Thema | Kulturation 1/2004 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Elka Tschernokoshewa | Born in Eastern Europe Die Gefahr und die Freiheit der Grenzsituation oder Warum Europa den Osten braucht
| Einleitung
Wir wollen heute über die Beziehung zwischen West- und Osteuropa
sprechen. Da gibt es sicherlich genügend Argumente, warum der Westen
den Osten nicht braucht: Der Osten ist arm, macht nur Ärger und ist so
groß, dass niemand weiß, wo er endet – so steht es hierzulande oft in
der Presse. Das Bruttosozialprodukt ist niedrig, es gibt ethnische
Konflikte, eine hohe Kriminalität, Maffia, undurchsichtige politische
Entscheidungen – und dann werden dort auch noch Sprachen gesprochen,
die keiner versteht. Zudem wollen da alle arbeiten, sogar die Frauen,
und wir haben nicht mal Arbeitsplätze für uns.
Ich will diesen Argumentationsstrang nicht weiter verfolgen, sie
kennen all dies bestimmt zu gut, viel mehr will ich auf eine andere
Ebene gehen und meine Ausgangs-These formulieren: Westeuropa – als
Idee, als Konstrukt und als analytische Kategorie - braucht Osteuropa,
weil Westeuropa sich immer durch seine Beziehung zu Osteuropa definiert
hat. Sie sind konstitutiv füreinander. Seit dem es Westeuropa gibt,
gibt es auch Osteuropa. Und seit dem es Osteuropa gibt, gibt es auch
Westeuropa. Die Frage ist: Wie wird diese Beziehung gedacht? Wie werden
Identität und Gemeinschaft definiert? Was sind wir, und was die
Anderen? Wie werden die Grenzen der Gemeinschaft definiert? Welche sind
die Modelle des Umgangs mit dem Anderssein? Darum ist für mich die
Frage nicht, ob Westeuropa den Osten braucht, sondern wie über
diese Beziehung nachgedacht wird, wie diese Beziehung gestaltet wird –
diskursiv, aber auch strukturell. Denn es gibt sehr unterschiedliche
Möglichkeiten, unterschiedliche Modelle der Gestaltung. Und die
jeweiligen wirtschaftlichen Bedingungen und politischen Strukturen sind
eng mit den unterschiedlichen Modellen des Umgangs mit der Differenz
verbunden.
Auf diese unterschiedlichen Modelle des Umgangs mit Differenz
möchte ich näher eingehen. Ich werde das in einer eher essayistischen
Form machen. Und wenn ich meine, dass Westeuropa – Osteuropa eine
Konstruktion der Moderne sind, so bedeutet das nicht, dass diese
Konstruktionen nicht wirksam wären. Gerade umgekehrt. Sie sind sehr
wirksam, ja sie sind sehr wirklich. Und mit dieser Wirklichkeit lebe
ich und versuche es – nicht nur heute Abend – mich mit ihr
auseinanderzusetzen.
Balkanische Europäer
Als der bulgarisch-jüdische Filmregisseur Angel Wagenstein in
Berlin gastierte, wurde er von Journalisten gefragt, wie er seine
nationale oder regionale Zugehörigkeit definiert. „Ich bin ein
balkanischer Europäer“ – antwortete Wagenstein und seine Antwort war
sicherlich als Provokation gedacht. Denn der Balkan oder die
Balkanisierung wurden seit dem 18. Jahrhundert, zugespitzt aber im 20
Jahrhundert, zu jenen Schimpfwörtern, mit denen das „aufgeklärte“ bzw.
„zivilisierte“ Europa das Andersartige zu bezeichnen pflegte, d. h.
alles das, was Europa nicht ist oder nicht sein will. In dem Moment, wo
ein Teil von Europa für sich das Recht auf Fortschritt, Demokratie und
Zivilisation okkupiert hatte, wurde der Balkan zum Synonym für
Dunkelheit, Primitivismus, Barbarei. Und offenbar klingt die
Vorstellung immer noch paradox, dass der Balkan und Europa
zusammengeführt werden solle.
Das Paradoxon hat auch andere Namen: Ost-Europa, slawischer Raum,
ehemaliges sozialistisches System. Oder auch orthodoxe Kirche, Byzanz,
Nicht-EU-Raum. Mal sind es sprachliche Unterschiede (die slawischen
Sprachen), mal religiöse Besonderheiten (ost-orthodoxes Christentum),
ein anderes Mal politische oder ökonomische Unterschiede, die
hervorgehoben und nachgezeichnet werden. Aber was bedeutet es heute,
ein balkanischer Europäer oder ein Osteuropäer, ein Nicht-EU-Europäer
zu sein? Wie sehen wir uns selbst, was erwarten wir von Europa und noch
mehr: womit sind wir interessant für Europa?
Werden wir „Nicht-Europäer“ nur als Kontrastfolie für das
Selbstbewusstsein der „wirklichen Europäer“ gebraucht oder sind wir für
das EU-Europa noch anders interessant? Für mein Verständnis ist das
Interessante an Osteuropa heute, dass die Leute dort über
Grenzerfahrungen verfügen. Auch wenn sie keine Migration in dem Raum
erfuhren, haben sie jedoch eine Migration in der Zeit durchlebt. Sie
sind Grenzgänger, sie leben im Spagat zwischen zwei gesellschaftlichen
Systemen, zwischen dem, was früher als „Ost“ und als „West“ galt, ja
zwischen den althergebrachten Vorstellungen von Zentrum und Peripherie.
Es ist ein Doppelleben, gelebte Transkulturalität, doppelte oder
mehrfache Perspektivität. Vielleicht kann ich es auch so sagen: Das
Besondere an der Osteuropaperspektive ist, dass sie viele Fluchtpunkte
hat. Wir leben in einem dritten Raum. Wir besitzen die Weisheit der
Ungewissheit. Wir sind uns selbst fremd. Wir sind hybrid.
Als ich jüngst wieder in Sofia war, habe ich mehrmals von Freunden
den Ausdruck gehört: „Ach, wir leben in einer interessanten Zeit.“ Und
dann wurde gleich hinzugefügt: „Es soll ein alter chinesischer Fluch
sein, in interessanten Zeiten zu leben.“ Fluch oder nicht - wie
verläuft solch ein interessantes Leben? Es bedeutet Abschiednehmen von
der Eindeutigkeit, ein intensives Erleben des Ungewissen, verlangt zu
lernen, mit neuen Strukturen umzugehen, zwingt zum Versuch, das
anderswo Gelernte hier anzuwenden, einen neuen Pragmatismus an den Tag
zu legen, zu vergleichen, zu staunen, oft zu staunen, eine Stereosicht
zu entwickeln, zum Dialektiker oder zum Relativisten werden. Heute ein
Osteuropäer sein, das bedeutet, oft belehrt, begutachtet oder evaluiert
zu werden. Oft auch von Außen. Das ist eine sehr interessante
Erfahrung. Dabei wird unerwartet Missachtung erfahren, unverhofft kann
man aber auch Solidarität zu spüren bekommen. Die Ostdeutschen kennen
das bestimmt.
Mit allen diesen „hybriden Erfahrungen“ – wie ich sie bezeichnen
möchte - sind die Osteuropäer beladen. Sie haben das Reich der
Eindeutigkeit verlassen. Sie besitzen eine Stereosicht. Dabei möchte
ich etwas hervorheben: Wenn wir das heutige Leben in Osteuropa
verstehen wollen, so dürfen wir die Erinnerung und positive Bezüge an
die sozialistische Zeit nicht nur als Nostalgie oder – oft ironisierend
– als Ostalgie bezeichnen und so desavouieren. Bei diesen Bezügen geht
es nicht um eine Verklärung der Vergangenheit – wie oft behauptet –,
sondern um erworbene Handlungskompetenzen und Lebenserfahrungen. Wenn
die Betroffenen auf dieses Arsenal von kulturellen Semantiken und
Praktiken bewusst zurückgreifen – und das tun wir – dann sollte dies
nicht als mangelnde Anpassung an die neue Zeit verrechnet werden, denn
es handelt sich um konkrete Antworten auf die neuen Lebensbedingungen.
Es ist ein kreativer Umgang mit den Widersprüchen der eigenen
Lebenssituation, durch den die eigene Biographie geschaffen wird. Sie
vereinen in diesem Leben im Spagat das noch Unvereinbarte. Auf diese
Weise entstehen hier und heute neue, hybride Welten. Solch ein Leben im
Spagat bedeutet höhere Flexibilitätskompetenz, breitere
Handlungskompetenz, Mobilität, Auflockerung von Grenzen und
Abschließungen, Ende der Eindeutigkeit. Aber dieses Ende von
Eindeutigkeit, von „Normalbiografie“, von vorhergesagter Stabilität,
von Langzeitjobs, lebenslangen Bündnissen – alles das sind doch
Phänomene, die in der Zeit der Globalisierung für alle schlüssig
werden. In diesem Sinne sind die Osteuropäer Avantgarde der globalen
Moderne. Und gerade komplexe Gesellschaften benötigen unkonventionelle
Lösungen, neue Blickwinkel, überraschende Impulse. Darum könnte diese
nicht mehr Mono-, sondern inzwischen „Stereosicht“ für ein gemeinsames
Europa von Bedeutung sein.
Überdies sind auch in anderen Bereichen „Vermischungen“ zu
erkennen. Immerhin werden an allen Schulen des slawischen Raumes auch
nichtslawische Sprachen gelehrt. Die TV-Programme in Polen, Ungarn oder
Bulgarien zeigen eigene und importierte Sendungen in interessanter
Mischung. Oft ist es so, dass die ehemalige Peripherie mehr über das
Zentrum weiß als umgekehrt. Deshalb haben diese Regionen bei der
Konstruktion eines „dritten Raumes“, wo die alten Blöcke und
Platzierungen, ja die Idee von Zentrum und Peripherie aufgebrochen
wird, eine wichtige Funktion.
Im Folgenden will ich einige Befürchtungen, aber auch Chancen für
ein gemeinsames und demokratisches Europa - thesenhaft jeweils drei -
benennen, wie sie sich aus einer solchen Osteuropaperspektive ergeben. Zunächst die drei Befürchtungen.
1. Unsichtbarkeit
Zunächst ist es die Besorgnis, dass die Stimmen, die Erfahrungen und
Kompetenzen Osteuropas – und zwar als differente Erfahrungen –
ausgeschlossen oder marginalisiert werden. Das Schweigen über
kulturelle Differenzen ist ein signifikanter Bestandteil der Analyse
von Kultur in der klassischen, europäischen, nationalistischen,
aufklärerischen Tradition. Bekanntermaßen wurde in der Zeit der
nationalen Moderne die Einheit der Gemeinschaft als Minimierung von
Differenz im Sinne einer Dichotomisierung von Differenz hergestellt.
Das Andere in seiner Andersartigkeit wurde homogenisiert und als das
Fremde, als Außen definiert und jenseits der Norm, jenseits der
Gemeinschaft, jenseits der „vernünftigen Welt“ situiert und somit
ausgeschlossen – zuerst diskursiv, dann auch strukturell. Die
Gegenüberstellung Eigen versus Fremd wurde auch als Gegenüberstellung
von Gut versus Böse, Zivilisation versus Barbarei, Rationalität versus
Irrationalität gedacht. Hier wurde die Konstruktion Westeuropa –
Osteuropa bzw. Germanischer Raum – Slawischer Raum als
Gegenüberstellung Eigen gegen Fremd konstitutiv.
An dieser homogenisierenden Konstruktion haben Philosophen,
Historiker, Literaten, Volks- und Völkerkundler kräftig gearbeitet. Ich
will einige Beispiele anführen. Der Göttinger Historiker Johann
Friedrich Reitemeier meinte in seiner 1801 bis 1805 veröffentlichten
Geschichte der preußischen Staaten, dass die Slawen doch eher primitiv,
faul und durch „Unreinlichkeit“ gekennzeichnet seien. Diese negativen
Eigenschaften führte er auf ihren „orientalischen Charakter“ zurück.
Schon deshalb sei die Besitznahme ehemals slawischer Territorien
absolut gerechtfertigt. Die Vertreibung der Slawen durch die Deutschen
und die „Vernichtung ihrer asiatischen Sitten“ sei eine „Revolution von
der wohltätigsten Art“, steht bei ihm.
Ähnlich äußerte sich auch der Schriftsteller August Wilhelm
Schlegel. Er fand es wie Reitermeier „nicht sonderlich bedauernswert“,
„wenn so viele slavische Völkerschaften unter die ursprünglich freylich
sehr harte deutsche Herrschaft gerathen“ seien. Die „Slaven“ seien
nämlich „überall und unter allen Umständen zur Sklaverey bestimmt
(welches Wort auch unstreitig von ihnen herkömmt)“. Der Philosoph Georg
Wilhelm Friedrich Hegel bezeichnet die Slawen gar als „geschichtslose
Völker“, weil sie mit Ausnahme allenfalls der Russen „bisher nicht als
ein selbständiges Moment in die Reihe der Gestaltungen der Vernunft in
der Welt aufgetreten“ /1/ seien.
Was das Polenbild in Deutschland betrifft, so will ich ein Auszug
aus völkerkundlicher Feder anführen. Der Natur- und Völkerkundler Georg
Forster schrieb Ende des 18. Jahrhunderts: „Die Polen sind Schweine von
Haus aus, so Herren als Diener; alles geht schlecht gekleidet, zumal
das weibliche Geschlecht; putzen sie sich, so sitzt es wie der Sau das
güldne Halsband. Ausnahmen giebts, das versteht sich; ich spreche von
der allgemeinen Regel.“ Und weiter: „Krakau ist ein trauriger, öder
Ort, alle Häuser baufällig, und keins repariert [...]. Überall wimmelts
von Juden und Polacken; Unreinigkeit und Schweinerey überall.“/2/
Das war damals der Geist der Zeit. Politisch war es die Phase, in
der sich in Europa die Nationalstaaten bildeten. Wirtschaftlich löste
die Marktwirtschaft die feudalen Strukturen ab. Hier nun wurde Europa
zweigeteilt – zuerst als Idee, dann auch als gesellschaftlich Struktur.
In diesem Modell ist Osteuropa alles das, was Westeuropa nicht ist und
nach nationalistischen Idealen, utilitaristische Praktiken und realen
Machtverhältnissen auch nicht sein darf: Verdrängt werden Wildheit,
Natur, Gefühle, Zeitlosigkeit, Privatheit.
Die Erfindung der zwei Europa erinnert an der Erfindung der zwei
Geschlechter. Ich hätte meinen Vortrag auch „Osteuropa als Frau –
Westeuropa als Mann“ nennen können. Ähnlich wie mit der Erfindung der
Zweigeschlechtlichkeit die Unterwerfung der Frau unter dem Mann
legitimiert worden ist und ihre Bindung an Kinder, Küche und Kirche
schließlich als Norm und Normalität gesehen wurde, so wurde auch die
koloniale Erweiterung des Westens nach Osten legimitiert. Und so wie
Erfahrungen, Sensibilitäten und Kompetenzen von Frauen in diesen
Prozess diskriminiert wurden, so geht in Europa ein riesiger Steinbruch
von Überlebensformen verloren, diffizile Sensibilitäten werden
verschüttet, kräftige Handlungsmuster werden verdrängt.
Das ist nur scheinbar eine alte Geschichte, denn sie ist immer noch
sehr präsent. In Osteuropa ist derzeitig die Befürchtung stark, nicht
gesehen, nicht gehört zu werden oder wieder an der Peripherie platziert
zu werden. Diese Sorge steht in Verbindung mit den aktuellen
wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Region. Oft ist aber das
Erlebnis der Unsichtbarkeit traumatischer als die materielle, die
finanzielle Armut selbst. Die neue Grenzziehung des EU-Raumes schafft
strukturelle Unterschiede aus denen für die Nicht-EU-Europäer eine neue
Unmöglichkeit erwächst, sich angemessen zu artikulieren. Die
praktizierte stufenweise Angliederung an die EU und die Idee von einem
Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten begünstigen eher die
Unsichtbarkeit.
2. Othering, Folklorismus, Unterschichtung
Eine zweite Gefahr sehe ich in der Tendenz, Osteuropa dichotomisch,
d. h. als Gegenwelt Westeuropas gegenüber zu stellen, dabei Osteuropa
zu folklorisieren oder hierarchisch „unten“ auf einer zivilisatorischen
Pyramide anzuordnen. Auch mehr als 10 Jahre nach dem Zerfall der zwei
Blöcke in Europa und dem Verschwinden der hegemonialen Mächte ist diese
Gefahr nicht überwunden. In der Zeit des Kalten Krieges wurde
bekanntermaßen mit Bildern der ganzheitlichen und alternativen
Gegenüberstellung der beiden Systeme gearbeitet: Wie ich schon
andeutete, hat diese dichotome Gegenüberstellung eine lange Tradition.
Der deutsche Nationalstaat definierte sich bei seiner Gründung durch
eine Abgrenzung erstens nach Westen zu Frankreich, zweitens nach Innen
– zu den Andersartigen im Innern (wie Juden oder Sorben) – und
drittens, nach Osten zu Polen und „dem Slawenraum“. Die Abgrenzung nach
Osten war in der Preußenpolitik der Bismarck-Zeit eine wesentliche
Konstituante. Wir wissen, welche großen Anstrengungen es kostete, um
die Feindschaft nach Westen zu Frankreich aufzubrechen. Nach dem II.
Weltkrieg wurden diverse Förderprogramme großzügig gestaltet,
Kooperationen, grenzüberschreitende Initiativen, Institutionen,
gemeinsame Fernsehprogramme wie Arte, das französisch-deutsche
Jugendwerk etc. etc. ins Leben gerufen.
Die Feindbilder nach Osten aufzubrechen wird keine leichte Aufgabe
sein. Denn der alte Traum von Reinheit spukt immer noch. Der
Folklorismus ist für mich ein Aspekt dieses Traums. Wir kennen diese
reduktionistischen Bilder von Balkan-Musik, den Reiseführer nach Polen,
Ungarische Gulasch, Sorbinnen in Deutschland. Fremde Frauen, fremde
Ethnien, fremde Nationen – sie sind nach diesem Traum unentwickelt,
unrational, etwas wild, unmündig. Können womöglich schön singen, aber
nicht rational denken, haben vielleicht schöne Tänze und Trachten, aber
verstehen wenig von den großen Belangen der Zivilisation, sind bestimmt
interessant als Bereicherung unserer Küche, oder als touristische oder
folkloristische Attraktion, sind aber sonst nicht ernst zu nehmen.
Als ich eine Untersuchung zum Bild der Sorben und Sorbinnen in der
deutschen Presse der letzten Jahre gemacht habe, bestätigten sich alle
diese Vorurteile./3/ Was die Unterschichtung des Ostens betrifft, d. h.
die negative Besetzung von Differenz, dafür können wir auch reichlich
Material in den Medien hierzulande finden: Wenn Christo den Reichstag
einpackt und dadurch Berlin zum Festplatz macht, wird nicht immer seine
Herkunft angegeben; wenn es aber um Diebstahl, Mafia, Prostitution,
Randalierung oder Schwarzarbeit geht, wird oft die Herkunft in den
Titeln der Beiträge und in Großbuchstaben geschrieben: die russische
Mafia, polnische Schwarzhändler, rumänische Taschendiebe.
3. Systemismus
Eine weitere Gefahr sehe ich darin, dass aus angeblichen oder
tatsächlichen Merkmalen der politischen Systeme direkte Rückschlüsse
auf die alltäglichen Realitäten im Leben der Menschen in Ost-Europa
gezogen werden. Beispiele für solch einen „Systemismus“ sind reichlich
anzutreffen. Hier will ich nur eines hervorheben: auch bei der
Untersuchung von Kultur und Alltag in Ost-Europa sollten wir das, was
wir spätestens mit der Systemtheorie gelernt haben, nicht vergessen:
dass sich das Verhältnis zwischen der System-Ebene (Politik, Ökonomie
etc.) und die Lebenswelt-Ebene nicht in bloßen Determinismus erschöpft.
Auch in Ost-Europa waren die Leute kein „bloßer“, also kein passiver
Reflex sozialer Strukturen. Auch hier gab es Systeme von
Alltagsverhalten und Alltagsverhältnissen, Geflechte menschlicher
Beziehungen, Sinnsuche und Identitätsfindung. Auch hier gab es sehr
divergierende Antworten auf die vorgefundenen Bedingungen.
In diesem Sinne ist für mich der schlüssige Punkt die Frage, an
welche Kräfte, Ideen oder Subkulturen Osteuropas wollen wir heute
anknüpfen? Um eine Wahl treffen zu können, müssen wir diese Kulturen
kennen. Nach meiner Erfahrung mangelt es oft an solchen Kenntnissen.
Nun möchte etwas zu den Chancen sagen, die sich für ein
demokratisches Europa aus der neuen Situation ergeben können. Wenn ich
eingangs die Multiperspektivität des Ostens betonte, so muß ich dabei
berücksichtigen, dass es dort selbstverständlich auch
„Reinheitsapostel“ und Nationalisten. Gerade diese Kräfte sind momentan
sehr lebendig. Dennoch, Osteuropa auf den Nationalismus zu reduzieren –
was ich oft nicht nur in den Medien und am Kneipentisch, sondern auch
im wissenschaftlichen Diskurs erlebe – finde ich sehr bedenklich.
Deshalb will ich hier die Perspektive etwas umdrehen und Osteuropa als
Hoffnung, als Zukunftsvision für Europa zeichnen. Es geht um eine neue
Art der Gemeinschaft. Die Vision heißt: das Andere und das Gleichartige
in eins - Different und Similar zugleich.
1. Different und Similar zugleich
Es ist eine solche Philosophie der Differenz, die dem Anderen als
solchem Raum gibt und zugleich dem Anderen nicht verweigert, der
Gleiche zu sein. Es ist eine unterschiedliche Vorstellung von
Gemeinschaft, als die, die wir traditionell kennen. „Die Einbeziehung
des Anderen“ hat es Jürgen Habermas genannt./4/ „Anderssein und doch
dazugehören“ – so hatten wir es auf einer Tagung formuliert./5/ Der
entscheidende Punkt für mich ist, ob es möglich ist, Differenz ohne
Hierarchisierung, Differenz ohne Exklusion zu denken. Dabei kann die
Idee von Differenz in der Similarität und Similarität in der Differenz
unterschiedliche kulturelle Bereiche oder Ebenen betreffen. Wie können
wir uns diese Idee der Überlappungen und Querverbindungen vorstellen?
Vielleicht so: in bestimmten Bereichen anders (z. B. andere Sprache, andere Kleidung, andere Erfahrungen mit Zeit oder mit Arbeit), in anderen Bereichen wiederum gleich
(z. B. gleiche musikalische Interessen, gleiche moralische
Wertvorstellungen). Oder auch: nicht den gleichen ökonomischen,
wirtschaftlichen Standard haben (wie jetzt in Europa nun der Fall ist),
doch die gleichen Filme sehen und womöglich gleiche Visionen von Europa
haben.
Es muss aber noch etwas gesagt werden: Menschen können in ihren
kulturellen Lebensäußerungen different und ähnlich, ähnlich und
different nur dann sein, wenn es die Strukturen der Gesellschaft
einerseits, wie auch die Wortführer, die Deutungseliten, andererseits
das zulassen. Es hängt davon ab, wie „Gemeinschaft“ organisiert ist.
Welche Strukturen, Systeme und Foren der Gesellschaft erlauben oder
begünstigen die Gleichzeitigkeit von Differenz und Similarität? Diese
Frage können wir an die großen Strukturen richten, aber auch an jeden
von uns, an unsere eigene Institutionen und Diskussionsrunden. Wie viel
Anderssein können wir aushalten? Oft ist das in unserem „wirklichen
Leben“ gar nicht so einfach. Ich erfahre das tagtäglich. Bei weitem
nicht nur in Bautzen.
2. Das Recht auf Universales
Eine Chance für Europa sehe ich immer dann entstehen, wenn es
Strukturen oder Räume gibt, wo Osteuropa für das Universale stehen
kann, für das Ganze, so nach dem Motto: Wir sind Europa. Also, wenn
Osteuropa nicht nur für seine Interessen und ihre Anerkennung kämpft,
nicht lediglich seine partikularen Anliegen formuliert, sondern das
Recht hat, universale menschliche Probleme anzusprechen und bei deren
Lösung seinen unkonventionellen Beitrag zu leisten. Erst dann wird das
Anderssein nicht lediglich als folkloristische Kulisse auf der Bühne
Europas zu sehen sein, sondern als eine zusätzliche Perspektive. So
könnten einige Konventionen in Europa etwas aufgelockert werden: z. B.
über den Sinn des Lebens, über den Umgang mit Zeit und Arbeit oder mit
Kindern und älteren Leuten, mit Gastfreundschaft oder Naturheilmitteln.
So wie das Emir Kosturiza in seinen Filmen zeigt oder die Musik von
Goran Bregoviæ imaginiert. Es gibt zahlreiche Beispiele, die Frage ist,
ob Europa diese Filme oder diese Perspektiven als die eigenen erkennen
kann. Nicht etwa, weil jeder Zuschauer dort seine Lebensphilosophie
finden könnte. Dies ist in einer pluralen Zeit ja gar nicht möglich.
Wenn aber diese „balkanische“ Perspektive nicht als eine fremde,
sondern als eine von vielen Möglichkeiten bei unserer eigenen Sinnsuche
erlebt oder begriffen wird, dann kann sich etwas in unserem Deutungs-
und Handlungshorizont öffnen.
3. Übungen im Dialog
Die besondere Optik und Sensibilität der Osteuropäer hat eine
strukturelle Bedeutung für das gegenwärtige Gemeinschaftsleben in
Europa. Sie erzwingt geradezu einen Dialog der Perspektiven, alle
müssen sich in die schwere Kunst des Dialogs einüben. Denn der Dialog
ist eine heikle Sache. Für einen Dialog reicht bei weitem nicht die
Tatsache aus, dass es zwei Seiten, zwei Parteien gibt. Das ist noch
kein Dialog. Dialog bedeutet, sich auf die andere Seite einlassen,
etwas von ihr aufgreifen und auf alle Fälle das Andersartige als
gleichwertig und gleichberechtigt behandeln. Der Dialog gibt immer Raum
für eine Umkehrung der Rollen frei. Das ist sein Signum. Jenseits der
Möglichkeit des Rollentauschs, die Rollen also umzudrehen, wenn auch
nur für einen Augenblick, hat jedes Reden von Dialog keinen Sinn.
Der russische Semiotiker Jurij Lotmann hat sich mit dem Prinzip des
Dialogs beschäftigt und hat dieses Prinzip an der Beziehung Mutter-Kind
beschrieben: wenn die stillende Mutter die Laute und die Mimik des
Säuglings nachahmt und umgekehrt, das Kind, die Laute und die Mimik der
Mutter. Ein anderer russischer Kulturwissenschaftler, Michail Bachtin
hat den Karneval als solch einen dialogischen Raum gesehen, wo eine
spielerische Umkehrung der Rollen praktiziert wird. Wenn wir an die
Beziehungen mit Osteuropa denken, sollten wir solche Einsichten nicht
vergessen. Dann werden vielleicht auch neue Ideen für Europa sichtbar,
denn oft ist es so, dass dort, wo die Konflikte am schärfsten sind,
auch Lösungen gefunden werden.
Anmerkungen
1/ Vgl. mehr dazu: Wolfgang Wippermann, Antislawismus. – In:
Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, Hg. v. Uwe Puschriev,
Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht, München; v. a. S. 512–523.
/2/ Vgl. Andreas Lawaty, „Polnische Wirtschaft“ und „deutsche
Ordnung“: Nachbarbilder und ihr Eigenleben, – In: Der Fremde,
Interdisziplinäre Beiträge zu Aspekten von Fremdheit, Hg. Bernhard
Oestreich, Peter Lang Verlag 2003, S. 156–166.
/3/ Vgl. Elka Tschernokoshewa, Das Reine und das Vermischte. Die
deutschsprachige Presse über Andere und Anderssein am Beispiel der
Sorben, Waxmann Münster/New York/München/Berlin, 2000.
/4/ Vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1997.
/5/ Vgl. Elka Tschernokoshewa/Dieter Kramer (Hg.) Der alltägliche
Umgang mit Differenz. Bildung – Medien – Politik, Waxmann Münster/New
York/München/Berlin, 2001.
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