Thema | Kulturation 1/2003 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Michael Chrapa | „Zwischen Annäherung und neuer Ausgrenzung - die Ost-West-Stadt Berlin“ 6 Thesen und Statistisches Material über die Ost- und Westberliner 2001/2002 | 6 Thesen
1. Die Entwicklung der Stadt Berlin steht nur partiell für
die Probleme des Ost-West-Verhältnisses in ganz Deutschland, vermittelt
aber wichtige Erfahrungen. Eine davon ist die Erkenntnis, dass das
„Zusammenwachsen“ von Individuen und Gemeinschaften nur als
langfristiger, hochkomplexer und widersprüchlicher Prozess verstanden
werden kann. Soziale Vorgänge von einer solchen Qualität lassen sich
weder künstlich beschleunigen noch aus dem Blickwinkel des Momentanen
heraus richtig erfassen.
2.
In Bezug auf das Ost-West-Verhältnis im Ganzen gilt: Auch 12 Jahre nach
der Herstellung der deutschen Einheit sind beachtliche mentale
Unterschiede (in Einstellungen, Denkweisen etc.) vorhanden (siehe
Anlage, Tabellen 1 bis 3). Im Streit um die Deutung dieser Unterschiede
wurde anhand neuerer Forschungsergebnisse die Auffassung einer
überwiegend historischen Prägung von Identitätsmustern zu Gunsten des
situativ-sozialisatorischen Erklärungsansatzes verändert (siehe z. B.
GENSICKE 1998). Kollektive Identität entsteht demnach mehr und mehr
eher durch Verarbeitung „jüngster Geschichte“ als allein anhand von
Erfahrungswerten, die bis in die 1980er Jahre reichen.
3.
Dementsprechend vertreten große Teile der ost- und westberliner
Bevölkerung auch gegenwärtig differente Positionen zu wichtigen
gesellschaftspolitischen Themenfeldern (siehe Anhang, Tabellen 4 bis
6). Im östlichen Stadtgebiet betrachtet man die Gesellschaft
kritischer, betont vor allem soziale Konfliktlagen (aber ebenso solche
im Verhältnis zu „Ausländern“) und ist - in bezug auf internationale
Probleme - friedlicheren Lösungen zugeneigt. In Westberlin scheinen
soziale Spaltungen (noch) nicht so stark wahrgenommen zu werden. Auch
hier jedoch sehen viele der Zukunft mit gemischen Gefühlen entgegen und
wünschen sich gesellschaftliche Veränderungen. Politik-Ansätze eines
„Weiter so!“ wären in Berlin nicht mehrheitsfähig.
4.
Das „soziale Experiment Berlin“ zeigt in diesem Problemspektrum im
Guten wie im Schlechten ein Stück Zukunft: Hier treffen (zwangsläufig)
Großgruppen mit beachtlicher Verschiedenartigkeit aufeinander und dies
nicht in einer Phase der „Wirtschaftswunders“ mit spürbaren
Wohlstandszuwächsen für (fast) alle, sondern im Kontext einer
Gemengelage zugespitzter sozialer Konflikte. In gewisser Hinsicht kann
dies als Modell für weitere „Begegnungs-Situationen“ in einem Europa
der nächsten Jahrzehnte gelten.
5.
Zwangsläufig entsteht aber eine wichtige perspektivische Frage: Ist die
Annäherung - das Zusammenwachsen von Ost und West - tatsächlich ein
mehrheitlich gewünschtes eigenständiges Ziel oder gilt sie als
mögliches „Nebenprodukt“ angestrebter Modernisierungsprozesse? Tendiert
man zum Ersteren, dann erscheint die Auseinandersetzung mit zwei
problematischen Denkweisen nötig. Zum einen wäre es der Versuch,
kollektive Identität über verschiedene Schritte von
„Geschichtsbewältigung“ anzustreben. Der Autor hält dieses Herangehen
aus mehreren Gründen für nicht tauglich. Eine tiefergehende
„Gemeinsamkeit“ der Berlinerinnen und Berliner aus den Stadtgebieten
Ost und West ist im Rekurs auf Vergangenheit auch bei gutem Willen
nicht herstellbar; sie existiert (genau genommen) noch nicht einmal in
der Gegenwart. Das wirklich Verbindende liegt in der Zukunft, in ihren
Herausforderungen und in der Art und Weise, sich im demokratischen
Dialog künftigen Risiken und Chancen zu stellen. Zum anderen erscheint
es falsch und blockierend, ein Stück deutsche Einheit mit den Methoden
der Macht- und Parteienkonkurrenz im politischen System - zudem häufig
unter Nutzung „ideologischer Steinbrüche“ - erarbeiten zu wollen.
Theoretisch gesehen, geht es hier um ein wirkliches „Großproblem“ (wie
z. B. auch Massenarbeitslosigkeit, nachhaltiger Umweltschutz o. ä.),
das nur akteursübergreifend angegangen werden kann (vgl. u. a.
SCHETSCHE 1996).
6.
Verschiedenartigkeit, ja selbst beachtliche Unterschiede, werden
bleiben - in und zwischen den Großgemeinschaften. Gäbe es Schritte zur Chancengleichheit aller Individuen auf der Basis wirklicher sozialer Sicherheit
(woraus sowohl Aktivitäts-Stimuli als auch Elemente mentaler
Gelassenheit entstehen können), dann hätten solche sozialen Wesenszüge
wie wechselseitige Lernbereitschaft und Neugier bessere
Chancen. Beide Merkmale sind Markenzeichen einer zukunftsfähigen
Gesellschaft, eines Gemeinwesens, das keineswegs konfliktarm ist, das
aber produktiv(er) mit Widersprüchen umgehen kann. Im praktischen
Alltag findet man dafür schon gute Beispiele, aber sie bleiben eher
noch Stückwerk. Es wird wohl dauern.
Anlage: Ausgewählte empirische Daten
Quellenverweise:
FOKUS/Socialdata 2001:
Bürgermeinung 2001. Studie. Berlin/Halle.
FOKUS 2002:
Aufbruch 2002?. Studie. Halle.
Gensicke, Thomas, 1998:
Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation ohne Integration. Opladen.
Schetsche, Michael, 1996:
Die Karriere sozialer Probleme. München.
Autor: Dr. Michael Chrapa
Soziologe, Jugend- und Parteienforscher, Vorsitzender des FOKUS-Institutes Halle
Leiter des Projektes der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Analysen zur politischen Meinungsbildung“
Fon: +49-172-3548059, e-mail: chrapa@aol.com
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