältnisse einen „radikalen Egalitarismus“ voraussagte, der alles
vernichten werde, was nicht von allen als Privateigentum besessen
werden kann, der „auf gewaltsame Weise“ alle gleich mache und allein
den unmittelbaren Besitz als Zweck des Lebens anerkenne.[38]
Nun glaube ich nicht, dass man der DDR einen „radikalem
Egalitarismus“ nachsagen kann, sicher aber eine am alten
Gleichheitspostulat der Arbeiterbewegung orientierte, Wachstum wie
Innovation hemmende, substanzzehrende Wirtschafts- und Sozialpolitik,
die nicht unwesentlich zu ihrem Scheitern beitrug. Weiter führt
eventuell das Marxsche Diktum vom „Streit um das Notwendige“, der
allerdings auch als Ursache wie Folge der häufig „Gleichmacherei“
genannten Tendenz zum Egalitären verstanden werden kann, eines Trends,
den Manfred Lötzsch einmal – ich habe nicht mehr gefunden, wo – als
„Nivellierung nach unten“ beschrieb, in der er eine der Ursachen für
die Innovationsträgheit der DDR sah. Doch entscheiden mögen dieses
Theorieproblem die Marxologen.
***
Ich will zum Schluss skizzieren, wie sich mir die Entwicklung seit
dem Ende der strukturumwälzenden vierziger und fünfziger Jahren
darstellte.
Seither wurde die DDR zu
- einer tendenziell egalitären, dennoch durch ungleiche
Einkommens-, Status- und Partizipations-Chancen gekennzeichneten, also
deutlich geschichteten modernen Industriegesellschaft auf der Basis
staatlichen Eigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln,
- organisiert in einem für die Systemauseinandersetzung
ausgelegten und als Teil des Sowjetblocks nur bedingt souveränen Staat
von ungewisser nationaler Identität und draußen wie drinnen
bezweifelter Legitimation, der seine Legitimität aus dem
Sozialismus-Verständnis des ML herleitete, durch eine paternalistisch
gewährte Wohlfahrt ausweisen wollte, dieses aber (auch aufgrund der
systembedingten Leistungsschwäche der Planwirtschaft) auf Dauer nicht
konnte,
- kontrolliert von einer weder förmlich mandatierten noch
gesellschaftlich kontrollierten Parteibürokratie, die sich mit einer
„historischen Mission“ ausgestattet und berechtigt wähnte,
zentralistisch über nahezu alle materiellen Ressourcen zu verfügen,
sich jedoch angesichts ihres niemals durch demokratische Verfahren
bestätigten Führungsanspruchs stets zu präventiver Repression
veranlasst sah,
- zusammengehalten und mobilisiert von Institutionen und durch
Verfahren, die nicht für den Austausch zwischen Regierenden und
Regierten konzipiert waren, sondern für das Steuern, das Kontrollieren
sowie - und das nicht zuletzt – das Belehren der Gesellschaft, und
deshalb nicht in der Lage waren, dem Wandel in und außerhalb der
Gesellschaft zu entsprechen und ihn systemerhaltend zu verarbeiten,
- von einem politischen System also, in dessen Zentrum die stets
wissende, im Zweifel: stets besser wissende Partei stand, die -
explizit erziehungsdiktatorisch - möglichst allen Bürgern ihr per
definitionem fortgeschrittenes Bewusstsein zu vermitteln trachtete, als
Partei dieses neuen Typus jedoch beim Dazulernen enorme,
strukturbedingte Schwierigkeiten hatte und deshalb am vermeintlich
Bewährten festhielt.
Was daraus folgte, mögen modernisierungstheoretisch versierte
Mitglieder der alten Führung im Rückblick den Prozess einer
unfreiwilligen Anpassung genannt haben. Vielleicht aber zitierten
anders Belesene (eventuell sogar selbstkritisch) auch aus einem Text,
der aus der Frühzeit des modernisierungstheoretischen Denkens stammt.
Er steht in Marx’ „Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort“, und
geht so:
„Auf eine gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen
Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen
Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür
ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher
bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen
diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage
wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“[39]
Anmerkungen
[1] Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hrsg. im
Auftrag der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur), Bilanz und
Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2003;
Arnd Bauerkämper, Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005; Günther
Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003. [2] Vgl. Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und
Gesellschaftsgeschichte der DDR, in Geschichte und Gesellschaft, 19.
Jg.(1996), Heft 1, S. 5ff.
[3] Frank Ettrich, Die andere Moderne. Soziologische Nachrufe auf den Staatssozialismus, Berlin o. J. (2005), S. 212.
[4] Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und
Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998, S.125. Vgl. zum
Forschungsstand auch: Dietrich Staritz, Forschungen zur DDR-Geschichte
seit 1990, in: Kulturation, 1/2006.
[5] Talcott Parsons, Communism and the West, in: Amitai and Eva
Etzioni (Hrsg.), Social Change. Sources, Patterns und Consequences, New
York 1964, S. 390.
[6] zit. nach der bei Piper (München) 1968 erschienenen Ausgabe (S. 453).
[7] Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1990.
[8] Abschied von der sozialistischen Ständegesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 16-17 v. 13.4.1990, S.3ff.
[9] Detlef Pollack, Auf dem Wege zu einer Theorie des
Staatssozialismus, in: Historical Social Research, vol. 28, 2003,
Nr.1/2, S.10ff., hier S. 23.
[10] Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990.
[11] Vgl. auch Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer
Kulturgeschichte der DDR, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut
Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart, 1994, S. 62.ff, hier: S. 66
f.; s. a. auch: Johannes Berger, Was bedeutet die
Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt?,
in: Leviathan, 24. Jg.(1996), Heft 1, S.45ff.
[12] Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorien,
in: ders. (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften.
Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main
1990, Frankfurt a.M./New York 1990, S. 23 ff.
[13] s. Anm. 8.
[14] Neotraditionalism, in: Ders, New World Disorder, Berkeley etc. 1992, S. 121ff.
[15] Schon 1990 schrieb Irene Dölling von einer „spezifischen
Verquickung von Staatssozialismus und Patriarchat“. Im
„Staatssozialismus“ allerdings sah auch sie eine Spielart der modernen
Gesellschaft, die durch „die Dominanz des politischen,
bürokratisch-zentralistischen Systems gegenüber allen anderen
Teilsystemen charakterisiert“ war und in der der Partei in Gestalt
ihres Generalsekretärs, so wie dem „pater familias“ der
„vorbürgerlichen Produktionsfamilie“ die „Verantwortung für das
Wohlergehen aller“ zugeschrieben wurde. Vgl. dies., Über den
Patriarchalismus staatssozialistischer Gesellschaften und die
Geschlechterfrage im gesellschaftlichen Umbruch, in: Wolfgang Zapf
(Hrsg.), Die Modernisierung [Anm. 12], S. 407ff., hier: S.408. [16] Vgl. Tony Cliff, Staatskapitalismus in Russland, Frankfurt am Main 1975.
[17] Für die maoistische Kritik am Weg der DDR vgl. Uwe Wagner,
Vom Kollektiv zur Konkurrenz. Partei und Massenbewegung in der DDR,
Berlin 1974 sowie Philipp Neumann, Zurück zum Profit. Zur Entwicklung
des Revisionismus in der DDR, Berlin 1973.
[18] Jede Aufzählung von Titeln oder Textpassagen, in denen das
geschieht, wäre unvollständig. Derart gekoppelt wird von beinahe allen.
[19] Der Untertitel seines Buches „Die Zivilisatorische Lücke“, Frankfurt a. M. 1992.
[20] Untertitel seines Buches „Das Ende eines Jahrhundertmythos“, Köln 1996.
[21] Ossip K. Flechtheim, Einleitung zu Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt a. M. 1966, S. 13.
[22] Für Vieles: Sigrid Meuschel, Revolution in der DDR. Versuch
einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: Wolfgang Zapf
(Hrsg.) , Die Modernisierung (Anm.12). S. 558ff. [23] Die Belege für dieses Zitat und die drei folgenden stehen
in: Dietrich Staritz, „ ...wie die Luft zum Leben.“ Tendenzen des
Wandels im politischen System der DDR, in: Gert-Joachim Glaeßner
(Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft,
Opladen 1988, S. 297ff.
[24] Talcott Parsons, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft,
in. Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln /
Berlin, 2.Aufl.1970, S.71. Dieser Text erschien erstmals in der
American Sociological Review , Jg. 29 (1964), S. 339ff. [25] Für Vieles: Friedrich Engels, Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, zit. nach: Marx/Engels,
Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, 8. Aufl., Berlin, 1958,
S. 139.
[26] Vgl. Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Frankfurt a. M., 1977.
[27] Vgl. Ernest Mandel, Diskussionsbeitrag auf dem
(West-)Berliner Bahro-Kongress im November 1978, in: Der Bahro-Kongreß,
Aufzeichnungen, Berichte und Referate, Berlin 1978, S.30f.
[28] Fritz Behrens, Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer
Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirtschaftswissenschaft, 5.Jg.
(1957) Sonderheft 3, S.105ff. in dem auch ein Aufsatz von Arne Benary
veröffentlicht wurde, der in die selbe Richtung zielte. Eingerahmt
wurden diese Texte von Beiträgen, deren Autoren den bereits zuvor von
Ulbricht geäußerte Revisionismus-Verdacht zu belegen trachteten. [29] Uwe-Jens Heuer, Demokratie und Recht im Neuen Ökonomischen
System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin 1965, S.174.
[30] Ebda, S. Stichwort „Sozialistischer Staat“, S.909 ff.
[31] Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie. Kritik
der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach,
B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen
verschiedenen Propheten, 3. Aufl. Berlin 1957, S. 31 f.
[32] Zit nach: Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 10. Aufl., Berlin 1954, S. XVI.
[33] Karl A. Wittfogel, Die Theorie der orientalischen
Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung VII. Jg. (1938),S. 90
ff. [34] Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über
den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus.
Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, Berlin 1974.
[35] Die Alternative [Anm.26].
[36] Die Pleite des rohen Kommunismus. Die soziale Frage, in: Sonntag Nr.11/ 1990 v.18. März 1990.
[37] Ettrich , [Anm. 3], S.201f.
[38] Ettrich zitiert Marx nach: MEW, Ergänzungsband 1, Berlin 1977, S. 467-588.
[39] MEW, Bd.13, Berlin 1961, S. 9.
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