KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ThemaKulturation 2/2003
Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur
Christine Wagner
Nirgends ganz zu Hause: Polinnen in Berlin
Ivona ist verzweifelt. Fast ein Jahr ist sie nun mit diesem Deutschen verheiratet, hat ein Kind von ihm. Im goldenen Westen, so hatte sie gehofft, könnte sie endlich wer sein. Obwohl sie studiert hatte, fand sie keine so gut bezahlte Arbeit, mit der sie all ihre Wünsche hätte befriedigen können. Über ein Eheanbahnungsinstitut, das ausschließlich polnische Frauen an deutsche Männer vermittelt, hatte sie ihn kennen gelernt. Und schnell hatte der Kleinunternehmer der grazilen Polin das Himmelreich auf Erden versprochen. Nun saß sie fest zwischen all dem Schickimicki. Einmal wagte sie es, ungefragt das Haus zu verlassen. Schnell hatte er das Schloss gewechselt. Nein, ihren Beruf auszuüben, erlaubt er ihr nicht. Es gibt ja genug Arbeit im Haus und zur Not in der Firma. Wenn sie nicht mit ihm schlafen will, schlägt er sie, bis sie ihm gehorcht. Und wenn sie sich wehrt, höhnt er zynisch: Ohne mich bist du nichts, du kleine Schlampe. Ich bin in Deutschland zu Hause - nicht du. Außerdem bringe ich das Geld nach Hause.
Hier in der Fremde fühlte Ivona das erste Mal, wie tief im Inneren sie einsam war. In Polen war ihr das nicht aufgefallen. Aber wo wollte sie hin? Zu Hause verdiente sie nicht genug, um für sich und das Baby ausreichend sorgen zu können. Nicht mal mehr als zwei Jahre muss ich durchhalten, schwört sie sich immer wieder. Und dann baue ich mir hier in Deutschland ein von Männern unabhängiges Leben auf. Dann kann mich endlich von diesem Monster scheiden lassen und bekomme als Ausländerin von den deutschen Behörden die Aufenthaltsgenehmigung geschenkt.

Der deutsche Mann ahnt wohl, dass sein auf Macht gebautes Glück nicht von Dauer sein wird. Und so lässt er seinen Jähzorn an dem Kind aus, noch bevor Ivona sich von ihm trennen kann. Ob er die Scheidung vor ihr einreichen wird, wenn sie bei einer hier in der Stadt lebenden polnischen Freundin Unterschlupf sucht?

Ewa pendelt seit zwei Jahren zwischen der Kleinstadt bei Warschau und Berlin. Nur ein paar Monate, so hatte die Mittvierzigerin sich geschworen, wolle sie den Bahnstress auf sich nehmen. In ihrer Heimat findet sie bei 40 Prozent Arbeitslosigkeit keine Arbeit. Woher aber soll sie das Geld für das Studium der Tochter nehmen, der es ja mal besser gehen soll? Und die Bedürfnisse wachsen ja auch mit der in Deutschland verbrachten Zeit. Also schuftet sie lieber von montags bis freitags gegen Mittag täglich zwölf Stunden, um dann ins polnische Zuhause zurück zu fahren. Ohne zu jammern und zu klagen. Ihr Arbeitnehmer, für den sie ohnehin etwas billiger ist als einheimische deutsche Kräfte, hatte sie mit falschen Versprechungen gelockt. Doch sie tut sich mit anderen Pendlerinnen zusammen, die sich auch in Urlaubszeiten oder bei Krankheiten helfen, und setzen ihn selbstbewusst unter Druck. Da er nicht will, dass die illegale Beschäftigung ans Tageslicht kommt und er sich Ärger mit den Behörden wegen illegaler Schwarzarbeit einhandelt, zahlt er dann doch wie vereinbart.

Katarszyna aus einem kleinen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine hat auf eine Annonce geantwortet. Balletttänzerin für Auftritte in deutschen Bars gesucht, stand da. Begeistert antwortet sie und hofft, etwas Geld von dem in Deutschland Verdienten auch den Daheimgebliebenen zukommen lassen zu können.

Als ihr scheinbar künftiger Arbeitgeber sie mit den anderen Frauen über die Grenze gebracht hat, verliert er plötzlich seine gute Mine. Und nimmt den Frauen ihren Pass ab. Macht ihnen klar, dass sie demnächst in einem Puff für ihn arbeiten werden. Die Kosten für Miete, Essen und natürlich den Transport zieht er von Lohn ab, so dass kaum etwas bleibt. Und wer sich aufmüpfig zeigt, wird schnell an einen anderen Zuhälter weiterverkauft. Der schlägt und züchtigt sie, bis sie seinem Willen gehorcht. Wie aussteigen aus diesem Ring? Und was bringt es ihr schon, als Zeugin gegen den Menschenhändler auszusagen. Sie wird ja doch abgeschoben. Und muss gedemütigt zurück in ihr Dorf. Was für eine Schande. Meine Familie wird mir nie vergeben.

Drei Schicksale von polnischen Frauen, die hier in Berlin landen. Die meisten von ihnen kommen aus Ostpolen und fühlen sich als Verlierer der Wende. Wie Deutschland leidet Polen unter seiner Spaltung. Und auch bei den Nachbarn sind es vor allem die Frauen aus dem Osten besonders der mittleren Jahrgänge, die wie schon in sozialistischen Zeiten über Gebühr mit Familie und Beruf belastet sind.

Wenigen, vor allem aus der jüngeren Generation, gelingt - als Bankfrau z.B. - der Aufstieg als “Businessman”. Oft zu einem sehr hohen Preis, der die Aufgabe aller traditionellen polnischen Werte einschließlich der starken familiären Bindungen verlangt.

In Polens Geschichte war es für Frauen selbstverständlich, wie ihre Männer dem romantischen Motto “Gott-Ehre-Vaterland” zu folgen. Ihr stand es zu, stark zu sein, klaglos alle häuslichen Pflichten zu übernehmen, das Geld zu verwalten und den Lebenskreis der Familie zu organisieren. Und damit treu für das Weiterleben der patriotischen Ideale zu sorgen. Obwohl viele Polinnen erstmals nach dem letzten Krieg eine berufliche Ausbildung absolvierten und in den Arbeitsprozess einstiegen, gewannen sie nie ein Selbstbewusstsein für ihre Stärke. Sie nahmen die Mehrfachbelastung gutmütig hin. Oder anders gesagt: Sie waren emanzipiert und konservativ zugleich - selbständig und abhängig, klug und untertan, erfolgreich und auch noch elegant und schön. Selbst in der Zeit des Sozialismus, wo sie noch eine weitere Aufgabe zu bewältigen hatten: den materiellen Mangel geschickt auszugleichen und nach neuen Quellen zur Versorgung der Familie Ausschau zu halten.

In der Zeit des Umbruchs in den 80er Jahren engagierten sich Frauen massenweise in der Gewerkschaft “Solidarnosc”. Obwohl sie 50 Prozent der Mitglieder ausmachten, äußerten sie zu wenig – und wenn, dann zu allgemeinen politischen Zielen. Dass Frauen sich auch für ihre ureigensten Interessen engagieren können, um der Doppelbelastung von Beruf und Familie entgegen zu wirken, war den wenigsten bewusst. Und so gaben sich nicht als besondere Gruppe zu erkennen. Frauen, die versuchten, weibliche Probleme zur Sprache zu bringen, ließen sich mit Argumenten wie “Dies alles später, jetzt zählt vor allem innere Solidarität” zurückweisen. Wieder war sie das Opfer. Und viele sind es noch immer. Frauen sind in Polen weit mehr von der Arbeitslosigkeit betroffen. Die meist zu teuren Kindergärten werden geschlossen. Dafür dürfen sie mit dem kleiner gewordenen Budget haushalten. Die Zahl der Frauen, die sich weiterbilden und studieren, sinkt. Die Zahl der Frauen in staatlichen Institutionen und Gremien ist die niedrigste seit 50 Jahren. Wie Ewa Maria Slaska, Chefredakteurin der deutsch-polnischen Literaturedition “Wir” schreibt, scheuen sich viele Männer nicht mehr, in der Öffentlichkeit der Frau ihren Platz am Herd zuzuweisen. Und Frauen stimmen ihnen zu. Die Kirche unterstützt dieses Zurück zu alten polnischen Werten gnadenlos - wie 1992 durch den staatlichen Erlaß des Antiabtreibungsgesetzes oder die Bemühungen des Sejm, Scheidung und das Zusammenleben ohne Trauschein zu erschweren. Zwar gibt es mittlerweile in Polen eine feministische Szene - aber im Parlament ist sie so gut wie nicht vertreten. Viele Polinnen hoffen auf die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union - und damit auf mehr Menschenrechte. Auch, dass eine Frau Präsidentin in Polen werden soll, ist ein Zeichen hoffnungsvollen Aufbruchs.

Was aber treibt einen Teil der deutschen Männerwelt Polinnen auf die Hitliste heiratsfähiger ausländischer Frauen zu setzen? Es ist wohl nicht nur die Nähe der beiden Länder. Die Vermutung drängt sich auf, dass sie die wirtschaftliche Not der Polinnen ausnutzen und somit die Geschichte gern ein Stück rückwärts drehen möchte. Statt sich dem eigenen Mangel an Anpassungs- und Beziehungsfähigkeit zu stellen und somit der Auseinandersetzung mit starken Frauen nicht auszuweichen. Opfer, auf die sie ihre - oft auch von Frauen, vor allem ihren Müttern - erlittenen Kränkungen projizieren und abreagieren können. Sie solidarisieren sich unbewusst mit einem großen Teil ihrer Geschlechtsgenossen in Polen, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Sanftmütige, grazile Polinnen, die im Sinne des Patriarchat erzogen wurden, machen es ihnen leicht, indem sie unbewusst freiwillig und der Not gehorchend ihre Opferrolle annehmen und meist zu spät merken, in welche Falle sie tappen. Ist sie zugeschnappt, bleibt ihnen nur noch die Chance, die Dummheit der Männer auszunutzen und feinfühlig deutsche Gesetze zu umschiffen oder sie passend für sich zu machen. Wer leidet, wird halt klüger.

Wie Frau Lesniak von “Zapo”, der beim Polnischen Sozialrat in Berlin bestehenden “Zentralen integrierten Anlaufstelle für PendlerInnen aus Osteuropa” sagte, ist die von deutschen Männern ausgehende Gewalt oft höher als die von Männern, die einst von Polen nach Deutschland auswanderten und sich eine Frau aus ihrem Herkunftsland suchten. Aber auch die unterschwellige Diskrimierung von Polizei und Justiz bei Razzien und dem schnellen Bedürfnis nach Ausweisungen von Frauen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, gibt zu denken.

Abgesehen davon, dass frau keinem in hierarchischen Strukturen eingebundenen Beamten unterstellen möchte, die Dienste polnischer Frauen in Anspruch zu nehmen: diejenigen, die mit Senat und Ämtern zusammenarbeiten, um den in Not geratenen Frauen zu helfen, wissen genug von Schikane und Willkür zu berichten (auch die Journalistin, die bei ihrer Recherche von polnischen Mitarbeitern und Sozialarbeitern sofort Unterstützung unterhielt - im Unterschied zum Landeskriminalamt, dass sich mit der Herausgabe von Informationen bedeckt hält, damit aber auch der Öffentlichkeit die differenzierte Betrachtung von Schwarzarbeit und Menschenhandel erschwert). Was z.B. hat eine Frau davon, die sich als Zeugin in einem Prostitutionsprozess zur Verfügung stellt? Sie darf mitunter drei- bis vier Jahre warten, bis es zum Prozess kommt. Sie ist im Land nur geduldet, muss vom minimierten Sozialhilfesatz leben, darf nicht arbeiten oder eine Schule besuchen. Und hat auch keinen Anspruch auf therapeutische Hilfe, die sie so dringend bräuchte. Der Mut der Frauen wird nicht belohnt. Zumal sie oft auch von Zuhause unter Druck gesetzt werden, zu schweigen. Um in die alte Opferrolle zurückzukehren. Und hat sie dann endlich ausgesagt - wird sie abgeschoben. Nur die Gerichts- und Abschiebekosten muss sie nicht wie die anderen Ausgewiesenen tragen. Und bei der Einklage des Unterhaltes bekommt sie wenigstens eine akzeptable Abfindung - anders, als wenn sie von ihrem Heimatland aus klagen würde. Wie sehr diese Frauen mitunter unter Lebensgefahr stehen, blendet die mitfühlende Justiz aus. Zuhause erwartet sie Demütigung und manchmal auch der Rausschmiss aus der Familie. Möglicherweise wartet im Flugzeug auch ein neuer Zuhälter. Die haben längst herausgefunden, das abgeschobene Frauen im Flugzeug hinten sitzen. Und so geht es, kaum auf heimatlichen Boden gelandet, mit neuen Papieren zurück auf den deutschen Strich. Schon Frauen, die bei Razzien im Gefängnis landen, sind nicht geschützt. Es ist meist der Zuhälter, der den Rechtsanwalt besorgt, damit sie den Knast verlassen können - und so wieder in den fangsicheren Händen des Zuhälters landen. Frau Lesniak weist darauf hin, dass bei deutschen Ämtern “in letzter Zeit weniger von Menschelhandel die Rede” sei, sondern “mehr von Bekämpfung von Kriminalität”. Ein geschickter Schachzug der von Männern dominierten Beamtenwelt: Das Problem der Frau rückt damit in den Hintergrund. So wird sie zum Problem - und zum Mittel auf dem Weg, kriminelle Banden auszuhebeln. Und wenn sie wie der Mohr ihre Schuldigkeit getan hat, ist nicht von Interesse, was aus ihr wird.

Aber auch Polinnen, die Berlin als ihre neue Heimat angenommen haben, fühlen sich diskrimiert. Eine Diplomatin der polnischen Botschaft wollte ihren sechsjährigen Junge in eine Schule schicken, wo er deutsch und polnisch gleichermaßen lernen kann. Nur drei davon gibt es in Berlin. Weil der Anfahrtsweg zu weit war, schickte sie ihren Jungen auf eine deutsche Schule. Dort beschwerte sich die Lehrerin empört, dass er nach drei Wochen immer noch nicht deutsch sprechen kann... Wer in Berlin eine Schule sucht, auf dem er das polnische Abitur ablegen möchte, sucht vergeblich. Obwohl die Polen die zweitgrößte Minderheit in Berlin sind. Anders als die Japaner. Die aber dürfen in der deutschen Hauptstadt japanisches Abitur machen.

Polnische Frauen mit hoher Bildung müssen in Berlin fast immer mit dem sozialen Abstieg rechnen. Laut Abkommen zwischen Polen und Deutschland erkennen die Deutschen die Schule ihres Nachbarn nicht als gleichwertig an. Wer hier studieren will, muss das deutsche Abitur nachmachen. Wer aber in Polen studiert hat, der darf hier zwar seinen Diplom- oder Magistertitel tragen - Arbeit bekommt er deswegen noch lange nicht. Und oft erteilt der Senat auch aus arbeitsrechtlichen Gründen keine Zulassung.

“Die Frauen, die sich an uns wenden, denken, sie sind die Entrechteten”, sagt Joanna Lesniak vom Polnischen Sozialrat, die schon vielen Frauen aus Osteuropa geholfen hat. Die selbstbewußte Powerfrau, die in den 80er Jahren wegen des Kriegsrechts in Polen nach Berlin kam, klärt die in Not Geratenen über ihre Rechte auf und, begleitet sie zu den Ämtern. Die “Zapo” vermittelt ÄrztInnen und Rechtsbeistand in Gerichtsverfahren. Sie besucht die Frauen in Abschiebehaft und bietet Deutschkurse an. Hilft bei der Familienzusammenführung, berät bei der Entwicklung von Zukunftsperspektiven, ungeklärten Arbeitsverhältnissen, bei Ehescheidungen und der Rückkehr nach Polen. Die besonders Schutzbedürftigen, wie die Zeuginnen in Menschenhandelsprozessen, finden Unterkunft in der Zufluchtswohnung, wo sie sich mit anderen Frauen austauschen können, die Ähnliches erlebt haben und nach den zum Teil traumatisierenden Erfahrungen wenigstens etwas zur Ruhe kommen können.

“Viele Frauen trauen sich nach vielen Jahren das erste Mal, eine Schule zu besuchen und selbständig zu leben”, freut sich Frau Lesniak über Frauen, die aus ihren unglücklichen Zwangsehen herausfinden. “Jahrelang haben sie alles nur aus dem Blickwinkel der Familie gesehen. Jetzt aber fangen sie endlich an zu leben.” Es sind wohl diese Glücksmomente in ihrer Arbeit, die sie immer wieder von Neuem motivieren.