Thema | Kulturation 2/2005 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Redaktion | Zweite Enquête unter Kulturwissenschaftlern und Kulturpolitikern zum kulturellen Wandel in Deutschland
| Zweite
Enquête unter Kulturwissenschaftlern und Kulturpolitikern zum
kulturellen Wandel in Deutschland als Folge des Beitritts der DDR zur
Bundesrepublik
1993/94 veranstaltete die Redaktion (damals noch der „Mitteilungen aus
der kulturwissenschaftlichen Forschung“) eine Umfrage unter
Wissenschaftlern und Kulturpolitikern, worin denn nach 1989/90 der
kulturelle Wandel in Ostdeutschland bestehe. Die damaligen Antworten
sind in unserer Rubrik Zeitdokumente zu finden. Der fünfzehnte
Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist ein
Anlass, die kulturellen Folgen der deutschen Einheit nach gut einem
Jahrzehnt erneut zu diskutieren. Wir haben zunächst die damaligen
Teilnehmenden gebeten, sich wiederum zu den kulturellen Veränderungen
zu äußern, ggf. ihren damaligen Text zu kommentieren oder ihre heutigen
Befunde auf andere Weise mitzuteilen. Die erneute Recherche wurde
thematisch erweitert und den Mitwirkenden folgender „Fragebogen“
vorgelegt: Erstens: Worin sehen/vermuten Sie im Rückblick auf 15 Jahre deutsche Einheit die wichtigste kulturelle Veränderung in Ostdeutschland?
Zweitens: Gab es (auch) in den alten Bundesländern einen kulturellen Wandel?
Drittens: Stehen Sie zu Ihrer Auffassung von 1994 …?
Viertens: Welchen kulturellen Prozessen sollte künftig
unsere Aufmerksamkeit gelten? Wo erkennen Sie wichtige kulturelle
Innovationen? Wer sind die produktivsten Szenen, Bereiche, Milieus,
sozialen Gruppen in den kommenden Jahren?
Fünftens: Kultur ist international zu einem Feld von
Auseinandersetzungen geworden, auch von Gefährdungen ist die Rede. Wo
sehen Sie in der neuen Situation Chancen und wo Gefahren?
Sechstens: Was ist wichtiger als Antworten auf diese Fragen
Hier folgen die Transkripte der Interviews von
Peter Alheit
Max Fuchs
Hermann Glaser
Albrecht Göschel
Volker Gransow
Antonia Grunenberg
Horst Haase
Michael Hofmann
Helmut Hanke
Wolfgang Kaschuba
Thomas Koch
Dieter Kramer
Alf Lüdtke
Jürgen Marten
Dieter Rink
Kristina Volke
Rudolf Woderich
Den Abschluss bilden kommentierende Beobachtungen zu den eingegangenen Antworten (von Harald Dehne, Isolde Dietrich, Gerlinde Irmscher und Dietrich Mühlberg).
Transkripte der Interviews in alphabetischer Reihenfolge
Max Fuchs (23. August 2005)
Prof. Max Fuchs (Remscheid) im Interview
Erstens: Die erste Frage war die nach den wichtigsten kulturellen
Veränderungen in Ostdeutschland. Ich würde die gerne zweigeteilt
beantworten. Also was die "normalen Menschen" betrifft in
Ostdeutschland, ist das einfach der Erwerb der kulturellen Kompetenz
mit Kapitalismus umzugehen. Das ist sicherlich nicht bloß die
Erkenntnis, dass Geld eine andere Rolle spielt und der Warencharakter
dominant ist, sondern das erfordert auch eine ganze Reihe anderer
Dispositionen und Mentalitäten, sich daran zu gewöhnen, dass man auch
eine andere Rolle spielt in so einem Staatsgebilde.
Für den Kulturbereich im engeren Sinn war glaube ich das
Schmerzhafteste - und das hat auch meine Antwort vor reichlich 10
Jahren geprägt: dass sich Kultureinrichtungen jetzt auf das neue
politische und gesellschaftliche System einstellen mussten. Und das
erste Erlebnis war, dass unglaublich große Anzahlen von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kultureinrichtungen waren. Ich
kann z. B. eine Zahl benennen. Das FEZ in der Wuhlheide hatte damals
versucht, in die Förderung des Kinder- und Jugendplanes des Bundes zu
kommen, ein wichtiges jugendpolitisches Förderinstrument. Da gab es
Hunderte von Mitarbeitern und der Finanzbedarf dieses FEZ alleine wäre,
ich glaube, alleine zweimal so groß gewesen wie der gesamte
Haushaltstitel für die gesamte Kinder und Jugendkulturarbeit, die auf
Bundesebene damals in Westdeutschland gefördert worden ist. Da war
einfach völlig klar, dass diese große Anzahl von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern im Kulturbereich in dieser Form überhaupt nicht
finanzierbar sein wird. Und das zu vermitteln, war damals meine Aufgabe
und darauf hat sich der Kulturbereich in Ostdeutschland einstellen
müssen, sodass ich glaube, dass es eine ganz entscheidende Veränderung
für die Menschen war, die im Kulturbetrieb arbeiteten.
Zweitens: Die zweite Frage nach dem kulturellen Wandel in
Westdeutschland. Es wird vielleicht überraschen, aber ich glaube der
liegt auf derselben Ebene wie in Ostdeutschland. Zwar gab es natürlich
in Westdeutschland schon einige Jahrzehnte ein kapitalistisches System,
aber die Forschung zeigt (und auch die Erfahrung), dass es ganz
unterschiedliche Formen von Kapitalismus gibt. Man spricht auch von
einer Vielfalt kapitalistischer Systeme. In Westdeutschland hatte man
unter all den Möglichkeiten, wie Kapitalismus organisiert werden kann,
noch so ein sozial verträgliches System, das, was man „Rheinischen
Kapitalismus“ nennt oder soziale Marktwirtschaft oder wie all diese
Begriffe heißen. Faktum ist aber, dass die soziale Absicherung noch
unglaublich stark war, auch im internationalen Vergleich mit
vergleichbaren Ländern. Seit Anfang der 90er Jahre begann das, was man
heute ja sehr gut kennt, nämlich die Globalisierung. Die ist ja nicht
bloß eine Erfindung von Intellektuellen, sondern es gibt einfach eine
weltweit vernetzte Wirtschaft - auch natürlich eine weltweit vernetzte
Kultur - und diese Globalisierung der Wirtschaft, also die Durchsetzung
eines sehr marktliberalen Ordnungssystems, bei dem soziale
Absicherungen nur noch stören, das fing so etwa vor zehn Jahren an auch
die Westdeutschen zu ergreifen. Und ich glaube, der Mentalitätswandel,
zu dem auch solche Dinge wie Hartz IV gehören, wozu ja gehört, so
genanntes Anspruchsdenken zu reduzieren, dankbar zu sein für all das,
was man überhaupt noch an sozialer Absicherung bekommt, dieser quasi
nationale Umerziehungsprozess, der hat in dieser Zeit stattgefunden,
sodass ich schon denke, das kapitalistische System heute in Deutschland
ist überhaupt nicht mehr zu vergleichen mit dem System, das die
Westdeutschen kennen gelernt haben und an das sich vermutlich die
Ostdeutschen auch gerne angeschlossen hätten. Man kann nur noch davon
träumen, sodass heute der Kampf darum geht, unter den verschiedenen
Varianten kapitalistischer Modelle eben doch noch mal eines zu finden,
oder dafür zu kämpfen, das relativ dem, was man „Rheinischen
Kapitalismus“ nennt, also sozial stark abgefedert, nahe kommt. Ich
denke, das ist auch ein kulturelles Problem, das hat mit Mentalitäten
zu tun. Das hat aber auch mit dem Umgang mit der Lebensqualität der
Menschen zu tun.
Drittens: Die dritte Frage, ob ich zu meiner Auffassung von 1994 stehe,
ja das habe ich eben schon angedeutet. Damals war für das Kultursystem
der Übergang zu einem härteren Umgang mit Zeit zum Beispiel zu
bewerkstelligen. Also wir hatten damals schon mit einer großen
Bewunderung - nicht nur im Kulturbereich, sondern das gilt auch für den
Wissenschaftsbetrieb - gesehen, dass man im Osten Deutschlands einen
vielleicht humaneren Umgang mit Zeit gepflegt hat. Das heißt, diese
Hektik war nicht so gegeben, im Wissenschaftsbereich war nicht
unbedingt das Prinzip um jeden Preis publizieren zu müssen, sondern man
konnte sich doch mit einer sehr viel größeren Gelassenheit auf seine
Projekte, auch im Kulturbereich, einlassen. Diese Zeit ist zu Ende
gegangen und das war etwas, was man auch zum Beispiel hat sehen können
an der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kulturbereich.
Ich kenne jetzt keine präzise Statistik, aber ich glaube, bestenfalls
noch ein Zwanzigstel der Leute, die damals beschäftigt waren, sind
heute noch im Kulturbereich beschäftigt. Insofern glaube ich, dass das,
was ich damals - so als Kassandra - formuliert habe: so wird es kommen
- das ist inzwischen eingetreten und ich glaube nicht, dass das eine
Entwicklung zum Besseren ist. Aber es ist die Anpassung an den Standard
West.
Viertens: Frage vier, das sind verschiedenen Fragen. Die Frage nach dem
kulturellen Innovationen: da glaube ich, dass möglicherweise die großen
Innovationen, auch im Kunstbereich, um mal auf den Bereich von Kultur
einzugehen, gar nicht in der Großstadt sind sondern eher in den in den
Klein- und Mittelstädten. Also man erlebt das, dass Tanzkompagnien,
etwa die in Saarbrücken, vielleicht auch, weil sie nicht ständig in den
großen Feuilletons sind und sich irgendwo beweisen müssen, mehr Zeit
zum Entwickeln haben und von da her unglaubliche Qualitäten entwickeln.
Hier ist die Situation in den neuen Bundesländern - dort gibt es ja
nicht die großen Metropolen, sondern das ist eher eine ländliche
Struktur oder Struktur von Klein- und Mittelstädten - für diese
Prozesse geeignet. Ich will nur an William Forsythe erinnern, der
letztes Jahr gewechselt hat von der Metropole Frankfurt am Main in die
neuen Bundesländer,auch weil er sich überlegt hat, dass er dort
vermutlich bessere Rahmenbedingungen hat zu arbeiten. Und eben habe ich
in der Zeitung gelesen, dass er möglicherweise der Choreograf des
Jahres werden wird. Also das wäre so etwas. Der Umgang mit Provinz ist,
glaube ich, etwas was für Deutschland ziemlich wichtig ist, weil die
Provinz dort gar nicht negativ besetzt ist, sondern eher auch auf Grund
der Vielfalt, auch der föderalen Struktur, ganz andere
Entwicklungsmöglichkeiten hat.
Die produktivsten Szenen? Ich komme ja nun aus der Kinder- und
Jugendkulturarbeit: Es sind aus meiner Sicht die Kinder und
Jugendlichen, die die kulturelle Kompetenz entwickeln, entwickeln
können - das sehen wir in der Praxis - selbst in einem
kulturindustriell geformten Bereich den Eigensinn ästhetischer Produkte
durchzusetzen. Und so denke ich, dass es wichtig ist, sie auch in
diesem Feld Kinder- und Jugendkulturarbeit besonders zu berücksichtigen
und es ist gut, dass die hohe Kulturpolitik, die großen
Kultureinrichtungen, kulturelle Bildung als Pflichtaufgabe zunehmend
erkennen und wo sie es nicht erkennen, dass man förderpolitisch
nachhilft, dass sie das denn auch tun.
Ansonsten ist der vermutlich wichtigste kulturelle Prozess derjenige,
dass ein neues Generationenverhältnis entsteht. Das hat ja nicht bloß
damit zu tun, dass die älteren und alten Menschen immer mehr werden,
sondern dass man bisher überhaupt keine kulturelle Kompetenz hat mit
Gesellschaften, in denen es eine solche Altersstruktur gibt. Und dort
wird man einfach neu definieren müssen, wie die einzelnen Menschen in
der Gesellschaft miteinander umgehen. Das ist ein eminent kulturelles
Problem. Es ist natürlich auch ein soziales und ökonomisches, aber es
ist eben auch ein kulturelles Problem, dafür Kompetenzen zu entwickeln:
wie man die neue Mixtur von Erfahrungen und Erfahrungswissen der
verschiedenen Generationen miteinander in Verbindung bringen kann.
Fünftens: Die fünfte Frage - Kultur international? Das ist etwas, was
uns auch als Kulturrat beschäftigt, Kulturpolitik kann überhaupt nicht
mehr national betrieben werden. Das ist die erste Erkenntnis, und die
zweite Erkenntnis: Kulturpolitik kann vor allen Dingen nicht mehr als
spezialisierte Kulturpolitik betrieben werden. Wir werden gleich die
Wahlprüfsteine des Deutschen Kulturrates zu der nächsten
Bundestagswahl, die ja vermutlich stattfinden wird - am Donnerstag soll
das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung bekannt geben, ob die
Wahl denn nun stattfinden darf - die werden wir morgen vorstellen und
man wird feststellen, Förderpolitik im engeren Sinne, d. h. zum
Beispiel Haushaltsansätze, spielen - mit Ausnahme der auswärtigen
Kulturpolitik - überhaupt keine Rolle. Aber eine Rolle spielen
internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation oder die
Europäische Union. Dort werden Rahmenbedingungen geschaffen, die
entscheidend dafür sind, möglicherweise entscheidender als die Frage,
ob ein Kulturhaushalt ein bisschen größer oder kleiner ist, wie
Kulturarbeit, wie Kunstproduktion, wie kulturelle Bildungsarbeit in
Zukunft stattfinden kann. Das sind die wichtigsten Prozesse. Es sind
sozusagen Global Players jetzt im Spiel, die hätte man vor zehn Jahren
noch gar nicht auf dem Schirm gehabt - die WTO ist 1995 gegründet
worden, d. h., die gab es damals noch gar nicht. Und heute meinen viele
Kulturakteure, sie müssen sich nicht drum kümmern und es ist auch
schwierig zu erklären, was GATS ist und das Inländerprinzip und die
Meistbegünstigtenklausel, hier musste die Kulturpolitik dazulernen und
muss vermutlich noch sehr viel mehr dazulernen.
Ja, dass das alles auch Chancen hat, wenn Kulturen sich begegnen, wenn
es denn auch wirklich verschiedene Kulturen sind, deswegen ist es
wichtig, für kulturelle Vielfalt sich einzusetzen, so wie es jetzt im
Rahmen der UNESCO und der Konvention zur kulturellen Vielfalt auch
geschieht.
Sechsten: Was ist wichtiger als die Antwort auf diese Fragen? Nun ich
habe die Fragen bisher aus meinem Arbeitsschwerpunkt, nämlich
Kulturpolitik auf Bundesebene, beantwortet. Kulturpolitik auf
Bundesebene hat es weniger mit Künsten direkt zu ist wieder klar
geworden, wie wichtig dieses Konzept der Lebenskunst ist, dass nämlich
im Mittelpunkt von all den Anstrengungen, auch den politischen, auch
den juristischen Rahmenbedingungen, unser eigenes Projekt des guten
Lebens steht. Dazu kann Kunst einen Beitrag leisten, dazu kann
Kulturpolitik einen großen Beitrag leisten. Und ich glaube, dieses Ziel
soll man nicht aus dem Auge verlieren, vor allen Dingen soll man sich
auch nicht entmutigen lassen, wenn die Rahmenbedingungen, die ich ja
doch etwas negativ beschrieben habe und die ich auch so negativ sehe,
sie so sind, wie sie sind - es ist unser Leben, davon haben wir nur
eins, sodass es sich lohnt, sich anzustrengen, auch um vielleicht die
Rahmenbedingungen zu verbessern, aber trotz allem auch innerhalb dieser
Rahmenbedingungen unser eigenes Projekt des guten Lebens, also das, was
man auch Glück nennt, zu realisieren.
Hermann Glaser (13. Juli 2005)
Prof. Hermann Glaser (Roßtal) im Interview
Erstens: Die wichtigste Veränderung sehe ich darin, dass das, was
in langen Erfahrungen in der DDR, häufig auch mit Leidensdruck,
entwickelt, in manchem auch erträumt wurde, nun in einer freiheitlichen
Atmosphäre hat verwirklicht werden können. Oder - man muss auch die
Möglichkeitsform verwenden - hätte verwirklicht werden können. Im
Verbund mit der kulturpolitischen Situation in Westdeutschland, wo man,
ich glaube, bei fast allen Kulturarbeiterinnen und Kulturarbeitern sehr
interessiert war an einem sowohl theoretischen wie praktische Diskurs.
Ich verwende den Konjunktiv, weil viele Umstände dies abblockiert haben
- ein Thema, was uns ja bis heute beschäftigt, sodass also die Ideen,
die gemeinsam entwickelt wurden und auch weiter verwirklicht werden
hätten können, in manchem stecken geblieben sind. Und das andere
besteht darin, dass sehr viele Seiteneinsteiger in der DDR, die sich
nun sehr für Kulturpolitik engagierten, nun Tätigkeitsfelder bekamen,
die sie auch sehr genutzt haben.
Zweitens: Der kulturelle Wandel in den alten Bundesländern ist aus
meiner Sicht leider negativ. Nicht, dass die Initiativen und die
Engagements vieler einzelner und Gruppen und Initiativen in den Städten
und Gemeinden zurückgegangen sind, aber die Politik und die gesamte
gesellschaftliche Situation haben sich negativ entwickelt. Die Berliner
Republik ist ja, was viele kritisieren, aber leider zu wenige, nun
ursupiert worden von einem Ökonomismus oder sagen wir, von einem nicht
gezähmten Kapitalismus, der eigentlich das, was auch im Rahmen sozialer
Marktwirtschaft für eine demokratische, freie Kultur als Möglichkeit
sich in den letzten Jahrzehnten ergeben hat, sich nicht mehr so
entwickeln konnte, wie wir es hoffen. Das kann man auch ablesen an den
Parteiprogrammen, die kaum noch eine wirklich engagierte Kulturpolitik
fordern und fördern.
Drittens: Was ich eigentlich über Jahrzehnte kulturpolitisch
formuliert und erfreulicherweise mit vielen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern praktiziert habe, ist nicht beeinträchtigt durch den
Zeitwandel. Es gibt bestimmte Konstanten und das was ich nun vor
eineinhalb Jahrzehnten oder auch früher formuliert habe, darüber
erbleiche ich nicht, wie Herr K. bei Bert Brecht, der sich ja nun, weil
man ihm sagte, er habe sich nicht verändert, erschrickt. Auf der
anderen Seite ist es natürlich klar, man verändert sich immer, es
müssen immer die Überlegungen, die man grundsätzlich hat, auch der
jeweiligen Situation angepasst werden. Aber insgesamt ist dieser
Begriff einer soziokulturellen Kultur weiter gültig, die sich in
Verbindung sieht mit gesellschaftlichen Fragen und Problemen, ohne
deshalb die Ideen und Ideale hoch oben, also im Überbau nun zu
missachten. Es ist, glaube ich, die wichtige Einheit des Wechselspiels
zwischen, ich sag’s mal in Anführungszeichen, „unten“ und „oben“, der
praktischen Arbeit und dem Denken. Man kann nichts auf die Füße
stellen, wenn man zu wenig im Kopf hat.
Viertens: Was generell für kulturgeschichtliche Entwicklungen gilt,
gilt aus meiner Sicht besonders in der Situation, in der wir uns nun im
21. Jahrhundert befinden. Initiativen und Aktivitäten kommen vor allem
von den Rändern. Das heißt also von kulturengagierten Personen und
Persönlichkeiten, von Gruppen und Institutionen, die sich nicht so
stark eingebunden fühlen in Produktionszwänge. Um es konkret zu sagen,
ich vermisse eigentlich das gesellschaftspolitische Engagement in
Kunsthallen, in Theatern, in anderen Einrichtungen, die jetzt mehr
schauen, ob sie durch Events sozusagen den politischen Konsens
herstellen. Also: es gilt das alte Wort, das am Schluss der „Träume“
von Eich steht, Kultur ist halt der Sand, nicht das Öl im Getriebe der
Welt. Auf der anderen Seite gilt auch der Satz eines Anarchisten, von
Bakunin, der gesagt hat, man muss der Welt entgegenkommen, um sie zu
verändern. Also diese Gratwanderung auf der einen Seite mit Methoden
und Inhalten, die einen breiten Konsens finden, aber auf der anderen
Seite nicht das aufgeben, was eigentlich Kultur bedeutet. Das bedeutet,
nicht immer Lösungen zu finden, sondern vorhandene Lösungen zu
befragen, und unter Umständen nun zu irritieren. Und das hat ja dieses
Wort von Eich sehr klar formuliert.
Fünftens: Die Internationalisierung von Kultur hat ja zwei Seiten,
wie so vieles im Leben. Die eine ist, dass auf diese Weise
Verbindungen, Austausch gefördert wurden, natürlich auch durch die
neuen Medien. Also das Surfen im Internet WWW ist sicher eine große
Hilfe dabei. Man kann aber das WWW auch so interpretieren: oh weh, oh
weh, oh weh Ausrufungszeichen! weil ja auf diese Weise Konturen
verloren gehen, Informationen und auch sehr negative Elemente
eingespeist werden, aber das entscheidende ist, dass - um einen anderen
Ausdruck zu verwenden - Globalisierung nicht zu einer Nivellierung der
einzelnen Kulturen, speziell auch in Europa, führt. Globalisierung wird
ja von vielen mit Recht als Amerikanisierung verstanden, oder Mac
Banalisierung. Da wird es sehr wichtig sein, dass die einzelnen
Regionen und Gemeinden, Städte, Regionen, Länder ihre eigene Kultur
erhalten und ausbauen. Aber gleichzeitig in einen noch intensiveren
Diskurs - gerade ja auch zwischen Ost und West - eintreten, also
Kulturaustausch. Was das im einzelnen bedeutet und welche Gefährdungen
da entstehen, wird kulturpolitisch wichtiger. Gefährdungen nicht
zuletzt auch durch die Kommerzialisierung, denn die WTO, World Trade
Organisation, hat ja eine Kommerzialisierung im nationalen und
regionalen Bereich zur Absicht und hier wird die Standfestigkeit der
Regierungen wichtig sein, damit dadurch wichtige Elemente der Kultur
nicht verloren gehen. Das ist ein abendfüllendes Thema aber die
Zielrichtung ist klar: Eigenständigkeit mit Offenheit zu verbinden.
Sechstens: Ich glaube innerhalb der gestellten Fragen könnte man
abendfüllend, tagesfüllend und sogar noch länger alles ansprechen, was
nun wichtig ist. Hier konnte nicht alles angesprochen werden, aber es
sollten Impulse gesetzt werden, damit der Diskurs wieder verstärkt
wird. Und das ist entscheidend: dass man heute nicht immer nur von der
Hand in den Mund Tagespolitik betreibt, sondern eine antizipatorische
Vernunft entwickelt, die vor allem auch wieder dem Prinzip Hoffnung,
der Utopie, der Vision den gebührenden Platz einräumt. Aber leider ist
die gegenwärtige Politik sowohl visions- wie utopielos und das wirkt
sich natürlich im Besonderen für Kultur aus. Denn Kultur ist zwar am
Tag und in der Gegenwart zu praktizieren, muss aber die Zukunft
entscheidend im Auge behalten. Und zwar nicht nur eine Zukunft, die auf
uns zukommt, sondern wie man die Zukunft gestalten will, das ist
entscheidend und nicht als Determinismus, dem man sich ergibt und
unterwirft.
Albrecht Göschel (14. Juli 2005)
Dr. Albrecht Göschel (Berlin) im Interview
Erstens: Ich habe 1994, als dieser Artikel erschienen ist, sehr
gravierende Unterschiede zwischen West und Ost behauptet, von denen ich
nicht weiß, durch empirische Studien, ob die sich nun erhärtet haben
oder sich bestätigt haben, von denen ich aber annehme, dass sie in der
Tendenz richtige Aussagen waren, die die letzten Jahre, auch die
letzten zehn Jahre oder die fünfzehn Jahre seit der Vereinigung geprägt
haben. Das kann man an einigen Details deutlich machen. Zum Beispiel:
also in der DDR gab es nach wie vor einen teleologischen Zeitbegriff,
also auch Zeit, Zeitablauf, laufen auf ein bestimmtes Ziel zu, im Sinne
klassischer Utopievorstellungen. Sehr viel Frustration über die
gegenwärtige Politik der Bundesregierung gerade auf östlicher Seite
besteht darin, dass kein Ende absehbar ist zu dieser Reformbewegung,
die die SPD eingeleitet hat. Also kein Ziel, worauf es denn
hinauslaufen solle. Das ist eine sehr traditionelle Politikvorstellung,
die sich in der DDR, also in den neuen Bundesländern, erhalten hatte,
das hatte ich damals auch gesagt und das scheint sich zum Beispiel zu
bestätigen.
Das zweite ist, dass auch die Vorstellung bestand, besteht, dass Staat
Macht ausüben solle, also seinen Job machen solle, steuernd wirken
solle - im Westen war schon sehr viel weiter die Vorstellung
verbreitet, dass staatliche Macht immer begrenzt ist, dass sie selbst
sozusagen gar nicht so viel ausrichten kann. Diese
Vorstellungsdifferenz zwischen beiden Teilen hat sich ich glaube auch
bestätigt. Die Hoffnung ist, dass ein starker Staat etwas bewirken
könne. Im Westen sind diese Hoffnungen nicht sehr groß, dass es den
starken Staat überhaupt geben könne. Ich glaube, auch darin war die
Einschätzung von damals richtig.
Auch richtig war sie vermutlich in der Vorstellung, dass die Nation so
etwas wie eine Solidargemeinschaft sein soll. Das ist sie ja für den
Osten auch gewesen, und ist auch immer eingefordert worden. Das hatte
der Westen auch mitgetragen, aber die Hoffnungen, dass das auf Dauer so
funktioniert und in jedem Fall so weitergeht, sind im Osten auf jeden
Fall unverrückbar und fest, während sie im Westen erheblich in Zweifel
gezogen werden, ob das tatsächlich so gehen kann. Also nicht nur, weil
dadurch der Osten von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt werden
würde, in großen Teilen, sondern einfach sozusagen aus diesem
Solidarbegriff von Gleichheit innerhalb einer Nation. Der
Bundespräsident Köhler hat das ja in Zweifel gezogen, dass das
sozusagen das Zielprogramm für die Zukunft sein könnte, was dann auch
sofort auf den geharnischten Widerstand der ganzen östlichen
Bevölkerung gestoßen ist. Da zeigen sich nicht nur politische
Opportunismen in dem Sinne, dass man um die Transferzahlungen fürchtet,
sondern dass man auch diesen Nationsbegriff nach wie vor im Osten für
relevanter und verbindlicher hält als im Westen. Das war damals eine
Einschätzung, die ich getroffen habe, die, glaube ich, nach wie vor
zutrifft.
Was ein entscheidender Punkt für das Kulturverständnis war, nach
meiner Meinung damals in Bezug auf damals aktuelle soziologische und
kulturwissenschaftliche Theorie, dass so zu sagen ein
Werkzeug-Verständnis sehr stark, also ein Funktionsverständnis, ein
Werkzeugverständnis von allen Dingen und Geräten und Vorgängen des
Lebens im Osten bestimmender sei, während wir im Westen dieses, was wir
Erlebnisgesellschaft genannt haben, sich hat entwickeln können. Ich
denke, dass das auch nach wie vor richtig ist, also sozusagen die
Bemühungen ostdeutscher Bevölkerung für das eigene Haus unter jeden
Bedingungen, für das große Auto usw. in einer anderen Form als sagen
wir Verreisen oder eine bestimmte Art von diesen Funktionsgegenständen
entlasteten Lebens, also alternativen Lebensansetzen. Diese Differenz
hat sich nach wie vor gehalten, auf beiden Seiten. Also das, was wir
Erlebnisgesellschaft nennen, hat sich im Osten nicht durchgesetzt.
Genauso wenig, wie darauf aufbauende Alternativbewegungen, die im
Grunde keinen großen Raum gewonnen haben usw. Also die Grünen spielen
nach wie vor in den neuen Bundesländern eine marginale Rolle. Insofern
waren die Einschätzungen von damals, von vor zehn Jahren, weitgehend
richtig. Man muss es insofern etwas differenzieren, das habe ich in
nachträglichen Studien auch noch untersucht, es hat die Ansätze eines
Wertewandels, der im Westen sozusagen sich vollzogen hat, jeweils auch
in den neuen Bundesländern, also in der DDR bereits und in den neuen
Bundesländern gegeben. Doch diese Ansätze sind jeweils, man kann es
schlicht und ergreifend sagen, durch staatliche Repression unterdrückt
worden, erstickt worden. Insofern waren Ansätze für diese
Modernisierungsbewegung im Osten da, auf denen konnte die Veränderung
in den letzten zehn bis fünfzehn Jahre aufbauen. Es ist nach wie vor
nicht so richtig klar, auch in weiteren Studien, wie weit bereits
sozusagen dieser Wertewandel, der im Westen weitgehend vollzogen war,
im Osten aber eher nicht, durch diese Ansätze, durch diese Anschübe,
die jeweils schon eingetreten waren, sich dann sozusagen in rapidem
Tempo vollzogen hat. Aber mir scheint doch, dass die wesentlichen
Differenzen, von denen wir Anfang der 90er Jahre alle geredet haben,
dass die sich doch bestätigt haben, in der Weise wie ich eben versucht
habe ist zu skizzieren, und dass es eben doch ungefähr eine Generation
dauert, bis das sich völlig angleicht. Insofern denke ich, dass die
Vermutung einer sich zumindest bei der erwachsenen Bevölkerung
erhaltenden Kluft zwischen beiden Seiten, dass diese Vermutungen
richtig sind und auch die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre noch
betreffen werden.
Volker Gransow (22. Juli 2005)
Dr. Volker Gransow (Berlin) im Interview
Erstens und Zweitens: In Ostdeutschland und auch in
Westdeutschland wie überhaupt auf dem größten Teil der Welt hat die
Globalisierung des Kapitalismus seit den neunziger Jahren zu einer
dominanten Kultur nach dem US-Vorbild geführt, die von Folgendem
geprägt wird:
1.] Orientierung am Wettbewerb
2.] Kommerzialisierung von Kultur
3.] Glorifizierung des Konsums
4.] Verneinung von zwischenmenschlicher Solidarität und
5.] Verwischung nationaler Identitäten.
Speziell in Ostdeutschland – aber nicht nur dort – hat sich wegen
des Erstarkens dieser dominanten Kultur eine alternative Kultur des
Pessimismus, der Resignation und der Migration herausgebildet.
Gleichzeitig nahm die oppositionelle Kultur der Kapitalismuskritik zu,
die ehemals in anderer Form die dominante Kultur der DDR gewesen war.
Drittens: Auf die Frage „Stehen Sie zu Ihrer Auffassung von 1994?“
möchte ich mit einem klaren Jein antworten. Ja, ich stehe dazu, denn
ich habe die Entwicklungen damals richtig gesehen. Nein, denn ich habe
damals eine verengte deutsche Perspektive gehabt.
Viertens: Wir sollten künftig unsere Aufmerksamkeit besonders
lenken auf die Verknüpfung von internationalen - z.B. amerikanischen
oder islamischen – mit deutschen Kulturprozessen sowie auf die deutsche
Kultur in einem Europa zwischen Vertiefung, Erweiterung und Krise.
Sechstens: Auf die Frage „Was ist wichtiger als Antworten auf diese
Fragen?“ möchte ich antworten: praktische ökonomische und ökologische
Kapitalismuskritik.
Horst Groschopp (10. August 2005)
Dr. Horst Groschopp (Berlin) im Interview
Ich habe mir in Vorbereitung auf dieses Interview noch einmal
angeschaut, was ich bei der Gründung der Kulturinitiative und besonders
bei der Enquete-Publikation in MKF 34 so geschrieben habe. Mein
Gegenstand war der „Stellungswechsel“ der Kulturarbeiterschaft, also
wie aus dem ehemaligen staatlichen, gewerkschaftlichen etc.
Kulturbetrieb und den dort Beschäftigten freie Kulturmitarbeiter
geworden sind und was mit ihnen dabei geschah.
Ich muss sagen, die Prognosen sagen – obwohl es nicht soziologisch
verifiziert ist (damals war es teilnehmende Beobachtung, heute ist es
teilnehmende Beobachtung): Es ist im Wesentlichen so gekommen, wie es
da drin steht. Und das Erstaunliche ist, wie die Leute
unterschiedlichen Alters es geschafft haben, sich an die neuen
gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen, die ja viel
individualisierter, viel kommerzialisierter sind. Und da war es dann
schon erstaunlich, welche Biografien das ergab. Natürlich gibt es auch
eine ganze Menge Verlierer, gerade im Kulturbereich. Aber auch das ist
nicht aufgelistet, wie diese Biografien dann verliefen.
Da bin ich schon bei dem wichtigsten Punkt. Also, was ist der
entscheidende Wandel? Den sehe ich tatsächlich in Form der
gesellschaftlichen Verhältnisse, also darin, wie Kultur jetzt
funktioniert, sowohl Kultur als Summe der Selbstverständlichkeiten, wie
Leute leben, als auch das Kultursystem. Und da sind ja die großen
Träger weggebrochen, die Gewerkschaft, die anderen Organisationen. Das
wäre noch genauer zu verfolgen, was aus den einzelnen Einrichtungen
geworden ist und inwiefern die Treuhand eben eine große
Kultureinrichtung war.
Wenn ich jetzt gefragt werde, was ich im Nachhinein nicht so
gesehen habe, dann ist es, sicher auch aus der Biografie und aus der
heutigen Beschäftigung heraus, der große Bereich kirchlicher
Einrichtungen, den wir nicht in seinem Wandel untersucht haben und der
sich enorm ausgeweitet hat. Kirche, da ist ja zu fragen, was ist das?
Das ist eine Steuergemeinschaft. Das sind Häuser. Das sind
Schulbetriebe. Das sind große Wirtschaftsunternehmen. Das ist Caritas,
das ist Diakonie mit über zwei Millionen Beschäftigten allein dieser
beiden Träger mit Monopolstellungen – etwa in der Drogenberatung. Das
habe ich nicht so gesehen und nicht so prognostiziert, dass sie eine so
große Stellung auch im eher volksatheistischen Osten einnehmen werden.
Auch nicht, wie viel Geld da reingeht, nicht für soziale Sachen,
das ist so nicht das Problem, sondern für reine Kultangelegenheiten.
Das hat mich dann schon verwundert. Auch, wie wenig Debatte es darüber
unter Kulturleuten gibt, wie sich das innerhalb des Kultusbereichs so
verteilt. Denn die beiden Kirchen sind eben große Kulturbetriebe, und
dem muss man sich genauso widmen und genau so rational darüber denken
wie über andere Kulturbetriebe auch. Und das ist weitgehend ausgespart
worden.
Wandel im Westen – ja, da denke ich mal, das Experimentierfeld Ost
hat genügend Erfahrungen und Methoden hervorgebracht, nun auch im
Westen Veränderungen vorzunehmen. Die Frage ist noch, inwiefern dies
mit dem tatsächlichen demographischen Wandel in irgendeiner Beziehung
steht, inwiefern dort die Gewerkschaften, die im Osten weitgehend
ausgeschaltet wurden, da noch bremsende Wirkung haben. Aber ich sehe
sowohl in den sozialen Situationen, wie sie da sind und wie sie zu
entsprechenden Wahlergebnissen auch geführt haben. Denn heute ist der
1. Juli, und nach 15 Jahren Wirtschafts- und Währungseinheit entzieht
der Kanzler sich selbst das Vertrauen, und das ist schon auch ein
kulturelles Zeichen.
Aber um jetzt wieder auf den Westen zu kommen, ich sehe hier
ähnliche Entwicklungen in der Soziokultur, wie sie sich im Osten
bereits vollzogen haben. Was mir aber viel wichtiger ist, dass es zu
einer Festivalisierung des normalen Kulturlebens gekommen ist. Es muss
sich alles irgendwie werbemäßig tragen und was einspielen.
Und was mir weiter auffällig ist, dass die neuen Reichen auch
wieder die Kultur entdecken und nach Formen suchen, sich hier
auszudrücken und auch kulturell zu präsentieren. Zu welchen
Entwicklungen sowohl die Verarmung und Entstaatlichung zum einen und
zum anderen die Selbstdarstellung von Reichen führt, ist noch
abzuwarten, auch zu welchen Protestformen, kultureller Art wie sozialer
Art, das führt.
Antonia Grunenberg (12. August 2005)
Prof. Antonia Grunenberg (Oldenburg) im Interview
Erstens: Ja, worin sehe ich nach 15 Jahren deutscher Einheit
die wichtigste kulturelle Veränderung in Ostdeutschland? Ich sehe sie
darin, dass noch immer alles in einem gewaltigen Strudel der
Veränderung und Beschleunigung begriffen ist. Das Paradoxe an dieser
Situation ist nur, dass diese Beschleunigung und diese Veränderung der
kulturellen Standards gekoppelt ist mit einer Stagnation
sondergleichen, das heißt, es ist … im Grunde sind es Effekte, die sich
widersprechen und die auch zum Stillstand und zur Blockade führen. Das
heißt, noch mal zusammengefasst, ich sehe eine gewaltige kulturelle
Beschleunigung, ein Verschwinden alter Mentalitäten, Einstellungen und
gleichzeitig ein Beharren, ein quasi erzwungenes Beharren in einer
Situation des Stillstands. Und darin besteht, glaube ich, eine der
großen Schwierigkeiten auch Politik zu machen, in dieser Situation.
Zweitens: Die Frage zwei heißt, gab es auch in den alten
Bundesländern, oder gibt es einen kulturellen Wandel, und dies würde
ich eindeutig bejahen. Ich meine, man kann sagen, es gibt ihn immer.
Aber worin er bestünde? Meines Erachtens besteht er darin, dass die
alte, über lange Jahre gehaltene Einstellung, dass es wachsenden
Wohlstand gibt und dass es immer aufwärts geht und dass die
Fortschrittslinie nicht abbricht usw. - dass sich dies ganz
einschneidend gewandelt hat und dass es von diesem
Fortschrittsoptimismus der 70er Jahre nur noch in, oder nicht nur noch,
sondern nur in Segmenten der Gesellschaft etwas übrig geblieben ist,
nämlich in den neuen Ökonomien, in allen anderen hat eher so was
gegriffen wie eine Reflexion des alten Optimismus oder auch die Einkehr
der Angst.
Drittens: Ob ich zu meiner Auffassung von 1994 stehe? Ich war
damals Verhalten optimistisch, ich bin das heute auch noch, aber ich
würde heute in sehr viel längeren historischen Intervallen denken. Ich
denke, dass es sehr viel länger dauert, bis jenes Hervorkommen von
Produktivität und Initiative, auf dass ich damals gesetzt habe, sich in
einer breiteren Art und Weise betätigen kann.
Viertens: Ja, die Frage nach kulturellen Prozessen, kulturelle
Innovationen - das kann ich irgendwie gar nicht so beantworten. Die
kulturellen Prozessen, die ich wichtig finde, sind die, die quasi
global verlaufen, und irgendwie kann man die dann auch Brandenburg oder
in Nordrhein-Westfalen wieder finden. Das heißt, das Problem, dass man
in kulturellen Differenzen leben können muss und dies seine großen
Schwierigkeiten hat, weil die vergangenen Generationen mit dem
Identitätsparadigma aufgewachsen sind und damit ja nun gewaltig
Schiffbruch erlitten haben. Und dieses Erlernen und Erfinden des Lebens
in der kulturellen Differenz halte ich für sozusagen für unser aller
Zukunft. Aber auch da würde ich sagen, dass das sehr lange dauert.
Fünftens: Die Frage fünf heißt, Kultur ist international, es ist
von Gefährdungen die Rede, worin sehen Sie Chancen und wo Gefahren -
auf die Frage kann ich eigentlich nicht antworten, weil ich sie schon
unter Frage vier beantwortet habe. Die Internationalität der Kultur ist
auch eine Interkulturalität, und das ist nicht nur was harmonisches,
sondern das ist auch mit Reibung und Konflikt verbunden. Und das Leben
in dieser kulturellen Vielfalt, die auch eben Differenz heißt und die
mit Spannungen und Reibungen und Widersprüchen und Gegensätzen
verbunden ist, das betrachte ich als große Herausforderung, ob wir nun
in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen oder Bangladesch leben.
Sechstens: Was wichtiger ist, als Antwort auf diese Fragen - sind weitere Fragen.
Horst Haase (Juli 2005)
Prof. Horst Haase (Berlin)
Elf Jahre nach der ersten Befragung sind auch elf Jahre
verstrichene Lebenszeit, so dass ich, auf die 77 zugehend, für meine
Sichtweise weniger denn damals Gültigkeit beanspruchen kann. Meine
Erfahrungen sind mehr und mehr medial vermittelt, also nur beschränkt
verlässlich. Vorbehaltlich dessen möchte ich mich dennoch zu den
aufgeworfenen Fragen äußern, weil auch ein solcherart begrenzter
Standpunkt vielleicht die eine oder andere Denkanregung geben kann.
Beginnen will ich mit der dritten Frage, ob ich zu meiner Auffassung
der Problematik von 1994 stehe. Ich kann sie bejahen, weil sich die
wesentlichen gesellschaftlichen wie subjektiven Komponenten kultureller
Entwicklung im Lande nicht grundsätzlich verändert haben und ihre
damals beschriebenen prekären Seiten weiterhin existieren. Auch haben
sich meine von Skepsis geprägten Erwartungen eher bestätigt denn als
irrig erwiesen. Natürlich gilt das nicht für jede Einzelfrage. So sind
die Erfahrungen der Wende, die freudigen wie die schmerzhaften, kaum
zur Basis bemerkenswerter kultureller Innovationen geworden. Auch sind
die damals erhofften Ausweitungen bestimmter Formen des Widerstands im
Ringen um menschliche Würde nicht erfolgt, beziehungsweise haben sie
sich in andere Erscheinungsweisen verlagert, von denen im weiteren zu
handeln sein wird.
Doch zurück zur ersten Frage nach den wichtigsten kulturellen
Veränderungen in Ostdeutschland in den letzten 15 Jahren. Da ist vor
allem festzustellen, dass die Kommerzialisierung indessen total
dominiert. Ohne Moos ist partout nix mehr los. Dem sind die
massenkulturellen Prozesse weitgehend ausgeliefert, und auch die
sogenannte Hochkultur ächzt unter den Sparzwängen. Die schwache
ökonomische Basis Ostdeutschlands verschärft diese überall im Lande
anzutreffende Situation. Kulturpolitiker stehen auf verlorenem Posten.
Nur wo zu verdienen beziehungsweise lukrativ Kapital anzulegen war, kam
es zu positiven Veränderungen: das äußere Bild der ostdeutschen Städte,
zum Teil auch der Dörfer, hat dadurch beträchtlich gewonnen,
skandalöser Abriss ist die andere Seite der Medaille – für die auf hohe
Mieteinkünfte setzenden Vermieter gibt es indessen viel zu viele
Wohnungen. Auch die Straßen wurden besser und der motorisierte Teil der
Bevölkerung erlangte eine höhere Mobilität, freilich auf Kosten des
partiellen Abbaus jenes Gewinns gesunder Atemluft, der nach der Wende
durch die weitgehende Deindustrialisierung erzielt wurde. Nicht
speziell ostdeutsch aber auch hier gleichermaßen bemerkenswert ist der
enorme Vormarsch der Computer- und Handytechnik in diesem Zeitraum,
dessen kulturelle Konsequenzen – nicht zuletzt für die Jugendkultur -
höchste Aufmerksamkeit erfordern.
Hinzu kommt, dass unter Stichworten wie Freiheit und Pluralismus eine
erschreckende Einebnung der kulturellen Landschaft erfolgt. Neue Ideen,
Protest, kritische Analyse, gar womöglich leise Töne haben kaum eine
Chance etwas zu bewegen. Sie verschwinden unter oberflächlichem
Aktionismus, einer Flut manipulierter Bilder, schrillem Getöse,
einseitigen Informationen. Ernsthafte Diskurse ersticken im Dunst
unerträglichen Geschwätzes. Scheinbare Neuerungen stumpfen sich schnell
ab. Ohne wirkliche Höhepunkte folgt ein Event dem anderen. Allein Spaß
zu haben erscheint als Ziel vieler Bemühungen. Verlogene, abzockerische
Werbung hat einen anhaltend hohen Stellenwert. Die Aussicht, unter
diesen Bedingungen ostdeutsche Spezifika zur Geltung zu bringen, sind
leider sehr gering und kaum jemals von Dauer. Angesichts dessen mutet
es wie ein Wunder an, dass nicht wenige Menschen in den neuen
Bundesländern an ihrer Ostidentität, das heißt an Prägungen durch ihr
Leben in dem dahingeschiedenen Staat, festhalten; der alte Holzmichl,
er lebt noch – nicht zufällig entstand dieser sich 2004 mit Windeseile
verbreitende Text eines Schlager-Refrains im bundesrepublikanischen
Osten. In den nachwachsenden Generationen ist das derweilen
natürlicherweise immer geringer ausgebildet, wenngleich unter den
Bedingungen mangelnder Perspektiven für junge Leute sich dieser Prozess
auch wieder umkehren kann.
Die Kluft zwischen der kulturellen Praxis breiter Massen und einer
elitären Hochkultur hat sich vertieft. Das ist am besten im Angebot der
öffentlichen Bibliotheken zu sehen, das zwar reichhaltiger aber auch
sehr viel flacher geworden ist. Die nunmehr erreichte Gleichförmigkeit
der Bestsellerlisten in Ost und West weist ebenfalls darauf hin. Zügig
fortgeschritten ist die Vereinzelung der Individuen. In der Hochkultur
ist sie ohnehin entscheidendes Kriterium jeglichen Urteils; in
wichtigen massenkulturellen Prozessen wird sie eher kaschiert als
aufgehoben oder abgeschwächt. Werte wie Solidarität oder Gemeinsinn,
selbst Freundschaft, verblassen demgegenüber und sind auch durch
eifrige Forderungen nicht zu kräftigen. Ein weit verbreitetes
politisches Desinteresse entspricht dem. Ob das aufgeblühte
Vereinsleben hier als ein Gegengewicht angesehen werden kann, erscheint
mir mehr als zweifelhaft, dennoch ist es ein wichtiger kultureller
Faktor. Selbst der Karneval hat nun im Osten, wenngleich noch etwas
verkrampft, Boden erobert.
Die demographische Entwicklung und die andauernde Emigration junger
Menschen aus Ostdeutschland führen langsam aber sicher zu einem
kulturellen Wandel, dessen Folgen im einzelnen noch nicht abzusehen
sind, aber wohl eher stagnative als innovative Züge annehmen werden.
Rentner und Pensionäre mausern sich zu den ausschlaggebenden
Kulturträgern. Die Situation der im Osten zurück bleibenden
Jugendlichen hingegen erweist sich zunehmend als aussichtslos, wird von
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gekennzeichnet. Wie dem begegnet
werden kann, ist mir auch unerforschlich. Es ist eine tragische
Situation, die zu Verrohung und kriminellen Aktivitäten vor allem aber
zum Aufleben rechten Gedankengutes beiträgt, wovon die jugendkulturelle
Szene in weiten Bereichen Ostdeutschlands bereits in durchaus
gefährlicher Weise beeinflusst wird.
Perfektioniert wurde die Deutungshoheit über die Geschichte und
Kulturgeschichte dieses deutschen Teilgebietes zwischen 1945 und 1990.
Gültig ist vor allem das Urteil derer, die nicht dabei gewesen sind und
die sich von der anhaltenden Empörung darüber leiten lassen, dass in
der gescheiterten Gesellschaftsordnung dem ungehemmten Profitstreben
Grenzen gesetzt waren. Bescheidene Zugeständnisse, wie etwa die
Anerkennung der Leistungen einzelner Künstler (Christa Wolf, Bernhard
Heisig), können über diesen Zustand nur hinweg täuschen. Für
bemerkenswerte und öffentlich zu wenig gewürdigte Erscheinungen, die
dem, wenn auch in sehr bescheidenem Maße, entgegenwirken, halte ich:
1. die sich in einer Flut autobiographischer Niederschriften
darbietende Erinnerungskultur, die nicht nur ein anderes, genaueres
Bild jüngst vergangener Verhältnisse zeichnet als die offizielle
Historiographie, sondern auch die Chance hat, in familiäre und andere
personale Strukturen hinein auszustrahlen.
2. die Fortexistenz eines Wissenschaftsbetriebes jenseits öffentlicher
Förderung und mit sehr beschränkten Arbeits- und
Publikationsmöglichkeiten, der sich auf die durch den Elitenwechsel
eliminierten Gruppen der Intelligenz stützt und sich der in
Ostdeutschland vorhandenen Probleme in besonderer Weise annimmt.
Ob es – Frage zwei – in diesen Jahren auch in den alten Bundesländern
einen kulturellen Wandel gab, vermag ich zwar noch schlechter zu
beurteilen, halte es aber, jedenfalls was die grundsätzlichen Aspekte
anbelangt, für unwahrscheinlich. Kommerzialisierung, Oberflächlichkeit,
Reduzierung öffentlicher Mittel sind auch dort symptomatisch. Auffällig
in den letzten Jahren ist allerdings eine stärkere nationalistische
Infiltrierung der politischen Mitte, besonders in der
Erinnerungskultur, in der einstmals von den 68ern eingenommene
Positionen wieder zurückgedrängt werden. Zu konstatieren bleibt wohl
weiterhin, dass man gerade auch im kulturellen Bereich bei der
Bevölkerung der Westländer eine spürbare, teils demonstrative
Abschottung gegenüber den geschichtlichen und gegenwärtigen Vorgängen
in den neuen Bundesländern beobachten kann. Eines allerdings ist gerade
in diesem Zusammenhang bemerkenswert: wider Erwarten hat sich Berlin
nach dem Regierungsumzug zu einem kulturellen Kristallisationspunkt von
europäischer Dimension entwickelt, ist zu einem weltoffenen und
kreativen kulturellen Zentrum geworden. Dabei hat auch das Amalgam
west-östlicher Erfahrungen, deutscher wie internationaler, eine gewisse
Rolle gespielt.
Zur vierten Frage. Aufmerksamkeit sollte künftig vor allem dem
Bestreben gelten, in allen kulturellen und künstlerischen Bereichen
eine positive, kritische und konstruktive, humanistische Sinnhaltigkeit
zu stärken, mehr wirklich persönlichkeitsfördernde Bedürfnisse zu
wecken und zu befriedigen. Die viel beschworene aber bisher ohne
tatsächlichen Effekt geführte Werte-Diskussion könnte dabei eine
beträchtliche Rolle spielen. Ansätze zu politisch entschiedenerem
Auftreten, wie sie sich im Zusammenhang der globalisierungskritischen
Bewegung und der Proteste gegen den Irak-Krieg und den massiven
Sozialabbau noch allzu bescheiden gezeigt haben und zeigen, müssten
kulturelle und künstlerische Prozesse kräftiger durchdringen. Bisher
beschränkt sich das eher auf Ausnahmen. Von größter Bedeutung
erscheinen mir heute und künftig die Diskurse jenseits der neoliberalen
Blockade-Front.
Bei gleichzeitiger Nutzung und Beförderung privater Sponsorentätigkeit
wäre darauf zu dringen, die Verantwortung und finanzielle Ausstattung
der staatlichen und kommunalen Kulturorgane nachhaltig zu sichern und
kräftig auszubauen. Die Tendenz zu einer immer umfassenderen
Privatisierung der Kultur muss gestoppt werden. Im massenkulturellen
Bereich gilt das besonders in Hinsicht auf Möglichkeiten für die
Freizeitgestaltung der Jugendlichen. Intensiv zu arbeiten wäre an
Konzepten für eine von Lohnarbeit freie befriedigende Lebensgestaltung
als auch an kulturellen Projekten, in denen Arbeitslose und Arbeitende
gemeinsam tätig sind, um den deprimierenden Folgen der
Massenarbeitslosigkeit entgegen zu wirken. In den ostdeutschen
Flächenstaaten sind die Möglichkeiten sinnvoller kultureller Betätigung
auch für ältere Menschen zu bewahren und auszubauen. Die noch
anhaltende Bereitschaft der jüngeren Alten zu einer aktiven
Lebensgestaltung zu fördern, sollte mehr als anderswo als eine
erstrangige Aufgabe kulturpolitischer Gestaltung anzusehen sein. Dem
sich andeutenden Bruch zwischen den Generationen, geschichtlich nicht
neu aber in unserer Epoche eine neue Qualität annehmend, ist nach
Kräften zu begegnen – handelt es sich doch dabei um eine Kulturfrage
ersten Ranges.
Die fünfte Frage führt auf ein weites Feld. Ich sehe darauf zwei
hauptsächliche Probleme. Zum einen das eines weltweit agierenden
Faschismus. Wenn schon Rudolf Bahro die Gefahr einer braunen
Ökodiktatur herauf beschwor, dürfte Demokratie noch eher und ohne
Skrupel preisgegeben werden, sollte sie dem Profitstreben der großen
internationalen Konzerne im Wege stehen. Fußtruppen werden sich finden,
teils üben und marschieren sie bereits. Wachsamkeit gegenüber allen
politisch-praktischen, ideologischen und künstlerischen
Erscheinungsformen dieser Observanz ist oberstes Gebot und bleibt die
kulturelle Verpflichtung Nummer Eins.
Zum anderen das des Terrorismus, der sich durch die weltweiten sozialen
Unterschiede immer wieder reproduziert. Er tangiert den Kulturbereich
zentral, weil in ihm religiöse Fundamentalismen für seine kriminelle
Praxis wie für das dahinter stehende politische Anliegen genutzt
werden. Ist ihm vordringlich durch sachgemäßes politisches Agieren und
vor allem durch wesentliche ökonomische Veränderungen zu begegnen, wäre
dabei auch eine beharrliche multikulturelle Arbeit, die sich durch
Provokationen nicht entmutigen lässt, außerordentlich hilfreich.
Entschiedene Ablehnung terroristischer Gewalt und Offenheit und
Toleranz in der Begegnung verschiedener Kulturen müssen sich unbedingt
ergänzen. Eine Art neuer West-östlicher Diwan könnte dabei förderlich
sein.
Sechstens - wichtiger als diese Antworten sind natürlich alle in die
Richtung ihrer Vorschläge gehenden künstlerischen, wissenschaftlichen,
kulturell-praktischen und kulturpolitischen Bemühungen selbst.
Text Horst Haase als pdf
Helmut Hanke (1. Juli 2005)
Prof. Helmut Hanke (Potsdam) im Interview
Erstens: In Ostdeutschland ist vielleicht – es begann vielleicht
vor fünf, sechs Jahren – eine Art etwas diffuser und sehr
unterschiedlicher Ostidentität zu Stande gekommen. Die Ostdeutschen
bemerken offenbar immer mehr, dass sie irgendwo angelangt sind, wo sie,
mindestens denkende Minderheiten, nicht hinwollten. Sie wollten die
Annehmlichkeiten der parlamentarischen Demokratie und des westlichen
Wohlstandes sehr wohl gegen die Enge und Zwänge des
pseudo-sozialistischen Regimes eintauschen, aber das, was ihnen jetzt
widerfahren ist, das wollten sie eben nicht: Arbeitslosigkeit,
Perspektivlosigkeit. Und es kommt ihnen nicht ganz geheuer vor, und sie
merken auch in Begegnungen mit den sogenannten Brüdern und Schwestern,
dass sie irgendwie anders sind. Dass sie da nicht recht ´reinpassen,
weil sie in diesem System nicht sozialisiert sind. Vielleicht ist das
mit der Ostidentität eine vorübergehende Angelegenheit, aber im Moment
scheint sie mir ziemlich dominierend.
Zweitens: In Westdeutschland hingegen, glaube ich, dass überhaupt
nichts passiert ist, sondern im Gegenteil die Mehrheit der
Westdeutschen durch die von Bundeskanzler Kohl und Gorbatschow
organisierte Einheit sich noch viel mehr auf der Straße der Sieger
glaubten, als sie es ohnehin schon waren. Sie haben den Osten natürlich
tot gemacht mit ihrer überlegenen Produktivität und mit den zweifellos
vorhandenen bürgerlichen Freiheiten, die es so im Osten ja nicht gab –
Denk-, Schreib-, Rede-, Reisefreiheit, das gab’s ja so im Osten nicht –
und jetzt kommt es mir so vor als außenstehender Beobachter, dass sie
die jetzigen Schwierigkeiten, die die Bundesrepublik Deutschland auch
in den alten Bundesländern hat, eher auf den Osten zu schieben bereit
sind, weil sie denken, das ist der große Klotz am Bein, da muss man
ständig Geld ´reinpumpen, was ja stimmt. Man hofft nur, dass aus den
gegenwärtigen etwas krisenhaften Zuständen nicht ein Dauerzustand wird
und dass bei den Westdeutschen allmählich die Einsicht dämmert, dass
sich irgendwas ändern muss, und zwar nicht nur ein Regierungswechsel,
sondern vielleicht etwas Wichtigeres, was ich aber auch nicht weiß.
Drittens: Ich habe mich ja mit Büchner aus der Not gerettet, weil
ich allein meine Ohnmacht und Verzweiflung nicht auszudrücken
vermochte. So habe ich eher ein Büchner-Essay geschrieben, zu dem ich
eigentlich noch stehe, auf jeden Fall stehe ich zu allem, was von
Büchner zitiert wurde. Also, es ist ja einfach unfassbar, was dieser
junge Mensch zu sagen wusste. Und etwas, was mich persönlich betrifft,
das will ich vielleicht hier mal einfügen: „Ich werde zwar immer meinen
Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, dass nur
das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbei führen
kann.“ Und jetzt kommt es: „Dass alles Bewegen und Schreien der
Einzelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben, man liest sie
nicht, sie schreien, man hört sie nicht, sie handeln, man hilft ihnen
nicht.“
Ich habe gut zwanzig, wenn nicht dreißig Jahre meines Lebens mit
Bewegen, Schreiben und Toben zugebracht, ich gehörte zu der Minderheit
von SED-Gesellschaftswissenschaftlern, die sich einen anderen
Sozialismus immer gedacht und für ihn auch eingetreten sind, aber was
herausgekommen ist, hat man ja gesehen. Nun habe ich aufgehört, mich zu
bewegen, zu schreiben und zu toben. Und, wie es in der Zauberflöte
heißt, wahrscheinlich haben mir die Götter ein heilsames Schweigen
auferlegt. Aber so heilsam ist es auch wieder nicht, wenn man in sich
die Ohnmacht und Verzweiflung vergräbt, wird man ja nicht froh. Man
leidet auch gesundheitlich, kurz und gut, mein Zustand ist ebenso
miserabel wie der Zustand der ganzen Verhältnisse hier, in diesem
sogenannten freien Land.
Viertens: Was haben wir noch? Ja, ob es in Westdeutschland oder
überhaupt in Deutschland irgendwelche Gruppen und Situationen und
Institutionen gibt, die größere Aufmerksamkeit verdienen – dazu kann
ich eigentlich nichts sagen, da ich diese Szene nicht beobachte,
geschweige denn wissenschaftlich analysiere. Ich sehe nur, jetzt im
Verhältnis zu dem, was im Osten Kunst und in Maßen auch
Sozialwissenschaft bedeuteten, dass im Westen eine traurige Ödnis
vorhanden ist. Ich sehe in Deutschland keine kritische Theorie und
keine eingreifende und wirksame Kunst mehr. Wenn man mich fragt,
welches deutsche Buch musst du jetzt unbedingt lesen, verstehe ich
nicht zu sagen, was, und welche sozialwissenschaftliche Analyse lohnt
sich überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ginge es mir fast genauso. Nun
hängt ja, wie gesagt, die Entwicklung der Gesellschaft nicht von
Schreiben und Reden ab, das mussten wir ja nach der Wende deutlich
erkennen, aber dass es nun ganz und gar sozusagen alles in Ruhe und
Starre verfallen ist, das will mir gar nicht gefallen. Ich weiß aber
auch nicht, wer und wie das geändert werden könnte.
Fünftens: Wo sehe ich die Chancen und Gefahren – das ist eine etwas
hochtrabende Frage. Die Gefahr für den Bestand des Planeten als die
äußerste Dimension sind wir ja selbst. Das, was wir Menschen treiben
und tun, ist unheilvoll und führt auf die Dauer zu immer größeren
Belastungen von Umwelt, die Schere zwischen Arm und Reich tut sich auf,
selbst in wohlhabenden Ländern wie in Deutschland gibt es mittlerweile
Obdachlosigkeit, es gibt Bettler, es gibt natürlich Alkoholismus in
großem Maße, Drogensucht usw., da muss man nun zur Ehre dieses
feudalistisch-etatistischen Staatssystems DDR sagen: So etwas gab es im
Osten nicht. Am Ende hat man für die sozialen Wohltaten, die die SED
dem Volk verschrieben hat, Wohnungen, Preise Mieten etc., natürlich mit
dem Staatsbankrott bezahlt, aber das Volk fragt ja nie nach den
ferneren Wirkungen seiner Tätigkeit, das haben wir Deutsche im 20.
Jahrhundert ja leidvoll erfahren müssen.
Es wird immer mal in der Publizistik und auch in den Medien
natürlich besprochen, diese Zustände in der heutigen Welt, es wird
aufbegehrt, es gibt Gruppen international und Bewegungen, die sich
dagegen auflehnen, aber eine Wende ist nicht in Sicht, es scheint, als
ob das Kapital mit seiner gewaltigen Dominanz und der großen Fähigkeit,
Länder und Systeme umzustülpen und ihnen die kapitalistischen
Strukturen aufzunötigen, unaufhaltsam ist. Sie haben ja keinen
wirklichen Gegner mehr. Der Sozialismus ist mehr oder weniger
ausgefallen, in Europa zumindest, in Asien wandelt er sich wie in China
auch zu einer Art Staatskapitalismus, wie es mir vorkommt, ist auch
keine Bedrohung, weil die Chinesen auch sich selbst genug sind, was für
sie natürlich sehr spricht. Ja, kurz und gut, eine Arbeiterbewegung
ohne überhaupt eine größere Protestbewegung, welcher Art auch immer,
gibt es in Europa, wie es scheint, nicht. Die Sozialdemokratie ist ja
ausgefallen, sie versucht es ja besser zu machen als die anderen. Mal
sehen, was heute ´rauskommt, wenn der Kanzler die Vertrauensfrage
stellt, das ist hoch unwichtig.
Sechstens: Das ist wirklich eine witzige Frage: Unbeschwert zu leben.
Michael Hofmann (11. Juli 2005)
Dr. Michael Hofmann (Leipzig) im Interview
Erstens: Bei den wichtigsten kulturellen Veränderungen der
letzten fünfzehn Jahre in Ostdeutschland sehe ich viele Gewinne,
kulturell gesehen. Vor allem Gewinne an Reflexibilität und
Sensibilität. Praktisch ist jeder in Ostdeutschland gezwungen worden,
über sein Leben nachzudenken, über das was ihm wichtig ist. Und das
sind ja kulturelle Prozesse, die gegen Spießertum und gegen
Selbstgerechtigkeit wirken. Und insofern glaube ich, ist in
Ostdeutschland eine Menge gewachsen, auch wenn es notgedrungen ist.
Auch die neue Pluralität, die man verarbeiten musste, die
Vielfältigkeitserfahrung - also hier ist eine Menge passiert und als
Ursachen gibt es erst einmal die Erfahrungserweiterung durch Reisen,
durch Multikulti, durch den Konsum und Wohlstand, die ganze
Internationalität, das neue Essen. Also hier ist eine Menge
Bereicherung, kulturelle Bereicherung im Osten zu sehen und eine zweite
Ursache kultureller Gewinne liegt in den neuen Identitätskonstrukten.
Also die Ostdeutschen sind plötzlich zu einer Minderheit geworden,
gewissermaßen wurden Kultur oder kulturelle Anstrengungen als
Kompensation für die geringere institutionelle Verankerung der
Ostdeutschen in Deutschland benutzt. Und da gibt es eigentlich zwei
Konstrukte. Einmal dieses klagende Konstrukt der armen Ostdeutschen,
und ein Konstrukt, was noch nicht so richtig deutlich ist, was eben ein
neues Patchwork, eine neue, eher optimistische ostdeutsche Identität
zum Ausdruck bringt, über die wir dann vielleicht noch reden könnten.
Zweitens: Nächste Frage? Na gut, dann ziehe ich das einfach mal durch hier.
Gab es auch in Westdeutschland einen kulturellen Wandel? - aber
selbstverständlich, denn Wandel ist ja ein Prozess, der sich immer
vollzieht: Aber nicht mehr so sehr im Sinne von Inglehart, dass sich
immer mehr postmoderne Werte angeeignet werden, ich glaube sogar,
inzwischen ist es so, dass wir materiell an den postmodernen Werten im
Westen festhalten. Also das es eher wieder eine Vermaterialisierung
dieser Entwicklung gibt, ein Festhalten, ein Verteidigen, und das kann
man ja auch als einen konservativen Schwenk des kulturellen Wandels
bezeichnen.
Nein! in dieser Frage was die deutsche Vereinigung anbetrifft. In
Westdeutschland hat die Vereinigung mit Ostdeutschland kaum Impulse für
einen kulturellen Wandel hervorgerufen. Zum Beispiel wenn man diese
Pilawa-Show betrachtet, die jetzt im Fernsehen lief, mit Hits der
vergangenen Jahrzehnte. Es war nicht ein ostdeutscher Hit dabei. Aber
nicht, weil die gesagt haben, die Ossis interessieren uns nicht, das
finden wir furchtbar, was die hatten - sondern die haben es schlichtweg
vergessen. Und das ist doch ein schlagender Beweis dafür, dass es hier
leider keine Impulse gegeben hat für einen kulturellen Wandel im
Westen. Nichts, gar nichts, da ist ja auch die Rede von den
Ampelmännchen und dem Linksabbiegepfeil als den Relikten des Wandels,
die auch im Westen angekommen sind - und da ist leider was dran.
Drittens: Stehen sie zu ihren Auffassungen von 1994? Ja - ich
könnte jetzt als gelernter Ostdeutscher sagen: wir stehen voll
inhaltlich hinter den Beschlüssen von 1994! Und zwar aus zwei Gründen.
Wir fragten damals, was sind denn die Ursachen eines kulturellen
Wandels. Und da haben wir gesagt, die Ursachen liegen eben nicht in den
Normen oder in den moralisierenden Aufforderungen verschiedener Eliten
Westdeutschlands oder auch Ostdeutschlands, wie die Ostdeutschen
gefälligst zu sein haben, sondern die Ursachen für einen Wandel liegen
in offenen sozialen Räumen, in Bewegungsfeldern und die sind - etwa für
Industriearbeiter überhaupt nicht da gewesen, im Gegenteil, die Räume
waren geschlossen. Also sind diese Anforderungen für kulturellen Wandel
völlig aus der Luft gegriffen. Und die zweite Frage, die wir damals
stellten, war die Frage, wie geht kultureller Wandel eigentlich vor
sich. Und da haben wir damals von den Generationen gesprochen. Es gibt
eben offene soziale Räume nicht immer. Es sind historische
Gelegenheitsstrukturen, die ganz bestimmte Erwartungshorizonte und
Handlungsspielräume für eine bestimmte historische Zeit und für eine
bestimmte Generation öffnen. Und dieses Lebensgefühl, diese
Einstellung, die vererbt sich dann auch wieder. Und deswegen haben wir
uns damals völlig zu Recht dem Ausspruch von Huinink angeschlossen,
dass wahrscheinlich in Ostdeutschland verschiedene verlorene
Generationen aufeinander folgen, denn wenn dieser Erwartungshorizont
und diese Handlungsspielräume für eine Generation der Eltern nicht da
war und ist, dann spüren die Kinder das, dann werden diese
Einstellungsmuster praktisch auch vererbt. Und wir haben ja jetzt kaum
noch offene soziale Räume, so dass diese verlorenen Generationsfolgen
relativ realistisch sein werden. Und: man ist ja immer gut beraten in
solchen Zeiten eher pessimistische Prognosen abzugeben, das liegt ja
auch an der Zeit und an diesen kulturellen Vorsichtigkeiten, die wir
jetzt kennen.
Viertens: Welche kulturellen Prozesse sind in Ostdeutschland
eigentlich am interessantesten? Also ich glaube, durch die geringere
institutionelle Verankerung der Ostdeutschen im System der
Bundesrepublik, ist die Kultur eben besonders wichtig. Auch ist sie ein
noch offenes Feld - Kulturforschung im Osten ist also insgesamt
interessant, hier ist noch vieles möglich, hier kann man noch vieles
sehen. Aber eben nicht, wenn man „die“ Ostdeutschen ins Visier nimmt.
Es sind eher zwei Tendenzen, für die wir uns interessieren und zu denen
wir auch arbeiten. Das ist einmal die Frage, was wird aus den
Arbeitern? Das ist eine interessante Frage, weil wir wissen, dass so
etwas wie Mentalität oder habituelles Grundmuster nicht verschwindet.
Es wird vererbt, es strukturiert sich um, setzt neu an, es gibt ein
Recycling von Mustern - aber Arbeiter bleiben von ihrer Kultur her
Arbeiter. Die werden nicht einfach Intellektuelle oder irgend etwas
anderes, moderner Arbeitnehmer - man kann die so nennen, aber die
Grundmuster bleiben erkennbar über lange historische Zeiträume und
deswegen ist es interessant zu fragen, was wird aus einer ehemaligen
Industriearbeitergesellschaft die keine Industriearbeit mehr hat. Wie
werden diese Muster weiter vererbt, wie verwandeln sie sich, ohne dass
sie sich grundlegend von den traditionellen Mustern unterscheiden. Und
da gibt es eben zwei Forschungsfelder. Das ist einmal die neue Kultur
der Unterschichten, also die Frage, was man unter
Enttraditionalisierung fasst. Und das andere ist etwas, was überhaupt
noch wenig erforscht ist, das sind diese neuen Kulturen der
Selbstausbeutung, dieses unbedingt auf ehrliche Art und Weise mit
seiner Hände Arbeit Geld verdienen zu wollen und zu müssen. Dieses
Facharbeitermuster führt zu einer unglaublichen Welle von - wenn man so
will – kultureller Verarmung Verelendung oder Vereinsamung. Die Leute
strengen sich an, sind mobil, pendeln und die Leiden, die hier
entstehen, das ist auch ein interessantes Forschungsfeld. Und das
zweite Forschungsfeld auf diesem Gebiet sind die neuen Szenen und
Milieus in Ostdeutschland. Es gibt jene interessante Generation, die in
der Wendezeit sozialisiert wurde. Die haben historische Erfahrungen
gemacht, die es in dieser Form in Deutschland nicht gibt, und die haben
die Chance, auch neue Muster (Sinus spricht von aufstiegsorientierten
Pioniermilieus und neuen Szenen) zu entwickeln. Und die müssen wir im
Blick behalten und nicht immer nur die Klagegemeinschaften untersuchen.
Fünftens: Internationale Chancen und Gefahren - Puh!
Es gibt keine neuen Chancen oder Gefahren in der Kultur, es sind
immer noch die alten. Und die Hauptgefahr ist immer noch die alte: die
Verkommerzialisierung. Die emanzipatorische Kraft unserer westlichen
Kultur droht hier verloren zu gehen. Das spüren wir ja gerade als
Ossis, und deswegen wird ja so viel moralisiert in dieser Gesellschaft,
weil diese Moral mit der emanzipatorischen Kraft der westlichen Kultur
zusammenhängt. Der aufklärerische Gestus, all das, was uns wichtig ist,
ist nur im Doppelpack zu haben. Man kann nicht die Schönheiten der
westlichen Kultur als ästhetischen Kommerz verkaufen, ohne dass die
Moral daran Schaden nimmt. Und das ist die alte Frage, und wir brauchen
wahrscheinlich auch wieder so etwas wie eine Erneuerung hier auf diesem
Feld, die diese emanzipatorische und moralische Kraft der westlichen
Kultur wieder mehr zur Geltung bringt.
Sechstens: Und das Letzte war ja diese schöne Frage, was ist
wichtiger, als diese Fragen beantworten - das ist ganz einfach. Gitarre
spielen und ins Theater gehen, also Kultur zu machen.
Wolfgang Kaschuba (10. August 2005)
Prof. Wolfgang Kaschuba (Berlin) im Interview
Ich will in vier Punkten Bilanz ziehen.
Der erste richtet sich noch mal zurück an die Prognosen und
Einschätzungen von vor zehn Jahren. Leider – so habe ich bei der
Lektüre meines damaligen Textes festgestellt – habe ich in manchen
Punkten mit meiner damaligen Skepsis Recht gehabt. Das
Ost-West-Verhältnis - habe ich damals gedacht - wird noch lange Zeit
nach dem Modus „eigen und fremd“ behandelt werden. Und im öffentlichen
Diskurs ist es doch vielfältig so: das Eigene und das Fremde, das sind
immer die anderen und wir hier in Deutschland haben unseren eigenen
inneren Anderen. Dazu tragen die Medien allerdings sehr viel bei. Die
Form, wie Statistik aufgebaut wird, die Form, wie Nachrichten
präsentiert werden, verlängert diese Ost-West-Differenz. Ich hatte
überlegt, wie sich tatsächlich Wir-Gefühle entwickeln können, also das,
was wir neudeutsch Identitäten nennen. Und es ist offenbar in der Tat
sehr schwierig, solche Wir-Gefühle zu entwickeln, sowohl regionale
Wir-Gefühle wie gemeinsame deutsche Wir-Gefühle. Aber das ist ja für
die deutsche Geschichte ja nichts Neues.
Ich hatte mir große Schwierigkeiten vorgestellt auf der Ebene der
Lebensgeschichten und der Lebensläufe. Welche Lebenserfahrungen, welche
Lebensentwürfe mit Osthintergrund sind „legitim“? Und in der Tat ist
dies, glaube ich, für viele Menschen eine Riesenproblematik. Zentral
natürlich durch die hohe Arbeitslosigkeit, aber nicht nur daraus und
dadurch. Ein Ost-Lebenslauf ist nach wie vor nicht der „normale“
Lebenslauf und darunter leiden sehr viele Menschen in den neuen
Bundesländern.
Ich hatte damals auch eine dramatische Wende in der Alltagskultur
beobachtet. Viele DDR-Alltagsgewohnheiten sind beendet.
Selbstverständlichkeiten etwa im Arbeitskontext - sehr hohe rituelle
Dichte von kleineren Wir-Gruppen, Ehrungen, Honorierungen im
Arbeitsbereich, sehr viele Formen natürlich auch von Freizeitangeboten
und anderem, die heute verschwunden sind. Und damit sind kulturelle
Selbstverständlichkeiten verschwunden. Das wissen gerade die
Ethnologen.
Schließlich hatte ich eben auch befürchtet, dass durch diese
Ungleichgewichtigkeit im Ost-West-Verhältnis ein Stück Opfermentalität
entsteht. Und ich glaube, die gibt es vielfach. Ich habe gerade auch
das Gefühl, bei Teilen der ehemaligen DDR-Elite ist diese
Opfermentalität stark ausgeprägt, und der Verlierer-Diskurs, der aber
keineswegs nur ein Ost-Diskurs ist, der auch für den Westen gilt, ist
gegenwärtig sehr stark.
Was ich damals noch unterschätzt habe, und was ich am
dramatischsten finde, ist freilich die Ebene der Zivilgesellschaft.
Defizite in sozialer und politischer Hinsicht, die verstärkt werden
durch politische Irritationen wie durch Abwanderungstendenzen, weil
natürlich in der Tat auch viel Wissen, viel Ausbildung und vieles
andere, was hätte stabilisieren können, nach Westen abgewandert ist.
Und die vielfach zu beobachtende zu geringe Eigeninitiative lähmt
natürlich vieles auf niederer Ebene.
Und das wäre mein zweiter Punkt. Ich finde - neben der zentralen
Frage natürlich der Ökonomie und Arbeitsplätze - die Schwäche der
kulturellen Infrastruktur in den neuen Bundesländern schlagend. Es gibt
sehr viele Formen von Sozialkultur und institutioneller Kultur eben
nicht mehr. Dadurch, dass politische Organisationen weggebrochen sind,
dass die Betriebe weggebrochen sind, dass die Jugendorganisationen
weggebrochen sind, findet natürlich ein Prozess, um es mit Max Weber zu
sagen, fortschreitender Entgemeinschaftung statt. Also es wird in
diesem Sinne nicht mehr vergesellschaftet und vergemeinschaftet,
sondern entgemeinschaftet. Das ist ideologisch auf vielen Ebenen
sicherlich zu begrüßen, dort, wo die Vergemeinschaftung in gefährliche
Richtungen ging. Aber es ist nichts an die Stelle getreten. Wir haben
ein Defizit an klassischen europäischen Strukturen, der Soziabilität
wie etwa den Vereinen im Osten. Der Verein als Formgeber lokaler
Identität und lokaler Aktivität ist im Osten noch relativ schwach, wenn
ich das richtig sehe. Die Jugendkulturen sind relativ schwach. Das
FDJ-Monopol hat hier eine schlimme Schneise der Verwüstungen
hinterlassen. Es gibt kaum neue Gruppenkulturen außer den Neonazis. Und
das finde ich eben auch gerade den Bereich, der uns heute sehr
interessieren muss: was machen männliche Jugendliche, junge Männer?
Dort finde ich diesen Einbruch auch von Gewaltkulturen dramatisch, der
zwar überall stattfindet, aber in manchen ländlichen Regionen eben
besonders schlimm. Ich bin Wochenend-Uckermärker, ich weiß alltagsmäßig
wovon ich rede.
Die lokale Identitätsarbeit beginnt nur sehr allmählich. Es tut
sich zwar etwas, aber da wäre noch sehr viel mehr zu tun, um eben auch
diese Form von lokaler Bindung stärker zu machen, die letztendlich auch
hilft, Initiativen zu entwickeln und Abwanderung einzudämmen. Und es
gibt ein extremes Defizit an Alltagsritualen bei Arbeit, Schule, Feste,
Feiern. Ich glaube, dass dort dieser Begriff von der Ostalgie, der
vielfach benutzt wird, seine Berechtigung und auch seinen Wurzelgrund
hat, weil die vielen kleinen symbolischen Bestätigungen, die der Alltag
in der DDR bereit gehalten hat, auf den unterschiedlichsten Ebenen für
die verschiedensten Generationen und für die verschiedensten Zwecke,
heute fast völlig fehlt. Es gibt kaum mehr eine Art
„Anerkennungskultur“, die natürlich primär über Arbeit organisiert war.
Und wenn die Arbeit fehlt, fehlt auch diese Bestätigungskultur. Das
scheint mir ein ganz zentrales Defizit.
Drittens - und dazu nur zwei Sätze: solche Probleme haben auch die
alten Bundesländer. Das sind nicht nur spezifische Probleme der neuen
Bundesländer. Aber es gibt dort zum Teil andere Traditionen und andere
Grundsubstanz. Ich will nur zwei Dinge nennen, die mir als Atheist
dennoch wichtig sind: die kirchlichen Einflüsse sind relativ stärker in
manchen der alten Bundesländer, auf der Ebene von Sozial- und
Jugendarbeit: Und es gibt eben zum Teil eine andere Grundsubstanz,
Stichwort: Vereine, eine sehr breites Vereinsspektrum, das gerade auf
lokaler Ebene manches ausbalanciert.
Viertens schließlich und letztens: Kultur wird immer wichtiger,
gerade angesichts der Defizite. Und wenn es eine Art Ermutigungspolitik
geben kann, die gerade auch in Standorten mit Schrumpfungstendenzen,
die gerade auch in ländlichen Regionen mit erheblichen Rückständen
wirksam werden kann, dann muss sie im sozialen und kulturellen Bereich
kommen, denn über den ökonomischen kommt im Moment zu wenig. Es muss
viel mehr Initiativen geben, von den Jugendlichen bis zu den Senioren.
Es muss viel mehr lokale Foren der Auseinandersetzung geben, aber auch
der Verantwortung für das Lokale. Gerade auch im Blick auf den Umgang
mit Neonazis wie mit vielen anderen Fragen.
Und es muss - und das wäre für mich ganz zentral und das scheint
mir auch überhaupt mit die Zukunftsperspektive der neuen Bundesländer
zu sein, an der sich das Schicksal vieler Standorte entscheiden wird -
sichere Räume und Orte von Kindheit und Jugend geben. Das meint
Bildung, Ausbildung, Wissen und vieles andere mehr. Wir brauchen eine
„soziale Schule“ – gerade hier. Wenn wir überall die Beobachtung
machen, dass die Einflüsse der Elternhäuser und die Einflüsse von
Jugendgruppenkulturen auf die Kinder zu schwach oder zur negativ sind,
dann muss eine „soziale Schule“ eintreten - als ein sozialer Raum, in
dem die Kinder und Jugendlichen einen Großteil ihrer Zeit verbringen,
aber auch einen Großteil ihrer Interessen einbringen können. Und das
muss und kann nur die Schule sein. Die Standortwahl vieler Eltern in
der Zukunft wird sich danach richten, ob ihre Kinder solch einen Raum
finden. Kommunen müssen also nicht nur Arbeitsplätze vorrätig halten,
sondern sie müssen vor allem auch Standorte für solche Bildungs- und
Ausbildungssituationen der Kinder sein. Und da gibt es sicherlich in
den neuen Bundesländern viele Defizite, aber eben auch viele
Möglichkeiten. Dazu würde ich eben auch ermutigen – den Mut zu haben.
Ende der Durchsage.
Thomas Koch (10. August 2005)
Dr. Thomas Koch (Berlin) im Interview
Erstens: Ja, also aufgefordert wurden wir ja, die wichtigste
kulturelle Veränderung zu nennen. Auf eine mag ich mich nicht
festlegen. Ich will mehrere nennen, im Osten scheint mir die Brechung
des Selbstbewusstseins der arbeitenden Klassen die wichtigste zu sein,
die Wiederkehr des Tagelöhners, die Entstehung einer Kategorie
überflüssiger Menschen, so genannter überflüssiger Menschen, dann
Utopieverlust bei den auf das sozialistische Projekt verpflichteten
Minderheiten. Schließlich wäre noch hervorzuheben der unkomplizierte
Zugang zu zeitgenössischen technischen, alltagsrelevanten
Errungenschaften vom PC über MP3-Player, Internet bis zu
Navigationssystemen und wer das will, der unkomplizierte Zugang zu
Bewegungen, kulturellen Leistungen aus aller Welt.
Zweitens: Im Westen hat's auch einen kulturellen Wandel gegeben.
Vielleicht lässt sich der so auf den Punkt bringen: 1989/90 fanden sich
Eliten wie Nicht-Eliten der Alt-Bundesrepublik, zusammen in einem
Festival der Selbstgefälligkeiten. Und davon ist nichts mehr übrig
geblieben. Heute ist jede politische und soziale Kraft in Deutschland
auf mehr oder minder umfangreiche Reformen aus, klagt Verkrustungen
aller Art an. Der Unterschied besteht nur in der Richtung des
erforderlichen Wandels, der gesehen wird. Also diese Selbstgefälligkeit
ist vorbei und es entwickelt sich das Gespür, dass der Aufbau Ost als
Nachbau West gescheitert ist.
Drittens: Tja, die dritte Frage war, ob ich denn, wenn ich das
richtig in Erinnerung habe, noch zu der Diagnose aus dem Jahre '94
stehe. Also, '94 hatte ich einen Text geschrieben "Vermutungen über den
kulturellen Wandel. Die entwicklungsnationalistische Episode in
Ostdeutschland". Und den habe ich nun im Vorgriff auf das heutige Datum
und die erneute Enquete noch mal gelesen und ich kann sagen, ich finde
den Text immer noch recht gut, den ich damals geschrieben habe und ich
kann dazu stehen. Ich ging damals davon aus, dass es eine Reihe von
Rahmenbedingungen gibt, von denen ich annahm, dass sie mehr oder
weniger stabil bleiben und habe dann Verlaufsbahnen des kulturellen
Wandels versucht zu identifizieren. Der Zeithorizont betrug dreißig
Jahre. Nun bin ich in der glücklichen Lage, nicht jede Vermutung, die
ich damals äußerte, muss schon eingetroffen sein oder als falsch sich
erwiesen haben, weil nur ein Drittel dieser Zeitspanne, rund zehn
Jahre, verflossen ist.
Also bei den Rahmenbedingungen will ich's mal so sagen, die sind
aus heutiger Perspektive unterschiedlich scharf oder unscharf
formuliert. Zum Beispiel Rahmenbedingung Nummer 1 war, die äußeren und
inneren Entwicklungsbedingungen der Bundesrepublik werden relativ
stabil bleiben. Diese Annahme ist aus heutiger Sicht relativ schwammig,
denn, wie schon gesagt, gibt es heute keine politische oder soziale
Kraft in Deutschland, die nicht grundlegende Reformen einklagen würde,
was ja soviel heißt, dass sich allerlei geändert hat und es nicht mehr
so weitergeht. Aber, da diesem Reformeifer Institutionen, Mentalitäten
als bewahrende Kräfte gegenüberstehen, kann diese Rahmenbedingung noch
halbwegs als, na ja, als gültig angesetzt werden. Also, so schnell
wird's ja nicht mit den Veränderungen.
Zweite Rahmenbedingung, die hat sich bewahrheitet: im Innern wird
Deutschland ein Staat sein, der in zwei Gesellschaften zerfällt. Das
ist, glaube ich, noch immer so. Rahmenbedingung drei war, dass sich so
etwas wie eine Renaissance ostdeutschen Wir- und Selbstbewusstseins
abzeichnen würde, das ist eingetroffen. Allerdings ist nicht
eingetroffen, dass an die Träger des ostdeutschen Wir- und
Selbstbewusstseins die Definitionsmacht und das Gesetz des Handelns im
Osten übergegangen wären. Die Chancen oder Gefahren, dass das so kommt,
stehen meines Erachtens fifty-fifty, weil jetzt jeder weiß, dass der
Aufbau Ost als Nachbau West gescheitert ist. Das wissen auch die
Entscheidungsträger im Osten. Und der Nachbau West in der bisherigen
Version, der geht nicht mehr, weil ja die Alt-, die Bundesrepublik an
Haupt und Gliedern verändert werden soll. Mithin ist sozusagen das
Modell abhanden gekommen.
Ja, die vierte Rahmenbedingung, die ich annahm, war, dass sozusagen
Ostdeutschland für eine Generation Transferzahlungen erhalten wird.
Wenn man den Solidarpakt II bis 2019 einbezieht, könnte man sagen, ja,
das wird wohl so sein. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die
Alt-Bundesländer auch zu ihren Zusagen stehen und das auch tatsächlich
einhalten werden. Eines ist aber vielleicht klar, einen Solidarpakt III
wird's nicht geben.
Von diesen Rahmenbedingungen ausgehend, die sich mehr oder weniger
als zutreffend erwiesen, habe ich auf Verlaufsbahnen des Wandels
geschlossen. Die Verlaufsbahnen können stehen bleiben, nur die letzte,
wichtigste, die ist nicht so eingetroffen. Ich nahm an, es gibt eine
kräftige Zuwanderung nach dem Osten von Einheimischen und Angehörigen
anderer Völker und es entsteht ein neues und anderes Volk. Das ist
nicht eingetreten. Aber ich will, ich möchte mich noch nicht von dieser
Vision verabschieden, weil ich sie für wichtig halte.
Viertens: Dann die nächste Frage, da ging's um Innovationen, ob
denn im Osten sich irgendwelche kulturellen Innovationen abzeichnen.
Also, meines Erachtens gibt es in Ostdeutschland eine Fülle
innovationsträchtiger Prozesse. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass
hier eine Reihe von kulturellen Innovationen vorprogrammiert ist, aber
es sind mögliche Durchbruchstellen auch zu kulturellen Innovationen
gegeben, die sich identifizieren lassen.
Ich will mal ein paar innovationsträchtige Gegebenheiten nennen. Da
ist zunächst die Suche nach Lösungen, die Ostdeutschland zu einer
selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung verhelfen sollen. Das ist ein
innovationsträchtiger Prozess, wobei nicht klar ist, ob es dann auch zu
solchen Innovationen kommt. Ein innovationsträchtiger Großprozess ist
der demografische Wandel. Nahezu alle Organisationen, Institutionen
müssen sich auf eine älter werdende Bevölkerung, ihre Bedürfnisse,
Gebrechen usw. umstellen. Auf der anderen Seite ist auch Wandel oder
eine Innovation angesagt, wenn man bedenkt, dass in vielen Regionen die
jungen Leute weniger werden und was es bedeutet, wenn 15/16-jährige nur
noch zwei oder drei ihresgleichen an einem Ort finden, weil ja die
Geburten zurückgehen. Was das dann heißt, wenn die dann also vereinsamt
in einer Region leben. Da muss also irgendwas abgehen. Kulturelle
Innovationen zeichnen sich dann ab oder sind möglich in schrumpfenden
Städten, Dörfern und Regionen. Träger und Mitgestalter solcher
Innovationen könnten Stadtverwaltungen, regionale
Planungsgemeinschaften oder rührige Vereine sein. Dann gibt es zwischen
Ostesee und Erzgebirge eine Reihe faszinierender Ideen, die nicht nur,
die über die Träger hinaus andere inspirieren, darunter auch Künstler,
Designer und sonst was.
Also, ich will hier mal ein Beispiel nennen: mich hat immer die
Idee fasziniert, in Brand, also in Brandenburg Luftschiffe zu bauen.
Nun ist ja dieses Projekt gescheitert, aber die Idee ist noch nicht
völlig vom Tisch. Es gibt Anzeichen, dass es an einem anderen Ort
Luftschiffe anderer Art geben könnte.
Dann gibt's das Leitbild der Barrierefreiheit. Das ist ja nun nicht
originär ostdeutsch. Damit ist zunächst gemeint, dass räumliche
Barrieren für Behinderte geschleift werden. Das wäre schon mal ein
innovativer Prozess. Aber das Leitbild der Barrierefreiheit kann ja
erweitert werden. Es rückt nicht nur räumliche Barrieren, die Menschen
den Zugang zu irgendetwas erschweren, sondern auch soziale Barrieren
wieder in den Blick.
Kulturelle Innovationen sind zudem im Zuge des Umbaus des
Sozialstaates, des Bildungswesens, der Bundeswehr und sonstiger
Bereiche zu erwarten. Überdies leben in Ostdeutschland interessante
religiöse und kulturelle Minderheiten, von denen was ausgehen könnte.
Eine will ich jetzt nur mal hervorheben, das sind die jüdischen
Gemeinden. Die jüdischen Gemeinden zeichnen sich in Deutschland und
auch in Ostdeutschland dadurch aus, dass sie mehrheitlich aus Menschen
bestehen, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugewandert
sind. Die leben alle oder fast alle in irgendwie prekären soziale
Verhältnissen und haben ein, sagen wir mal, sehr unterschiedliches
Verhältnis zum Judentum in seinen zeitgenössischen Spielarten und die
unterziehen sich irgendwie einer nachholenden jüdischen Sozialisation.
Aber es ist etwas anderes, als die Restbestände des in Deutschland
aufgewachsenen und lebenden Judentums und man weiß nicht, was da am
Ende herauskommt, aber irgendwas zeichnet sich da ab und darum finde
ich das spannend.
Fünftens: Die letzte Frage bezog sich auf das Internationale, ob
ich da irgendwelche Gefahren oder sonst was sehe oder positive
Entwicklungen. Die Frage ist vielfältig interpretierbar, ich will sie
in bestimmter Weise fokussieren auf die Beziehung verschiedener
Kulturen im Weltmaßstab und auf das sogenannte transatlantische
Verhältnis. Einen Kampf der Kulturen befürchte ich eher nicht. Aus
einer dezidiert ostdeutschen Perspektive scheint mir aber eine
Herausforderung darin zu bestehen, dass aus dem Osten Deutschlands
Antworten, Einspruch und Widerspruch, sagen wir mal zu den Vereinigten
Staaten von Amerika als Staat, Supermacht, als in bestimmter Form
verfasstes marktwirtschaftliches System erwachsen sollten oder müssten.
Warum? Nun, die westdeutschen Eliten und die Eliten unserer ehemaligen
Bruderstaaten im Osten neigen entweder aus Interessenkalkül oder aus
dem Gefühl einer Wertegemeinschaft heraus zu einem vorauseilenden
Satellitenbewusstsein. Da hat der Osten so etwas wie eine
welthistorische Mission, hier ein bisschen Sand ins Getriebe zu streuen
und... okay, Punkt.
Dieter Kramer (14. Juli 2005)
Prof. Dieter Kramer (Frankfurt/M) im Interview
Erstens: Ich freue mich über dieses Interview und habe auch
meinen Text von damals noch einmal angeschaut und bin auf einige Fragen
und Probleme gestoßen. Ich bin ja nun Wessi, d. h. ich kann die
Perspektive kultureller Veränderungen in Ostdeutschland überhaupt nicht
so genau überblicken. Ich weiß nur, dass es damals einige interessante
dynamische Entwicklungen gab, wo viele Leute, einige Leute sagten, o,
das könnten wir eigentlich bei uns ins Stammbuch schreiben, könnten
wirs nur xxxxx. Dazu zählte nicht nur der grüne Pfeil oder das
Ampelmännchen - ob wohl ich gesehen habe, Ampelmännchen gibt es jetzt
auch im Heidelberg - sondern solche Dinge wie der runde Tisch, wo der
Biedenkopf gesagt hat, ja das ist eine Form, in der man
Übereinstimmung, etwas Neues, was vorher niemand von denen, die am
Tisch sitzen, schon kannte, dass man Neues produzieren kann. Oder ich
erinnere mich - ich weiß nicht, was daraus geworden ist - an das Dorf
Wulkow, was ein Öko-Musterdorf werden wollte, oder an die
Foron-Geschichte von Schwarzenberg - ich weiß nicht, was daraus
geworden ist. Aber solche Sachen fand ich damals interessant, und hätte
ich mir gehofft, dass was daraus wird.
Natürlich gibt es auch in den neuen Bundesländern Wandel, da
brauchen wir nur auf den Abbau der Sozialsysteme usw. zu sehen,
natürlich ist Kultur, sind Kulturprozesse sehr dynamisch, so ist zu
sehen, was sich in 10 - 15 Jahren alles schon verändert hat, ist - aus
der Frankfurter Perspektive - die Selbstverständlichkeit des Umgangs
mit dem Fremden, als Selbstverständlichkeit nicht einfach der
multikulturellen Gesellschaft sondern einer Stadt, eines städtischen
Lebens, zusammengesetzt aus vielen, vielen, unterschiedlichen
Elementen, dass was Urbanität eigentlich ausmacht, schon immer
ausmacht, ist heute mit Selbstverständlichkeit auch multiethnisch,
multireligiös usw. Das sind Veränderungen, die mir in den alten
Bundesländern besonders aufgefallen sind.
Die dritte Frage, hier geht es um die Frage, ob ich zu meinen
Auffassungen von 1994 stehe. Nun ja, wir haben so formuliert, dass sie
zwar aus dem Zeitrahmen heraus sich Gedanken machten, aber ich habe der
Dinge aufgegriffen, die mir immer noch sehr wichtig sind. Da ist z. B.
die Frage der investiven Sozialpolitik. Davon redet man heute nicht
mehr. Heute man Sozialpolitik mit Zwang und mit entsprechendem Druck
versucht man das soziale Niveau runterzuschrauben. Damals, wie diese
investive Sozialpolitik ohne Zwang angedacht war, habe ich
wiedergefunden hier im Museum der Weltkulturen bei meiner Beschäftigung
mit Problemen der Dritten Welt, der sogenannten Dritten Welt, wo dieses
Stichwort Empowerment eine zentrale Rolle spielt, in den
internationalen Diskussionen auch - schwer zu übersetzen, denn
Empowerment bedeutet eigentlich, die eigenen Kräfte wecken und mit
Hilfe der eigenen Kräfte neue Chancen sich zu erarbeiten, auch zu
erwirtschaften. Es gibt die XXX-Bank (unverständlich, D.M.), die
Kleinkreditbank, die jetzt auch immer wieder diskutiert wird, wo die
Gründer davon ausgehen, jeder Mensch hat irgendetwas, was er
nutzbringend für andere anwenden kann. Dazu muss man ihn ermutigen,
muss man ihm eine Chance geben und die machen es mit Kleinkrediten. Man
könnte es - und das war damals meine Vision, meine Vorstellung - wenn
es denn schon so ist, dass es Arbeitslose gibt, und wenn es denn auch
wirklich so ist, dass man sparen muss am Sozialsystem, dann kann man
wenigstens die Leute ermutigen, sich selbst zu helfen und entsprechende
Nachbarschaftshilfe, diese virtuellen Geldsysteme, Tauschringe usw. zu
ermutigen. Das wäre etwas gewesen, damit hätte man auch Reformen -
sofern sie denn wirklich gewesen wären - abstützen können. Man hätte
sagen können, o. k. wir müssen jetzt hier Einschnitte machen, aber
gleichzeitig ermutigen wir euch, Selbsthilfe, eigene Aktivitäten zu
machen - dass geht hin bis zu den bei mir immer sehr beliebten
Schrebergärten - über die Isolde Dietrich eine so schöne Arbeit gemacht
hat - und wo ich gerne noch wüsste, was aus den Schrebergärten in den
neuen Bundesländern, was daraus geworden ist. Denn ich bin gewohnt, aus
meiner Jugend, dass man in Notsituationen, in Notzeiten, in der
Nachtkriegszeit im Schrebergarten, im Hausgarten ne Menge Ressourcen
sich erwirtschaftet hat. Auch insofern stehe ich zu diesem Stichwort
"investive Sozialpolitik", und Elastizität zu erreichen mit Hilfe von
solchen Möglichkeiten die eigenen Kräfte zu wecken.
Da würde ich noch Frage vier drunter nehmen: in welchen kulturellen
Prozessen ... Das sind sozial-kulturelle Prozesse, das ist klar, denn
es bedarf dazu immer auch der informativen Infrastruktur, der
Ermutigung, des Austausches, des akzeptierten Milieus und so weiter. Im
übrigen sonst muss ich passen - also in der Jugendkultur kenne ich mich
nicht aus, in sozialen Milieus habe ich auch nur einen begrenzten
Zugang, und mich auch in letzter Zeit häufiger mit den Problemen der
Nord-Süd-Beziehungen beschäftigt.
Dann wird mit Frage fünf zum internationalen Feld der
Auseinandersetzungen Gefahren und Gefährdungen - und da denke ich, sind
das, was derzeit in der UNESCO diskutiert wird, wo es darum geht, eine
Konvention der UNESCO zum Schutze der kulturellen Vielfalt - die so
genannte Vielfaltsdiskussion - um so eine Konvention zu entwickeln,
halte ich das für eines der für mich ganz wichtigen die Dinge, nicht
nur international, sondern auch rückwirkend wieder darauf, zu erkennen,
dass kulturelle Vielfalt ja wesentlich mehr ist als nur ästhetisch
orientierte Bereicherung, sondern kulturelle Vielfalt ist eine
angesichts der Unwägbarkeiten der Zukunft unverzichtbare Ressource. Das
ist die Formel des Berichtes der Weltkommission für Kultur und
Entwicklung. Das würde ich denn schon übertragen auf die kulturellen
Vielfalt innerhalb unseres Landes, kulturelle Vielfalt auch mit den
Migranten, die uns erstens ganz andere Lebensweisen zeigen, die uns
(oder wo uns im Museum, wie hier im Museum der Weltkulturen, gezeigt
werden könnte), dass Menschen auch ganz anders leben können und dabei
glücklich sein können, ganz andere Chancen bestehen (kulturelle
Vielfalt als Ressource!) Und drittens oder schließlich der Hinweis
darauf, dass verloren gegangene Sozialtechniken, verloren gegangene
handwerkliche Techniken unter Umständen in Zusammenhang mit
ökologischen Prozesse, im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung
wieder interessant werden könnten und deswegen (von uns?) vorgehalten
werden müssen.
Deswegen wollte ich eigentlich von da aus noch einmal zur Frage
vier zurückkommen - diese Prozesse, auf die es heute ankäme - wären
eben im Rahmen dieses Empowerment eben solche Prozesse, die es
vielleicht möglich machen würden mit etwas weniger Keynesianismus in
einem Land - wie man Oskar Lafontaines Vorstellung genannt hat -
zurechtzukommen, denn mit der Abschottung kommt man nicht mehr weit
heute. Sondern man muss die eigenen Kräfte, nicht nur die
wirtschaftlichen, nicht nur die ökonomischen Kräfte sondern die
sozialen Kräfte – dazu gehört Solidarität, die Kräfte der Selbsthilfe,
wecken.
Die Schlussfrage, was ist wichtiger als Antworten auf die Fragen -
das ist sehr schön - Lebensqualität! Und ich wünsche mir eigentlich,
dass die Politik nicht Wachstum in den Vordergrund stellt und hofft,
dass über Wachstum Arbeitsplätze und so weiter, Lebensqualität
generiert werden, sondern das die Politik Lebensqualität in den
Vordergrund stellt und sie überlegt, was es denn bedeutet, zur
Lebensqualität der Menschen beizutragen. In dem kleinen
Himalaya-Königreich Bhutan - keine Demokratie aber auch kein
autoritärer Staat - in diesem kleinen die Himalaya-Staat sagt der
König, mir ist das Buttowohlbefinden meines Volkes wichtiger als das
Bruttosozialprodukt.
Alf Lüdtke (18. Juli 2005)
Prof. Alf Lüdtke (Göttingen) im Interview
Erstens: Ich bin unsicher, wie weit man von dem
Gesamtzusammenhang so homogen sprechen kann und denke, dass die
regionalen Differenzen, zum Teil natürlich auch die Differenzen
Stadt-Land, sich nicht nur verstärken. Sie sind auch keine neuen
Differenzen, sie sind in der DDR zum Teil verändert worden, aber sind
natürlich auch nicht DDR-made gewesen, also zwischen Nord und Süd,
zwischen den Landregionen, dem „platten Land“, um es preußisch zu
sagen, und den kleineren und größeren Städten, vielleicht vor allem
auch den kleinen Städten, also die ja so eine besondere Zwischenzone
markieren und die in der DDR vielleicht in besonderer Weise in den
letzten zehn Jahren mehr und mehr abgemeldet und „vergraut“ waren, aber
da gibt es sicherlich Veränderungen, aber ob sie – das ist mehr
natürlich das Straßenbild, das sind die Pflasterungs- und
Straßenlaternenaktionen – wie weit die da sehr viel verändert haben...?
Es gibt nach wie vor Wanderungsbewegungen in die Städte, es gibt nach
wie vor Wanderungsbewegungen, die inzwischen von Ost nach West gehen.
Das hat es in der DDR in anderer Himmelsrichtung auch gegeben, also ich
frage mich, ob da so sehr viel an Veränderung zu beobachten ist.
Zweitens: Da gab es sicher was, aber im Hinblick auf Ost-West gab
es eigentlich fast nichts, und das finde ich nicht völlig enttäuschend
- ja, in gewisser Weise finde ich es schon enttäuschend, andererseits
aber nicht unerwartet, denn so, wie die Ungleichheiten im Hinblick auf
die ökonomische Dimension von Kultur, also Kultur jetzt im Sinne von
Lebensweise, verteilt sind, kann das nicht völlig überraschen. Wobei es
da auch keine Schwarz-Weiß-Situation gibt, es gibt zum Teil mehr Leute,
die zumindest mal hinfahren oder hingefahren sind, als das vor zehn
Jahren vielleicht noch zu vermuten war. Auch da möchte ich mich hüten
vor einem zu eindeutigen Es-ist-nur-so-und nie-Anders. Aber im Sinne
eines klaren Trends oder einer bestimmten Entwicklung, die man sehr
eindeutig benennen könnte, denke ich, würde ich eher Fehlanzeige
vermelden.
Drittens: Ja, ´94 hatte ich ja gesagt, dass es aus meiner Sicht
sehr langfristige sowohl Unterschiede wie (wenn überhaupt)
Veränderungen sein werden und hatte versucht, die Analogie mit der
Differenz zwischen Nord- und Südstaaten in den USA zu versuchen - in
dem Sinne, dass einerseits Prozesse sind, die nicht nur eine, sondern
mehrere Generationen umfassen und vor allem auch Differenzen, die in
immer neuer Weise bearbeitet, aber dadurch nicht eliminiert werden.
Differenzen, die auf der einen Seite: das wäre dann die der ehemaligen
DDR, der ostdeutschen Länder und Regionen, und vor allem natürlich der
Menschen, eine Wahrnehmung von Verlust, von Niederlage transportieren;
es sind aber auch Fixierungen, die damit zu tun haben. Und da wäre mir
der USA-Vergleich nach wie vor wichtig, nämlich: Inwieweit gib es
Selbst-Victimisierungen, also Selbstzuschreibungen als Besiegte, als
diejenigen, die eine Niederlage erlitten hätten oder denen man sie
zugefügt hätte, die ungerecht behandelt worden seien. Gibt es also
neben den Beobachtungen und neben den Bewertungen, die ich zum Teil
sehr teilen würde, ein Surplus, der so etwas wie eine
Selbst-Victimisierung sein könnte?
Das wäre ein Punkt, den im Hinblick auf diese Situation in den USA
für sehr gravierend halte, vor allem in seinen langfristigen Folgen.
Und mir scheint, auch wenn das vielleicht nur zum Teil das Problem
abdeckt, dass etwa die Ostalgiewelle vor zwei, drei Jahren, die ja da
erst den medialen Höhepunkt erreichte oder den massenmedialen (die mir
aber weiterhin nicht vorbei zu sein scheint: mein Beobachtungsfeld ist
ja mehr ein Teil von Thüringen) - dass genau diese Ostalgie ein
Anzeichen dafür ist. Da gibt es natürlich dann mediale Verstärker wie
ein Teil des Programms des MDR, aber ich glaube nicht, dass es eine
mediale Manipulation ist, ich denke, das sind Wahrnehmungen „on the
ground“.
Viertens: Ja, was ich ausgeblendet hatte, was aber für einen weiten
Kulturbegriff eine Unmöglichkeit ist, das ist natürlich das Verständnis
und die Erfahrung von Arbeit, Erwerbsarbeit, aber auch andere Formen
von Arbeit, und ich denke, dass der Bruch in der Tat so massiv ist, wie
er ja auch von vielen zumindest registriert wird. Die
Bearbeitungsformen sind zum Teil, denke ich, mit der
Selbst-Victimisierung angedeutet, zum Teil aber auch gehen sie so in
eine stumme Individualisierung oder, ich weiß nicht, ob das Wort
Privatisierung wichtig ist, jedenfalls sieht man und hört man nach
außen nicht so sehr viel, was die Sache nicht unbedingt besser macht.
Da hätte ich ein relativ großes Fragezeichen. Und die Wahlergebnisse
oder auch Beteiligungen an Gruppen an irgendwelchen Rändern finde ich
dabei auch kein besonders triftiges Auskunftsmittel. Also da ist glaube
ich etwas, was ganz wesentlich ist. Und das gehört natürlich in diesen
Zusammenhang mit hinein – auf keinen Fall habe ich eine Patentantwort,
noch nicht einmal eine eindeutige Wahrnehmung.
Fünftens: Ja, zunächst denke ich, es ist entscheidend, sich dessen
bewusst zu werden, d.h. die Praktiken und Strategien, die da angewandt
werden, zu erkennen und sich dem nicht einfach auszusetzen oder
auszuliefern – auszusetzen vielleicht schon, aber nicht auszuliefern.
Also es gibt natürlich auch keine schnellen Gegenmöglichkeiten, man
muss eben sehen, dass auch Gegenbewegungen, etwa im Bereich der World
Music die authentischen und narrativen und wie auch immer Melodien,
Gesänge und Gruppen sich natürlich ihrerseits in einem
Wirkungszusammenhang bewegen, dass Authentizität eben auch wiederum
eine produzierte ist. Da gibt es keine einfachen Lösungen. Mir scheint
wichtig das man versucht, Distanz zu gewinnen zu dem, was die
Attraktion von sinnlich Vermitteltem bereitstellt – sei es Musik, sei
es Bild und Ton oder die Verbindung von beidem in Film und Video - also
Techniken und Praktiken der Distanzierung zu entwickeln. Das geht immer
nur sehr konkret, zum Teil dann auch vielleicht sehr punktuell. Da gibt
es gewiss keine globale Gegenbewegung, jedenfalls sehe ich sie nicht.
Sechstens: Ja, das wäre also das, was ich schon gesagt habe: die Arbeit in der DDR.
Jürgen Marten (10. August 2005)
Dr. Jürgen Marten (Berlin)im Interview
Ich habe mir meine kleine Stellungnahme von vor zehn Jahren noch
einmal angesehen und festgestellt, dass die meisten Überlegungen, die
damals angestellt worden sind, nicht nur nicht zutreffen, sondern dass
sich möglicherweise in bestimmten Tendenzen sogar negativ entwickelt
haben.
Ich hatte ja damals angemerkt, dass Kultur in den
Lebenszusammenhängen der Menschen und bezogen auf die individuelle und
auf die gesellschaftliche Reproduktion keine so große Rolle mehr
spielt. Das erweist sich als zutreffend. Denn erstens ist ja folgende
als Tendenz festzustellen, dass auf der einen Seite durch eine
zunehmende Kommerzialisierung von Kultur und durch ein riesiges Angebot
kultureller Güter – wie auch immer man sie bewerten mag – die Kompetenz
zum Auswählen gar nicht mehr vorhanden ist. Es ist doch mehr eine
Eventkultur geworden, mehr die Beliebigkeit. Wenn man heute in einen
Buchladen geht und nicht speziell etwas sucht, ist man nicht zum
Buchkauf angeregt, sondern eigentlich desorientiert. Und zunehmend
findet über diese Dinge, über kulturelle Sachverhalte und Sachen, auch
keine wirkliche gesellschaftliche Kommunikation und auch kein Diskurs
mehr statt.
Andererseits ist Kultur natürlich in immer stärkerem Maße primär
verbunden mit fiskalischen Überlegungen. Es ist also nicht so sehr die
Frage, wie sie eingeordnet ist in die Lebenszusammenhänge der Menschen,
sondern was sie für Geld kostet, und es wird, was Kulturpolitik
betrifft, kaum noch über Inhalte diskutiert, sondern immer nur noch vor
allem darüber darum, was es kostet wie und von wem finanziert werden
kann.
Das betrifft natürlich ganz besonders die neuen Bundesländer, also
die Kultur im Osten, weil doch in stärkerem Maße, als das am Anfang
auch unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Substanzerhaltung noch
gesehen worden ist, doch kulturelle Einrichtungen und kulturelle
Institutionen bedroht sind in ihrer Existenz. Wenngleich sie zu einem
großen Teil noch existieren erhalten sind, sind sie kaum noch in der
Lage, in den engen finanziellen Rahmenbedingungen wirkungsvoll zu
arbeiten.
Und was wohl ganz entscheidend ist, die Leute, ein Großteil der
Menschen ist so stark mit existentiellen Problemen beschäftigt. Wenn
man beispielsweise also die Uckermark nimmt, wo fast 30 Prozent
Arbeitslose sind, da wird der kulturelle Diskurs vor allem darüber
geführt, welche Sozialmaßnahmen für einen zutreffen und nicht welche
kulturellen Maßnahmen.
Also insgesamt ist es schon so, dass das, was wir an
Idealvorstellungen über Kultur hatten, dass Kultur ein wirklicher
Bestandteil des Lebens ist und dass Kultur auch der Bereich ist, wo
sich Gesellschaft erweitert reproduziert und auch die Individuen, dass
das überhaupt nur noch in sehr eingeschränktem Maße vorhanden ist. Es
gibt aber wahrscheinlich mit Sicherheit unter den schwierigen
gesellschaftlichen Bedingungen, denen wir ausgesetzt sind und
hinsichtlich der Aufgaben, die vor uns stehen, gar keine andere Chance,
als diesen Bereichen wieder größere Aufmerksamkeit zu widmen. Denn nur
selbstbewusste Menschen – und Kultur ist eine notwendige Voraussetzung
dafür - sind in der Lage, auch eine Gesellschaft zu gestalten, die
möglicherweise bessere Lebensverhältnisse bietet, als sie jetzt für die
Mehrheit existieren.
Dieter Rink (11. Juli 2005)
Dr. Dieter Rink (Leipzig) im Interview
Zur ersten Frage - was sind die wichtigsten kulturellen
Wandlungen in Ostdeutschland? Eine sehr schwierige Frage, die habe ich
wochenlang in mir hin und her gewälzt und eine Liste gemacht, das ist
eigentlich wichtig und das ist noch wichtiger. Dann habe ich das völlig
verworfen und mir überlegt, dass ich mich einfach auf ein Feld
konzentriere, von dem ich etwas mehr weiß, als jetzt so einen
Gesamtüberblick zu machen. Das sind nämlich Jugendkulturen. Damit
beschäftige ich mich schon seit über zehn Jahren und denke, dass in
diesem Feld auch ganz wesentliche Wandlungen vor sich gegangen sind.
Jugendkulturen funktionieren in einer Gesellschaft ja auch als
Seismographen und reagieren sensibler und schneller, aber eben häufig
auch heftiger. Ich glaube, dass man insofern von den Jugendkulturen im
Osten einiges ablesen kann in Bezug auf die ganze ostdeutsche
Gesellschaft.
Zum einen haben sich Jugendkulturen nach 1989 in Ostdeutschland
unglaublich ausgebreitet und dabei sehr stark ausdifferenziert. In der
DDR gab es eigentlich nur eine Minderheit an Jugendlichen, die
überhaupt in einer Jugendkultur aktiv waren. Die kann man eigentlich
auf einige wenige Prozent begrenzen. Also die Stasi hat Ende der 80er
Jahre beispielsweise noch die Punks in Berlin, in Leipzig und in
Dresden gezählt oder auch die Skinheads. Das war damals noch möglich,
weil das eine überschaubare Zahl war. Das wäre in den Neunziger Jahren
so gar nicht mehr möglich gewesen, mal abgesehen davon, dass es
niemanden mehr gab, der das so genau wissen wollte. Das heißt, wir
haben es jetzt mit einer großen Zahl von Jugendlichen zu tun, die
mittlerweile von den Jugendkulturen erfasst werden und können sogar
sagen, dass die Mehrheit der Jugendlichen dort aktiv ist. Und wir haben
es in den Neunziger Jahren mit einer besonderen Situation in
Ostdeutschland zu tun. Diese Situation gleicht Grunde der von
Migrantenkulturen, obwohl ja die ostdeutsche Gesellschaft nicht
gewandert ist. Aber die ostdeutschen Jugendlichen befinden sich
praktisch zwischen der Abreisegesellschaft der DDR und der
Ankunftsgesellschaft Bundesrepublik. Sie haben mit ähnlichen Problemen
zu kämpfen, wie etwa türkische Jugendliche in Berlin oder arabische in
Marseille. Aber: ihnen ist ein Weg versperrt, den diese Jugendlichen
dann häufig gehen, sie können sich nicht auf eine ethnische
Gemeinschaft beziehen, weil sie keine andere Hautfarbe haben bzw. keine
andere Sprache sprechen. Wenn sie sich aber auf ihre „ethnische
Besonderheit“ beziehen, dann landen sie ganz schnell beim Nationalismus
und bei rechten Positionen. Von daher erklärt sich auch, warum sich in
Ostdeutschland in den Neunziger Jahren rechtsradikale Jugendkulturen
als dominante Jugendkulturen ausbreiten konnten. Sie sind außerdem in
viele andere Jugendkulturen, wie etwa Grufties oder Heavy Metal oder
auch mittlerweile in die Rockszene rein gekommen. Deswegen haben sich
diese Jugendkulturen in den Neunziger Jahren auch so stark politisch
aufgeladen.
Die Jugendkulturen, die sich auf die DDR stärker rückbezogen haben,
sind zu linken oder linksautonomen Kulturen geworden, die, die diese
ethnische Richtung gegangen sind, sind im Prinzip Rechte geworden. Und
diese beiden Gruppierungen haben sich über weite Strecken, fast die
ganze Neunziger Jahre hindurch, natürlich diametral gegenüber
gestanden. Und deswegen durchzieht die Geschichte der ostdeutschen
Jugendkulturen in den Neunzigern auch eine Geschichte von
Auseinandersetzungen, von Kämpfen bis hinzu Straßenschlachten. Das ist
selbst noch in der Gegenwart zu spüren.
Das Feld der Jugendkulturen ist zugleich das Feld, wo sich die
West-Ost-Angleichung abspielt. Also viele dieser Jugendkulturen lehnen
sich natürlich an westlichem Muster an, an westdeutsche, natürlich auch
britische und andere, amerikanische. Und über diese Jugendkulturen
erfolgt für die Jugendlichen dann über die Pubertät und über die
Adoleszenz getragen, letztendlich der Einstieg in die westliche
Konsumkultur, in neue Lebensstile. Und das ist auch der Weg, über den
hier in Ostdeutschland die Individualisierung und vor allem die
Pluralisierung der Lebensstile erfolgt. Die Ausdifferenzierung der
Lebenswelten ist etwas, was sehr stark von Jugendlichen oder jetzt
jungen Erwachsenen getragen worden ist und wobei die Jugendkulturen
eine Pionierrolle gespielt haben.
Zweitens: Zum kulturellen Wandel in westlichen Bundesländern. Ich
denke, dass es den auch dort gibt, allerdings ist der dort nicht so
deutlich ausgeprägt, wie das in Ostdeutschland der Fall ist. Das ist
auch völlig klar, dort gab es ja schon gravierende kulturelle
Wandlungsprozesse in den 60er und 70er Jahren. Dort haben wir es eher
mit einer Kontinuität zu tun, nicht mit einem gesellschaftlichen
Umbruch wie in Ostdeutschland. Was man beobachten kann, wenn ich jetzt
bei dem Feld der Jugendkultur bleibe, dass auch dort sich eine weitere
Ausdifferenzierung abgespielt hat und dann allerdings eher eine
Entpolitisierung. Das ist in diesem Feld ein ziemlich gravierender
Unterschied zum Osten. Und was man auch noch beobachten kann, was sich
eigentlich durchgezogen hat, ist so eine gewisse Abschottung oder auch
eine Selbststilisierung. Die Abschottung und Abgrenzung erfolgt
gegenüber dem Osten und ist auch eine Selbststilisierung, die so ein
bisschen auch dem Anciennitätsprinzip folgt. Insgesamt haben wir im
Westen schon andere Werte und das Feld der Jugendkulturen ist ganz
anders strukturiert. Dort spielen die Rechten keine große Rolle, dafür
gibt es viel mehr ethnische Subkulturen und die Popszenen sind viel
distinktiver als im Osten.
Drittens - stehen sie zu ihrer Auffassung von 1994 - da kann ich
mich voll an das anschließen, was Michael Hofmann schon gesagt hat. Ich
stehe voll zu unserer Schlussformulierung, dass sich die Ostdeutschen
nicht ändern müssen, dass sie von ihrer mentalen Ausstattung eigentlich
ganz gut gerüstet sind für die westdeutsche Gesellschaft bzw. sie von
der nicht so viel erwarten brauchen, dass sie sich dafür ändern
müssten.
Viertens: Die vierte Frage bezieht sich auf interessante oder
innovative kulturelle Prozesse und Szenen. Hier will ich zum einen
wiederum auf die Jugendkulturen zurückkommen, die ja ständig für
kulturelle Innovationen sorgen, auch wenn sich das ein bisschen
abgeschwächt hat, wie es scheint. Ich denke, dass die Aufmerksamkeit
für die rechten bzw. neonationalsozialistischen Szenen größer sein
sollte. Sie waren in den letzten Jahren innovativer, als man denkt und
stellen meines Erachtens sowohl für die gesamte politische Kultur, aber
auch für die Kultur im engeren Sinne in Ostdeutschland eine große
Bedeutung haben oder vielmehr sogar eine große Gefahr darstellen. Es
gibt viele ländliche oder auch kleinstädtische Räume in Ostdeutschland,
wo keine andere Kultur als die der Rechten stattfindet. Vor allem
Jugendliche haben häufig keine andere Wahl und können dem kaum
ausweichen.
Das zweite Augenmerk würde ich auf kleinstädtische und ländliche
Räume in peripheren Regionen richten, wo die Bevölkerung sehr stark
schrumpft, wo praktisch keine Wirtschaft mehr da ist und wo es ein
Problem ist, überhaupt noch Kultur aufrecht zu erhalten. Hier sollten
die Beispiele, die es schon gibt, wo also Formen von selbst
organisierter Kultur stattfinden, viel mehr untersucht und auch viel
mehr popularisiert werden, um überhaupt noch irgend eine Chance für
diese Regionen aufrecht zu erhalten. Hier brauchen wir noch viele
Innovationen, auch organisatorischer bzw. finanzieller Art, um diesen
Prozess in eine nachhaltige Richtung zu lenken.
Fünftens: Und schließlich eine letzte Frage, die nach den
Internationalen Gefahren und Chancen - dazu kann ich eigentlich recht
wenig sagen. Internationale Chancen sehe ich eher in dem Prozess der
Europäisierung, also der europäischen Integration, dass hier auch die
Regionen, die in Ostdeutschland schrumpfen, sich vergleichen und
austauschen können mit anderen Regionen, wo das auch der Fall ist. Was
wir in einem vergleichenden Projekt am Beispiel von Halle/Leipzig und
Manchester/Liverpool untersuchen, die in diesem Prozess schon
wesentlich weiter sind und wo Ostdeutschland von diesen Regionen lernen
kann bzw. in einigen Bereichen auch schon voraus ist, sodass
möglicherweise solche Regionen auch von uns lernen können.
Sechstens: Schließlich als letzte Frage: was ist wichtiger als
Antworten auf diese Fragen - das sind einfach ja Beispiele, es selber
zu tun, Kultur selber zu organisieren, auf die Beine zu stellen und
damit auch ein Beispiel für andere zu geben.
Kristina Volke (3. Oktober 2005)
Kristina Volke (Berlin) im Interview
Erstens: Mit dem weiten Kulturbegriff gemessen, ist der
gesellschaftliche Umbruch selbst die größte kulturelle Veränderung,
denn mit ihm haben sich Codes, Werte, Strukturen, Selbst- und
Fremdbilder etc. wenn nicht aufgelöst so doch verschoben. Unter ihnen
zu hierarchisieren scheint mir nicht sinnvoll.
Im engeren kulturellen Sinne, also in Bezug auf Kunst und Kultur
sehe ich ebenso viele verschiedene und gleichwertige Veränderungen, die
vom Umbau der Kulturlandschaft in ein föderales System, den Wandel
einer staatlich gesteuerten Kulturideologie in einen Mix aus freier
Marktwirtschaft und eben jenem umgebauten System öffentlicher
Kulturförderung bis zur Ausbildung völlig neuer Szenen reichen.
Mich persönlich interessiert bei all diesen Veränderungen am
meisten die Frage danach, was Kunst und Kultur für die Gesellschaft
bedeuten, und ich glaube, dass man sie nicht für wichtig genug erachten
kann: Unterstanden Kunst und Kultur in der DDR einer extremen
ideologischen Kontrolle durch den Staat, garantiert die Bundesrepublik
Kunst und Kultur grundgesetzlich die Freiheit – und hält sich auch
daran. Auf der Kehrseite kann man sehen, dass Kunst und Kultur in der
DDR aber auch eine größere gesellschaftliche Relevanz hatten. Kunst
bedeutete etwas. Man redete über die gezeigten und die nicht gezeigten
Gemälde der großen Kunstausstellungen, man hörte in den klassischen
Theatertexten die Übertragbarkeit auf das Jetzt, man las in den neuen
Büchern zwischen den Zeilen von dem, was eigentlich ungesagt bleiben
musste. Ein abstraktes Bild auf der Kunstausstellung konnte
unglaubliches auslösen. Ein gegenständliches selbstverständlich auch.
Die Bedeutung von Kunst, die sich auf breite Bevölkerungsschichten
erstreckte, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Ich nenne das den
„Gesprächsraum Kunst“, der sich zunächst eher unbemerkt neben der bzw.
durch die hohe Ideologisierung gebildet hatte – und der mit dem „Alles
ist möglich“ der bundesrepublikanischen Kunstfreiheit sofort unterging.
Und nun, so beobachte ich seit einiger Zeit, verändert wieder
aufscheint – von Zurückkehren sollte man vielleicht noch nicht
sprechen. Vor allem in den ländlichen, von Abwanderung und massenhafter
Arbeitslosigkeit betroffenen Gebieten Ostdeutschlands kann man
beobachten, dass Kunst, besonders das Theater, wenn es für die Leute
vor Ort gemacht wird, wieder enorm an Bedeutung gewinnt. Und
Gesprächsräume eröffnet, die sonst fehlen. Diese Wiederaneignung der
Kultur ist vielleicht nicht die wichtigste aber eine der
interessantesten kulturellen Veränderungen in Ostdeutschland.
Zweitens: Selbstverständlich gab es auch in den alten Bundesländern
einen Wandel. Dazu gehört als zentraler Prozess die Suche nach
Konzepten, die nach dem Leitspruch „Kultur für alle“ kommen und mit den
längst angebrochenen Zeiten leerer öffentlicher Kassen kompatibel sind.
Interessant ist dabei zum Beispiel das Thema „kulturelle
Grundversorgung“, denn hier wird diskutiert, was der Staat als
öffentliches Gut Kultur vorhalten muss, um allen einen Zugang zur
„Ressource Kultur“ zu ermöglichen. Dieser Versuch einer Neudefinition
eines urdemokratischen Kulturverständnisses ist schwierig, denn es geht
plötzlich darum festzulegen, welche Kultur man unbedingt erhalten muss
und welche – am ehesten - verzichtbar scheint bzw. als Luxus gelten
könnte, so dass man sie zumindest in größeren Anteilen den privaten
Geldbeuteln überlassen kann. Bisher gibt es hier meines Wissens keine
ernstzunehmenden Angebote, denn sobald einer vorschlägt, dieser Luxus
könne z.B. die Oper sein, zählt ein anderer die (sicherlich
unleugbaren) Vorteile musikalischer Bildung auf und verweist auf die
Werte des musikalischen Live-Erlebnisses seit dem Barock. Oder so.
Leider führt die Frage wenn sie so gestellt wird, unweigerlich dazu,
dass kulturelle Szenen gegeneinander ausgespielt werden oder sie es
vorauseilend gleich selber tun.
Trotzdem ist es natürlich nötig, das aus Wohlstandszeiten
existierende Kultursystem umzubauen. Und dazu gehört auch ein
Paradigmenwechsel, in dem der Staat danach fragen können muss, was ihm
die von ihm so großzügig geförderte Kultur eigentlich bringt. Solche
Konzepte werden langsam unter dem label „Evaluation in der
Kulturförderung“ diskutiert. Dabei geht es nicht um Aufhebung der
Kunstfreiheit, sondern um eine Art Effektivitätskontrolle. Öffentliche
Hand fördert Kultur, weil sie öffentliches Gut ist. Nur in dieser
Gleichung macht öffentliche Kulturförderung Sinn. In Zeiten mit viel
Geld ist diese Kontrolle nicht nötig, denn dann kann mehr oder weniger
jede Kultur gefördert werden. Wenn sich dies ändert – wie in den
letzten Jahren geschehen - muss es Kriterien geben zu unterscheiden.
Hier schließt sich der Kreis zur kulturellen Grundversorgung.
Das Ganze ist natürlich ein empfindliches Thema, bei dem nicht nur
der Vorwurf der Indoktrination und Funktionalisierung nahe liegt,
sondern auch eine reale Gefahr dafür besteht. Und trotzdem ist es
notwendig, die Fragen anzugehen. Interessant ist m. E., dass hier
Ostdeutschland eine Vorreiterrolle übernimmt und vorführt, wie es gehen
kann.
Drittens: Das wüsste ich auch gern.
Viertens: Aufmerksamkeit gelten sollte der Repolitisierung der
Kunst und Osteuropas eigenen Paradigmen und z. T. kulturzentrierte Wege
der Transformation. Von dort sind auch kulturelle Innovationen zu
erwarten. Dasselbe gilt für Kulturakteure in den ländlichen Gebieten
Ostdeutschlands, die an die Stelle der sukzessiv abgebauten
öffentlichen Räume treten.
Rudolf Woderich (10. August 2005)
Dr. Rudolf Woderich (Berlin) im Interview
Erstens: Die wichtigste kulturelle Veränderung seit 1990
sehe ich im abrupten Wandel relativ stabiler Standards der
Industriegesellschaft in ihrer staatssozialistischen Variante,
insbesondere der Orientierung an den industriegesellschaftlichen
Erwerbs- bzw. Lebensverlaufsmustern. Konzentrierten Ausdruck findet
dieses Phänomen ja in der seit 15 Jahren andauernden
Massenarbeitslosigkeit, die eben nicht vorrangig durch konjunkturelle
bzw. temporäre Wachstumsschwächen der ostdeutschen Wirtschaft bedingt
ist, sondern auf einen grundlegenden Strukturwandel von Wirtschaft und
Gesellschaft verweist. Vor allem deshalb mussten arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen die zunächst intendierten Ziele verfehlen. - Erfolgreich
praktiziert wurde dann aber eine „innovative Politik“ sozialer
Befriedung: Sie war darauf gerichtet, den Arbeitsmarkt schrittweise zu
bereinigen, ihm qualifizierte, jedoch „überschüssige“ Erwerbspotenziale
zu entziehen.
Zweitens: Ein vergleichbarer kultureller Wandel in den „alten
Bundesländern“ ist m. E. im Verlaufe der letzten zehn, fünfzehn Jahre
nicht nachweisbar. Erkennbar sind bestenfalls Ansatzpunkte in der
Weise, dass sich das sogenannte postmoderne Erlebnisparadigma
abschwächt, was einen neuen kulturellen Pradigmenwechsel signalisieren
könnte.
Drittens: Ich gehe davon aus, dass ich meinen Beitrag zur
Kulturenquete von 1994 in den Grundzügen aufrecht halten kann. Es ging
damals um einige Aspekte der Konstruktion ostdeutscher Identitäten.
Allerdings hatte ich durchaus erwartet, dass sich ostdeutsche
Identitäten stärker in der Öffentlichkeit, diskursiv bzw. in spezifisch
kulturell reflektierten Formen geltend machen würden. Das ist
offensichtlich nicht oder nur marginal der Fall. Möglicherweise spielen
dabei begrenzte Zugänge zu entsprechenden Öffentlichkeiten eine Rolle.
- Zu ergänzen wäre, dass auch die etablierte (westdeutsche)
soziologische Umfrageforschung, wenngleich relativ spät, das Phänomen
ostdeutscher Identitätsbildung diagnostizierte und als legitim
anerkannt hatte (H. Meulemann 1998: „Die ostdeutsche Identität ist
möglich geworden, weil die DDR gescheitert ist.“). Künftig zu erwarten
sind m.E. stärker regionale Differenzierungen in Ostdeutschland,
Identifikationsprozesse, die auf verschiedenen Ebenen zu erwarten sind
und einander überlagern werden.
Viertens: Die nächste Frage zielt auf kulturelle Innovationen
in Ostdeutschland, also auf Themenfelder, die interessant sein könnten
und perspektivisch oder aktuell ausführlicher untersucht und diskutiert
werden sollten. Da es gewiss eine Vielzahl relevanter Themen gibt,
möchte ich mich auf einen vielversprechenden Ansatz konzentrieren, der
m. E. weitergeführt werden sollte: nämlich Idee und Konzept des
Projekts „Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im gesellschaftlichen
Wandel“ (gefördert von der Kulturstiftung des Bundes; Hrsg. der
Publikation: K. Volke/I. Dietzsch), dessen Publikationsform eine
beachtliche Resonanz gefunden hatte.
Mir geht es dabei insbesondere um die Vielfalt kreativer Projekte,
um neue kulturelle Praxen und Initiativen, die noch viel zu wenig
bekannt sind und in regionalpolitische Entwicklungskonzepte zumeist
unzureichend eingebunden werden. Dazu gehören auch jene
kulturell-künstlerische Aktivitäten von „Raumpionieren“ in peripheren
Räumen und Regionen, die auf diese Weise vermeintlich „leere Räume“ neu
deuten, entdecken, in Wert setzen und für alternative Verwendungen
kolonisieren.
Derartige kulturelle Innovationen, die immer zugleich mit neuen
Lebenspraxen und Lebensmustern verbunden sind, werden in der
Öffentlichkeit erst schwach kommuniziert, sind aber hochrelevant
insbesondere in den Prozessen des Übergangs zu einer auf Wissen
basierten Dienstleistungsgesellschaft.
Einen Grund, weshalb derartige Innovationen, neue Erwerbsmuster,
Lebensstile und personale Identitäten insgesamt unterschätzt werden,
sehe ich in einem sehr verengten Innovationsverständnis, das zumeist an
Technologien ausgerichtet bleibt. Auch diesbezüglich wirken verfestigte
Denk- und Kulturmuster nach, die tief in der Industriegesellschaft
verwurzelt sind.
Fünftens: Ein weiterer Aspekt betrifft das Feld kultureller
Auseinandersetzungen. Ein komplexes Problemfeld, das künftig noch
intensiver die Diskurse bestimmen und neue Herausforderungen gerade an
kulturwissenschaftliche Forschungen stellen wird. Ohne die schon jetzt
erkennbaren und praktizierten Chancen interkultureller Kommunikation
und wechselseitiger Lernprozesse zu verkennen: Derzeit sehe ich
tatsächlich erhebliche Gefährdungen, die von neuen kulturellen
Fundamentalismen ausgehen als Reaktionen auf die weltweite Dynamik von
Modernisierungs- und Wandlungsprozessen, die zugleich mit scharfen
Ungleichheiten und Disparitäten verbunden sind. Aktuell beobachtbare
Phänomene veranlassen zu größter Besorgnis und erfordern allererst ein
internationales Politik-und Konfliktmanagement, um Katastrophen zu
vermeiden, deren Ausmaß die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts
übertreffen könnten. Kultur- und Politikkonzepte (u.a. sustainable
development) sind gefragt, die darauf gerichtet sind, allen
Erdbewohnern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das kann
schritttweise nur gelingen, wenn auch der tradierte westliche
Wertehorizont auf seine kulturellen Fundamentalismen überprüft wird.
Lebensweisen müssen hervorgebracht werden, die im Kantschen Sinne als
ein Handeln gelten können, das grundsätzlich für alle Menschen
gleichermaßen möglich sein muss, ohne die natürlichen Ressourcen und
Gleichgewichte dieser Welt irreversibel zu zerstören.
Abgesehen davon, sind Erscheinungen eines kulturellen
Fundamentalismus zunehmend auch in den europäischen Gesellschaften des
Westens zu beobachten. Soziologen verweisen seit geraumer Zeit auf die
schleichende Tendenz zur Kulturalisierung sozialer und
politischer Sachverhalte, die mit der europäischen Integration
einhergeht. Insbesondere in peripheren Regionen werden Räume
sakralisiert, entstehen neue Formen einer kulturell aufgeladenen
separatistischen Identität. - Offensichtlich kann die Europäische
Integrationsidee nicht dauerhaft durch ökonomische Argumente und
distikte Interessen von Eliten (sh. Verfassungsdebatte) legitimiert
werden. - Jean Monnet, einer der Väter der modernen europäischen Idee,
soll am Ende seines Lebens bekannt haben: Eigentlich müsste man von
vorn beginnen und zwar beim dem Aufbau der Kultur.
Es folgen Kommentare zur Enquete
von Harald Dehne, Isolde Dietrich, Gerlinde Irmscher und Dietrich Mühlberg
Harald Dehne
Wertewandel
Die Antworten der Enquête bestätigen den Eindruck, dass der Wertewandel
den Osten zwar unvorbereitet, gravierend und teilweise früher als in
den alten Bundesländern traf, dass die Wandlungen grundsätzlich aber
die Gesellschaften in Ost und West betrifft: Alle mussten bzw. müssen
sich verändern und neu orientieren. Auffällig ist bei den
Einschätzungen der Veränderungen, dass häufig ähnliche Sachverhalte in
der einen Wahrnehmung als ein Verlust beklagt, in der anderen Optik
jedoch als ein kreatives Handlungspotenzial, als eine Chance und für
diejenigen, die die „Zeichen der Zeit“ erkannt haben, auch als ein
Vorsprung in der Anpassungsleistung bewertet werden.
Methodologisch machen die Äußerungen zum Wertewandel zweierlei deutlich. Erstens: Als grundsätzlich wichtig bei der Beschreibung eines Wertewandels erscheint die klare Benennung von sozialen Bezugspunkten
– von welchen sozialen Gruppen oder sozialen Räumen ist denn jeweils
die Rede? Zum Beispiel von Generationen („jene interessante Generation,
die in der Wendezeit sozialisiert wurde“ – Michael Hofmann),
Jugendlichen, Rentnern, Arbeitenden, Arbeitslosen, Industriearbeitern,
Angestellten, Selbständigen, Kulturarbeitern usw. Insofern gelten die
festgestellten Wandlungen zum Teil nur in einem soziologisch begrenzten
Maße. Zweitens: Neben der Bestandsaufnahme, welche kulturellen Werte sich inwiefern gewandelt haben, müssen auch der Mechanismus
des Wandels (oder eben auch des Beharrens), sein Tempo, seine
Modulationen, sein Ausmaß, seine Gültigkeit usw. mit in den Blick
genommen werden, weil Wertvorstellungen ebenso wie Verhaltensmuster,
wenn sie sozial vererbt werden, zugleich ein nicht zu unterschätzendes
Beharrungsvermögen haben.
Folgende Wandlungen sind in den Antworten thematisiert worden.
1.
Dass die Ostdeutschen nach der Wende zur neuen Lageeinschätzung
gezwungen waren, eine Bilanz ihres bisherigen Lebens zu ziehen hatten
und sich neu positionieren mussten, brachte ihnen, neben weniger
erfreulichen Zumutungen, auch kulturelle Bereicherungen. Max Fuchs würdigt als ein Ergebnis den Erwerb kultureller Kompetenz,
mit dem Kapitalismus, in dem man jetzt lebt, souverän umzugehen.
Michael Hofmann sieht beträchtliche „Gewinne an Reflexibilität und
Sensibilität“ für die Ostdeutschen; erweitert wurde auch ihr Erfahrungshorizont
„durch Reisen, durch Multikulti, durch den Konsum und Wohlstand, die
ganze Internationalität, das neue Essen.“ Desgleichen würdigt Thomas
Koch den unkomplizierten Zugang zu zeitgenössischen technischen,
alltagsrelevanten Errungenschaften und den unkomplizierten Zugang zu
Bewegungen, kulturellen Leistungen aus aller Welt als einen Zugewinn
für die Ostdeutschen. Dieter Kramer erkennt einen Gewinn in der
Selbstverständlichkeit des Umgangs mit dem Fremden, als
Selbstverständlichkeit nicht einfach der multikulturellen Gesellschaft,
sondern eines städtischen Lebens, das heute mit Selbstverständlichkeit
auch multiethnisch, multireligiös usw. ist.
2.
Grundsätzlich unterliegen die Lebensläufe der Ostdeutschen
einer Neubewertung in der zeitlichen Distanz. Diese Reflexionspraxis
geht einher mit einem Wandel in der Erinnerungskultur über die
Generationen hinweg (Peter Alheit). Zu den gravierendsten Veränderungen
gehört die Aufgabe der einstmaligen Orientierung an dem
industriegesellschaftlichen Erwerbs- bzw. Lebensverlaufsmuster (Rudolf
Woderich).
3.
Dass das Leben in der DDR hinsichtlich Zeit und Tempo
geruhsamer als in der BRD gewesen ist, scheint allgemein akzeptiert zu
sein. Max Fuchs vermutet, „dass man im Osten Deutschlands einen noch
vielleicht sogar humaneren Umgang mit Zeit gepflegt hat“; hier waren
weniger Hektik und Druck vorhanden. Ausgehend von dieser
vergleichsweise gemütlichen Situation hat der Osten nach der Wende
„eine gewaltige kulturelle Beschleunigung“ erlebt (Antonia Grunenberg).
4.
Zu den eher negativ bewerteten Folgen des Wertewandels bei den Ostdeutschen gehört das Abhandenkommen von „höheren“ Lebenszielen,
das sich in – zumindest so gedachten – Zielprojektionen einer sozial
gerechten Gesellschaft ebenso ausdrückte wie im aktiven Hinwirken auf
kommende bessere Zeiten. Ein solchermaßen teleologisches Verständnis
von Zeit (Albrecht Göschel), die als auf ein (utopisches) Ziel
hinlaufend verstanden wurde, ist jetzt obsolet geworden.
Dementsprechend spricht Thomas Koch vom „Utopieverlust bei den auf das
sozialistische Projekt verpflichteten Minderheiten“. Die „historische
Mission“ der Weltveränderung ist mehr oder minder auf der Strecke
geblieben, weltweit sei kein wirkliches Agens in Sicht (Helmut Hanke).
Beklagt wird, dass die einstige Utopieausrichtung als Handlungsantrieb
häufig durch Apathie und Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung
verdrängt worden ist. Für Volker Gransow hat sich in der Ex-DDR „eine
alternative Kultur des Pessimismus, der Resignation und der Migration“
herausgebildet. Demgegenüber sieht Thomas Koch auch ein Potenzial, das
hoffen lassen kann: Der Osten habe eine welthistorische Mission (die
die westlichen und osteuropäischen Eliten nicht mitmachen): dem
Vormachtstreben der USA etwas entgegensetzen und die Eigenwertigkeit
betonen statt nur die Satellitenrolle zu spielen.
5.
Veränderungen sind auch im „Wir-Gefühl“ der Ostdeutschen,
die sich plötzlich als eine Minderheit wiederfanden, konstatiert
worden. Die Ost-Identität kann als ein Abgrenzungsmerkmal, wie bei
Helmut Hanke, gesehen werden, aber auch als ein neues
Identitätskonstrukt wie bei Michael Hofmann, der „ein neues Patchwork,
eine neue, eher optimistische ostdeutsche Identität“ wahrnimmt.
6.
Mehrfach wird der deutliche Verlust der solidarischen Funktion der Gemeinschaft
beklagt. Hier reicht die Skala von der Einschätzung, dass Werte wie
Solidarität oder Gemeinsinn, selbst Freundschaft, verblassen (Horst
Haase) bis zur lapidaren Feststellung einer „Verneinung von
zwischenmenschlicher Solidarität“ (Volker Gransow) als Folge der
Globalisierung. Nicht minder folgenschwer wirkt sich der Verlust von Selbstwertgefühl,
das früher durch die Arbeit und durch vielfache Bestätigung im
Kollektiv begründet war, aus. Eine klare Einschätzung trifft Thomas
Koch, wenn er von einer Brechung des Selbstbewusstseins der arbeitenden Klassen,
der Wiederkehr des Tagelöhners und der Entstehung einer Kategorie
sogenannter überflüssiger Menschen spricht. Eine dramatische Wende
sieht auch Wolfgang Kaschuba durch den Verlust der „Bestätigung im
Kollektiv“, dadurch, dass viele Selbstverständlichkeiten im
Arbeitskontext – sehr hohe rituelle Dichte von kleineren Wir-Gruppen,
von Ehrungen und Honorierungen – verschwunden sind. Für Alf Lüdtke
enthält der Umgang mit der (verlorengegangenen) Erfahrung von Arbeit
auf der einen Seite Elemente von „Selbst-Victimisierung“ und „stummer
Individualisierung“ (Privatisierung); auf der anderen Seite führen die
individuellen Lösungen auch zur Ausbildung der erforderlichen Techniken
und Praktiken von Distanzierung gegenüber den neuen sozialen
Zumutungen. Diese „neuen Kulturen der Selbstausbeutung“ (Michael
Hofmann) bedürfen größerer wissenschaftlicher Aufmerksamkeit.
7.
Die bestehenden Systeme sozialer Absicherung haben ihre
Gewissheit verloren, für den Osten wie für den Westen. Die soziale
Abfederung des Einzelnen durch Staat und Gemeinschaft als ein
historisch errungener und gefestigter Wert bröckelt allenthalben. Der
zunehmende Verlust des Sozialstaats ist ein durchgehendes Thema. Hätte
es für die Alt-Bundesbürger noch eines weiteren Beweises dafür bedurft,
dass die althergebrachte Vorstellung, es gäbe einen ständig wachsenden
Wohlstand und einen andauernden Fortschritt, längst obsolet geworden
war, dann lieferten ihn die neunziger Jahre en masse. Veränderungen
werden konstatiert im Hinblick auf die sozial regulierende Funktion des Staates;
Stichwörter sind hier Wohlfahrt und Solidargemeinschaft. Hier mussten
Erwartungen relativiert bzw. reduziert werden, und zwar sowohl in den
neuen als auch in den alten Bundesländern. Sicherlich spielt hier die
unterschiedliche Erfahrungsherkunft (sozialistische Fürsorgediktatur
bzw. bürgerlicher Sozialstaat) eine entscheidende Rolle. Dass der Staat
eine regulierende Institution und die Nation eine Solidargemeinschaft
sein sollte – beide Vorstellungen mussten Ostdeutsche aufgeben – wobei
Albrecht Göschel hier allerdings ein enormes Beharrungsvermögen in den
Erwartungen der Ostdeutschen sieht, die ungebrochen hoffen, dass es mit
der Solidargemeinschaft irgendwie so weitergehen werde wie bisher. Ihr
gewohntes Anspruchsdenken müssen jedoch angesichts der
umfassenden Globalisierung auch die Westdeutschen ablegen (was ihnen
nicht minder leicht fällt). Auch ihr Kapitalismus ist „ungemütlicher“
geworden. Max Fuchs betont, dass der Kampf darum gehen müsse, die
soziale Abfederung überhaupt noch zu sichern.
8.
Durch die Bank wird die Kommerzialisierung des gesamten
Lebens im Allgemeinen wie auch des Kulturbereichs im Besonderen
beklagt, ein Phänomen, das ost-west-übergreifend zu beobachten ist,
wenngleich die neue Orientierung ausschließlich am Geld statt auch an
„höheren“ Werten oder Zielen besonders für Ostdeutsche schmerzhaft zu
sein scheint. Ostdeutsche sehen sich einem Überangebot an
(kommerzialisierter) Kultur gegenüber, wofür die Kompetenz zum
Auswählen fehle, und die übermächtige Rolle des Geldes verdecke die
Inhalte (Jürgen Marten). Parallel dazu hat sich eine Tendenz zur
Verflachung der Inhalte kultureller Kommunikation und medialer
Präsentation entwickelt. Spaß haben ist zu einem kulturellen
Selbstzweck geworden. Oberflächlichkeit und Flachheit, Event,
Aktionismus usw. (Horst Haase) bzw. Banalisierung und Infantilisierung
von Inhalten in der kulturellen Kommunikation (Hermann Glaser)
bestimmten das Niveau. (Wobei nicht übersehen werden sollte, dass die
zunehmende Liebedienerei der Kulturverkäufer gegenüber den potenziellen
Konsumenten sich unabhängig von der „Wende“ entwickelt hat.)
Spar-Zwänge prägen den Kulturbereich: jetzt herrscht auch in der Kultur
„Ökonomismus“ bzw. ein nicht gezähmter Kapitalismus (Hermann Glaser).
Für den Osten bedeutet dies, dass die Kultureinrichtungen in ihrer
gesellschaftlichen Anerkennung sanken, d.h. praktisch: weniger
finanzielle Förderung als in der DDR, d.h. auch weniger Kulturarbeiter,
d.h. auch Entwertung von Berufsbildern (Max Fuchs). Hoffnung sieht
Dieter Kramer vor allem in der Chance, die sozialen Kräfte der
Selbsthilfe zu wecken: investive Sozialpolitik als Form kreativer
Selbsthilfe, die neue Ressourcen erschließen kann.
9.
Allenthalben positiv bewertet wird die Aufwertung der Provinz
als kulturelles Aktionsfeld (Max Fuchs). Auch Rudolf Woderich stellt
eine zunehmende Bedeutung von Aktivitäten in peripheren Räumen und
Regionen fest. Diese Entwicklung findet erfreulicherweise
ost-west-übergreifend statt.
Isolde Dietrich
Kultureller Wandel und Kapitalismuskritik
Die Aussagen der Enquête-Teilnehmer – sämtlich der alten und neuen
Linken und deren emanzipatorischen Kulturprojekten zugehörig –
hinterlassen einen merkwürdigen Eindruck. Offensichtlich ist, dass hier
Geschlagene, Ratlose, Verlierer zu Wort kommen bzw. dass in deren Namen
gesprochen wird. Es überwiegen beklemmende Szenarien angesichts der
Wiedererrichtung der alten politischen und sozialen Ordnung im Osten
und der gleichzeitigen Einbeziehung ganz Deutschlands in einen
zügellosen globalisierten Kapitalismus.
Seltsam an den Wortmeldungen erscheint vor allem zweierlei:
Erstens: Die Sicht auf die letzten 100 oder auch nur 50 Jahre.
Zweitens: Die Art der Kapitalismuskritik.
1. Anmerkungen zum Rückblick
Das 20. Jahrhundert war in Europa und darüber hinaus ein
Jahrhundert der Kriege, der politischen und sozialen Katastrophen.
Zugleich war dies ein Jahrhundert, in dem die arbeitenden Menschen
nicht verarmt und verelendet sind. Sie führen gegenwärtig ein
unvergleichlich besseres Leben als die Generationen vor ihnen.
1930 erschien das Buch „Deutschland von unten. Reisen durch die
proletarische Provinz“. So etwas müßte man heute wieder schreiben – nur
gibt es kein gesellschaftliches Interesse, keinen Auftraggeber dafür.
Die Unterschichten sind gegenwärtig kein sozial- oder
kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, auch kein Gegenstand der
Künste. Außer „Armutsberichten“ der Statistiker wird nichts vorgelegt.
Würde man die Situation der 33 Mio abhängig Beschäftigten, der 20
Mio Rentner und Pensionäre, der 5 Mio Arbeitslosen, der zahllosen
Ich-AG-Gründer mit der von 1930 vergleichen, so würden die enorme
Erhöhung des Lebensniveaus, die verbesserte soziale Absicherung, der
Zuwachs an Bildung und Kultur sowie die gestiegene Lebenserwartung
auffallen. All dies wurde trotz des verlorenen Krieges und seiner
Folgen erreicht. Selbst der unverhoffte Anschluss von Millionen
ostdeutscher Habenichtse hat diesen Standard nicht grundsätzlich in
Frage gestellt.
Die nichtbesitzenden Schichten haben ungeheurer davon profitiert,
dass die Kosten für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft seit den 50er
Jahren explodiert sind. Es ist aber auch daran zu erinnern, dass
hierbei der Kalte Krieg als Motor gewirkt hat. Diese Auseinandersetzung
war ja nicht nur eine Zeit militärischer und ideologischer, sondern
zugleich auch wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hochrüstung
auf beiden Seiten. An dieser Spirale haben neue und alte Linke,
eingeschlossen Arbeiterbewegung und Staatssozialismus kräftig
mitgedreht, letzterer vor allem durch vielfältige soziale Sicherung und
durch Kulturförderung. Allein aus der Eigenlogik der jeweiligen Systeme
heraus wäre es innerhalb so kurzer Zeit vermutlich nicht zu einem
solchen Entwicklungsschub gekommen. Doch hat diese Schraube die
Leistungskraft beider Gesellschaftsformen übermäßig strapaziert. Im
Osten kam das Ende abrupt, im Westen peu à peu. So gesehen ist nicht
der Untergang der DDR erstaunlich, sondern die Tatsache, dass dieses
tollkühne Unternehmen sich überhaupt so lange halten und im Kalten
Krieg mitmischen konnte. Das entsprechende Selbstbewusstsein und der
Stolz darauf fehlen den Ostdeutschen.
2. Anmerkungen zur Kapitalismuskritik
Mehr oder weniger durchgängig beklagen die Autoren Globalisierung,
Kommerzialisierung, Amerikanisierung, Ökonomismus usw. Auch das
erscheint merkwürdig, weil das Kapital sich nur als Kapital verhält,
wie schon im „Manifest“ nachzulesen ist. Wenn etwa Kritik an
Einkommenskürzung und Sozialabbau geübt wird, dann müsste klargestellt
werden, dass dies nicht zur Sicherung des Standorts Deutschland
geschieht. Der ist insgesamt längst ausgereizt und abgeschrieben. Das
Kapital muss dorthin ziehen, wo vergleichbare Arbeitskraft billiger zu
haben ist. Die Proletarisierung großer Menschenmassen schreitet vor
allem in Asien und in Osteuropa in rasantem Tempo voran. Wenn Linke
Internationalisten sind, können sie das nur begrüßen. Denn die
zivilisatorische Kraft des Kapitals wird langfristig erreichen, was
staatssozialistische Produktionsverhältnisse, Handelsbeziehungen,
Entwicklungshilfe und Solidaritätsaktionen nicht schafften – den
Anschluss dieser Regionen an die „erste Welt“ und deren
Errungenschaften.
Sicher ist das eine einseitige, sträflich optimistische Sicht auf
die Globalisierung. Dennoch haben linke Projekte hier anzusetzen. Aus
der bloßen Abwehr heraus lassen sich vielleicht gewisse
Sonderinteressen noch eine Weile verteidigen. Offensive Konzepte und
Aktionen sind daraus jedoch nicht abzuleiten. Dem Erbe der Aufklärung,
den Grundprinzipien der modernen Demokratie (Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit) kann nur noch weltweit Geltung verschafft werden – oder
gar nicht.
Noch einmal zu den Beiträgen der Enquête: Man merkt, dass hier
überwiegend ältere Herren am Werke waren, die ihre Karriere in der
Blütezeit industriellen Wachstums, sozialer Sicherungssysteme und
kultureller Infrastruktur gemacht haben. Schon allein die Existenz und
komfortable Ausstattung ihrer Positionen als Kulturpolitiker,
Kulturarbeiter oder Kulturwissenschaftler deutet darauf hin. Hinter den
Reden vom Niedergang der Kultur im Zuge der Kommerzialisierung steht
sicher auch die Angst vor der Proletarisierung des eignen
Berufsstandes. Das Schicksal der einstigen Führungseliten des Ostens,
die sich nun mehrheitlich in den Unterschichten wiederfinden, könnte
auch Wortführern und Machern des westdeutschen Kulturbetriebes drohen.
Ob man sich darüber noch groß Gedanken machen muss angesichts der
Tatsache, dass die deutsche und europäische Bevölkerung im Weltmaßstab
auf eine verschwindende Restgröße zusammenschnurren wird, sei
dahingestellt. Die demographische Entwicklung wird in den Wortmeldungen
kaum thematisiert, höchstens in Zusammenhang mit Kulturangeboten für
Alte. Wer aber soll in 30 oder 50 Jahren die vielen Theater,
Konzerthallen, Museen, Kultureinrichtungen aller Art füllen, um die
heute so verbissen gestritten wird? Aus den gleichen demographischen
Gründen wird der Einfluss der US-amerikanischen Kultur auf Europa
zurückgehen. Wenn – wie für 2040 prognostiziert – der
Durchschnittseuropäer doppelt so alt sein wird wie der Amerikaner,
werden auf Jugend fixierte Angebote in Medien, Musik, Spiel, Sport,
Mode usw. in Europa nicht mehr den nötigen Absatzmarkt bzw.
Resonanzboden finden. Im Kino deutet sich das heute schon an.
Wichtig wäre aber, ein Programm zu haben für die bereits begonnene
Zeitspanne des Alterns und Schrumpfens der hiesigen Gesellschaft,
Vorstellungen darüber, wie die Umverteilung zu Lasten der „besitzlosen
Stände“ zu stoppen ist, damit auch diese ein angemessenes Leben führen
können. Die DDR-Variante war sicher nicht berauschend. Sie hat jedoch
den Vorzug, dass sie nicht nur ein Modell, sondern millionenfach
gelebte Praxis war, an dem sich andere Konzepte werden messen lassen
müssen.
Kapitalismuskritik sollte nicht nachlassen. Aber sie muss
sachgerecht ausfallen, nicht phantastisch. Hierzu sind neue
theoretische Anstrengungen nötig. Die Beiträge der Enquête lassen
erkennen, dass unter dem Druck allgemeiner Restauration hinter einst
erreichte Positionen zurückgegangen wird. Was ist geblieben von einem
weiten, kritischen Kulturbegriff, von einer gesellschaftlich
eingreifenden Kulturwissenschaft? Will die Disziplin nicht zum
Geleitschutz neoliberaler Politik verkommen, hat sie sich auf ihre
emanzipatorischen Tugenden zu besinnen und ihr Handwerkszeug (Theorien,
Methoden, Begriffe) auf den neuen Stand der Dinge zu bringen.
Gerlinde Irmscher
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