Thema | Kulturation 1/2005 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dietrich Mühlberg | Die Sozialisten und die Bildung Vortrag auf der Bildungspolitischen Konferenz der PDS (3.-5. Mai 2005) in Weimar | Als
ich einem skeptischen Freunde erzählte, dass ich auf dieser
Arbeitstagung etwas Allgemeines über das Verhältnis der Sozialisten zur
Bildung sagen solle und wolle, riet er ab. „Seit keine der Parteien
mehr weiß, in welche Richtung es geht oder gehen sollte, haben sie zur
Ablenkung das Bildungsthema entdeckt. Das soll die Antwort in einer
ratlosen Zeit sein? Es gehe stracks in eine Wissensgesellschaft und nun
entscheide Bildung über die Zukunft? Und das jetzt auch noch bei der
PDS? Musst du dir das antun …“
Ich rechtfertigte mich, dass sei bei Sozialisten noch nie das
Problem gewesen, die haben immer gewusst, wohin es geht und gehen
sollte (bei der PDS sogar in drei verschiedene Richtungen, sie nennen
das ihr „Dreieck“). Dann habe ich auf die fundierten „Leitlinien“ und
die eingeladenen Fachleute verwiesen – beides verspräche eine spannende
Debatte. Und schließlich führte ich noch mein Berufsinteresse als
Kulturwissenschaftler ins Feld.
Denn willst Du wissen, welche Kultur eine Gesellschaft entwickelt
und pflegt, dann betrachte ihr Bildungssystem. Hier findest du das
Selbstverständnis einer Gesellschaft materialisiert vor: Wie sich die
herrschenden Eliten und die gebildeten Schichten vorstellen, was alle
wissen und können sollten und was dagegen den Besitzenden vorbehalten
ist, wie die Arbeitenden auf ihre soziale Rolle vorzubereiten sind, wie
mit der natürlichen Verschiedenheit der Menschen umgegangen wird, was
vom Körper, was vom Geiste verlangt wird, welche Idealbilder vom
Menschen in Umlauf sind, wie die inneren Gegensätze und Spannungen
verarbeitet werden sollen usw. usw. Wo Du auch ansetzt – beim
Bildungskanon, bei der Lehrerausbildung, bei den Finanzierungsmodi oder
beim Slogan vom „lebenslangen Lernen“ – immer stößt Du auf
systemimmanente Mechanismen in Gestalt kulturell begründeter Absichten,
die das volkserziehende System legitimieren und die es umzusetzen hat.
Richtig spannend wird das bei Gesellschaften, die eine innere
Opposition haben, die auch die gegebene Praxis der Volksbelehrung
kritisiert – egal ob sie gleich alles ändern will oder für einen
„gemäßigten Fortschritt in den Schranken des Gesetzes“ (so der Name
einer von Jaroslav Hašek gegründeten Partei) eintritt.
Es muss also neugierige Kulturhistoriker provozieren, wenn die
notorischen Oppositionellen der kapitalistischen Gesellschaften, wenn
Sozialisten aus deutschen Ländern sich ausgerechnet in Weimar, dem
Entstehungsort des deutschen Bildungsbegriffs, an diesem Wallfahrtsort
des deutschen Bildungsbürgertums – wo anders sonst sollte man Wilhelm
Meisters „Pädagogische Provinz“ suchen als in Sachsen-Weimar? – wenn
sie sich also ausgerechnet hier versammeln, um über deutsche
Bildungspolitik zu streiten.
Und selbstverständlich auch, um sich – Schiller lesend – zu dieser
Zentralgestalt deutscher Bildung zu bekennen. Ein sehr deutsches
Kulturereignis. Es regt dazu an, in kulturgeschichtlicher Perspektive
auf das Verhältnis der Sozialisten zur Bildung zu blicken. Und da wäre
schon das positive Verhältnis der Sozialisten zur deutschen Klassik und
ihrer Bildungsidee ein herausragendes Thema. Es ist die Vision der
freien Bildung und Entfaltung aller subjektiven Anlagen des einzelnen.
Solch hohes Ziel mochte ja für alle gelten, gar ein
Menschenrecht sein. Und so haben es auch die sozialistisch orientierten
Arbeiter und Kleinbürger verstanden, die an den Schillerfeiern von 1859
teilgenommen und Schiller als Künder einer freien Nation
gleichberechtigter Deutscher sahen. Tatsächlich markierten diese
Schillerfeiern das Ende der politischen Totenstille nach 1848. Schon im
Folgejahr entstanden in vielen Orten Arbeiterbildungsvereine,
aus denen dann 1863 die erste sozialistische Partei hervorgegangen ist.
Als dann vor hundert Jahren die Konservativen aller Orten Schiller zur
Zentralgestalt eines nationalistischen Personenkults machten,
reklamierte die deutsche Sozialdemokratie einen eigenen Schiller und
dabei sollte es dann bleiben. 1955 haben die in der DDR maßgebenden
Sozialisten die Schillerehrung zu einem „zentralen Staatsakt“ gemacht,
denn das ZK der SED hatte beschlossen, dass Schillers literarisches
Werk "alle deutsche Patrioten zum Kampf um die Überwindung der Spaltung
und um die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes auf demokratischer Grundlage" begeistere. Kulturminister Johannes R. Becher verkündete hier im Deutschen Nationaltheater "Denn er ist unser:
Friedrich Schiller, der Dichter der Freiheit". Und ich hörte – als
Student im 2. Semester zur "Schiller-Ehrung der deutschen Jugend"
delegiert – die Rede des Sozialdemokraten Grotewohl "Wir sind
ein Volk". Dann hat der längst tote, aber frisch gebettete Schiller im
November noch einen Geburtstagsfackelzug in burschenschaftlicher
Tradition bekommen, dies aber wohl von der national gestimmten
örtlichen FDJ.
Immer war das Nationale im Spiel und immer wurde er gefeiert, um
ein „Wir“ zu beschwören. Offenbar könnte Schiller auch heute gut
angerufen werden, um nationale Verantwortung gegen die beengende
deutsche Kleinstaaterei zu stellen – auch in Bildungssachen?
Abgesehen davon, dass sich Ideen wie eine Nation, ein Volk, ein Wir, eine Bildung nicht nur für Sozialsten inzwischen erledigt haben, wäre Schiller auch als geistiger Patron völlig ungeeignet, um Bildung für alle
zu fordern. Denn seit Schiller war Bildung – und da war er Realist -
gerade das, was die Vielen nicht hatten, nicht haben wollten und nicht
haben konnten. Positiv definiert: Bildung war der Kanon des Wissens und
der Regeln, nach und mit denen man unter Gebildeten, unter
Bildungsbürgern kommunizierte; auch der Bourgeois blieb da außen vor.
Obwohl diese Art von tonangebender Bildungsschicht inzwischen
verschwunden ist, hat Dietrich Schwanitz jüngst für eine Art Crash-Kurs
zusammengestellt, was wir heute wissen und beachten müssen, um unter
Gebildeten kommunizieren zu können. Sein Buch „Bildung“ von 1999 war
auch im Osten ein Bestseller.
Bei aller Freiheitsbegeisterung grenzten sich Schiller und das
Bürgertum auch von den unter ihnen rangierenden Schichten ab. In
Deutschland mangels Macht und Geltung vorzüglich durch Bildung.
Möglichen Ansprüchen des Pöbels - vor dem auch Schiller graute - suchte
die Sozialpädagogik seiner Zeit vorzubeugen und durch moralische
Erziehung eine anspruchslose Lebensweise zu befördern. "Man lehre das
Kind nur soviel, als ihm für seinen Stand brauchbar ist. Alles was
darüber geht, ist von übel."[1]
Als Schiller seine Idee von ästhetischer Erziehung skizzierte,
wendete er sich an "feingestimmte Seelen" und "wenige auserlesene
Zirkel".[2] August Herrmann Niemeyer, ein wirklich einflussreicher
Mann, Direktor der Franckeschen Stiftungen, preußischer
Volksbildungsstratege und Vertrauter des Königs, hat Schillers Ideen in
die Volksbildungspraxis übertragen, auch er war Realist. Kunstsinn usw.
wären ja ganz schön, "dennoch sieht Jeder ein, der nicht von einem
philanthropischen Schwindel ergriffen ist, mit welcher Überlegung und
Vorsicht man an der Cultur jener arbeiten müsse, denen man doch einmal
mit ihrer Ausbildung nicht zugleich eine Lage schaffen oder verbürgen
kann, welche mit einer höheren Bildung in dem gehörigen Verhältnis
stände."[3] Als Demokrat wie als Sozialist mag man solche Haltung
bemäkeln, doch bei näherem Hinsehen muss man zugestehen, dass der Mann
die Sachlage richtig gesehen hat und seine Feststellung auch heute noch
gilt.
Erziehung sollte sich bei den einfachen Leuten auf einige sittliche
Qualitäten beschränken: Reinlichkeit, Ordnungsliebe,
Anspruchslosigkeit, Anstand und Höflichkeit. "Was darüber hinausgeht,
gleicht geborgten Purpurstreifen, die nicht dahin gehören, oder einem
eitlen Putze, hinter welchem sich die Armseligkeit kleinlich verstecken
will ... Was soll auch der Pflüger, der Taglöhner, der Hirte, der
kleine Handwerker, mit diesem Geschmacke? Solche Cultur könnte nur
dienen, ihm seinen Zustand zu verleiden."
Solch klare Worte hat auch Schiller gefunden: „Noch so viele
Freunde der Wahrheit mögen zusammenstehen, ihren Mitbürgern auf Kanzeln
und Schaubühnen Schule zu halten, der Pöbel hört nie auf, Pöbel zu
sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln und Himmel und Erde veralten
wie ein Kleid.“ Das schrieb er 1781 in der Vorrede zu den Räubern.
Im Demetrius-Fragment heißt es:
"Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen,
Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."
Dieser Mann war weder Demokrat noch Sozialist. Es sei ihm zugute
gehalten, dass er eine der erziehungsphilosophischen Grundfragen
aufgeworfen hat, ob denn die Kunst – als Ort der Bildung des ganzen
Menschen – einen erzieherischen oder moralischen Auftrag erfüllen könne
oder ob sie vollständig autonom sein müsse. Und obwohl er für sein
dramatisches Werk von Nietzsche der „Moraltrompeter von Säckingen“
gescholten worden ist (Marx und Engels äußerten sich ähnlich), ist er
sicher der Begründer einer Autonomieästhetik, die jeden
nichtästhetischen Anspruch an die Kunst zurückweist.
Das selbe erziehungsphilosophische Problem bewegte übrigens seinen
plebejischen Zeitgenossen Fichte, der wohl in die Ahnenreihe des
Sozialismus gleichermaßen gehört wie zu der der dann von Humboldt
ausformulierten humanistischen Bildungsidee. Ich erwähne dies, weil
einige der Zielformulierungen in den bildungspolitischen Thesen so oder
ähnlich bei Fichte zu finden sind. Unter dem Einfluss der Jakobiner
entwarf er einen Vernunftstaat, eine Art sozialistischen Staatswesens,
das jedem einzelnen das Grundrecht garantiert, von seiner Arbeit
auskömmlich leben zu können. Der „geschlossene Handelsstaat“ kann es,
weil Planung das wirtschaftliche Chaos ersetzt und der Staat nicht nur
die gesamt Produktion organisiert, sondern auch das Sozialprodukt
verteilt. Eine vom Staat geplante und gelenkte einheitliche Erziehung
der Jugend beendet auch das pädagogische Chaos.
Marx und Engels haben Fichte für seinen „subjektiven Idealismus“
abgekanzelt und seinen sozialen Ordnungsvorschlag kleinbürgerlich
genannt. Darum übersehen wir vielleicht, dass hier bei Fichte erstmals
die Idee des Sozialstaats mit dem ins Grundsätzliche getriebenen
Freiheitsanspruch des Individuums zusammen gedacht worden ist.
Jedenfalls sollten wir an diese Linie der deutschen Geistesgeschichte
denken, wenn wir gegen das neoliberale Geschwätz polemisieren,
staatliche Vorsorge und individuelle Freiheit schlössen einander
grundsätzlich aus. Und wir sollten neu bedenken, wer alles zur großen
Familie der Sozialisten gehörte oder gehören könnte.
Wer und was ein Sozialist ist, wird selbstverständlich immer
aktuell bestimmt - durch stolzes Selbstbekenntnis oder anschwärzende
Zuschreibung. Aber hinter beidem steht eine lange Kulturgeschichte die
– wer einst Friedrich Engels gelesen hat, wird es noch wissen –
mindestens bis zu den griechischen Sophisten, zu Platon, zu den
urchristlichen Gemeinden zurückreicht. Denn seitdem soziale
Ungleichheit den Menschen für ihr kurzes irdisches Dasein höchst
unterschiedliche Lebensweisen zwangsweise zuschreibt, hat es immer
wieder Menschen gegeben, die Benachteiligungen, die Armut und
Unterdrückung angeprangert haben und die Vorschläge hatten, wie blinder
Egoismus der Besitzenden überwunden und die Welt gerechter eingerichtet
werden könnte – eben Sozialisten.
Sie hatten von Anfang an zwei Gegenkräfte. In der politischen
Ausformung des Gegensatzes im 19. Jahrhundert hießen sie die Liberalen
und die Konservativen. Setzten die einen auf vermeintlich sichere Werte
und Strukturen (und kritisierten damit auch den gewissenlosen Umgang
der Liberalen mit den von ihnen ausgebeuteten Mittellosen), priesen und
preisen die Liberalen die Freiheit des einzelnen und seines
(wirtschaftlichen) Handelns.
Aber die Liberalen waren es auch, die schon um 1830 die ersten
Bildungsvereine für Arbeiter gründeten. In den Vierzigern hatte das
dann einen bemerkenswerten Aufschwung. Sie versprachen einer
leistungsorientierten Arbeiterelite, ihre berufliche und allgemeine
Bildung zu verbessern. Bei Fleiß und Sparsamkeit werde sie das
gesellschaftlich und politisch gleichberechtigt machen. Hier schon
hatte das Gerede von der Bedeutung des Bildungsfaktors für das
wirtschaftliche Geschehen seinen Anfang. Diese bürgerlichen
Bildungsbemühungen waren noch weit davon entfernt, selbst zu einem
profitablen Geschäft zu werden. Vielmehr überwog die Tendenz, den Staat
mit der Zurichtung der Menschen für den wirtschaftlichen
Verwertungsprozess zu beauftragen. Das sollte auch so bleiben. Noch als
die Wirtschaft 1964 in der Bundesrepublik die „Bildungskatastrophe“
verkünden ließ, war auch klar, wer verantwortlich war und wer zu
handeln hatte. Sollte das heute so ganz anders sein?
Allerdings waren die liberalen Arbeiterfreunde Vorreiter, erst mit
der Reichsgründung konnte sich im bürgerlichen Denken allgemein
durchsetzen, dass etwas für die Bildung der Arbeiter getan werden
müsste. Als Dachorganisation entstand die Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung,
die glaubte, durch Teilhabe der Arbeiterschaft an der Volksbildung das
revolutionäre Potenzial in der Gesellschaft verringern zu können. Aus
diesen volkspädagogischen Anfängen heraus entwickelte sich unter dem
Druck von Unten (später auch aus dem Osten) ein ganzes Universum an
präventiven Maßnahmen, die schließlich als Sozialstaat einen
dauerhaften Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen
oder Klassen verhießen.
Dies aber nur, weil aus den Gründungen arbeiterfreundlicher
Liberaler selbständige sozialistische Organisationen (vor allem der
Arbeiter) hervorgegangen waren. Es hatte symbolische Bedeutung, dass
einer ihrer Parteigründer, Wilhelm Liebknecht, das Francis Bacon
zugeschriebene Wort „Wissen ist Macht“ aufgenommen hat und seinem
Festvortrag für den Dresdener Arbeiterbildungsverein 1872 die
Überschrift gab „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“. Aus seiner
bürgerlichen Karriere als Lehrer kannte er die die frühe bürgerliche
Pädagogik und Salzmanns Spruch „Aufklärung ist das Mittel, um allen
Ungehorsam für immer unmöglich zu machen“. Auch die Erwartung des
preußischen Volksschulreformators Diesterweg war ihm geläufig:
„Steigerung der Intelligenz des Volkes durch fortgesetzten Unterricht
ist ein wahres Gegengift gegen alle revolutionäre Gesinnung“. Der
Sozialist und Lehrer Liebknecht erwartete etwas anderes, allerdings nur
von einer anderen Art der Unterrichtung. Sozialkritisches Wissen -
gegen das Herrschaftswissen der Mächtigen gestellt – konnte die
Ohnmächtigen zu einem Machtfaktor machen. Aber ebenso klar war, dass
erst wirklicher politischer Einfluss, dass nur wirkliche Macht die
Bildungssituation der Besitzlosen ändern würde.
An dieser Stelle möchte ich an zwei mehr oder weniger bekannte
strukturelle Probleme erinnern. Zu den Macht- und Herrschaftsstrukturen
von Gesellschaften gehört immer eine Art von „Bildungsmonopol“ der
Macht ausübenden Gruppen. Das kann nur mit der Aufhebung dieser
Machtstrukturen überhaupt „überwunden“ werden. Der Nestor der
ostdeutschen Bildungsgeschichte Robert Alt hat dies für die Geschichte
der Klassengesellschaft als „objektive Gesetzmäßigkeit“[4]
nachgewiesen, sein großer Kollege im Westen, Heinz-Joachim Heydorn,
nannte dies die Dialektik von Bildung und Herrschaft[5]. Mit großer
Sympathie habe ich gelesen, wie Ulrich Bauer und Uwe Bittlingmayer an
die gesellschaftskritische Tradition der frühen 70er anknüpfen und die
heutigen Befunde zu einer Bestandsaufnahme mit Handlungsvorschlag
zusammenfasen.
Damit verbunden scheint ein zweites strukturelles Problem auf. Wenn
alle Machtmittel bei den besitzenden Klassen und ihren Zuträgern
versammelt sind, nützt sozialkritisches Wissen allein wenig. Besitzlose
können allein durch ihr abgestimmtes und organisiertes Handeln ein
demokratischer Machtfaktor sein. Ihre Vorhaben werden, wie man heute
sagt, zum „Projekt“, das Treue zur Gemeinschaft verlangt, und auch
Bekenntnis, Dienst an der „Sache“, Unterordnung. Und unter der Hand
kann - so die Erfahrung von Sozialisten – ein Hegelsches Theorem wie
„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“, zu einer
alltagspraktischen Forderung nach Unterordnung werden. Das ist eine
Tatsache, an der Sozialisten sich nicht vorbeimogeln können. Und weil
im hier vorgelegten bildungspolitischen Konzept viel von Staat und von
Gemeinschaft die Rede ist, möchte ich dazu noch etwas sagen.
Jeder Sozialist kennt die Sätze, in denen Marx und Engels die
Quintessenz des Parteiprogramms zusammenfassten, das sie 1848 für den
Bund der Kommunisten geschrieben haben. Dessen Ziel sei eine
Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung
für die freie Entwicklung aller sei.
Wer in der DDR gelebt hat, kennt die ganz selbstverständliche
Interpretation dieses Satzes: es ist alles zu tun, damit sich alle frei
entwickeln können – diesem hohen Ziel haben sich alle unterzuordnen.
Ich will nicht auf die mit der sowjetischen Industrialisierungspolitik
verbundenen Arbeitslager und andere Repressionen hinweisen, denn sie
werden als ideologische Keule benutzt, um das grundsätzliche Problem
gar nicht erst anzugehen, worin denn überindividuelle Interessen
bestehen, die ein großes „Wir“ rechtfertigen könnten und wie sie mit
den individuellen zu vermitteln sind. Brecht hatte die Nachgeborenen um
Nachsicht gebeten: die wir den Boden bereiten wollten für
Freundlichkeit konnten selber nicht freundlich sein.
Die klassisch-humanistische Bildungsphilosophie, die die reflexive
Selbstbildung des einzelnen als Ideal propagiert, ist nach 1945 in
beiden deutschen Gesellschaften aufgegeben worden. Im Westen lebten sie
anfänglich bei dem Rückgriff auf konservative Leitbilder wieder auf und
wurden erst mit Eintritt der „Bildungskatastrophe“ auf Druck vor allem
der Wirtschaft aufgegeben. Das reformierte, stärker praktisch
orientierte und vor allem etwas offenere und durchlässigere
Bildungssystem bestätigte für mindestens zwei Generationen die
Erwartung der Reformsozialisten: Aufstieg durch Bildung schien
offensichtlich möglich zu sein.
Dagegen haben die radikalen 68er die sozialdemokratische
Bildungshuberei ebenso abgelehnt wie das uniformierende staatliche
Bildungssystem der DDR. Interessanterweise haben sie am klassischen
bürgerlichen Bildungsideal die möglichen sozialen und emanzipatorischen
Aspekte stark betont und kritisch gegen den Gesellschaftszustand wie
gegen die Bildungspraxis gewendet. Doch diese Kritik verlief sich
langsam, wie auch die damals durchgesetzten Reformen - Schnee von
gestern. Zwanzig Jahre später geboren - so sagt mein skeptischer Freund
- wäre ein Typ wie Gerhard Schröder heute auf Hartz IV.
Im Osten hatten sozialistische Bildungsreformer – unter
sowjetischer Aufsicht – gleich nach der Befreiung die Chance zur
Modernisierung. Die Entmachtung der alten Eliten führte zu einer völlig
neuen Situation. Das humanistische Bildungsideal wollte aber – bei
allen Bekenntnissen zur Weimarer Klassik – nicht so recht den realen
Lebensbedingungen schwer arbeitender Menschen entsprechen und auch
nicht, wie man bald sagte, den gesellschaftlichen Erfordernissen. Eine
neue dialektische Bildungsphilosophie bildete sich aus, die die
gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Bindungen – voran die Arbeit
– stärker beachtete, in denen sich das handelnde Individuum dialogisch
entwickelt. Dies ist in teils sehr klugen Büchern festgehalten,
allerdings oft in einer unglaublich ideologisierten Sprache versteckt.
Trotz dieser theoretischen Betonung des handelnden Subjekts bin ich
überzeugt, dass eine der Ursachen für das Misslingen des
„sozialistischen Experiments“ ein geistiger Defekt war, der auch das
Bildungssystem geprägt hat. Tief im Innern der herrschenden Ideologie
hauste die Überzeugung, die kollektivistische Unterordnung des
Individuums unter die Macht des Staates sei unbedingt durchzusetzen. Es
war also gerade das die innere Überzeugung, was von den konservativen
wie liberalen Gegnern als Vorwurf erhoben wurde und wird und was andere
Sozialisten nach einem „Dritten Weg“ suchen ließ.
Ich muss hier nicht aufzählen, welche schädlichen Folgen das für
das politische Leben, für die Wissenschaften, für die Künste und vor
allem für das Verhältnis der Menschen zu „ihrem Staat“ hatte. Ich
erinnere nur daran, wie viel Kraft die SED aufbrachte und verbrauchte,
um immer wieder neue Bekenntnis- und Ergebenheitsrituale zu erfinden!
Das „Ich“ ein kleinbürgerlicher Überrest, der zu überwinden ist – vom
Ich zum Wir.
Nun wissen wir, dass gerade solche Einengungen und Rituale
widerständiges und schöpferisches Handeln auf bemerkenswerte Weise
anregen können, wir wissen, dass die aufbegehrenden jungen Leute sich
wohlwollender Anteilnahme wie Förderung durch viele Lehrerinnen und
Lehrer sicher sein konnten
wir wissen, dass die meisten Ostdeutschen Kontrolle und Repression
durch die diversen Kollektive ganz selten erinnern und dagegen
Verlusterfahrungen dominieren – usw. Mir sind so gut wie alle Argumente
bekannt, mit denen der Anti-Individualismus des DDR-Sozialismus
bestritten, relativiert oder entschuldigt werden kann - dennoch:
der „heilige“ Satz von der freien Entwicklung eines jeden
einzelnen ist – aus welchen Gründen auch immer - in Ideologie und
Praxis in sein Gegenteil verkehrt worden. Das sollte laut gesagt
werden, gerade weil „die“ Sozialisten in diesem Punkte in der Defensive
sind.
Rechte Neoliberale nehmen den Individualismus für sich in Anspruch,
die durch ihre Wirtschaftspolitik die Handlungsfreiheit und
Lebenschancen großer Bevölkerungsgruppen einschränken. Die „Ich-AG“
preisen sie als Form klassischer Selbstverwirklichung und wollen den
Wohlfahrtsstaat auf das Niveau der Armenpflege drücken. Sozialisten
verteidigen ihn, weil seine Leistungen die Selbständigkeit und Würde
aller Gesellschaftsmitglieder sichern sollen. Er ist auch Voraussetzung
jeder Bildungsreform.
Vielleicht muss „sozialistischer Individualismus“ für unsere Zeit
neu definiert werden? Sicher nicht im idealistischen Überschwang des
klassischen Selbstverwirklichungsideals und sicher auch gegründet auf
die geschichtliche Erfahrung, dass Gewinne an individueller Freiheit
immer das Ergebnis kollektiver Aktionen waren, Resultat gemeinsamer
Kämpfe Gleichgesinnter.
Aber vielleicht ist ja die Quintessenz des Kommunistischen
Manifests für Sozialisten gar kein heiliges Gebot mehr, vielleicht war
es nur der historische Versuch, das Menschenbild der klassischen
Humanisten mit der radikalen Analyse und Kritik der kapitalistischen
Gesellschaft zu verbinden. Vielleicht nur ein Nachklang jener
großartigen Utopie von Fourier, der die soziale Welt – wenigsten in
seinen Phalanxen - so einrichten wollte, dass alle sozialen Rollen und
Aufgaben, die notwendig zu vergeben sind, den Bedürfnissen und
Neigungen der nach Anlagen, Alter und Geschlecht so unterschiedlichen
Menschen entgegen kommen?
Für seine „Neue Liebeswelt“ hat er bekanntlich genaue Pläne gehabt,
viele sehr detailliert. Das was wir heute als Kanalisation kennen, war
den achtjährigen Knaben auf Zeit zugewiesen, die nach seinen
Beobachtungen eh am liebsten im Modder spielten. Er wollte keinen neuen
Menschen erziehen oder bilden, sondern sie sollten ihre Neigungen auf
eine Weise ausleben können, dass sie für die Gemeinschaft als Tugenden
sich erweisen. Bei bestimmten Knaben wäre das eben die „Neigung zu
Schmutz, Stolz, Frechheit und Ungehorsam“[6], aus der die Gemeinschaft
ihren Nutzen ziehe.
Zum Glück legt sich diese bestimmte Neigung zu Schmutz mit den
Jahren, was uns aber eingeboren bleibe, das wäre der
Schmetterlingstrieb, der Drang zum Wechsel der Beziehungen und
Tätigkeiten. Und so hatte er die Idee, nicht nur die Beziehungen der
Geschlechter und Generationen von den triebfeindlichen Zwängen zu
befreien, sondern auch die Arbeit. Allen bekannt ist Schillers Klage
über die Folgen der Arbeitsteilung: „Ewig nur an ein einzelnes kleines
Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als
Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er
umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und
anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu
einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“[7]
Fourier sah das ähnlich, doch nicht der verfehlten Idee vom ganzen
Menschen galt sein Interesse, sondern den widerstrebenden Neigungen der
Betroffenen. Der Schmetterlingstrieb in uns, das unstillbare Bedürfnis
nach Abwechslung, lasse es nicht zu, Tag um Tag nur einer Profession zu
dienen – schon gar nicht lebenslang. Seine Abhilfe war die großartige
Idee vom Wechsel der Arbeit. Die fand der Sozialist Marx schon ganz
richtig, doch Fouriers Vorstellung, Arbeit könne zum Spiel werden und
auch die von ihm entsprechend ausgearbeiteten Tages- und Wochenplänen
nannte er grisettenhaft naiv. Aber da war Fourier schon 20 Jahre tot
und inzwischen sichtbar, dass der schnelle technologische Fortschritt
ohnehin alle früher festen „Berufe“ auflöste und immer neue
Anforderungen von den Arbeitenden zu bewältigen wären, sie zum Wechsel
zwangen.
Die wohl wichtigste Neuerung, die die Sozialisten in die
Bildungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts eingebracht haben, ist die
Einbindung der Arbeit in das Bildungsprogramm. Der Kernsatz aus den
„Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats der
I. Internationale“, den Marx 1866 schrieb, steht für die Fassung dieser
Idee vor 140 Jahren: „Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit,
geistiger Erziehung, körperlicher Übung und polytechnischer Ausbildung
wird die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und
Bourgeoisie erheben.“[8] Es wäre schon interessant, das Schicksal
dieser sozialistischen Grundideen durch die Geschichte zu verfolgen,
sich erneut den Bildungsausschuss der „alten“ Sozialdemokratie
anzuschauen, die Bildungspolitik im „Roten Wien“ und die der
„Entschiedenen Schulreformer“, das sozialistische Bildungskonzept in
der DDR wie die Wirksamkeit der Sozialisten bei den Bildungsreformen im
Westen und auch die 68er Radikalkritik an der bürgerlich-autoritären
Erziehung darauf zu prüfen, wie weit heutige Problemkonstellationen
damit verwandt sind und was sich als völlig anders erweist.
Mir erscheint das auch als dringlich, weil die neue Situation, die
mit der Krise des Sozialismus in Osteuropa begann und mit dem folgenden
Zusammenbruch der sozialistischen Systeme offen ausbrach, eine
Neuorientierung auch in den Traditionen verlangt, auf die sich
Sozialisten heute berufen können. Aktuelle Debatten zeigen, dass die
deutsche Teilung auch bei den Linken zu recht unterschiedlichen
Vorstellungen von einem ideal eingerichteten Bildungssystem geführt
hat.
Wenn zu Recht gefordert wird, die Erfahrungen des Bildungswesens
der DDR endlich ohne Tabus zu sehen und daraus zu lernen, dann dürfte
der Hinweis auf das so gelobte finnische Schulsystem nicht genügen, das
eben auch ostdeutsche Erfahrungen nutzte. In diesem Felde sollten die
40 Jahre DDR mit weitem Blick als Moment der Geschichte des Sozialismus
(als Idee und Bewegung) in Deutschland und in Europa gesehen werden.
Und dabei müssten vor allem die Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen
der westdeutschen Sozialisten aller Strömungen und Bekenntnisse
beachtet werden. Nur in solch „weiter“ Perspektive werden die linken
Sozialisten aus Ost und West besser zueinander finden.
Das Wort „Sozialismus“ kam erst 1832 in Umlauf, die Ideen und
Bewegungen, die es seitdem zusammenfassend bezeichnet, sind seit über
zweihundert Jahren eine der großen kulturellen Kräfte nicht nur der
europäischen Gesellschaften. Sie reklamieren - als Gegenkraft zur
zerstörerischen Verwertungstrategie der Herrschenden - das Verlangen
der Vielen auf ein würdevolles Leben nach ihrer Fasson. Dieser Anspruch
und diese Einbindung sollten nicht vergessen werden, wenn heute und
morgen spezieller Sachverstand mobilisiert wird, um die aktuellen Nöte
und Chancen hier im Lande zu diskutieren.
Und wenn es um sog. „Chancengleichheit“ geht, wenn notwendiger
Pragmatismus gefordert wird und wenn auf Bürgernähe gedrungen wird:
immer mal an den vielleicht etwas altmodisch klingenden Wilhelm
Liebknecht denken: „Durch Bildung zur Freiheit, das ist die falsche
Losung der falschen Freunde. Wir antworten: durch Freiheit zur
Bildung!“
Anmerkungen
1 Friedrich von Cölln, Beiträge zur Beförderung der Volksbildung, Lemgo 1800, S. 73.
2 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen
in einer Reihe von Briefen; in: ders., Über Kunst und Wirklichkeit,
Leipzig 1959, S. 393.)
3 Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner, Bd. 1, Halle 1824, S. 581 f. S. 579 f.)
4 Robert Alt, Das Bildungsmonopol, Berlin 1978.
5 Heinz-Joachim Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, 1970
6 Charles Fourier, Aus der neuen Liebeswelt, Berlin 1977, S. 200f.
7 Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung, a. a. O., S. 286.
8 Marx/Engels Werke, Band 16, S. 195.
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