Thema | Kulturation 1/2003 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dieter Segert | "Alte Kader"? Von Osteuropa auf die PDS geblickt
| Ist
die neue PDS mit der alten SED identisch oder ist sie zumindest sozial
und kulturell fest in ihr verankert, und wenn ja: was hieße das? Damit
verbunden: Welche politische Rolle spielen die Nachfolgeparteien der
Staatsparteien heute in Osteuropa und wie steht es mit der PDS im
Vergleich dazu?
Nach Revolutionen hat die alte herrschende Elite häufig für
Missstände der postrevolutionären Zeit den Kopf hinzuhalten gehabt,
mitunter war das sogar wörtlich gemeint. In unseren humaneren Zeiten
können sie meist ihre Köpfe behalten, werden aber trotzdem haftbar
gemacht. Aktuelle wirtschaftliche Probleme werden mit dem Verweis auf
die „alte Misswirtschaft“ erklärt. Weitverbreitet ist die Vermutung,
der nicht auffindbare Reichtum der staatssozialistischen Schatzkammern
befände sich in den Taschen der Nomenklatura. Rothacher bezeichnet in
seinem Buch über den „Wilden Osten“ die gestürzte Staatsklasse des
Sozialismus durchweg als räuberisch.[1] Wahlerfolge der
Nachfolgeparteien, so wird vermutet, seien v.a. durch die Stimmabgabe
der Begünstigten des ancien regimes zu erklären. Stöss bezeichnet in
diesem Geist in seinem Buch über die PDS jene als Repräsentantin der
entmachteten politischen Klasse der DDR.[2] Nun gibt es das natürlich
alles: Schäden der früheren Staatswirtschaft, Veruntreuung von früherem
Staatseigentum durch dessen gestürzte Verwalter, Wohnbezirke, in denen
frühere Mitarbeiter des MfS und des Parteiapparates für glänzende PDS
Ergebnisse sorgen. Es gibt so etwas, und die Realität sperrt sich
gleichzeitig gegen diese Interpretationsrichtung.
Ich will mich auf die rein politische Seite der
„Wiederauferstehung“ der Staatsparteien nach dem Machtverlust
beschränken. Warum also sind die staatstragenden Parteien nach dem Ende
der Diktaturen nicht verschwunden, sondern feiern als
sozialdemokratische oder sozialistische Parteien an der Spitze von
Regierungen in unseren osteuropäischen Nachbarstaaten fröhliche
Urständ? Für diese Phänomene existieren, soweit ich sehe, drei
Erklärungsmuster: 1.) In einer Wettbewerbsdemokratie sind Auf-
und Abstiege nicht allein durch eigene Leistung sondern auch durch den
Erfolg oder Misserfolg des Wettbewerbers bedingt. Insbesondere bei
Existenz von Zwei- Parteiensystemen oder zwei großen politischen Lagern
– letzteres unter der Voraussetzung, dass die Nachfolgepartei in einem
der beiden Lager dominiert – kann die Opposition aus den Fehlern der
Regierung Profit ziehen. Die ungarischen Sozialisten hatten bereits
zweimal eine solche Gelegenheit: 1994 und 2002. In Polen waren die
Sejmwahl 2001 und die Präsidentschaftswahl 1995 Beispiele für die
Wirksamkeit dieses Modells. 2.) Wahlerfolge von Parteien
erwachsen auch aus politisch-kulturellen Wählerbindungen. Diese
stabilen Orientierungen von Teilen der Bevölkerung wurzeln im
Staatssozialismus. Jener war eine ideologisch legitimierte Ordnung.
Diese heute nachwirkenden Wertorientierungen sind nun nicht völlig
identisch mit der offiziellen Ideologie des Staatssozialismus, sondern
sie wurden in doppelter Weise geprägt – durch die herrschende Ideologie
ebenso wie durch Selektion, Entscheidungen der Bürger selbst. Ich würde
das als den „spontanen Sozialismus“ eines Teils der Bürger bezeichnen.
Engler schreibt, bezogen auf die Ostdeutschen, in seinem jüngsten Buch
von „Gleichheitserwartungen und egalitären Praktiken“, die
nachwirken.[3] Die Nachfolgeparteien, die verstehen, diese „Saite“ in
den Herzen der Bürger unserer postsozialistischen Gesellschaften
anzuschlagen, haben schon halb gewonnen. Zumindest ist das so vor der
Kontrastfolie der postsozialistischen Frustrationen. 3.)
Eine dritte Erklärung: Die Nachfolgeparteien verfügen über
umfangreichere handlungsfähige politische Eliten, ansonsten eine knappe
Ressource in postdiktatorischen Gesellschaften. Jene haben sich auf der
Grundlage von Reformen und Öffnungsprozessen im späten
Staatssozialismus und bei der Bewältigung des Anpassungsschocks in der
ersten Phase des Systemwechsels herausgebildet. Diese
Handlungsfähigkeit von Parteieliten existiert gleichermaßen gegenüber
staatlicher Verwaltung und Wählerschaft. An dieser Stelle
muss nun gesagt werden: Die PDS hebt sich von den anderen
Nachfolgeparteien in einer Hinsicht sehr deutlich ab. Das
postkommunistische Ostdeutschland ist keine eigenständige Gesellschaft
mehr wie die postkommunistischen Gesellschaften Ungarn oder Polen. Das
erwächst v.a. aus der Tatsache des Aufgehens der DDR-Gesellschaft in
der größeren Bundesrepublik mit deren funktionierenden
Integrationsmechanismen. Von Osteuropa aus gesehen ist der relative
politische Erfolg der PDS unter diesen spezifischen Bedingungen höchst
verwunderlich. Ob sich das Thema des relativen Erfolgs der PDS am 22.
9. d. J. erledigt hat oder nicht, ist eine Frage der Zukunft. Mich
interessieren hier v.a. und zunächst die letzten 12 Jahre bis zum
Wahltag. Ich beginne folgendermaßen: Warum war der Erfolg
der PDS unter den spezifischen deutsch-ostdeutschen Bedingungen
eigentlich relativ unwahrscheinlich? Prüfen wir die eben genannten drei
Argumente zu den Nachfolgeparteien: zum einen hat die PDS unten den
deutschen Bedingungen kaum jemals die Chance, die führende
Oppositionspartei des Landes zu werden. Ihre ostdeutsche historische
Verwurzelung erweist sich als klare Behinderung. Selbst bei Existenz
eines bayrischen Niveaus der Loyalität der Ostdeutschen gegenüber der
PDS käme die Partei im gesamtdeutschen Maßstab kaum aus der Ecke einer
Kleinpartei heraus. Auch das zweite allgemeine Argument ist im
speziellen ostdeutschen Fall weniger valide, und zwar deshalb, weil die
spontane Sozialismusneigung der Ostdeutschen im bundesdeutschen
Parteiensystem bereits zumindest eine etablierte Repräsentantin hat,
die Sozialdemokratie. Und zum dritten: wenn es auch stimmt, dass sich
in der PDS Teile einer handlungsfähigen ostdeutschen politischen Elite
versammeln, wird diese in der Bundesrepublik überhaupt gebraucht? Durch
die bundesdeutsche Überproduktion von Eliten könnte doch eine Situation
entstanden sein, durch die die DDR-Eliten im wahrsten Sinne des Wortes
„arbeitslos“ gemacht werden. Nun, noch einmal gefragt: wenn
der politische Erfolg der SED-Nachfolgerin so unwahrscheinlich war, was
hat ihn dennoch möglich gemacht? Meine Erklärung ist die folgende:
Kulturelle Fremdheit und soziale Verschiedenheit zwischen Ost und West
spielen eine Rolle. Das wäre das Stichwort der „zwei deutschen
Teilgesellschaften“, das vom B.I.S.S. und speziell durch Rolf
Reissig[4] stark gemacht worden ist. Ein Repräsentationsdefizit der
„anderen Deutschen“ im intermediären Bereich – Medienöffentlichkeit und
Parteien- und Verbändestrukturen kommt dazu. U.a. Heidrun Abromeit hat
darauf hingewiesen um den Aufstieg der PDS nach 1993 zu erklären. [5]
Eine gewisse Handlungsfähigkeit der Ostdeutschen in schwierigen
Situationen, vielleicht ist „Eigensinnigkeit“ ja das bessere Wort, muss
ebenfalls erwähnt werden: die Unterlegenen und Schwächeren nutzen die
Chancen des Wahlsystems, ihre Unterlegenheit zumindest alle paar Jahre
mit einem Bleistiftkreuz auf dem Wahlzettel symbolisch zu kompensieren.
Sicher spielt auch die in der Wendezeit entstandene Wertschätzung der
Demokratie unter den Ostdeutschen eine Rolle. Ohne diese so
charakterisierte Handlungsfähigkeit würde sich vielleicht das
Unterlegenheitsgefühl eher in Wahlenthaltung oder anderen Formen
scheinbar unpolitischen Protestes äußern. Die PDS hat
allerdings auch aus zwei internen Gründen weitergemacht, von denen ich
abschließend einen analysieren möchte: zum einen gab es SED-Mitglieder,
die am Ende ihres Lebens nicht von allen Überzeugungen und Vorurteilen
über Nacht lassen wollten. Das ist genügend breit getreten worden.
Interessanter finde ich einen zweiten Grund. In der SED hatte sich ab
Ende Oktober 1989 eine Basisbewegung aufgemacht, in der eine Reihe von
SED-Mitgliedern die politische Kompetenz erwarben, die ihnen in der
Staatspartei SED verwehrt worden war. In dieser gesellschaftlichen
Krisensituation, der eine Wertekrise seit der Gorbatschowschen
Perestroika – beginnend spätestens mit dem berühmten Schlusswort zum
Januarplenum 1987 („Der Sozialismus benötigt die Demokratie wie die
Luft zum atmen!“) – vorausgegangen war, entstand ein wichtiges Segment
einer zukünftigen ostdeutschen Elite. Da die SED die größte Zahl der in
der DDR potentiell handlungsfähigen Personen in ihren Reihen hatte, war
dieses Segment in der SED auch wesentlich umfangreicher als das in den
„Blockparteien“ bzw. in den Gruppen unter dem Dach der Kirche. Dieser
Nukleus einer potentiellen Elite einer Deutschen wirklich
Demokratischen Republik war der zweite und m.E. wichtigere Grund dafür,
dass die PDS in der Zeit tiefer gesellschaftlicher Ächtung,
potentieller gesellschaftlicher Funktionslosigkeit im erweiterten
Deutschland und verschiedener „Anpassungskrisen“ (Machos/Segert[6])
nicht unterging. Zwar blieben nicht alle Angehörigen dieser Gruppe in
der PDS, viele suchten sich andere Betätigungsfelder, aber diejenigen,
die Geschmack an Politik gefunden hatten, blieben in der PDS oder in
ihrer Umgebung. Das betraf v.a. Angehörige der „zweiten
DDR-Generation“, die nach Engler um das Jahr 1950 geboren wurden. Dazu
nur eine Anmerkung: Ich weiß allerdings nicht genau, ob es tatsächlich
stimmt, dass der Geburtsjahrgang 1953[7] schon ein
Ausschließungskriterium sein kann. Vielleicht könnte man sich ja eher
vorläufig so verständigen: Angehörige dieser Gruppe waren 1990 noch zu
jung für den Vorruhestand aber schon zu alt für die Rolle
„hoffnungsvolles junges Talent ohne Vergangenheit“. Das zweite
Kriterium würde dann zu einer ungefähren Grenze beim Geburtsjahrgang
1960 führen. Wer 1990 über 30 Jahre alt war galt in der Bundesrepublik
nicht mehr als unbeschriebenes Blatt. Diese soziale Gruppe ist in der
Mitgliedschaft der PDS im Verhältnis zu ihrer Stärke in der
Gesellschaft unterrepräsentiert, in der Gruppe ihrer PolitikerInnen im
Verhältnis zur Mitgliedschaft aber deutlich überrepräsentiert.
Man hätte sich auch andere Wege dieser potentiellen Politiker nach 1990
vorstellen können: in Osteuropa sind nicht alle politischen Talente der
Staatsparteien in der Nachfolgepartei geblieben. Manche beteiligten
sich an der Gründung anderer Parteien, so dass es vielerorts nicht
eine, sondern viele Nachfolgeparteien gibt. In der Bundesrepublik war
so etwas nicht möglich, weil es einen tiefsitzenden Antikommunismus
gab, der bei den Konservativen im bürgerlichen Lager und in der SPD
tiefe historische Wurzeln hat, bei den Grünen aus der Zeit ihrer
maoistischen und trotzkistischen „Abwege“ als DDR-Verachtung überlebt
hat. Dieser Antikommunismus –im europäischen Maßstab ein wahrhaft
deutscher Sonderweg – hat bisher die Wanderung solcher politischen
Talente aus der SED bzw. später PDS verhinderte. Menschen wie Sibyll
Klotz sind Ausnahmen geblieben, die die Regel bestätigen. Man hätte
sich in der Wendezeit auch ein Überwechseln dieser Personen in die SPD
vorstellen können. Viele von ihnen deuteten – wie ja bekanntlich
Gorbatschow auch – ihre neue Identität sozial und demokratisch. Die
Dresdener Gruppe um Wolfgang Berghofer hatte sich im Januar 1990 schon
auf den Weg gemacht. Da regten sich plötzlich Konkurrenzängste bei der
jungen SDP-Elite, und diese Möglichkeit verschwand ebenfalls.
Jedenfalls blieb wegen ihrer immobilen Mitglieder und ihrer höchst
mobilen, aber von außen eingesperrten politischen Talente, die PDS bis
2002 politisch am Leben. Und da sie gegen 1992/3 zwar nicht stärkste
Oppositionskraft werden konnte, aber doch wenigstens ein sichtbarer
Ansprechpartner für die eigensinnigen Ostdeutschen geworden war, nahm
sie bis zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in diesem Frühjahr an
Wählerstimmen zu. Abschließend möchte ich noch zwei Personen
aus dieser Gruppe politischer Talente der PDS vorstellen. Es sind
Helmut Holter – der erste Stellvertretene Ministerpräsident der PDS auf
Landesebene – und Kerstin Kassner, die Landrätin Rügens und eine von
drei PDS Landräten. Holter ist Jahrgang 1953, er war 1989 also 36 Jahre
alt. Von Beruf Bauingenieur (Diplomingenieur für Betontechnologie),
stärker noch geprägt durch seine Studienaufenthalte in der Sowjetunion.
Wie Sie wissen, Studienaufenthalte in der Sowjetunion waren in der DDR
in den siebziger Jahren und auch noch später kein Grund, sich zu
schämen. (Wie mir meine ungarische Kollegin, Csilla Machos, berichtet
hat, war das in Ungarn im selben Zeitraum schon nicht mehr so.) Holter
wurde schnell Produktionsleiter eines Betonwerkes, „die Partei“ wurde
auf ihn aufmerksam. Sie machte ihn zum Parteisekretär des Werkes, hatte
aber Höheres vor. Sie schickte ihn 1985 – 1987 an die Parteihochschule
in Moskau. Er lernte in der Sowjetunion nicht nur seine heutige Frau
kennen, sondern offensichtlich auch die sowjetische Perestroika
schätzen. Nach dem Studium sicher für höhere Posten vorgesehen,
erwischte ihn die Wende als Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung. Ein
sicherer Grund dafür, dass ihm die Wege in die bundesdeutsch gewordene
Gesellschaft versperrt blieben. Dieser Karrierebruch ist
natürlich kein individuelles, sondern ein Gruppenmerkmal – Roland
Claus, Jahrgang 1954, SED-Bezirksvorsitzender in Halle während der
Wendezeit, Gabriele Zimmer, Jahrgang 1955, Redakteurin einer
Betriebsparteizeitung in Suhl, gehören ebenfalls in diese Gruppe. Also
machte Holter was aus seinen Voraussetzungen, er blieb in der PDS,
wurde 1991 ihr Landesvorsitzender, 1994 Landtagsabgeordneter und 1998
Minister der ersten rot-roten Landesregierung. Und seine Zeit in der
Sowjetunion vermag er auch in die heutige Sprache zu übersetzen. Ich
habe ihn im letzten Jahr auf einer Veranstaltung in Schwerin erlebt, wo
er von sich sprach als einem Landeskind, das lange in der Welt gewesen
ist, dann aber doch nach Hause zurückgekehrt ist. Mit
Kerstin Kassner ist eine andere Gruppe der politischen Talente der PDS
angesprochen, die ich als „gute DDR-BürgerInnen“ ansprechen möchte. Ich
bin auf diese Gruppe gestoßen, als ich während einer Analyse der
PDS-Volkskammerabgeordneten viele Menschen ohne jene
DDR-Funktionärskarriere antraf, die u.a. Holter und Claus kennzeichnen.
Es waren z.B. einige Kinderärztinnen oder auch DDR-Leistungssportler.
Es handelt sich bei diesem Typ der „guten DDR-BürgerInnen“ um Menschen,
die von den guten Seiten der DDR profitiert haben, sich in ihr zu Hause
fühlten, das Utopieprojekt Sozialismus zum eigenen Lebenssinn
auserkoren hatten. Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht genau
weiß, ob Kerstin Kassner meiner Zuordnung zu dieser Gruppe zustimmen
könnte. Ihre berufliche Laufbahn vor 1989 verlief folgendermaßen: sie
wurde 1958 in Radebeul in Sachsen geboren. 1989 war sie also 31 Jahre
alt. Sie besuchte die EOS, erwarb danach erstaunlicherweise eine
Berufsbildung als Kellnerin und arbeitete in ihrem Beruf bis sie
schließlich 1981 für 5 Jahre Restaurantleiterin im FDGB-Feriendienst in
Binz wurde. In dieser Zeit absolvierte sie ein Fernstudium an der
Handelshochschule Leipzig und hatte es kurz vor der Wende als
Heimleiterin im Feriendienst in Binz scheinbar geschafft. Danach blieb
sie noch kurz in Verantwortung im abzuwickelnden Feriendienst der
Gewerkschaften in Binz und machte sich dann zwangsläufig selbständig.
Seit 1992 führt sie ein eigenes Hotel in Putgarten. Ihre sichtbare
politische Karriere begann sie wie eine ganze Gruppe anderer
Ostdeutscher auch 1990 als Mitglied der demokratischen Volkskammer der
DDR. Danach war sie Mitglied des Landtags Mecklenburg-Vorpommern, ab
1994 PDS Kreisvorsitzende in Rügen und 2001 wurde sie in einem
tatsächlich recht dramatischen Wahlkampf Landrätin ihrer neuen Heimat
Rügen. Holter und Kassner – zwei PolitikerInnen der PDS, um
die es schade wäre, wenn die PDS sich politisch selbst umbringen würde,
wie es 2002 in Gera als Möglichkeit aufschien. Das letzte ist
allerdings keine wissenschaftliche sondern meine politische
Stellungnahme. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht – ich bin allerdings
kein Fachmann – scheinen mir sind diese beiden spezifischen,
DDR-ostdeutschen biographischen Prägungen von hohem Interesse. Aus
demokratietheoretischer Sicht meine ich, die Demokratie in der
Bundesrepublik kann ihr problematisches Repräsentationsdefizit im Osten
nicht überwinden, wenn sie nicht die politischen Talente, die der
späten DDR entsprungen sind, zu integrieren versteht. Das u.a. deshalb,
weil politische Talente in Deutschland insgesamt selten sind, aber noch
mehr wegen der partiellen und kulturell bedingten Entfremdung zwischen
politischer Mehrheitskultur und jener der ostdeutschen
Teilgesellschaft. Im Augenblick scheint mir dafür nur ein Weg zu
existieren – sie als Gruppe ernst zunehmen und nicht den einen oder
anderen für die eigene Partei einzukaufen. Und zwar deshalb ist das
schwer als Erfolgsweg vorstellbar, weil die Gruppe Ostdeutscher, die
sich von der Bundesrepublik und ihren intermediären Institutionen
entfremdet fühlt, sich von gekauften Ostdeutschen wahrscheinlich
abwenden würde. Nicht ganz zu Unrecht im übrigen, denn jene
„Überläufer“ verstärken zusätzlich das sowieso gegebene
Repräsentationsdefizit ostdeutscher Biographien, Lebensvorstellungen
und Interessen im westdeutsch geprägten Parteienspektrum der
Bundesrepublik. Für eine echte Integration dieser Gruppe ostdeutscher
Politiker müsste sich die westdeutsche Dominanzgesellschaft allerdings
erst noch von ihren überholten antikommunistischen Reflexen befreien.
Und ein Teil der PDS müsste sich von seinem Traum befreien, alte
Schlachten doch noch gewinnen zu können.
Anmerkungen
[1]
Albrecht Rothacher: Im Wilden Osten. Hinter den Kulissen des Umbruchs
in Osteuropa. Hamburg: R. Krämer Verlag, 2002, S. 11, 340, 353, 486,
537, 543 u.a. [2] Gero Neugebauer, Richard Stöss: Die PDS.
Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten. Opladen: Leske +
Budrich, 1996, S. 251. [3] Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin: Aufbau Verlag, 2002, S. 30.
[4] Siehe u.a. Rolf Reißig: Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft:
Bilanz und Perspektive der Transformation Ostdeutschlands und die
deutsche Vereinigung, Berlin: Dietz, 2000. [5] Heidrun Abromeit:
Die „Vertretungslücke“. Probleme im neuen deutschen Bundesstaat. In:
„Gegenwartskunde“, Band 42, S. 281-292. [6] Csilla Machos und
Dieter Segert: Überraschende politische Erfolge postkommunistischer
Parteien in Deutschland und Ungarn: Parallelen und Unterschiede. In:
Hedwig Rudolph (Hg.): Geplanter Wandel, ungeplante Wirkungen.
Handlungslogiken und –ressoucen im Prozeß der Transformation,
WZB-Jahrbuch 1995, Berlin: Ed. Sigma, S. 216-229. [7] Vgl. die
Argumentation bei Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, S. 47.
Zwischen seiner Abgrenzung von 1952 und 1953 liegt hier nur, mit
Verlaub, der Unterschied zwischen Rüddenklau und Anderson (beide
Geburtsjahrgang 1953) einerseits und Engler (Jahrgang 1952)
andererseits.
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