Thema | Kulturation 1/2004 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Michal Reiman | Anmerkungen zur europäischen Einigung aus tschechischer Sicht Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004 | [Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004 ]
Als ich der Einladung zu dieser Veranstaltung gefolgt bin, wusste ich
nicht, dass sie so sehr auf die deutsch-polnische Vergangenheit und die
deutsch-polnischen Beziehungen ausgerichtet sein wird. Ich erwähne das,
weil die Probleme, über die ich reden wollte, nicht in unmittelbarem
Zusammenhang mit dem stehen, was hier bereits besprochen wurde. Ich bin
kein Europaforscher. Auch wenn ich mich mit der Politikwissenschaft
beschäftige, bin ich in der Zeitgeschichte zuhause, genau gesagt, in
der neuesten Geschichte des osteuropäischen und mitteleuropäischen
Raumes.
Ursprünglich beabsichtigte ich, hier einige Erkenntnisse aus
der tschechischen Entwicklung darzustellen. Die vorangegangenen
Vorträge und die anschließende Diskussion, sprachen jedoch einen
anderen Problemkreis an. Dadurch wurde mein schriftliches
Vortragskonzept überholt und ich bin gezwungen, hier frei zu sprechen.
Ich werde meinen Vortrag auf wenige Punkte beschränken, die mich
bewegen.
Mein erster Punkt knüpft an einen der gestrigen Vorredner an,
der von dem Phänomen des ostmitteleuropäischen Nationalismus sprach. Er
äußerte sein Erstaunen darüber, dass die ostmitteleuropäischen
Nationen, die so lange unterdrückt waren, sich heute nur wenig national
artikulieren und oft die politische Bühne weltoffen, quasi anational
betreten. Nationale und nationalistische Äusserungen können
selbstverständlich sowohl in Polen als auch in der ÈR leicht gefunden
werden, sie richten sich vor allem gegen den Russen und Russland. Nicht
selten sind sie sogar absichtlich stark betont, weil dadurch
verdeutlicht werden soll, dass sich das Land von der vormaligen
Hegemonialmacht getrennt hat und für die Zukunft mit ihr nichts mehr zu
tun haben möchte. Diese Äusserungen würden jedoch das Gesamtbild, das
von meinem Vorredner gezeichnet wurde, kaum ändern. Dennoch möchte ich
es hier relativieren.
Der Kern der tschechischen Position, und das betrifft die
bürgerliche wie die sozialdemokratische Politik, scheint mir
insbesondere das Bemühen zu sein, sich schon zu einem frühen Zeitpunkt
als Europäer darzustellen. Dadurch sollte ein schnelles und
problemloses Eintreten Tschechiens in die NATO und EU begründet werden.
Die Probleme, die mit diesem Beitritt verbunden sind, wurden jedoch in
der Öffentlichkeit nur unzureichend bekannt gemacht oder erörtet. Vor
zehn Tagen hörte ich hier in Berlin einen Vortrag des tschechischen
Ministerpräsidenten Vladimir Špidla. Er sprach zum Thema „Europa“. Es
war die Rede von einer großartigen Wertegemeinschaft, die in
gemeinsamer europäischer Zivilisation verankert ist und die bis zum
russischen kulturellen Raum reicht. In der EU ist, so Špidla, ein hohes
Niveau des witschaftlichen und sozialen Lebens erreicht worden und
dieser Auftieg wird sich weiter fortsetzen. Die CR als neues Mitglied
der EU könne von diesem Niveau stark profitieren. Sie sei mit dem
Entwurf der EU-Verfassung im Wesentlichen einverstanden und wolle keine
weit reichenden Einwände zu ihrem Text (damit waren Polen und Spanien
gemeint) unterstützen. Unter bestimmten Voraussetzungen ließe man mit
sich sogar über ein Europa zweier Geschwindigkeiten reden und auch die
Aufnahme der Türkei in EU befürworten: man verstünde, wie wichtig es
sei, die Türkei an Europa zu binden statt sie nach Asien abschwimmen zu
lassen.
Ich möchte hier kein Missverständnis aufkommen lassen,
grundsätzlich bin ich mit Špidla einverstanden: Die europäische
Einigung an sich ist ein großartiges Projekt. Ich gehöre jedoch zu
einer Generation, die schon das Scheitern mancher großartigen Projekte
miterlebt hat. Gegenwärtig hat die EU mit großen Schwierigkeiten zu
kämpfen, was ihre Zukunft belasten oder gar gefährden kann. Diese
Schwierigkeiten finden Ausdruck in einem geringen wirtschaftlichen
Entwicklungstempo, in sozialen Abstrichen, in nicht behobenen Problemen
der Kultur und Wissenschaft sowie in der Bildungs- und
Ausbildungspolitik. Für eine absehbare Zeit wird es darum für die
Europäer kaum große Gewinne, sondern vielmehr Einschränkungen und
Entbehrungen geben. Soll das europäische Projekt dennoch erfolgreich
bleiben, muss die Bevölkerung von diesen Schwierigkeiten voll
informiert werden, mit ihnen rechnen und sie bewusst in Kauf nehmen.
Dieser Aspekt fehlte nicht nur im Vortrag von Špidla, der einen
feierlichen Rahmen hatte, es fehlt weitgehend auch in den tschechischen
Medien und in der Regierungspolitik. Alle Versuche den EU-Beitritt zu
thematisieren werden als „europaskeptisch“ abgelehnt. So verlagert sich
die gesamte Problematik der „Schwierigkeiten“, von Äußerungen des
Präsidenten Václav Klaus und einiger oppositionellen Politiker
abgesehen, hauptsächlich unter die Oberfläche.
Ich bin kein Anhänger der tschechischen Opposition, dennoch
bin ich der Meinung, dass diese Einstellung zur EU-Aufnahme von einem
Mangel an Selbstvertrauen und Mut zeugt. Damit will ich zum Problem,
das ich am Anfang angesprochen habe, zurückkehren, d.h. zur mangelnden
tschechischen nationalen Reaktion. Sie lässt sich nicht bloß anhand der
Opportunität der Regierungspolitik erklären, sondern nur anhand der
gesamten neuesten Geschichte des Landes erläutern. Dabei ist die
mangelnde nationale Reaktion gar nicht „spezifisch“, sie weist viele
Züge auf, die auch in anderen Ländern dieser Region zu finden sind.
Im Jahr 1918 hat Tschechien im Verbund mit der Slowakei nach
etwa 300 Jahren Unfreiheit seine staatliche Souveränität wiedererlangt.
Die neu gegründete Tschechoslowakei gehörte nicht zu den größeren
europäischen staatlichen Neubildungen, ihre Souveränität war im
deutschen Sprachraum kaum erwünscht. Daher war die Tschechoslowakei
gezwungen, ihre Souveränität sowie ihre ökonomische und kulturelle
Entwicklung international abzusichern. Sie stützte sich dabei auf die
Siegermächte des ersten Weltkrieges, was vor allem französische
Garantien bedeutete: Italien fiel als Verbündeter schnell aus, die USA
waren weit entfernt und England orientierte sich mit der Zeit immer
mehr auf einen Ausgleich mit Deutschland. Die Effektivität dieser
Westorientierung wurde in München 1938 auf Probe gestellt. Das
Münchener Abkommen und die darauf folgende Besetzung Tschechiens durch
die Deutschen (1939) wurden von den Tschechen als ein Verrat der
Verbündeten empfunden, sie bedeuteten einen sehr tiefen Einschnitt in
das nationale Denken. So wurde im zweiten Weltkrieg versucht, eine neue
staatliche und nationale Orientierung zu entwickeln, die
Westorientierung durch eine Ostorientierung zu ergänzen und die UdSSR
zum Verbündeten zu machen. Als Garanten der tschechoslowakischen
Souveränität waren die USA, England und die UdSSR erwünscht, doch durch
den Kriegsverlauf fiel die Hauptrolle der UdSSR zu. Im Jahr 1948 fiel
dann die Westorientierung definitiv weg; der „Kalte Krieg“ führte zu
einer ausschließlich östlichen Orientierung, die von Kommunisten
unterstützt und getragen wurde. In den etwa 15 Jahren, die dem Jahr
1948 folgten, erlebte die CSR nicht etwa nur eine „beschränkte
Souveränität“ und ein totalitäres Herrschaftssystem, sondern auch einen
ökonomischen und sozialen Abstieg in der Welt. Sie trennte sich von
ihrer Rolle als eine der führenden Industrienationen, die sie in der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen innehatte. Es folgte im Jahr 1968
ein Versuch, die staatliche Souveränität wieder zu erlangen, und danach
die sowjetische Okkupation, die diesen Versuch zum Scheitern brachte.
Die Okkupation führte das Ende der östlichen Orientierung ein, auch
wenn diese in der staatlichen Politik bis zum Jahr 1989 fortgeführt
wurde. Aber auch das Jahr 1989, die „Wende“, blieb nicht ohne die in
nationaler Hinsicht deprimierenden Folgen: Die Tschechoslowakei fiel
auseinander, zusätzlich wurde man erneut mit den sudetendeutschen
Forderungen konfrontiert.
Bisher habe ich fast ausschließlich über die internationalen
Aspekte der tschechoslowakischen Selbständigkeit gesprochen. Es gab
jedoch auch innere Aspekte: Die ständigen Verluste an Struktur,
Substanz und Inhalt des nationalen Lebens und die riesigen Verluste an
nationaler Elite: 1938-1945 – durch gewaltige Nazi-„Säuberungen“ und
Emigration, 1948-1954 – durch Stalinsche Säuberungen und erneute
Emigration, danach noch durch zahlreiche Säuberungen der „Feinde“ und
„Revisionisten“ und letztendlich durch das Jahr 1968. Es ist im Ausland
leider wenig zur Kenntnis genommen worden, dass durch die Säuberungen
nach dem Jahr 1968 aus der herrschenden Partei etwa eine halbe Million
Mitglieder ausgeschlossen wurde, was gewaltige Folgen für ihre Arbeit
und für ihre soziale Stellung hatte. Die wirkliche Zahl der Betroffenen
(die Nichtparteimitglieder eingeschlossen) lässt sich heute kaum noch
eruieren. Dazu kommt eine erneute Welle der Emigration und
Auswanderung.
Ich muss nochmals auf die Wende 1989 und ihre Folgen
zurückkommen. Wir sprechen mit Recht von einer Befreiung. Das bedeutet
aber nicht, dass die Befreiung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt
der Gewinne betrachtet werden kann. Die gewonnene Freiheit ist eine
sehr kostbare Sache, die aber auch manches kostete: Das ganze bisherige
System und die Ordnung des staatlichen und nationalen Lebens ist
gescheitert. Vieles, was in den vorausgegangenen etwa 50 Jahren
aufgebaut und geschaffen wurde, passte nicht mehr zu den neuen
Verhältnissen. Dadurch sind große Verluste an Produktionsanlagen,
Technologien, Produktions- und Organisationserfahrung entstanden. Die
Sozialisation der Einzelnen und der großen gesellschaftlichen Gruppen
ging zum wesentlichen Teil verloren. Die Angehörigen der mittleren und
älteren Generationen fanden sich in den neuen Verhältnissen nur schwer
und nur zum Teil zurecht. Auch das wissenschaftliche und kulturelle
Wissen war öfter nicht oder nicht mehr voll zu gebrauchen. Der private
Besitz eines Teils der Gesellschaft wurde in Mitleidenschaft gezogen
oder ging gar verloren. Daraus entstand eine starke Verunsicherung in
der Arbeit und im Beruf, im sozialen Umfeld, in der Familie usw. Wir
sprechen ungern und nur wenig darüber, aber warum eigentlich? Das ist
die Realität, ob wir wollen oder nicht, sie existiert als politisches
und menschliches Faktum und wir erleben es tagtäglich. Sie spiegelt
sich selbstverständlich auch im politischen Denken ab. Auch hier sind
die Gründe für gewaltigen Verlust am nationalen Selbstvertrauen in
Ostmitteleuropa und in Tschechien speziell zu suchen, der sich in
heutigen „Mangel an Nationalismus“ widerspiegelt.
Nach dem Misserfolg der westlichen, ost-westlichen und
östlichen Orientierungen wird versucht, die verlorene Sicherheit und
das nationale Selbstvertrauen durch eine „europäische“ Orientierung
zusammenzukleben, dafür ist man bereit große Abstriche an der
nationalen und staatlichen Souveränität in Kauf zu nehmen. Gibt es da
überhaupt eine andere Möglichkeit? Etwa Russland? Nein, diese Beziehung
ist doch gerade katastrophal gescheitert und bleibt für die absehbare
geschichtliche Periode unakzeptabel. Das „alte“ und das „neue“ Europa,
von denen Donald Rumsfeld sprach? Dies bedeutete eine Orientierung
direkt auf die USA. Vorläufig kaum vorstellbar, politisch wie
„technisch“. Die einzige reale Möglichkeit heißt also die EU. Außerhalb
der EU zu bleiben, würde bedeuten, sich einer neuen Unsicherheit und
einer Fülle von kaum abwendbaren Gefahren auszusetzen. Das hat das
Beispiel von Jugoslawien ausreichend belegt. Daher das unkritische Lob
an die EU und der Versuch manche Probleme erst gar nicht anzusprechen.
Dadurch verschwinden aber diese Probleme nicht. Es wäre besser von
ihnen zu reden, um von ihnen und ihren Folgen später nicht überrascht
zu werden.
Damit bin ich beim zweiten Punkt angelangt: Die Orientierung
in Richtung Europa hat für Tschechien – teilweise auch für Polen –
einen großen „Haken“, dieser „Haken“ heißt Deutschland. Die
tschechischen Beziehungen zu Deutschland sind historisch stark
belastet, vor allem durch Hitler, die Nazis und die Ereignisse des
zweiten Weltkriegs. Dennoch fanden sich bereits im Tschechien der 60er
Jahre viele Leute, die bereit waren anzuerkennen, dass sich in
Deutschland nach dem Kriegsende vieles grundlegend verändert hatte.
„Den Deutschen“ wurde zugetraut, dass sie aus der gemeinsamen
misslungenen Geschichte manches gelernt haben und bereit wären, zu
versuchen, die eigenen staatlichen und nationalen Interessen in
Einklang mit den anderen Mitteleuropäern zu bringen. Aus dieser
Überzeugung entstand später, im Jahr 1985, der „Prager Aufruf“ der
Charta 77, in dem das Recht der Deutschen auf ihre staatliche und
nationale Wiedervereinigung proklamiert wurde. Die vorausgegangenen
deutsch-tschechischen Beziehungen lassen dabei leicht erkennen, wie
groß der Schritt war, den die Charta 77 wagte. Diesem Schritt folgten
weitere Schritte. Vaclav Havel entschloss sich bereits kurz nach seiner
Wahl zum Präsidenten zu einer Reise nach Deutschland, seiner ersten
Auslandsreise überhaupt. Etwa zu dieser Zeit sprach er auch sein in
Deutschland breit bekannt gewordenes Bedauern über die Aussiedlung der
Sudetendeutschen aus.
Das Entgegenkommen auf beiden Seiten verbesserte bedeutend
die deutsch-tschechischen Beziehungen; sie sind heute besser, als je
zuvor. Und trotzdem sind sie nicht problemlos geworden. Der Hauptteil
des Konfliktpotentials fällt heute, ebenso wie in der Vergangenheit,
auf das sudetendeutsche Problem. Obwohl man sich nach dem Abschluss des
deutsch-tschechoslowakischen Vertrages im Jahr 1992 zu langwierigen
Verhandlungen entschloss, die zu einer gemeinsamen geschichtlichen
Deklaration führten, blieb die sudetendeutsche Problematik politisch
weiterhin auf der Tagesordnung. Auch wenn die heutige Bundesregierung
von der Politisierung dieser Problematik Abstand nimmt, sind die anders
lautenden Erklärungen maßgeblicher Mitglieder der bayerischen Regierung
(und auch der österreichischen Regierung) kaum zu überhören. So bleibt
ein Zustand erhalten, der einen Konflikt in deutsch-tschechischen
Beziehungen wieder akut machen könnte.
Ich möchte hier nicht direkt auf die heute strittigen Fragen
der deutsch-tschechischen Vergangenheit eingehen. Sie sind seit Jahren
ein Gegenstand beiderseitiger lebhafter Diskussionen. Alle relevanten
Argumente sind in diesen Diskussionen längst besprochen worden, die
grundlegenden Meinungs- und Interessenunterschiede bestehen dennoch
weiter und werden sich auch in der Zukunft durch weitere Diskussionen
kaum beheben lassen. Da wir für diese Probleme in den vorausgegangenen
sechzig Jahren keine einvernehmliche Lösung gefunden haben, sollten wir
sie besser ruhen lassen. Die Generationen, die von ihnen direkt
betroffen sind, sind zum größten Teil nicht mehr am Leben, die Jüngeren
haben sie nur ererbt.
An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass es auf der
tschechischen Seite nicht primär um den materiellen Besitz geht,
sondern um den zweiten Weltkrieg, seine Ursachen und Folgen. Die
Tschechen überfielen Deutschland nicht. Die „sudetendeutsche Frage“
spielte im Vorfeld des zweiten Weltkrieges keine zweitrangige Rolle,
sie wurde als Instrument benutzt, die ÈSR zu zerstückeln, die
tschechischen Länder durch das „Dritte Reich“ zu annektieren und das
Protektorat „Böhmen und Mähren“ zu errichten. Mehrere hunderttausend
Menschen sind dadurch in der ÈSR umgekommen. Es ist zwar richtig, dass
es im juristischen Sinne keine Kollektivschuld geben darf, politisch
gesehen dürfen die Sudetendeutschen dennoch für die Untaten des
Nazi-Regimes etwa im gleichen Sinne verantwortlich gemacht werden, in
dem das deutsche Volk am Ende des zweiten Weltkrieges für das
Nazi-Regime und seine Verbrechen verantwortlich gemacht worden ist und
sich zu dieser Schuld bekannte. Diese Verantwortung hatte nicht nur
moralische, sondern auch materielle und territoriale Folgen. Manches,
was heute in Bayern (und auch aus Wien) darüber gesagt wird, wird in
Prag als ein Versuch verstanden, die geschichtlichen Rollen
umzuschreiben: die Tschechen nicht als Opfer sondern als Täter
darzustellen, die Deutschen dagegen als Opfer in Erscheinung treten zu
lassen. Dies wird keine tschechische Regierung akzeptieren können und
wenn heute aus Bayern gedroht wird, das sudetendeutsche Problem den
europäischen Gremien zu übertragen, birgt diese Drohung einen
gefährlichen Sprengstoff in sich, der einmal das gesamte Gebäude der EU
ins Wanken bringen könnte.
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt. Ich sprach bereits
davon, dass bei der Erörterung der schwierigen Probleme, die auf der
Tagesordnung stehen, vor allem der anstehende Sozialabbau umgangen
worden ist. Ich sprach auch darüber, dass die Wende 1989 keinesfalls
zum Null-Tarif verwirklicht wurde. Die ökonomische und soziale Lage
Deutschlands leidet unter der nicht bewältigten Globalisierung schon
lange und das drückt die sozial schwachen Schichten stark nach unten.
Wie wird sich diese krisenhafte Entwicklung dort auswirken, wo - wie in
Ostmittel- und Südosteuropa – die sozialen Polster sehr dünn und wo
viele Produktionsbetriebe sowie der staatliche Haushalt finanziell sehr
schwach und instabil sind? In Tschechien wird zwar vom beginnenden
Wachstum gesprochen, die sozialen Sicherungssysteme werden jedoch stark
gekürzt, viele Betriebe werden auch weiterhin geschlossen, bzw. ihr
Personal entlassen. Die Arbeitslosenquote bewegt sich heute um 10%, in
manchen Gebieten ist sie heute bei der 20%-Genze angelangt. Die
Geburtenrate fällt stark ab, ein Teil der Eliten arrangiert sich mit
ausländischen Arbeitsgebern oder wandert für Dauer ins Ausland ab.
Wie könnte das Ganze gelöst werden? Ich weiß es nicht. Diese
kritische Situation überträgt sich auch in verschiedene Bereiche des
öffentlichen und staatlichen Lebens. Die Theater, Museen und andere
kulturelle Einrichtungen sind nicht nur für die Bevölkerung, sondern
auch für den Staat und die Gemeinden teuer geworden. Sie können nicht
mehr ausreichend finanziert werden. Desgleichen gilt für das
Bildungssystem und das Gesundheitswesen. Das Leben in den kulturell
alten Regionen verfällt. Dies übt nicht nur eine Wirkung auf die
soziale Sphäre aus, sondern es schafft auch den Boden für nationale
Gefühle. Das Anwachsen der nationalen Gefühle wurde von den
Meinungsforschern auch bei der Jugend verzeichnet. Die einzelnen Länder
Ostmitteleuropas sind nicht in der Lage, diese Probleme allein zu
lösen. Wie wird aber die EU damit umgehen?
Damit komme ich zu meinem letzten Anliegen, zur Erweiterung
der EU. Wenn ich mich nicht irre, haben wir bei den Überlegungen über
die EU-Erweiterung bei drei ostmitteleuropäischen Ländern angefangen:
bei Polen, Ungarn und Tschechien. Dann begann man allmählich darüber zu
sprechen, dass zur EU alles gehören sollte, was westlich von der
russischen Grenze liegt, nicht nur das Baltikum, das der EU bereits
beitrat, sondern auch Weißrussland und die Ukraine wurden als
eventuelle Mitglieder, zum Glück ohne Folgen, erwogen. Heute wird der
Balkan ins Auge gefasst, auch die Türkei mit ihren 75 Millionen
Menschen. Da muss zwangsläufig die Frage aufkommen und gestellt werden,
was der Sinn einer solchen Erweiterung sein soll? Wie soll das Ganze
bewältigt werden? Ist das wirklich ein Weg, die Probleme zu lösen? Und
wenn dabei auch von den Sicherheitsinteressen gesprochen wird, muss
gefragt werden, wie sich im Rahmen eines solchen Konzepts die
Beziehungen zu Russland entwickeln würden?
Ich spreche hier nicht von ungefähr über Russland.
Deutschland führte gegen Russland zwei vernichtende Kriege, die kaum
jemand in Deutschland, Russland oder in Ostmitteleuropa je vergessen
wird. Russland ist dazu ein Land, das einen wesentlichen Teil des
gesamteuropäischen kulturellen Erbes schuf und noch heute schafft. An
die Namen zahlreicher russischen Literaten, Musiker, Komponisten,
Maler, Bildhauer, Schauspieler, Regisseure, Wissenschaftler, Techniker
und Bürgerrechtler, die der europäischen Kultur untrennbar angehören,
wird sich jeder von uns leicht erinnern können. Wir wollen zu keinem
neuen Krieg mit Russland kommen und wir wollen auch nicht die
zahlenmäßig größte europäische Nation für Europa verlieren. Was können
wir denn hier tun? Auch Russland in die EU eingliedern? Das ist aus
vielen Gründen nicht möglich, das wollen wir und auch die Russen nicht.
Wenn wir jedoch Russland als europäisches Land behandeln, mit ihm
breite und kooperative Beziehungen unterhalten und eine friedliche
Grenze im Osten aufbauen wollten, wäre es dann nicht unerlässlich heute
oder morgen auch Russland als ein Mitglied in die EU aufzunehmen?
Mit einer solchen Eile bei der Erweiterung der EU wird es uns
kaum möglich werden, die Probleme zu lösen. Wir werden lediglich die
äußeren Probleme der EU in innere Probleme verwandeln. Der Zusammenhalt
in der EU wird dadurch nicht gerade gefördert. Ich will hier jedoch
keine politische Auseinandersetzung über die EU-Erweiterung führen, ich
möchte nur versuchen, den Zweck der EU-Erweiterung klarzustellen: Was
wir durch die Erweiterung real erzielen können ohne dabei das Ganze in
Gefahr zu bringen.
Ganz am Ende noch einige Anmerkungen zu Mitteleuropa.
Tschechien ist ein Land, das geschichtlich und kulturell in mancher
Hinsicht mit Deutschland eng verbunden war. Es gehörte drei
Jahrhunderte lang der Donaumonarchie an, hatte breite Beziehungen zu
mehreren deutschen Staaten gehabt und, nicht zu vergessen, beherbergte
bis zum Jahr 1945 etwa drei Millionen Deutsche. Die
deutsch-tschechischen Beziehungen sind heute gut und es ist zu hoffen,
dass sie durch die Probleme der Vergangenheit, vor allem durch das
sudetendeutsche Problem, nicht gestört oder gar zerstört werden. Wenn
von der mitteleuropäischen Kultur gesprochen wird, kommt man
zwangsläufig auf die Sprache. Ohne eine gemeinsame
Verständigungssprache kann die kulturelle Einheit einer Region nicht
auf Dauer erhalten bleiben. Für das Mitteleuropa war die
Verständigungssprache Deutsch, für den östlichen Teil auch Russisch.
Deutsch wurde allerdings auch im russischen Sprachraum für den
internationalen Verkehr häufig benutzt. Die Frage heißt: Brauchen wir
noch heute in Mitteleuropa eine gemeinsame Umgangssprache? Wenn ich in
Prag mit den Studenten rede, stelle ich oft fest, dass sie vor allem
Englisch und bedeutend weniger Deutsch kennen. Auf der Strasse ergibt
sich aber oft ein völlig anderes Bild. Die Deutschen sind überall
präsent und man spricht mit ihnen vor allem Deutsch. Insofern sollten
wir uns entscheiden, brauchen wir noch in Mitteleuropa Deutsch als
Verständigungssprache? Es ist ebenso möglich, und ich will hier keinen
Einspruch einlegen, dass wir nur mit Englisch/Amerikanisch auskommen.
Wir müssen aber beachten, dass dies zwangsläufig auch das Ende
Mitteleuropas als einer historisch gewachsenen Region bedeuten wird,
weil Mitteleuropa ohne eine gemeinsame Verständigungs- und
Umgangssprache kulturell nicht funktionieren wird.
|
| |