Thema | Kulturation 1/2004 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Isolde Dietrich | Der ostdeutsche Kleingarten im Spiegel der Quellen und im Alltagsleben der „kleinen Leute“
| Am
Ende war die DDR ein Kleingärtnerparadies. Das Kleingartenwesen genoss
umfassende staatliche Förderung und das Wohlwollen der Öffentlichkeit.
Von 13,5 Millionen erwachsenen DDR-Bürgern waren 1989 mehr als 1,2
Millionen organisierte Kleingärtner – nicht eingerechnet ihre
Angehörigen und Freunde, auch nicht die „Datschenbesitzer“, also die
Nutzer von Erholungsgrundstücken, deren Anzahl noch wesentlich höher
lag. 855.000 Parzellen mit rund 37.000 Hektar Land befanden sich in
Kleingärtnerhand. Das entsprach einer Fläche von mehr als 50.000
Fußballfeldern. Für jede fünfte Familie bildete der Kleingarten neben
der Wohnung und dem Betrieb einen dritten festen Bezugspunkt in der
Topographie des Alltags. Dies verwies auf soziale Tatbestände und
gültige Normen, auf eine Daseinsform und auf ein Lebensgefühl, die sich
dem Außenstehenden schwer beschreiben lassen.
Es ist unmöglich, auf all die lebensweltlichen Zusammenhänge
einzugehen, in denen der Kleingarten stand und die erst in ihrer
Gesamtheit die massenhafte Verbreitung dieser Institution erklären.
Wenn im Osten Deutschlands noch heute auf 100 Einwohner sechsmal mehr
Kleingärten als im Westen kommen, zeugt das von einer erstaunlichen
Stabilität in diesem Milieu. Fehlende Reisefreiheit, mangelnde
Freizeit-, Erholungs- und Vergnügungsangebote, schlechte Obst- und
Gemüseversorgung und dergleichen Defizite, die mitunter für das
Aufblühen des Kleingartenwesens in Ostdeutschland verantwortlich
gemacht werden, können nicht die einzigen Ursachen dafür gewesen sein.
Sonst hätten sich die Gartenanlagen und -vereine längst bis auf eine
Restgröße zurückbilden müssen. Hier waren offenbar noch andere Umstände
und Beweggründe ausschlaggebend. Einige davon sollen im Folgenden
skizziert werden. Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen. Im ersten
Teil werden die Quellen vorgestellt und diskutiert. Darauf gestützt
wird im zweiten Teil versucht, komplexe lebensweltliche Zusammenhänge
zu beschreiben.
In aller Welt sind vergleichbare Kleingärten Begleitphänomene von
Industrialisierung und Urbanisierung. Erstaunlicherweise ist schon der
verfügbare Quellenbestand typisch für die ostdeutsche Staats- und
Gesellschaftsverfassung. Darum kann es erhellend sein, eine Übersicht der benutzten Quellen an den Anfang zu stellen.
Als Erstes fällt dem Forschenden auf, wie schwierig es ist,
Genaueres über den ostdeutschen Kleingarten als Lebensort und
Lebensform zu erfahren, obwohl es sich dabei um ein alltägliches
Massenphänomen handelte. Reich ist die Literatur über die Gärten der
Kabylen oder der Mayas. Ärmlich macht sich dagegen aus, was man über
die kleinen Gärten vor der eigenen Haustür, am Bahndamm oder hinterm
Gaswerk erfahren kann. Das auffindbare Material ist recht dürftig. Doch
nimmt man alle schriftlichen, mündlichen, bildlichen und
gegenständlichen Quellen zusammen, können sie einen ungefähren Eindruck
davon vermitteln, was der Kleingarten im Leben der Leute bedeutete.
Schriftliche Quellen
Historische Forschung orientiert sich zunächst an schriftlichen
Quellen und Materialien. Für die politisch organisierte sozialistische
DDR-Gesellschaft befinden sich diese vor allem in der Stiftung "Archiv
der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv"
(SAPMO-BArch). Dort wird auch ein großer Teil der Überlieferungen aller
mit dem Kleingartenwesen befassten Institutionen und Organisationen
aufbewahrt, soweit sie auf zentraler Ebene entstanden sind. Dazu
gehören die Hinterlassenschaft des Zentralkomitees der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands (SED), der Deutschen Zentralverwaltungen
für Land- und Forstwirtschaft sowie für Arbeit und Sozialfürsorge, des
Präsidiums des Ministerrates der DDR, des Landwirtschaftsministeriums
bzw. des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft,
des Bundesvorstands des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB),
des Zentralvorstandes der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe
(VdgB) sowie des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und
Kleintierzüchter (VKSK).
Neben jenen vorwiegend unveröffentlichten Dokumenten ist
anzuschauen, was von der Kleingärtnerorganisation in Umlauf gebracht
wurde. Das sind einmal die Zeitschriften Der Kleingärtner und Garten und Kleintierzucht
sowie Chroniken und Festschriften von Kleingartensparten bzw.
–vereinen. Unter die einschlägigen Publikationen fällt auch die 1989
vom Zentralvorstand des VKSK herausgegebene Darstellung Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter in Vergangenheit und Gegenwart.
Wer etwas über den Platz des Kleingartens im Leben der Ostdeutschen
herausfinden will, muß jedoch den engen Kreis der rein gartenbezogenen
Texte verlassen und sich den Ergebnissen der Alltagsforschung zuwenden.
Obwohl jenes Feld ein Stiefkind der DDR-Wissenschaft war, liegen
etliche verwertbare Befunde vor. Besonders aufschlussreich sind in
diesem Zusammenhang Erhebungen und Forschungsberichte des Leipziger
Instituts für Bedarfs- bzw. (ab 1967) Marktforschung der DDR zum
Zeitverhalten der Bevölkerung. Seinerzeit waren die Ergebnisse nur für
den internen Gebrauch bestimmt. Heute sind sie ebenfalls in den
Beständen der oben genannten Stiftung einzusehen. Nicht ausgewertet
wurden Untersuchungen der Bauakademie der DDR zu den Wohnwünschen und
den realen Wohnverhältnissen der Ostdeutschen. Herangezogen worden sind
dagegen kulturwissenschaftliche bzw. kulturhistorische Studien zu
Alltag und Lebensweise arbeitender Menschen im 19. und 20. Jahrhundert,
die zwischen 1975 und 1990 in der DDR erschienen.
Alle diese Texte geben in irgendeiner Weise Auskunft über die
ostdeutsche Kleingartenkultur als Lebenswelt, Milieu und kulturelle
Szene. Schauen wir uns etwas näher an, was diese doch sehr
unterschiedlichen Materialien bieten. Schon wenn wir quellenkritisch
danach fragen, wie sie zustande gekommen sind, erfahren wir einiges
über das so genannte Kleingartenwesen.
Historiker greifen zunächst auf die wichtigsten und ihrer Meinung
nach sichersten Quellen zurück: auf die offiziellen Dokumente des
Staates, der Legislative, der Parteien und Verbände. Sie sehen darin
eine authentische Überlieferung zur Geschichte der Sowjetischen
Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik. Der erste Weg
führt darum in die Stiftung „Archiv der Parteien und
Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“. Dort überkommt einen
anfangs tiefe Ratlosigkeit. Wie soll man in Beständen, die viele
laufende Meter, zum Teil sogar Kilometer umfassen, auf die breit
gestreuten Dokumente zum Kleingartenwesen stoßen? Allein schon die
vorhandenen oder im Entstehen begriffenen Findbücher und Karteien
durchzusehen, würde Wochen dauern, weil sie das Sachgebiet Kleingarten
nicht gesondert verzeichnen. Da erscheint es sinnvoll, mit der
Überlieferung des VKSK zu beginnen. An dieser Stelle müßte doch am
ehesten bekannt gewesen sein, wie es um die ostdeutschen Kleingärten
und Kleingärtner stand. Ein Irrweg, wie sich schnell zeigt. Kein
zweiter Bestand dürfte so lückenhaft und unbrauchbar sein wie dieser.
Ganz offensichtlich hat der Zentralvorstand die eigene
Hinterlassenschaft andernorts gesichert. In die Stiftung hat er
jedenfalls nur mehr oder weniger belangloses Material eingebracht.
Verglichen damit ist das Schriftgut der SED wohlgeordnet und
vermutlich vollständig einzusehen. Es hat nur einen Nachteil: Allein
die archivwürdigen Papiere aus dem Zentralkomitee machen etwa 2800
laufende Meter aus. Sobald man herausgefunden hat, wer in den Jahren
1946 bis 1989 für das Kleingartenwesen zuständig war, beginnt sich der
Nebel zu lichten. Es bleiben dann aber immer noch gewaltige Aktenberge
übrig. Durchgegangen werden muß alles, was im Zusammenhang mit den
einschlägigen Tagungen und Beratungen des Parteivorstands bzw. des ZK
entstanden ist, Protokolle von den maßgeblichen Sitzungen des
Zentralsekretariats, des Politbüros und des Sekretariats, das Material
aus der Tätigkeit der Sekretariate und Büros der jeweiligen Sekretäre
des ZK für Landwirtschaft, der Agrarkommission des Politbüros sowie der
Abteilung Landwirtschaft des ZK. Dazu kommen noch die Protokolle von
Parteitagen und Parteikonferenzen. Die beschaulichen kleinen Gärten und
das ehrpusselige Völkchen der „Laubenpieper“ haben die Staatspartei in
einem Maße beschäftigt, daß man aus dem Staunen nicht herauskommt. Denn
im Archiv wurden ja nur wichtige Sachen abgelegt. Der ganze laufende
Schriftverkehr kam in den Reißwolf. Und alle bürokratischen Prozeduren
liefen auf der Bezirks- und Kreisebene der SED noch einmal ab. Wenn man
das bedenkt, bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, welche Hebel die
Partei in Gang gesetzt hat, wie viele Leute, wie viel Arbeitszeit,
Papier usw. da zu bezahlen waren, um das Kleingartenwesen politisch,
ideologisch und wirtschaftlich unter Kontrolle zu halten. Diese
Aufmerksamkeit und dieser Aufwand dürften in der Welt wohl ohne
Vergleich gewesen sein.
Dabei waren die innerparteilichen Aktivitäten nur die eine Seite
der Medaille. Sie fanden jeweils ihre Entsprechung auf Seiten der
zuständigen staatlichen Verwaltungsstellen sowie derjenigen
Massenorganisationen, die von der SED mit dem Kleingartenwesen betraut
worden waren, also dem FDGB, der VdgB und dem VKSK. Dabei erwies sich
die völlige Unterordnung dieser Organisationen unter die SED für den
heutigen Forscher als Glücksfall. Was in deren Beständen fehlte, ließ
sich meist in den SED-Akten finden. So muß man auch dem beiseite
gebrachten VKSK-Archiv nicht nachtrauern. Kopien der wichtigsten
Dokumente sind im Schriftgut der Abteilung Landwirtschaft des ZK
enthalten.
Die einzige Zeit, die in den Beständen schlecht dokumentiert ist,
sind die Jahre 1954 bis 1958. Damals hatte die Parteizentrale die Zügel
vorübergehend aus der Hand gegeben und den Aufbau einer dezentralen
Kleingärtnerorganisation versucht. Buchstäblich in letzter Minute hatte
Walter Ulbricht 1953 die offizielle Gründung eines informell bereits
arbeitenden Zentralverbandes der Kleingärtner, Siedler und
Kleintierzüchter verhindert. Nach der Bildung und Auflösung von
Landesverbänden, einer von der SED angeordneten, dann von heute auf
morgen wieder unterbundenen zonenweiten „Vereinigung der
Kleingartenhilfe“ als Körperschaft öffentlichen Rechts und der
ebenfalls von der SED dekretierten, aber nur kurzlebigen
„Kleingartenhilfe des FDGB“ war das seit 1946 bereits der vierte
fehlgeschlagene Versuch, die Kleingärtnerschaft dauerhaft einzubinden.
Die Sache sollte immer ganz demokratisch aussehen, aber doch unter
Kuratel der Partei stehen. Die dann verfügte dezentrale Struktur konnte
diese Quadratur des Kreises selbstredend erst recht nicht leisten.
Anleitung und Kontrolle standen nur auf dem Papier oder wurden
willkürlich gehandhabt. Die SED verlor völlig den Überblick. Was sich
in jenen vier Jahren wirklich abspielte, läßt sich aus den Beständen
der Stiftung nicht rekonstruieren. Dazu hätte man die Kreisarchive
aufsuchen müssen, denn die Verantwortung für das Kleingartenwesen lag
in dieser Zeit allein bei den Räten der Kreise. Auf der zentralen Ebene
war in einem eher unverbindlichen Sinne nur das
Landwirtschaftsministerium zuständig. Das ist zwar hier und da tätig
geworden, etwa bei der Herausgabe einheitlicher Richtlinien für die
Arbeit verschiedener Kommissionen oder im Zusammenhang mit Versuchen,
Kleingartenanlagen teilweise zu kollektivieren. Im allgemeinen hatte
das Ministerium zu dieser Zeit aber ganz andere Sorgen.
Als sich 1957/58 die Anzeichen mehrten, daß die Entwicklung aus dem
Ruder lief, schlug die Parteiführung Alarm. Nach ihrer Einschätzung
hatten sich im Kleingartenwesen „Vereinsmeierei“, „kleinbürgerliche
Kräfte“ und „negative Elemente“ breit gemacht. Auch die Fachblätter
waren wohl nicht auf Parteilinie. Zusätzlich schreckten Berichte über
„bockbierfestähnliche Gartenfeste“ die Genossen auf. (Übrigens wurden
die Kleingärtner drei Jahrzehnte später per Beschluß ihres
Zentralvorstandes aufgefordert, sich auf die früheren
Vereinstraditionen zu besinnen, die alten Feste neu zu beleben und
endlich auch wieder „zünftige Frühschoppen“ zu veranstalten.)
Um dem Chaos ein Ende zu bereiten, ist am 22. April 1959 vom
Sekretariat des ZK der SED die Bildung des VKSK beschlossen worden.
Alle bisherigen Rücksichten wurden beiseite geschoben. Die neue
Organisation musste keinen basisdemokratischen Anstrich mehr haben.
Gegen heftige Widerstände seitens der Kleingärtner und ihrer
Funktionäre ist die Gründung auf dem Parteiwege quasi generalstabsmäßig
vorbereitet und „durchgezogen“ worden. Das war ein Vorgeschmack darauf,
daß künftig auch in der Kleingärtnerorganisation das Prinzip des
„demokratischen Zentralismus“ zu gelten hatte. Von Anfang an war klar
geregelt, daß Statut und „Kaderfragen“ Angelegenheit der
SED-Führungsgremien sind. Die Anleitung der laufenden Arbeit und deren
Kontrolle oblag der Abteilung Landwirtschaft des ZK.
Von nun an kommt der Forscher bei der Quellensuche nicht mehr in
Verlegenheit. Er braucht sich nur an diese Instanzen zu halten und wird
dort alles Nötige finden. Das heißt, er stößt – wie nicht anders zu
erwarten - im Zusammenhang mit der Kleingärtnerei im Wesentlichen auf
Legitimationen und Sinnzuweisungen, Absichtserklärungen und
Bewertungen. Der Wandel in der Auffassung des Kleingartenwesens läßt
sich durch alle Stadien hindurch verfolgen – vom Zeichen der Armut, dem
Hort des Individualismus und der Vereinsmeierei, des kleinbürgerlichen
Rückzugs ins Privatleben, dem Hemmschuh im politischen Kampf, dem
spießigen Relikt einer unseligen Vergangenheit über viele Stationen hin
bis zu der Vorstellung, die kleinen Gärten würden bis in alle Zukunft
eine Perspektive haben – als Raum für ein sinnerfülltes und schönes
Leben und als Ressource für eine gesunde Ernährung. Insgesamt erfährt
man in den Akten viel über den Horizont und über das Funktionieren der
politischen Apparate, weniger über die kleinen Gärten und noch weniger
über das Leben der Leute in und mit ihnen.
Auffällig und typisch für das Kleingartenwesen in der SBZ. bzw. DDR
ist, daß es von der Sache her zu allen Zeiten dem Sekretär des ZK der
SED für Landwirtschaft und der entsprechenden Fachabteilung im
zentralen Parteiapparat unterstand, unabhängig davon, wie Kleingärtner
organisatorisch gerade erfaßt wurden. Die politische Auffassung der
Kleingärtnerei als agrarische Kleinstproduktion hat den Blick der
Verantwortlichen von Anfang an verengt. Das sorgte seinerzeit für viel
Unmut. „Wir sind doch keine LPG“ war eine der gängigen Reaktionen der
Kleingärtner auf den alljährlich wiederkehrenden Appell, mehr anzubauen
und größere Mengen an den Handel abzugeben. Die feste Einbindung der
Kleingartenpolitik in die Agrarpolitik hatte zur Folge, daß die heute
verfügbaren Quellen fast ausschließlich diesen wirtschaftlichen Aspekt
des Kleingartens zur Sprache bringen, andere nur nebenher oder
überhaupt nicht berühren. So borniert dieser Standpunkt erscheinen mag
– vielleicht war er ein Segen. Nicht auszudenken, was aus den Gärten
geworden wäre, wenn im Parteiapparat die Zuständigen für das Bau- und
Wohnungswesen oder gar die für Kultur das Sagen gehabt hätten.
Das Durchforsten von Landwirtschaftsakten aus über vier Jahrzehnten
ist für einen Kulturwissenschaftler und Alltagsforscher ein mühseliges,
mitunter einschläferndes Unterfangen. Dennoch bringt es viel ein. Nur
auf diesem Wege bekommt man die nötigen Hintergrundinformationen und
ein Gespür dafür, warum die kleinen Parzellen so ein Politikum
darstellten. Man erfährt zum Beispiel, weshalb die Parteiführung 1986
das Wohnungsbauprogramm durch ein groß angelegtes Kleingartenprogramm
ergänzte. Man kann den Dokumenten auch entnehmen, aus welchem Grund
Erich Honecker Anfang 1989, als die Flächenübergabe für die geplanten
150.000 neuen Gärten nur schleppend vorankam, die Angelegenheit zur
Chefsache machte. Die wirtschaftlichen Zwänge waren unübersehbar. Die
Versorgung mit Obst und Gemüse konnte nie wirklich gesichert werden. Im
ersten Quartal 1989 brach sie wieder einmal vollends zusammen. Wenn man
liest, dass das Politbüro sogar beschließen musste, die Lagerbestände
an Möhren aus dem regulären Handelsangebot zu nehmen und nur noch für
die industrielle Herstellung von Säuglingsnahrung freizugeben, erhellt
das schlagartig die Gesamtsituation. Zu diesem Zeitpunkt ging es also
nicht um Bananen oder um andere Extras, sondern um den lebenswichtigen
Grundbedarf. Als nun selbst das Suppengrün aus den Geschäften
verschwand, hagelte es Beschwerden seitens der Bevölkerung. Es gab
zahlreiche Drohungen, nicht zur Kommunalwahl zu gehen. Aus Mangel an
Devisen und wegen der ohnehin hohen Verschuldung konnte auf dem
Weltmarkt nichts gekauft werden. Auch die anderen sozialistischen
Länder waren nicht imstande zu helfen. Die „Brüder“ hatten selber
nichts oder verlangten im Gegenzug teure Landmaschinen, die von einer
staatlichen Planwirtschaft kurzfristig nicht zu liefern waren.
Lediglich Ungarn schickte ein paar Paprikaschoten – eine mehr
symbolische Geste, da die Menge nicht einmal für die Ostberliner
Innenstadt reichte.
Kleingärtner sahen diese prekäre Situation gelassener. Sie hatten
zu jenem Zeitpunkt schon begonnen, ihre Frühbeete und Gewächshäuser zu
bestellen und wußten, daß die Durststrecke bald vorüber ist. Ob die
Kleingärtnerei in diesem Sinne systemstabilisierend gewirkt hat, muß
allerdings eine offene Frage bleiben. Wahrscheinlich kam zu den
„klassischen“ befriedenden Funktionen, die dem Kleingarten seit jeher
zugeschrieben wurden, in der DDR nur noch eine weitere hinzu:
Kleingärten sollten die Poren der staatlichen Planwirtschaft und der
agrarischen Großproduktion schließen und so dazu beitragen, das
Gesamtsystem zu stützen.
Insgesamt wiesen die bürokratischen Aufzeichnungen aus den
politischen Apparaten von allen ausgewerteten Quellen die größte
Distanz zur lebensweltlichen Perspektive der Kleingärtner auf. Sie
präsentierten Auffassungen über das Kleingartenwesen, nicht die
Tatsachen selbst. Insofern sagten sie vor allem etwas über die
Denkweise und die Interessen ihrer Urheber aus, zeigen deren
Erwartungen, Hoffnungen, Ängste, Ressentiments. Nur indirekt gaben sie
einen Einblick in Motive und Praxis der Kleingärtner. Aus der
Vogelperspektive der Partei-, Verwaltungs- und Verbandsbürokratie sind
viele Aspekte der Lebenswelt Kleingarten kaum wahrgenommen worden.
Dennoch spiegelte sich im Wandel der offiziellen Bewertungen und
Regulierungen eine Antwort auf das Verhalten der Kleingärtnerschaft
wider, das sich über diesen Umweg teilweise rekonstruieren ließ.
Die Kleingartenpolitik der SED und des Staates erwies sich über
weite Strecken als Reaktion auf das, was sich ohnehin mehr oder weniger
naturwüchsig und eigensinnig entwickelte. Insofern sind alle Aussagen
über Führungsanspruch und Führungsrealität der Staatspartei auf dem
Gebiet des Kleingartenwesens kritisch zu überdenken. Wohl wurden der
VKSK und seine Vorläufer gemäß dem ihnen zugedachten Platz im
politischen System durch das ZK der SED bis ins Detail angeleitet und
kontrolliert. Wenn sich die DDR im Laufe ihrer Entwicklung unter der
Hand in eine „Republik der Kleingärtner“ verwandelte, gehörte dies
jedoch nicht zu den erklärten Zielen der Partei. Der Sozialismus war
ursprünglich ohne Kleingärten gedacht worden. Nur für eine
Übergangszeit, zur Überwindung der größten Nachkriegsnot, sollte das
sogenannte Kleingartenwesen eine Daseinsberechtigung haben. Nach den
Vorstellungen der SED würde es sich von selbst erledigen, sobald alle
wieder Arbeit und Einkommen hätten, in vernünftigen Wohnungen lebten,
öffentliches Grün die Städte anziehend machte und die
landwirtschaftlichen Großbetriebe ausreichend Lebensmittel aller Art
erzeugten. Ob das eine zutreffende Annahme war, ließ sich in der Praxis
nie überprüfen, weil der DDR-Sozialismus bis zuletzt diese Vision nicht
einlöste.
Jedenfalls hat die SED mit ihrer Kleingartenpolitik unter dem Druck
der Bedürfnisse breiter Schichten der Bevölkerung Schritt für Schritt
nur nachträglich sanktioniert und legitimiert, was auch ohne ihr Zutun
geschah. So gesehen behauptete sich am Ende die Lebenswelt Kleingarten
gegenüber allen Eingriffen des Machtapparates.
Neben den maßgeblichen Beschlüssen, Direktiven, Protokollen usw.
enthalten die hier genannten Bestände auch eine Reihe von Dokumenten,
die den Kleingärtneralltag eher unmittelbar reflektieren. So sind etwa
die Eingaben von VKSK-Mitgliedern, die an den Staatsrat, den
Fernsehfunk oder andere Institutionen der DDR gerichtet wurden und
schließlich bei der zuständigen Fachabteilung im ZK der SED ankamen,
eine Fundgrube für jeden, der die Lebenswelt Kleingarten zu
rekonstruieren versucht. Es ist erstaunlich, mit welchem
Selbstbewusstsein Kleingärtner ihre tatsächlichen oder vermeintlichen
Rechte einklagten und sich dabei direkt auf offizielle Sinnzuweisungen
beriefen. Solche Vorgänge zeigten an, dass angesichts eines
Flickenteppichs von einzelnen Rechtsvorschriften, in deren Dickicht
sich selbst Experten kaum noch zurechtfanden, das Kleingartenwesen
schwer verbindlich zu regulieren war. Politische Entscheidungen in den
Führungsgremien der SED und das nimmermüde Rotieren der Abteilung
Landwirtschaft des ZK konnten das Fehlen eines einheitlichen
Kleingartengesetzes nicht wettmachen. Daher war Raum für Willkür und
Schlendrian, aber auch für allerlei Wildwuchs sowie quasi
naturrechtliche Ansprüche und Gewohnheiten seitens der Kleingärtner.
Eine Sonderstellung in den genannten Beständen nehmen Dokumente
ein, deren Urheber keine DDR-Bürger waren, etwa die Berichte von
Zeitungs- und Fernsehkorrespondenten aus der BRD. Sie reflektierten das
Treiben des bürokratischen Apparates wie den Alltag der Kleingärtner
mit dem Blick von außen.
Die Zeitschriften Der Kleingärtner sowie Garten und Kleintierzucht
erschienen im parteieigenen Bauernverlag. Sie unterstanden nicht nur
inhaltlich der SED, sondern erhielten von dort auch ein bestimmtes
Kontingent an Papier und Druckkapazitäten zugewiesen. Dabei wurden sie
knapp gehalten. Selbst in guten Zeiten reichte die Auflagenhöhe nur für
etwa 60 Prozent der Mitglieder und ehrenamtlichen Funktionäre. Die
Zeitschriften erschienen oft mit wochenlanger Verspätung und in einer
unzulänglichen drucktechnischen Qualität. Das schränkte ihre
Wirksamkeit als „kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator“
von vornherein ein. Die veröffentlichten Beiträge folgten den
zeitbedingten politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Vorgaben
aus dem Zentralkomitee der SED, die über die Führung der
Kleingärtnerorganisation an die Leser weitergegeben wurden. Auffallend
ist, daß viele Sachverhalte, die dem Forscher aus den zentralen
Archiven bekannt sind, in der Kleingärtnerpresse überhaupt keine Rolle
spielten oder in einem völlig anderen Licht erschienen. Das
Verschweigen und Verschleiern gehörte offenbar zu den Aufgaben und
Tugenden der genannten Zeitschriften. Das galt in besonderem Maße für
das ewige Hin und Her in der Organisationsfrage. Hier wurde nie
sichtbar gemacht, daß Entscheidungen immer von der Staatspartei und
hinter dem Rücken der Kleingärtner getroffen wurden. All die jähen
Wenden und Neuansätze, die für die Jahre 1946 bis 1959 charakteristisch
waren, sind entweder ausgeblendet oder umgedeutet worden. Auch später
sind Beschlüsse der SED nur in Ausnahmefällen in der Zeitschrift publik
gemacht worden. Es sollte immer der Eindruck erweckt werden,
Kleingärtner und ihre ehrenamtlichen Funktionäre hätten selbst die
Entwicklung bestimmt.
Daran ließ sich ablesen, welches Bild vom Kleingärtner die
Parteiführung hatte. Gartenpächter galten lange Zeit als
„Ewiggestrige“, als politische Analphabeten und unsichere Kantonisten,
die besonderer Aufsicht, Unterweisung und Kontrolle bedurften. Vor
allem diesem Zweck hatten Der Kleingärtner sowie Garten und Kleintierzucht
zu dienen. Daneben sollten die Zeitschriften fachliche Ratgeber in
allen Fragen des Gartenbaus sein, ein Auftrag, der in politisch
unsicheren Zeiten fast vollständig zugunsten von Agitation und
Propaganda zurückgenommen wurde. Im allgemeinen publizierten sie aber
konkrete Anleitungen zur Selbsthilfe und Selbstversorgung, die ein
Licht auf den normalen Kleingärtneralltag in einer Mangelgesellschaft
warfen.
Obwohl der Erfahrungsaustausch einen gewissen Raum einnahm und
Frauen, Kinder sowie spezielle Interessengruppen gesondert angesprochen
wurden, spielten Aspekte der Lebenswelt nur eine untergeordnete Rolle.
Sie wurden eher indirekt berührt, etwa wenn „schwarze Schafe“ unter den
Mitgliedern zur Ordnung gerufen wurden. Die Liste der Unbotmäßigkeiten
war lang: Kritisiert wurden Gartenfreunde, die sich nicht um Politik
kümmerten, vor Arbeitseinsätzen und Schulungen drückten, in
Versammlungen erst den Mund nicht aufbekamen, dann aber auf geheimer
Abstimmung bestanden, sich nicht am Wettbewerb beteiligten, Obst und
Gemüse lieber unter der Hand verkauften, verschenkten oder vergammeln
ließen, als Überschüssiges an den Handel abzuliefern, sich krank
schreiben ließen, um ihre Scholle umzugraben, bei der Maidemonstration
fehlten, weil sie angeblich den Garten gießen mußten, sich in ihren
Familien als Pascha aufführten, ihre Frauen nicht arbeiten gehen
ließen, ihnen nicht erlaubten, in den Demokratischen Frauenbund oder in
die Kleingärtnerorganisation einzutreten, sich Zwerge und anderen
Kitsch vor die Laube stellten und das Kulturheim als Kneipe ansahen.
Solche Verhaltensweisen, die besonders in den fünfziger und sechziger
Jahren in den Zeitschriften gerügt wurden, sagten einiges darüber aus,
wie wirklich in, aus und mit den Gärten gelebt wurde. Die Zeitschriften
sind auch deshalb von Interesse, weil sie frei von nachträglichen
Korrekturen sind, den Zeitgeist insgesamt atmen und manches zwischen
den Zeilen zu erfahren ist.
Ein besonderes Augenmerk dieser Untersuchung galt der Schrift Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter in Vergangenheit und Gegenwart.
Über den Kleingärtneralltag war hier wenig zu erfahren, dafür um so
mehr über das Selbstverständnis der VKSK-Spitze gegen Ende der 80er
Jahre.
Vierzig Jahre nach Johann Tadlers Broschüre aus dem Jahre 1949 Wie es zu Millionen Kleingärtnern und Kleinsiedlern kam und was sie heute bewegt war
das die erste organisationseigene Publikation zu diesem Gegenstand.
(Eine für 1984 vorgesehene, unter der Leitung von Wilfried Sieber
erarbeitete Chronik des VKSK und seiner Vorläufer war seinerzeit nicht
veröffentlicht worden.) Die Schrift sollte anlässlich des 30.
Verbandsjubiläums erscheinen, wurde aber von den geschichtlichen
Ereignissen im Herbst 1989 eingeholt und erreichte nur noch wenige
ihrer Adressaten.
Bemerkenswert an der Darstellung war, dass etwa ein Viertel des
Umfangs den Anfängen der deutschen Kleingartenwegung und ihrer
Entwicklung bis zum Ende der Weimarer Republik gewidmet wurde. Dieser
Teil – der stärkste des gesamten Textes – blieb dicht an den Quellen
und zeichnete ein differenziertes, sachliches Bild von den historischen
Wurzeln. Besonderes Gewicht wurde auf die geschichtlichen Leistungen
und erhaltenswerten Traditionen gelegt. Dabei war zu erkennen, dass
sich die Autoren Berndt Musiolek und Karin Sahn die Ergebnisse
kulturhistorischer Forschungen zur Lebensweise arbeitender Menschen
dieser Zeit zu eigen gemacht hatten.
Deutlich schwächer und unhistorischer fiel der Abschnitt über die
Jahre 1933 bis 1945 aus („Die Nacht des Faschismus brach über
Deutschland an.“). Am wenigsten gelungen erschien die Wiedergabe der
ostdeutschen Nachkriegsentwicklung. Die Autoren verfolgten das Ziel,
nachzuweisen, dass „erst in der sozialistischen Gesellschaft...
Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter ihre wahre Heimstatt
gefunden“ haben. Möglicherweise hatten sie mit dieser Feststellung auf
eine makabre Weise sogar recht. Doch selbst wenn in Rechnung gestellt
wird, dass eine Jubiläumsschrift immer eine Art Hofberichterstattung
ist und die jeweiligen Legitimationsbedürfnisse Vorrang vor allen
anderen Absichten haben – ein derart geschönter Blick auf die eigene
Vergangenheit gereichte den beiden Historikern nicht zur Ehre. Ganz
offensichtlich haben sie wichtige Archivalien nicht genutzt. Darum
blieben viele Aussagen vage. Etliche erwiesen sich beim Vergleich mit
den Originaldokumenten direkt als unrichtig.
So schnurrt in ihrer Darstellung die ganze wirre und turbulente
Vorgeschichte des Verbandes, die sich in der Hinterlassenschaft der
Beteiligten mitunter spannend wie eine Kriminalstory liest, zu einer
idyllischen Legende zusammen. Die SED hätte stets eine „geduldige,
sorgsam und gemeinsam überdachte Politik“ betrieben, bei der sich die
Kleingärtnerschaft der „Fürsorge, ... freundschaftlichen Anteilnahme
und Partnerschaft“ seitens der Partei sicher sein konnte. Kein Wort
über das tief verwurzelte Mißtrauen der Kommunisten gegenüber dem
Kleingartenwesen als einstiger Domäne der Sozialdemokratie, kein
Fingerzeig auf die zahlreichen Aktionen der SED-Führung, alle Ansätze
von Unabhängigkeit und Selbstverwaltung der Kleingärtner zu
unterbinden.
Die Geschichte des VKSK wird dann in ein ebenso mildes Licht
getaucht. Verschwiegen wird, daß der Verband ein Kind der Partei war,
bis ins Detail von ihr dirigiert wurde. Ganz gleich ob Verbandstage,
Wahldirektiven, Statutenänderungen, Personalentscheidungen,
Planstellen, Finanzen, Rechtsprobleme, Presseangelegenheiten,
Auslandsbeziehungen, selbst Spezialfragen einzelner Fachrichtungen – es
gab nichts, was nicht im zentralen Parteiapparat entschieden worden
wäre. Bei Eigenmächtigkeiten seitens des VKSK wurden
„parteierzieherische Maßnahmen“ in Gang gesetzt. Archivdokumente zeigen
das ganze Spektrum der Disziplinierungsmittel, die selbst bei relativ
geringfügigen Unbotmäßigkeiten der Funktionäre und bei „Vorkommnissen“
in der Mitgliedschaft – vom unerlaubten Westkontakt über den illegalen
Hundetausch an der Autobahnraststätte bis zu Alkoholexzessen und
heimlichen Liebschaften - wirksam wurden.
Da die Verbandsspitze nach und nach in eine Außenstelle des
zentralen Parteiapparates verwandelt wurde, hier auch personell eine
innige Beziehung bestand, konnten Anleitung und Kontrolle durch die SED
von den Sekretären des Zentralvorstandes des VKSK vielleicht wirklich
als Partnerschaft wahrgenommen werden. Auf dieser Ebene kam man aus
einem Milieu, war aktuell bzw. vordem als Mitarbeiter in der Abteilung
Landwirtschaft des ZK oder in vergleichbaren Parteifunktionen tätig
gewesen, hatte einen ähnlichen Bildungsweg und eine entsprechende
politische Laufbahn hinter sich, sprach eine gemeinsame Sprache.
Dennoch gab es Spielräume für Verbandsfunktionäre. Sie werden in
der Selbstdarstellung aus der Sicht des Zentralvorstandes jedoch nicht
benannt. Dabei wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie die
Verbandsspitze zwischen den Interessen der Mitglieder und den
Erwartungen aus dem Zentralkomitee der SED vermittelt hat. Vergleicht
man die Broschüre mit dem Bericht, der von demselben Gremium ein Jahr
später anlässlich der Auflösung des VKSK erstattet wurde, so wird der
Quellenwert der Schrift sichtbar. Als sich die politischen Koordinaten
verschoben hatten, stellten sich viele Dinge plötzlich ganz anders dar.
Auf die Ebene des Kleingärtneralltags hat sich diese Darstellung
nicht begeben. Sie steht aber für das Klima in den Führungsetagen des
Verbandes, zeigt mit ihrer spröden Parteiberichtsprosa einiges von der
Entfernung gegenüber dem wesentlich farbigeren und vielschichtigeren
Leben in den Gartenanlagen.
Zu den Jubiläumsschriften gehörten auch die ausgewerteten Chroniken
und Festschriften von Kleingartensparten bzw. –vereinen. Mit der
Selbstdarstellung aus der Sicht des Zentralvorstands des VKSK verband
sie, dass auch sie meist aus einer Führungsposition heraus geschrieben
wurden – bei der Mehrzahl der Autoren handelte es sich um
Vorstandsmitglieder – und dass Konflikte und Brüche weitgehend
ausgespart blieben. In der Rückschau erschien vieles verklärt. In
gewisser Weise war das verständlich. So wie eine Geburtstagszeitung nie
auf die Schwachstellen und Niederlagen des Jubilars eingehen wird, soll
eine Gedenkschrift vor allem an den Stiftungstag und an ruhmreiche
gemeinsame Jahre erinnern. Das grenzte den Quellenwert solcher
Veröffentlichungen von vornherein ein. Eine weitere Einschränkung hing
damit zusammen, dass die Festschriften in ihrer Mehrzahl erst nach 1990
erschienen bzw. in jüngster Zeit neu bearbeitet worden sind. Sie
brachten also bewusst oder unbewusst die heutzutage gängigen Wertungen
der SBZ- bzw. DDR-Zeit ein. Auch aus diesem Grund sind sie als Quellen
äußerst kritisch zu sehen.
Diese Texte konzentrierten sich meist auf die Gründungsphase sowie
auf Höhepunkte im Gemeinschaftsleben. Mitunter enthielten sie eine
Chronik, die die Aktivitäten des Vorstands und einzelner Ausschüsse
oder Arbeitsgruppen auflisteten. Was Kleingärtner an ihre Parzelle
band, was sie normalerweise dort trieben, kam gelegentlich in
Erinnerungsberichten einzelner Kleingärtner zur Sprache. Das Bild vom
Alltag wurde jedoch immer mit Rücksicht zumindest auf die
Vereinsöffentlichkeit entworfen. Es berührte nur ausgewählte Bereiche,
sparte andere als zu privat aus. Das eigene Leben ist in dem Lichte
dargestellt worden, in dem es Gartennachbarn und sonstige Leser heute
sehen sollen. Da die Chroniken und Festschriften die Entwicklung
außerhalb der eigenen Kleingartenanlage nur selten reflektierten,
vermittelten sie den Eindruck einer ungebrochenen Kontinuität. Auch aus
diesem Grund sind zahlreiche Kleingärtner gegenwärtig der festen
Überzeugung, ihr heutiger Verein hätte während der DDR-Zeit zwar Sparte geheißen, sich sonst aber in nichts von der jetzigen Organisation unterschieden.
Als Materialien zur Alltagsgeschichte waren besonders
aufschlussreich die Erhebungen des Leipziger Instituts für
Bedarfsforschung (1967 umbenannt in Institut für Marktforschung der
DDR), die seit 1965 in Intervallen von fünf Jahren das Verhalten der
Ostdeutschen erkundeten. Bei diesen Untersuchungen zu Zeitbudget und
Lebensstandard sind jedes Mal auch das Garteninteresse sowie die
tatsächliche Gartennutzung erfragt worden. Das geschah freilich ganz
summarisch, ohne den Kleingarten vom Hausgarten, Bauerngarten,
Wochenendgrundstück usw. zu unterscheiden. Die Befunde wären durchaus
wert, gesondert ausgewertet zu werden, weil sie nüchtern
empirisch-handfeste Tatbestände belegten. Allerdings wurde gerade am
Beispiel des Gartens sichtbar, dass vorurteilsfreie Forschung ihre
Grenzen hatte, ideologische Scheuklappen und politische Urteile hierfür
den Rahmen absteckten. Andererseits zeigte dieser Präzedenzfall auch,
dass real zu beobachtende Sachverhalte politische Bewertungen durchaus
revidieren konnten.
So wurde bereits 1970 in einer Studie über das Zeitverhalten der
erwachsenen Bevölkerung in der DDR festgestellt, dass entgegen allen
Erwartungen der Anteil der Gartenarbeit kontinuierlich zunahm. Die
Hoffnung der politischen Führung, Gartenarbeit, vor allem die im
Kleingarten, werde als Symbol der Armut im Kapitalismus, bestenfalls
noch als Begleiterscheinung der Nachkriegsnot, mit dem Aufbau der
sozialistischen Gesellschaft zugunsten „höherer“ Tätigkeiten an Gewicht
verlieren, bestätigte sich nicht. Hatten Männer 1965 durchschnittlich
3,4 Stunden pro Woche damit zugebracht, so waren es 1970 bereits 6,4
Stunden. Bei Frauen erhöhte sich der Zeitaufwand für Gartenarbeit in
diesen fünf Jahren von 1,6 auf 2,7 Stunden. Berücksichtigt man, dass
nur jeder zweite Haushalt tatsächlich über einen Garten verfügte, so
fiel dieser Anteil bei den Gartenbesitzern wesentlich höher aus.
Gartenarbeit ist in diesem Zusammenhang nie näher bestimmt worden.
Es blieb offen, ob darunter der bloße Aufenthalt im Garten oder die
Zeit für den wirklichen Gartenbau verstanden wurde, ob es sich um eine
Liebhaberei oder um eine Notwendigkeit handelte. So gaben 1974 in einer
Befragung zu Urlaub und Freizeit 35 Prozent der Männer und 31 Prozent
der Frauen an, die Arbeit und der Aufenthalt im Garten sei ihre liebste
Beschäftigung am Feierabend. Am Wochenende stand immerhin für 42
Prozent der Männer und 36 Prozent der Frauen der Garten in der
Beliebtheitsskala an erster Stelle. Unabhängig davon, ob Gartenarbeit
nun unter den Freizeitwünschen ganz vorn rangierte oder eher aus einer
Zwangslage heraus betrieben wurde, haben zu dieser Zeit 40 Prozent der
Männer und 37 Prozent der Frauen täglich oder mehrmals wöchentlich im
Garten gearbeitet.
Von den Gartenbesitzern gaben rund 40 Prozent an, einen Nutzgarten
zu haben, die übrigen sahen ihren Garten mehr oder weniger als
kombinierten Nutz- und Freizeitgarten an. Diese Mischformen
dominierten. Selbst Wochenendgrundstücke waren in der Regel keine
reinen Freizeit- und Erholungsgärten. Auch hier wurden oft Obst und
Gemüse angebaut und verwertet, so dass die Grenzen zwischen den
verschiedenen Gartentypen fließend waren. Als der Verband der
Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Ende der siebziger Jahre
begann, unter seinem Dach eigene Wochenendsiedlungen zu errichten,
wurde die klare Abgrenzung zwischen Kleingärten und Erholungsgärten
vollends hinfällig. Weder die rechtliche und organisatorische
Anbindung, noch die Ausgestaltung oder die Art der Nutzung boten
hinreichend Anhaltspunkte dafür. Es gab auf der einen Seite
Kleingärtner, die wegen der räumlichen Entfernung sowie wegen
beruflicher oder familiärer Pflichten ihre Parzelle nur am Wochenende
und dann überwiegend als Erholungsgarten nutzten. Auf der anderen Seite
haben zahlreiche Datschenbesitzer, vor allem Rentner, ihr Stückchen
Land regelrecht wie einen Nutzgarten bewirtschaftet.
Die soziologischen Erhebungen brachten ans Licht, dass Gartenarbeit
nach der Mediennutzung (Fernsehen, Radio und Schallplatten hören,
Lesen) und nach einer Position, die mit Geselligkeiten, Erholung,
religiöse Tätigkeiten und sonstige Freizeittätigkeiten nur sehr vage
umschrieben wurde, an dritter Stelle lag, etwa gleichauf mit dem
ebenfalls vorgegebenen Tätigkeitsfeld Spazierengehen, Wandern und
aktiver Sport. Es folgte der Besuch von Kultur- und
Sportveranstaltungen sowie von Gaststätten. Weit abgeschlagen
rangierten dahinter Bildung und Qualifizierung, gesellschaftspolitische
Betätigung sowie die Beschäftigung mit Kunst und Hobbys. Das galt für
den gesamten untersuchten Zeitraum zwischen 1965 und 1990. Während mit
Ausnahme der Mediennutzung die anderen Bereiche relativ konstant
blieben, wurde alle fünf Jahre festgestellt, dass der Anteil der
Gartenarbeit wiederum gewachsen war, umgerechnet auf den Tag um jeweils
0,1 Stunde.
Unter Soziologen war bis zuletzt umstritten, ob Gartenarbeit
überhaupt als Freizeitbeschäftigung anzusehen sei oder wie Hausarbeit,
Kinderpflege, Essen und Schlafen zu den „notwendigen Verrichtungen“ des
Lebens gehörte, die man nicht nach Belieben ausführen oder unterlassen
konnte. International erfasste die Zeitbudgetforschung Gartenarbeit und
Tierpflege seit jeher getrennt als Hausarbeiten und als
Freizeittätigkeiten, je nachdem, ob sie als Form von Eigenarbeit und
Selbstversorgung oder als Liebhaberei betrieben wurden. In der DDR sind
in den letzten Jahrzehnten Gartenarbeit und Tierpflege nur noch als
Freizeittätigkeiten ausgewiesen worden. Damit konnte der stagnierende
und sogar leicht rückläufige Umfang der Freizeit kaschiert werden. Da
für diese Tätigkeiten zunehmend mehr Zeit aufgewandt wurde, ließ sich
rein rechnerisch sogar ein Anwachsen der Freizeit belegen.
Diese politisch motivierte Umbewertung der Gartenarbeit warf neue
Fragen für die Politik auf. War es angesichts dieser Tatsachen noch
opportun, Gartenarbeit und Tierpflege als kleinbürgerlichen Rückzug ins
Private zu denunzieren, wie dies bis weit in die fünfziger Jahre hinein
geschah? Noch Ende der sechziger Jahre wurde die Ergebnisse der
Zeitbudgetforschung als Nachwirkungen entfremdeter Arbeit im
Kapitalismus und als ein Zustand interpretiert, der durch gezielte
Erziehungs- und Kulturarbeit möglichst schnell überwunden werden müsse.
So monierte etwa Alfred Kurella: „Was die Erholung betrifft, werden
ideell indifferente Formen wie Gartenarbeit, Kleintierzucht,
Steckenpferde aller Art und die ‚leichte Muse‘ bevorzugt.“
Kurella war ein Zeitgenosse Walter Ulbrichts und seinerzeit als
Kandidat des Politbüros des ZK der SED ein führender Kulturfunktionär
der Partei. Der Arztsohn, der im Unterschied zu vielen anderen
Parteifunktionären das Gymnasium besucht hatte, glaubte
unerschütterlich an die Allmacht der Kunst. Dies war wohl ein Erbe
seiner Herkunft und seiner Ausbildung an der Münchner
Kunstgewerbeschule. Nach seinem Verständnis würden nach dem Fortfall
aller politischen Ausgrenzungen auch die sozialen und kulturellen
überwunden. Dann könnte der kleine Kreis der (Kunst )Kenner rasch zu
einem großen gemacht werden. Unter dem Einfluss Kurellas und anderer
war die DDR als kleines Land mit großen Ambitionen angetreten, mit
einer Utopie vom „neuen Menschen“, von einer Arbeiterklasse, die „die
Höhen der Kultur erstürmen“ sollte. In diesem Konzept war für
Gartenarbeit kein Platz. Der Ulbrichtsche Kompromiß bestand darin,
Kleingärtner nicht als kulturlos abzuschreiben, sondern sie zu
ermutigen, sich in ihren Gemeinschaften auch künstlerisch zu betätigen.
Durch die gesamten fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahre
zieht sich das Bemühen, die „ideell indifferente“ Gartenarbeit durch
Volkskunstzirkel aller Art, durch „kulturelle Leistungsvergleiche“ und
Festspiele aufzuwerten.
Erst die wirtschafts- und sozialpolitische Neuorientierung des
VIII. und IX. Parteitages leitete hier ein Umdenken ein. Jahrzehnte
nach dem Kriege und der Machtübernahme der SED schien es nicht mehr
angezeigt, das reale Verhalten der Leute als zurückgeblieben und nicht
richtig sozialistisch zu deklarieren. Es hatte sich auch
herausgestellt, dass trotz erheblicher ideologischer Anstrengungen und
entsprechender personeller wie materieller Aufwendungen die massenhaft
ausgebildete „allseitige Persönlichkeit“ im Sinne des frühen
SED-Verständnisses eine Fiktion blieb. Die künstlerische Betätigung
„der Werktätigen“ blieb auf einen kleinen Teil der Bevölkerung
beschränkt. In den Zeitbudgeterhebungen, die ja immer Mittelwerte
angaben, bewegte sich die Beschäftigung mit Kunst und Hobbys konstant
zwischen 0,0 und 0,1 Stunden pro Tag, d.h. sie war statistisch kaum
fassbar. Vor allem Kinder, Jugendliche, Studenten, Hausfrauen und
Rentner sowie jene Laienkünstler, die es seit jeher in allen Schichten
gab, profitierten von der großzügigen staatlichen Förderung. Die Mittel
dafür standen von Mitte der siebziger Jahre an nicht mehr in der
bisherigen Höhe zur Verfügung, sondern wurden dringend für die
Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen benötigt. Was lag in
dieser Situation näher, als die bisher scheel betrachtete Gartenarbeit
aufzuwerten. Dazu mussten die Leute nicht überredet werden, das taten
sie ohnehin. So nimmt es nicht wunder, dass unter dem Eindruck der
soziologischen Befunde und angesichts notwendiger Umschichtungen im
Staatshaushalt seit Mitte der siebziger Jahre der Gartenarbeit immer
mehr „kulturell wertvolle“, „persönlichkeitsfördernde“ Wirkungen
zugeschrieben wurden. In der Statistik avancierte sie durchweg von der
Hausarbeit zur selbst gewählten Freizeitbeschäftigung.
Hinter dieser Umbewertung standen noch viele andere Tatbestände.
Immer deutlicher zeigte sich, dass die DDR-Bevölkerung zu einem Volk
von übergewichtigen Stubenhockern zu werden drohte – mit nachteiligen
Auswirkungen auf die Gesundheit. Der hohe Krankenstand war nicht nur
Indiz nahezu grenzenloser sozialer Sicherheit, sondern auch Folge
vielfältiger Arbeits- und Umweltbelastungen sowie einer vielfach
ungesunden Lebens- und Ernährungsweise. Wenn in der Öffentlichkeit das
Krankfeiern vor allem am Bild des Kleingärtners festgemacht wurde,
verdeckte dies den Umstand, dass gerade diese Bevölkerungsgruppe
vergleichsweise viel für die Gesundheit tat – durch körperliche
Betätigung an der frischen Luft, durch Erzeugung und Verzehr von
gesundem Obst und Gemüse, durch die Pflege der grünen Lungen in den
Städten. Die Einsicht in diese Zusammenhänge und der Mangel an
alternativen Freizeitangeboten veranlasste die Parteiführung, unter dem
Motto von der „aktiven Erholung“ das Kleingartenwesen fortan stärker zu
fördern. Gartenarbeit wurde quasi zum Volkssport Nummer eins erklärt,
was vielleicht darüber hinwegtrösten konnte, dass etliche DDR-Bürger
keinerlei Sport trieben und im Alltag kaum etwas für die eigene
Kondition taten. Zugleich wurde damit ein sehr willkommener Nebeneffekt
erzielt: Die zu allen Zeiten angespannte Versorgungslage bei Obst und
Gemüse konnte entschärft werden. Die DDR mit ihrer auf Autarkie
bedachten Agrarpolitik war immer auf die landwirtschaftliche
Kleinstproduktion in den Gärten angewiesen – zur Selbstversorgung der
Kleingärtnerhaushalte und für den Verkauf an den staatlichen Handel.
Dies war ein Grund mehr, die Kleingärtnerei gesellschaftlich
aufzuwerten.
Die soziologischen Erhebungen zum Zeitverhalten der Ostdeutschen
haben den Platz des Gartens, darunter auch des Kleingartens, in der
Lebenswelt allerdings nur quantitativ und in Relation zu anderen
Freizeitorten und –beschäftigungen abbilden können. Ihnen sind kaum
Aussagen zur Funktion zu entnehmen, unter anderem auch deshalb, weil
ihnen (vielleicht „naturgemäß“) jegliche historische Dimension fehlte.
Spezielle Studien zur ostdeutschen Kleingartenkultur als
Lebenswelt, Milieu und kulturelle Szene sind seinerzeit nicht vorgelegt
worden. Wohl gab es kulturwissenschaftliche Untersuchungen, die die
Freizeit der Arbeiter, der „kleinen Leute“ bzw. der „Werktätigen“ zum
Gegenstand hatten. Sie bezogen sich auf das Kaiserreich, die Weimarer
Republik sowie auf die SBZ/DDR. In solchen Untersuchungen stellte sich
heraus, dass sich der Alltag der Ostdeutschen auf stabile Traditionen
gründete, deren Wurzeln vor allem im Arbeiterleben angelegt waren. Es
zeigte sich, dass das Freizeitverhalten arbeitender Menschen bereits zu
Beginn des 20. Jahrhunderts seine Orte, seine Institutionen und seine
Gegenstände gefunden hatte. Seit dieser Zeit gehörte der Kleingarten zu
den bevorzugten Freizeitorten von Arbeitern, städtischen Handwerkern
sowie kleinen Angestellten und Beamten. Bis auf die neuen
elektronischen Medien und den Urlaubstourismus war später nichts
wesentliches mehr hinzugekommen – auch in der DDR nicht, in der
lediglich die Freizeit- und Vergnügungsindustrie verstaatlicht worden
war und Urlaubsplätze vor allem nach sozialen Kriterien vergeben
wurden. Es gehörte darum zu den Erträgen kulturgeschichtlicher Studien,
im Kleingarten nicht ein zu überwindendes Muttermal des Kapitalismus,
sondern ein Element der Lebensweise im Sozialismus zu sehen, dem
wichtige Funktionen im Alltag zukommen. Die kulturhistorische
Ausstellung Parzelle – Laube – Kolonie. Kleingärten zwischen 1860 und 1930, die 1988 im Museum Berliner Arbeiterleben lief, hatte anschaulich vorgeführt, welchen Bewegungs- und Erfahrungsraum so ein Garten für „kleine Leute“ eröffnete.
Mündliche Quellen
Für die Rekonstruktion der Lebenswelt Kleingarten wurden auch
mündliche Quellen herangezogen, vor allem Gespräche mit ostdeutschen
Kleingärtnern. Darunter sind keine repräsentativen, keine gezielten und
keine kontinuierlichen Befragungen zu verstehen. Biographische oder
historische Interviews nach Art der Oral History, der mündlich
erfragten Geschichte, bildeten die absolute Ausnahme. Vielmehr handelte
es sich eher um Jahrzehnte „teilnehmender Beobachtung“ und um eine
Fülle zwar informeller, aber doch sachorientierter Gespräche. Auf diese
Weise ließen sich kaum verwertbare Tatsachen ermitteln. Doch wurde der
Blick „von innen“ und „von unten“ geschärft, mit dem dann die anderen
Quellen geprüft werden konnten. Diese Binnensicht, die sich auch aus
der persönlichen Kenntnis des Kleingärtneralltags ergab, erwies sich
zugleich als erhebliches Handicap der Darstellung. Unweigerlich
stellten sich recht subjektive, deutende, mitunter zu detailliert
veranschaulichende Schilderungen ein, in denen sich andere Kleingärtner
mit ihren speziellen Erfahrungen vielleicht nicht wiedererkennen. Es
kann daher nur eine der möglichen Perspektiven auf die Lebenswelt
Kleingarten vorgestellt werden.
Bildquellen
Schließlich sind als dritte Materialgrundlage Bildquellen
ausgewertet worden. Es handelte sich einmal um Fotografien aus
Zeitschriften, Museen und Privatbesitz. Diese scheinbar so
authentischen Zeugnisse des Kleingartenlebens vermittelten zwar eine
anschauliche, sinnliche Vorstellung vom Ganzen und förderten auch
manches Detail zutage, das anderen Quellen nicht zu entnehmen war.
Dennoch waren das selbstverständlich keine wahrheitsgetreuen und
zuverlässigen Abbilder. Entweder hatte man es mit Presseaufnahmen zu
tun, die vorgegebene Ansichten bestätigen sollten. Oder es waren
Schnappschüsse von Laien, die ganz persönliche Ziele verfolgten.
Zum anderen wurden Karikaturen zu Rate gezogen, die zwischen 1946 und 1990 in den satirischen Zeitschriften Frischer Wind und Eulenspiegel
erschienen sind. Beide waren beileibe keine Oppositionsblätter. Sie
unterstanden letztlich wie alle offiziellen Printmedien der Abteilung
Agitation des ZK, erhielten über viele Vermittlungen von dort die ihre
Anleitung. So hatten sie sich auch an den jeweiligen Pressekampagnen zu
beteiligen.
Im Zusammenhang mit dem Kleingartenthema war diese Abhängigkeit
besonders in den fünfziger und sechziger Jahren sichtbar. Bestimmte
Motive und Reizthemen wie die vom Krankfeiern, von der Bauwut, vom
allgegenwärtigen Gartenzwerg usw. tauchten sowohl im Kleingärtner, in vielen Tages- und Wochenzeitungen und eben auch im Eulenspiegel auf. Was der Kleingärtner in mehr oder weniger fingierten Leserbriefen rügte, wurde im Eulenspiegel
ins Bild gesetzt. Im einzelnen lässt sich schwer herausfinden, ob die
Zeichnungen bestimmte zentrale Vorgaben bedienten, d.h. eine Sicht der
Partei auf die Kleingärtner illustrierten, die offiziell nicht
ausgesprochen wurde, aber unterschwellig wirkte, oder ob andere
Beweggründe dahinter steckten.
Das Arsenal der Karikaturisten ließ sich nämlich zu keiner Zeit
eindeutig als Kampf- und Erziehungsmittel der SED in Dienst nehmen. Es
hat immer höchst unterschiedliche Botschaften befördert. Kritik an
Kleingärtnern oder auch Appelle an sie, sich stärker gesellschaftlich
zu engagieren, sich für eine bessere Versorgung im Lande einzusetzen
oder die Wohngebiete zu verschönern, wurden mitunter auf so aberwitzige
Weise vorgetragen, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehrten. Die
Zeichner lieferten dann eher bissige, skurrile Kommentare zu
politischen Ansprüchen, als dass sie diese eins zu eins umsetzten. In
den achtziger Jahren konterkarierten sie auf stille Weise die markigen
Worte und großen Parolen, mit denen Staatspartei und Verbandsspitze die
Kleingärtner bedachten.
Dabei ging die Sache im Kern eigentlich immer über das
Schrebergartenmilieu hinaus, selbst da, wo die Zeichner an gängige
Klischees anknüpften oder verdrängte Wahrheiten aufdeckten. Wenn
„Laubenpieper“ als fröhliche Arbeitsbummelanten erschienen, die im
Betrieb mitgehen ließen, was nicht niet- und nagelfest war, als
Menschen, denen Planerfüllung, Wettbewerb, Brigadeleben herzlich egal
waren, solange es nur auf ihrer Parzelle voranging, als stämmige,
trinkfeste Zeitgenossen von zweifelhaftem Natur- und Umweltverständnis,
seltsamem Schönheitssinn und höchst eigenwilligem Gestaltungsdrang,
waren nicht allein die Kleingärtner gemeint. Es ging wohl nicht darum,
ausschließlich sie als Blaumacher, Langfinger, Schluckspechte,
Umweltsünder und Kulturbanausen zu denunzieren, sondern darum, generell
das hehre Leitbild von der sozialistischen Persönlichkeit mit der
irdischen Praxis zu konfrontieren. Der Kleingärtner stand sozusagen für
den Ostdeutschen schlechthin, der in einem Winkel seines Herzens
vielleicht immer bieder und provinziell blieb, auf den eigenen Vorteil
bedacht, wie überall auf der Welt von dem Wunsch beseelt, sich in den
gegebenen Verhältnissen möglichst behaglich einzurichten. In diesem
Sinne boten die Karikaturen ein Sittengemälde des Landes, konnten als
Lehrstück in Sachen Privatleben gelesen werden, das im Schutze nahezu
grenzenloser sozialer Sicherheit sonderbare Blüten trieb.
Es wäre es lohnend, die Zeichnungen genauer als zeithistorische
Dokumente anzusehen. Zu fragen wäre nicht nur, was Karikaturisten zum
Kleingarten zu sagen hatten, sondern auch, was sie am Beispiel des
Kleingartens vor Augen führten. Schon eine flüchtige Durchsicht der
etwa zweihundert Darstellungen zum Thema zeigte, dass hier nicht
illustriert wurde, was schon aus anderen Quellen bekannt war, sondern
kaum bewusste Vorgänge und Tatbestände ans Licht gebracht wurden.
Gegenständliche Quellen
Einen möglichen Zugang zur ostdeutschen Kleingartenkultur als
Lebenswelt ermöglichten auch gegenständliche Quellen. Die Mehrzahl der
Gartenanlagen existiert noch relativ unverändert. Vereinshäuser und
Lauben wurden bislang vergleichsweise selten umgestaltet oder neu
gebaut. Der Bestandsschutz hat viele überdimensionierte Gartenhäuschen,
Schuppen und Gewächshäuser erhalten. Selbst Kleintierställe sind noch
zu finden. Etliche Kleingärten sind nach wie vor viel zu dicht
bepflanzt, obwohl es keine wirtschaftliche Notwendigkeit mehr dafür
gibt. Gerätschaften und die sonstigen Utensilien des Kleingärtners
stellen heute eine bunte Mischung aus Alt und Neu dar. Aus diesen
überkommenen Sachzeugen der Vergangenheit lässt sich viel über den
ostdeutschen Kleingärtneralltag herauslesen.
Auch die widerstrebenden Bemühungen, den Auflagen des
bundesdeutschen Kleingartengesetzes nachzukommen, lassen die vormaligen
Zustände durchscheinen. Wenn etwa in einstigen Wochenendsiedlungen des
VKSK heute selbst in reinen Waldlagen der Anbau kleingärtnerischer
Kulturen propagiert wird, um der Einstufung als Freizeit- und
Erholungsgärten und den damit verbundenen höheren Kosten zu entgehen,
wirft das ein Licht auf die relativ liberale Praxis zu DDR-Zeiten.
Überhaupt ist die gegenwärtig zu beobachtende Überlagerung von ost- und
westdeutscher Kleingartenkultur ein Fundus für all jene, die den Platz
und die Funktion des Kleingartens im Leben der DDR-Bürger bestimmen
wollen. Reibungen und Konflikte, die häufig genug vor Gericht
ausgetragen werden, machen sichtbar, welche verbrieften Freiheiten und
ungeschriebenen Gewohnheitsrechte ostdeutsche Kleingärtner seinerzeit
in Anspruch nehmen konnten.
Wer den ostdeutschen Kleingarten nur aus den Akten kennt, wer nur
die Zeitschriften von damals anschaut oder nur die Fotos, wer sich
allein auf die Erinnerungen von Zeitgenossen verlässt, der wird
vermutlich eine schiefe Vorstellung davon bekommen. Alle diese Quellen
und Materialien - die schriftlichen, die mündlichen, die Bilder, die
Sachzeugen – bieten für sich genommen nie ein verbürgtes Abbild der
einstigen Kleingartenwirklichkeit. Es sind Mitteilungen, die immer von
speziellen Interessen geleitet waren, daher ganz zwangsläufig
einseitig, zufällig, subjektiv ausfallen mussten, Informationen, die
geschönt, gefälscht, ideologisch interpretiert, nur vage erinnert,
unvollständig überliefert oder sonst irgendwie beschädigt waren. In
ihrer Summe und im kritischen Vergleich ergaben sie aber ein Bild, das
der Realität nahe kommen dürfte.
Nachdem wir die Quellenlage besichtigt haben, soll nun zu zeigen
versucht werden, was der Kleingarten einst für die „einfachen Leute“
bedeut hat, was sie aus ihren paar Quadratmetern Pachtland gemacht
haben. Wenn im folgenden vergröbert wird, der geschichtliche Wandel
sowie die regionalen, sozialen, generations- und
geschlechtsspezifischen Unterschiede vernachlässigt werden, wenn eher
dezidiert behauptet als schlüssig aus vorgelegten Befunden
verallgemeinert wird, ist dies vor allem der gebotenen Kürze
geschuldet. Auch muss sich die folgende Studie zum DDR-Alltag auf die
achtziger Jahre konzentrieren.
Der Kleingarten im Alltag des DDR-Bürgers
Zweitwohnung
Das wichtigste am ostdeutschen Kleingarten der 80er Jahre war wohl,
dass er einen zweiten Wohnsitz bot. Das unterschied ihn grundsätzlich
vom Kleingarten im Westen, wo das Übernachten oder gar zeitweilige
Wohnen auf der Parzelle untersagt war. In der offiziellen Sicht von
Politik und Verwaltung ist diese Seite kaum beachtet worden.
Kleingärten gehörten immer zum Ressort Landwirtschaft, unterstanden nie
den Verantwortlichen für Stadtentwicklung, Bauwesen und
Wohnungswirtschaft. Dadurch kam der Eindruck auf, die Leute rissen sich
so um einen Kleingarten, weil sie samt und sonders passionierte Obst-
und Gemüsebauern, Blumenfreunde und Kaninchenzüchter waren oder wegen
dürftiger käuflicher Angebote notgedrungen zur Selbstversorgung
schritten. Das mag ein Motiv gewesen sein, zu dieser Zeit für viele
aber bereits ein untergeordnetes. Hätte es ein Übernachtungsverbot für
Lauben gegeben, wäre die Attraktivität zumindest der weiter entfernt
liegenden Kleingärten nach dem Ende der Hungerjahre wohl auch in der
DDR beträchtlich zurückgegangen.
Laut Statistik verfügte jeder Ostdeutsche 1989 über 27,4
Quadratmeter Wohnfläche. Das war zwar fast doppelt so viel wie 1950,
aber deutlich weniger als im Westen Deutschlands. Dort hatte jeder
Einwohner 36,7 Quadratmeter zur Verfügung. In der DDR wohnte man
wesentlich häufiger zur Miete, seltener in den eigenen vier Wänden und
zog auch öfter um. Die Mietwohnung war eine Bleibe auf Zeit, stand für
Ungebundenheit und Wandel. Der im staatlichen und genossenschaftlichen
Wohnungsneubau seit den siebziger Jahren favorisierte Typ war der
Plattenbau in Großsiedlungen. Es existierte kein Wohnungsmarkt.
Wohnungen wurden nach vorwiegend sozialen Kriterien zugeteilt, schieden
damit von vornherein als Statussymbol aus. Die Wohnadresse verriet im
Osten normalerweise kaum etwas über familiäre Herkunft, Bildung, Beruf
oder Einkommen. Mietwohnungen waren so sicher wie anderswo nur
Eigentumswohnungen. Der niedrige Mietpreis hatte mehr symbolische
Bedeutung.
Diese allgemeinen Bestimmungen sagen wenig darüber aus, wie
wirklich gewohnt wurde. Sie verbergen zum einen, dass die meisten
ostdeutschen Wohnungen tagsüber praktisch leer standen, weil alle
Bewohner außer Haus beschäftigt waren. Sie verschweigen zum anderen,
dass viele Ostdeutsche eine Zweitwohnung besaßen, die in keiner
Wohnungsstatistik auftauchte. Die relativ hohe Akzeptanz der
Plattenbauten gründete sich vor allem darauf, dass sie für jedermann
bezahlbar waren und hinsichtlich Lage, Grundriß sowie Ausstattung den
elementaren Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten entsprachen.
Sicher war dies eine notgedrungene Wertschätzung, denn wirkliche
Alternativen gab es nicht.
Die DDR gehörte bis zuletzt zu den Ländern mit dem höchsten
Beschäftigungsgrad und der längsten formellen Arbeitzeit der Welt. Die
tägliche Regelarbeitszeit betrug 8 ¾ Stunden. Auch hinsichtlich der
Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit lag das Land mit an der Spitze
im internationalen Vergleich. Der den Ostdeutschen oft nachgesagte
Zeitwohlstand ist wohl eine Legende gewesen. Vielmehr war Zeitnot eines
der größten Alltagsprobleme. Vollzeitbeschäftigte Männer und Frauen mit
Kindern waren darum vor allem auf kurze Wege zu Arbeit, Schule,
Kindergarten, Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungseinrichtungen
angewiesen. Sie brauchten eine Wohnung mit moderner Heizung und
Warmwasser, Innentoilette, Bad und Einbauküche, um möglichst wenig
Hausarbeit zu haben. Vor diesem Hintergrund wurde die Mietwohnung eher
als Start- und Landebahn für den Arbeits- und Schultag angesehen - als
Scharnier, das die Abfolge der Werktage verband - denn als private,
intime Gegenwelt dazu. Für wirkliche Freizeit und Erholung ist von
vielen von vornherein ein anderes Gehäuse angestrebt worden. Die
preiswerteste, für jedermann erschwingliche Variante einer solchen
Zweitwohnung war die Parzelle in einer Kleingartenanlage. Die deutlich
teureren Wochenendgrundstücke mit ihren mitunter vergleichsweise
luxuriösen Bungalows galten eher als Statussymbol der
Besserverdienenden, schon allein deshalb, weil sie in der Regel nur mit
dem eigenen Auto zu erreichen waren. Ob größere Wohnungen, eine weniger
anonyme Architektur und ein nicht so spartanisch gestaltetes Wohnumfeld
den Drang nach einem grundsätzlichen Tapetenwechsel am Wochenende
aufgehalten hätten, muss offen bleiben. Vielleicht wäre auch dann eine
klare räumliche und zeitliche Zäsur zwischen berufsdominierten
Werktagen und selbstbestimmten freien Tagen gesucht worden. Zumindest
war das zweigeteilte Wohnen – unter der Woche in der städtischen
Kleinstwohnung, an freien Tagen in der Laube oder im Wochenendhaus –
eine weit verbreitete Realität, auf die sich auch das öffentliche Leben
einzustellen hatte.
Die Laube in der Kleingartenanlage wurde durch allerlei Um- und
Anbauten nach und nach in ein zweites Zuhause verwandelt. Sie wuchs
beinahe von selbst. Im Laufe der Zeit kam eins zum anderen. Aus dem
Sitzplatz vor der Laube wurde allmählich eine Veranda, die von Jahr zu
Jahr stabiler gemacht und schließlich geschlossen wurde, so dass am
Ende ein zusätzlicher Raum entstand. Das Herzhäuschen samt Plumpsklo
verschwand, im einstigen Schuppen wurde eine Toilette mit Waschbecken
eingerichtet. Dafür musste ein weiterer Anbau her für all die
Gerätschaften und sonstigen Utensilien des Kleingärtners. Auf diese
Weise entstanden vielerorts ansprechende kleine Sommerhäuschen mit
Elektro- und Wasseranschluss sowie Koch- und Schlafgelegenheiten. Zwar
gab es Grenzen, was Größe und Komfort anging. Baugenehmigungen mussten
eingeholt, Gartenordnungen befolgt und Auflagen beachtet werden. Doch
die Anweisungen wurden relativ liberal gehandhabt oder ließen sich
umgehen. Die Ausstattung richtete sich eher nach den eigenen
Möglichkeiten. Lauben konnten durchaus 40 – 50 Quadratmeter Grundfläche
und damit die Größe einer Familienwohnung erreichen. Es gab
Gartenhäuschen mit Keller, Elektroherd, fließendem Wasser, Dusche und
WC. Kühlschrank, Fernsehapparat und Staubsauger gehörten für viele zum
Mindeststandard eines solchen zweiten Haushalts.
Diese Sommerwohnung im Grünen ergänzte immerhin für ein halbes Jahr
- von April bis September - die Hauptwohnung. Sie bot private Freiräume
und bei allen Vorschriften doch ein erhebliches Maß an individuellen
Gestaltungsmöglichkeiten, daneben Naturnähe, Auslauf und all die Dinge,
die auch der Garten des Einfamilienhauses bereithielt. Als
Eigenheimersatz war der Kleingarten dennoch nicht anzusehen. Das
Eigenheim hatte einerseits einen gänzlich anderen Lebenszuschnitt zur
Voraussetzung, verlangte nicht nur größere finanzielle, psychische und
soziale Opfer, sondern auch eine berufliche und familiäre Organisation,
wie sie in der DDR selten gegeben war. Im Osten waren Hausfrauen bzw.
bezahltes Personal – wichtige Säulen des Eigenheims – absolute
Ausnahmen. Zum anderen blieb man im Hausgarten letztlich immer den
Gesetzen des Hauses, der Nachbarschaft, der Wohngegend verpflichtet. In
Kleingarten und Laube dagegen tauchte man in eine völlig andere Welt
ein. Selbst wenn die Gartenanlage nur wenige Straßenecken entfernt lag,
war sie quasi ein geheimer Ort, den nur enge Vertraute kannten. Für
alle übrigen war man praktisch unerreichbar, damit deren Ansprüchen und
Zumutungen entzogen. Im Kleingarten wurde man wie im Plattenbau auch
nicht zwangsläufig mit einem bestimmten sozialen Status oder einer
beruflichen Position in Verbindung gebracht, weil hier wie da vom
Pförtner bis zum Werkdirektor, von der angelernten Näherin bis zum
Universitätsprofessor alles vertreten war.
In der Kleingartenkolonie herrschten eigene Sitten. Die hier
geltenden Regeln, Ordnungen und Umgangsformen, die Formen der sozialen
Kontrolle, die Rollenverteilung, die Kleiderordnung, die Eß- und
Wohnkultur, selbst die Rituale der Feste und Feiern unterschieden sich
deutlich von denen in der Mietwohnung. Im Kleingarten gingen sogar die
Uhren anders. Ohne Hektik und Eile sollte es hier zugehen, möglichst
ohne größeren Aufwand, ungezwungen und familiär.
Schon die Ausstattung der Lauben erzeugte eine spezielle
Atmosphäre. Selten ist da mit Bedacht ausgewählt und angeschafft
worden, etwa um dem Ganzen ein ländliches Flair zu geben. Vielmehr kam
meist alles Ausrangierte hierher. Die kleinen Räume waren mit Möbeln
und Hausrat vollgestopft. Was in der Wohnung nicht mehr benötigt wurde,
aber irgendwie noch brauchbar schien, zu schade zum Wegwerfen, landete
in der Laube: Das erste Kofferradio, die Klappcouch aus der
Junggesellenzeit, die letzten Tassen vom Hochzeitsservice – für den
Außenstehenden meist ein unmögliches Sammelsurium, schäbiger Plunder.
Für die Besitzer hingen aber Erinnerungen daran an Menschen und
denkwürdige Umstände. Die Dinge waren vertraut durch langen Gebrauch,
machten vergangene Zeiten immer wieder lebendig und erzeugten allesamt
jenen eigentümlichen Stallgeruch, der die Generationen zusammenhielt.
In gewisser Weise war jede Laube ein Familienmuseum, angefüllt mit
Zeugnissen des Herkommens, der gemeinsamen Wurzeln. Möglicherweise war
die sparsame Lebensführung der Ostdeutschen in dieser Hinsicht ganz
nebenbei der beste Denkmalschützer.
Was für die Innenausstattung galt, traf auch auf die äußere Gestalt
zu. Gartenarchitektonische Kostbarkeiten durfte man hier nicht
erwarten. Die Parzelle war irgendwann einmal vom Vorgänger übernommen
worden, nicht weil Liebe auf den ersten Blick die Wahl bestimmte,
sondern weil nichts anderes zu finden war. Jeder Pächter hatte
versucht, dem Anwesen sein Gepräge zu geben. So standen vor allem in
den älteren Anlagen schmucke Bungalows und wahre Bruchbuden, Pavillons
und Gewächshäuser, Schuppen und Weinlauben, Taubenschläge und
Kaninchenställe dicht beieinander. Die gärtnerische Nutzung war höchst
unterschiedlich ausgeprägt. Vom reinen Ziergarten bis zum regelrechten
Wirtschaftsgarten war alles zu finden. Dabei waren viele Parzellen
hoffnungslos „überpflanzt“. Obstbäume, Beerensträucher und Hecken,
Gemüsebeete und Erdbeerreihen, Kartoffelfurchen und Kräuterecken – bis
in den letzten Winkel wurde der Boden genutzt. Dazwischen musste noch
Platz gefunden werden für eine Sitzecke, für den Grill, für eine
Liegewiese und für Blumen, für Sandkasten, Schaukel, Planschbecken oder
Tischtennisplatte, für Komposthaufen und Regentonne. Zugleich war der
Garten eine ständige Baustelle. Immer war irgendwo etwas auszubessern
oder zu erneuern, zu verlängern, aufzustocken oder anzustreichen.
Selbst wenn die Arbeit ruhte, lag zumindest Material bereit, um es bei
Bedarf zur Hand zu haben. Der Kleingärtner konnte alles gebrauchen und
warf so schnell nichts weg. Deshalb herrschte auch im Schuppen
drangvolle Enge. Schubkarre, Rasenmäher, Sonnenschirm, Liegestühle,
Leitern, Kisten, Körbe, Kannen, Schläuche, Gartengeräte, Werkzeuge,
Draht, Schrauben, Nägel, Pinsel, Farben, Bretter, Dachpappe, Sämereien,
Dünger und tausend andere Dinge mussten auf wenigen Quadratmetern
untergebracht werden.
Gemessen an der Wohnung schuf der Garten das Gefühl von Weite. Doch
am Ende war auch er stets zu klein. Raum, Kraft und Zeit reichten nie
aus, um alle Wünsche in die Tat umzusetzen. So durchkreuzten
Nützlichkeitserwägungen ständig den Schönheitssinn, ganz Prosaisches
die Poesie. Chaos und Ordnung, Unkraut und Blütenpracht, Wildnis und
akkurate Beete gehörten immer zusammen. Im Unterschied zum Hausgarten
ließ sich hier kein Vorgarten anlegen, der dem Vorübergehenden die
Schmuckstücke wie in einer Vitrine präsentierte und die intimeren
Bereiche an die Rückfront verwies. Doch war auch der Kleingarten kein
homogener Raum. Er hatte seine innere Logik, war nach ungeschriebenen,
aber strengen Regeln geordnet. Was von den Gemeinschaftswegen aus
einzusehen war, wurde auf allgemein akzeptierte Weise gestaltet. Was
vor neugierigen Blicken verschont bleiben sollte, verschwand hinter
Hecken und Pergolen. Sosehr sich der Kleingärtner um ein abgeschirmtes
Refugium bemühte, wirklich verbergen ließ sich hier nichts. Auch er
selbst saß eigentlich immer auf dem Präsentierteller. Nur war die
Öffentlichkeit der Laubenkolonie eine andere als die des städtischen
Umfelds oder der Arbeitswelt. Sie folgte eigenen Normen und Sitten,
hatte sogar ihre spezielle Kleiderordnung. Eine ausgesprochene
Freizeitkleidung legten sich die wenigsten zu. Im allgemeinen hatte der
Gartenlook selbst am Wochenende nicht Feiertägliches, nichts
Ländliches, nichts Sportliches, war eben kein Sonntagsstaat, sondern
Arbeitskluft. Da wurde Abgelegtes und Bequemes getragen, weite Hosen,
Kittelschürzen, ausgetretene Schuhe. Wenn das Wetter danach war, ließ
man sich auch noch mit achtzig Jahren und Bauch im Badekostüm sehen.
Niemand hätte sich in seiner Gartenmontur im Stadtpark gezeigt oder
auch nur einen Schritt vor die Haustür gewagt. In den Anlagen dagegen
war solch ein Aufzug allgemein üblich. Die Laubenkolonie war kein
Laufsteg. Schönheitswettbewerbe wurden hier nicht ausgetragen. Selbst
an Frauen mit Lockenwicklern im Haar und unrasierten Männern nahm
niemand Anstoß. Die meisten standen die Woche über im Berufsleben und
hatten auf ein korrektes Äußeres zu achten. Da war jedem das Bedürfnis
verständlich, sich auch einmal gehen zu lassen.
Spielraum für eigenes Tun
Für viele war der Kleingarten die ideale Ergänzung zur Mietwohnung
und zum beruflichen Alltag. Was dort nicht ausgelebt werden konnte,
fand im Garten seinen Raum. In diesem Sinne war der Garten Ausgleich
und Gegengewicht zu den Einseitigkeiten der modernen Arbeitswelt und
des städtischen Umfelds. Er reproduzierte ein Stück vorindustrieller
Lebensweise, ohne die Menschen dauerhaft an deren Schranken zu binden.
Der Kleingarten war zwar kein privates Eigentum, aber doch ein
besonderer Rechtsraum, in dem man im Unterschied zu Wohnung und Betrieb
bleibende Spuren hinterlassen konnte. Er bot Handlungs- und
Entscheidungsspielräume, die sonst nirgendwo zu finden waren. Es machte
wohl den besonderen Reiz der Parzellen aus, dass Kleingärtner hier
relativ ungehindert schalten und walten konnten.
So vielfältig wie die Dimensionen des Kleingartens als Ort des
Wohnens, der Arbeit, der Freizeit, der Repräsentation, der Erholung,
Geselligkeit, Bildung, Erziehung, Ernährung, Gesundheit, von Spiel,
Sport und sonstigem Zeitvertreib waren, so breit gefächert boten sich
Möglichkeiten für eigenes Tun. Der Garten war eine Spielwiese für Jung
und Alt, für ewiges Wühlen und Ackern, für Basteln und Bauen.
Solcherart Freiheit hatte allerdings ihre Kehrseite: Wer sich
einmal für einen Kleingarten entschieden hatte, war fortan im Laufrad
der Gartenarbeit gefangen, konnte für andere Interessen und Tätigkeiten
kaum noch Zeit erübrigen. Vom zeitigen Frühjahr bis zum späten Herbst
beanspruchte der Garten nahezu jede freie Stunde. Da war zu graben und
zu hacken, zu säen und zu pflanzen, zu wässern und zu düngen, zu jäten
und zu mähen, zu ernten und einzukochen. Selbst wer nicht auf hohe
Erträge aus war, hatte mit Bäumen, Sträuchern, Hecken, Stauden, Blumen
und Rasen vollauf zu tun. Auch sie verlangten intensive Pflege, mussten
vor Schädlingen und Krankheiten bewahrt werden. Laube, Schuppen, Wege,
Zäune, Gerätschaften waren instand zu halten. Im Osten war in
Gartenanlagen auch die Kleintierhaltung erlaubt. Wer Kaninchen, Hühner
oder Tauben besaß, war noch enger an seine Parzelle gebunden. Das
Kleinvieh ließ einem niemals Ruhe. Täglich war für Futter zu sorgen,
die Ställe mussten sauber gehalten werden, man hatte sich um die
Gesundheit der Tiere zu kümmern, die Nachzucht zu organisieren und
vieles mehr. Im Unterschied zu anderen Hobbys konnten Kleingarten und
Tierhaltung nicht einfach beiseite geschoben werden, wenn andere Dinge
wichtiger wurden. Jede Unterbrechung und jedes Versäumnis rächten sich
und machten alle vorangegangene Mühe zunichte. Selbst eine Urlaubsreise
konnte da schon zum Problem werden.
Für Männer war der Garten zugleich eine Werkstatt unter freiem
Himmel. Da wurde getüftelt und entworfen, gemessen und gerechnet,
gesägt und gehämmert, gebohrt und geschraubt, was das Zeug hielt. Dem
Kleingärtner widerstrebte es, Dinge zu kaufen oder von Handwerkern
erledigen zu lassen, die er selber besorgen konnte. Oft machte auch
einfach die Not erfinderisch. Gartencenter und Baumärkte waren
unbekannt. Alles, was der Kleingärtner brauchte, gehörte zu den
Mangelwaren. Eigenbau, Improvisation und Nachbarschaftshilfe standen
darum hoch im Kurs. Die Kunst bestand vor allem darin, aus Resten,
Abfall und gebrauchtem Material mit wenigen, universellen Werkzeugen
Neues zu schaffen. Lauben, Folienzelte und Gewächshäuser, Ställe,
Schuppen und Gartenteiche entstanden auf diese Weise. Sogar
Hollywoodschaukel, Grill, Saftpresse und Rasenmäher sind selbst gebaut
worden.
Ein Wochenende im Kleingarten konnte körperlich anstrengender und
kräftezehrender sein als eine ganze Woche im Betrieb. Meist war das ein
gesuchter Ausgleich zur einseitigen Beanspruchung im Beruf, ein
Gegengewicht, wie es anderswo nicht zu finden war. Viele kannten aus
der Arbeitswelt das deprimierende Erlebnis sinnlos vertaner Zeit, das
sie zusätzlich veranlasste, im Garten ordentlich zuzupacken. Jedenfalls
legten Kleingärtner mitunter eine regelrechte Arbeitswut an den Tag und
dachten selbst in der Freizeit streng nützlichkeitsorientiert. Etwas
für die Gesundheit zu tun, war ihnen schon wichtig. Aber den Körper
durch ausgefeilte Übungen zu trainieren, erschien ihnen dann doch als
unsinniger Kräfteverschleiß. Ebenso wenig erstrebenswert war es für
manche, mit dem Dampfer über die Seen der Umgebung zu schippern,
Flaniermeilen entlang zu schlendern oder Ausflugslokale anzusteuern,
dabei die Sonne, die frische Luft und die schöne Natur zu genießen. Das
ganze Sehen und Gesehen Werden bedeutete für sie vergeudete Zeit. Die
meisten öffentlichen Freizeitangebote waren in ihren Augen zu
aufwendig, zu lärmend, zu langweilig oder zu teuer. Oft behagte ihnen
zudem das soziale und kulturelle Umfeld nicht, oder ihnen waren die
jeweiligen Spielregeln fremd.
Der Kleingarten war kein Lustgarten, kein Ort, wo Müßiggänger eine
Beschäftigung suchten, sondern das Feld von Menschen, für die strammes
Arbeiten eigentlich Gewohnheit und Ehrensache war. Viele von ihnen
mussten auch im Garten rastlos tätig sein, konnten nicht innehalten,
weil sie nie in ihrem Leben gelernt hatten, ausgiebige Mussestunden zu
genießen. Das sogenannte süße Nichtstun stellte für sie keinen Wert,
sondern eine unerträgliche Belastung dar. Wenn der äußere Zwang zur
Arbeit entfiel, trat sofort der innere an seine Stelle. Dann war
Eigenarbeit die beste Form der Erholung, die ein sichtbares Ergebnis,
Freude und Zufriedenheit, Bestätigung, seelisches Gleichgewicht und
Lebensgenuß brachte. Für jenen Menschenschlag wäre es die größte Strafe
gewesen, untätig sein zu müssen, nichts Sinnfälliges zuwege bringen zu
können. Dieser Kleingärtnertyp machte auch seine Pausen, aber nur, um
nach getaner Arbeit auszuruhen, das Geschaffene stolz zu betrachten,
die größte Hitze oder einen Regenguß abzuwarten und den nächsten
Schritt vorzubereiten.
Dabei vermengten sich unentwegt Arbeit und Zeitvertreib. Etwas
Sinnvolles zu tun, konnte durchaus bedeuten, sich etwas Zweckfreies
vorzunehmen und dabei der Phantasie freien Lauf zu lassen. Viele
Kleingärtner setzten ihren ganzen Ehrgeiz daran, den eigenen
Schönheitsvorstellungen Geltung zu verschaffen. In den Kleingärten
drückten sich immer auch die ästhetischen Maßstäbe ihrer Nutzer aus.
Die Gartengestaltung reichte von streng geometrischen bis zu
natürlichen, verspielten und halb verwilderten Formen. Indirekt und
unbewusst sind alle historischen Gartenstile nachgeahmt worden, meist
in einer bunten Mischung. Viel Mühe und große Sorgfalt wurden darauf
verwandt, schmückende Elemente anzufertigen und in das Gesamtbild
einzufügen, um selbst dem profansten Nutzgarten noch eine persönliche
Note zu geben. Dazu gehörten Versatzstücke und Zitate aus der
Geschichte der Gartenkunst ebenso wie umfunktionierte Gegenstände des
täglichen Lebens. Burgen und Grotten, Arkaden und Pavillons, Brunnen
und Becken, Windmühlen und Wasserräder wurden im Schrebergartenformat
nachgebaut. Ziergitter, Wetterfahnen und Reliefs, Geweihe, Muscheln und
Anker, Ampeln und Wagenräder, allerlei Geschmiedetes und Gedrechseltes,
bepflanzte Schubkarren, Autoreifen und Milchkübel, dem griechischen
Vorbild nachempfundene Krüge und Vasen, mit leeren Flaschen eingefasste
Blumenrabatten, Miniaturlandschaften mit Eisenbahnen, Tunneln und
Viadukten, Gartenskulpturen unterschiedlicher Art wie Rehe, Hasen,
Störche oder Fliegenpilze - im Kleingarten gab es nichts, was es nicht
gab. Selbst die Ikonen der Laubenkolonien, die vielgeschmähten,
zugleich heißbegehrten Gartenzwerge – massenindustrielle Kopien der
einst in Barockgärten aufgestellten Gnome und Erdmännchen aus Porzellan
– fehlten nicht, obwohl sie in der DDR eigentlich nur für den Export
hergestellt wurden.
Gartenkunst dieser Art hat die Kleingärtnerschaft immer entzweit.
Die einen hängten ihr Herz daran, wollten damit ein Zeichen setzen,
ihre Sehnsucht nach Idylle und Intimität, nach verspielter Heiterkeit
und kreativem Schaffen ausdrücken. Andere empfanden solche Dinge als
Kitsch, als unerträglichen Angriff auf den guten Geschmack. Obwohl mit
dem traditionellen Bildungsbürgertum auch dessen ästhetische
Urteilskraft als Maßstab aus der Öffentlichkeit verschwunden war,
wirkten bestimmte Werturteile offenbar fort. Eine dritte Fraktion
wiederum hatte genügend Distanz, den ganzen Zauber als Ulk anzusehen
und sich darüber zu amüsieren. Im Grunde waren die Kleingartenanlagen
ein Spiegelbild dessen, was sich sonst hinter ostdeutschen
Wohnungstüren auftat und die unterschiedlichen Bildungs- und
Kulturhorizonte offenbarte. Die Provokation bestand nur darin, dass
dies hier unter freiem Himmel, vor den Augen der Öffentlichkeit
geschah.
Ort der Familie
Der Kleingarten war der Ort der Familie. Die ostdeutsche Familie
hatte viele Gesichter, war überall da, wo Kinder mit Eltern, Müttern
oder Vätern lebten. Die verwandtschaftlichen und juristischen
Konstellationen konnten dabei höchst unterschiedlich sein. Für alle
Formen galt aber gleichermaßen, dass sie durch die Berufstätigkeit der
Frauen und die außerhäusliche Betreuung der Kinder mehr oder weniger
Wochenendfamilien waren. Werktags wurden die wache Zeit vor allem in
Betrieben, Schulen und Kindereinrichtungen zugebracht. Das sogenannte
Familienleben beschränkte sich auf die Morgen- und Abendstunden, im
Wesentlichen auf gemeinsame Mahlzeiten, häusliche Pflichten, Fernsehen
und das Schlafen unter einem Dach. Um so kostbarer waren dann der
Urlaub, die Wochenenden und Feiertage. Sie gehörten oft ausschließlich
der Familie. Im Urlaub versuchten auch Kleingärtner, einen Ferienplatz
im Betriebs- oder Gewerkschaftsheim zu erhalten, schon der Kinder wegen
und weil der Aufenthalt dort billiger war als das Daheimbleiben im
Garten. Für zwei Wochen fand sich immer ein Nachbar, der auf der
Parzelle nach dem Rechten sah und sich um das Gießen kümmerte. Für die
übrigen freien Tage war der Kleingarten ein idealer Ort – leicht
erreichbar, rund um die Uhr geöffnet, ohne Anfangszeiten und
Eintrittspreise, ohne Verzehrzwang und ohne Etikette, ruhig,
kinderfreundlich, altersgerecht, auch auf Menschen mit Handicaps
eingerichtet. Hier war man unter sich, an der frischen Luft und im
Grünen, nicht in der Wohnung, aber dennoch zu Hause. Hunger, Durst,
Müdigkeit – für alles war gesorgt.
Schon das gemeinsame Essen hatte etwas Nicht-Alltägliches. Die
Tischsitten waren zwar so locker wie das Gartenleben insgesamt. Es
wurde auch nicht groß getafelt. Aber allein die andere Umgebung und die
Tatsache, dass die ganze Familie beisammen saß, gaben den Mahlzeiten am
Wochenende etwas Besonderes. Es war ein Genuß, unter freiem Himmel zu
sitzen, ohne ängstlichen Blick auf die Uhr zulangen zu können, ohne
Anstehen und Thermophorgeklapper, ohne Sprelacartplatten und klebrige
Wachstuchdecken, ohne Plastikgeschirr und Aluminiumbesteck, ohne die
Mischung von Spülmitteln, Desinfektionsbrühe, gerösteten Zwiebeln und
dem schwülen Dunst der Abfallkübel in der Nase zu haben. Niemand hätte
wochentags auf die Gemeinschaftsverpflegung mit ihrem wohl
unvermeidlichen Ambiente verzichten können. Sie sicherte eine warme
Mahlzeit, war preiswert und auch mehr oder weniger bekömmlich. Eine
Schule der Sinne war sie aber gewiß nicht. Milchreis, Brühnudeln,
Kartoffelsuppe, Fischstäbchen, saure Eier, Jägerschnitzel und
dergleichen haben aus den Ostdeutschen keine Gourmets gemacht.
Verglichen damit bot die Gartenküche ganz andere kulinarische Genüsse.
In aller Regel kam auch hier schlichte Hausmannskost auf den Tisch,
aber eben frisch zubereitet, meist mit Gemüse und Obst aus dem eigenen
Garten: Pellkartoffeln mit Dillsauce, Kräuterquark, knackige grüne
Bohnen, Pflaumenknödel, Kirschpfanne – jeder hatte da sein Leibgericht.
Im Osten hat sich trotz oder gerade wegen des Einerleis in Kantinen und
Gaststätten und der begrenzten Auswahl an käuflichen Zutaten viel vom
regionalen Erbe des Geschmacks und der Küchengeheimnisse gehalten. Es
ist in den Familien gehütet und von Generation zu Generation
weitergegeben worden.
Die Generationen lagen im Osten ohnehin zeitlich relativ dicht
beieinander. Frauen bekamen meist in vergleichsweise jungen Jahren ihre
Kinder, die wiederum auch rasch flügge wurden, so dass die
verschiedenen Elterngenerationen eine relativ lange gemeinsame
Lebenszeit miteinander hatten. In den Mietwohnungen blieb jede dieser
Generationen für sich, in den Gartenkolonien lebten indirekt größere
Familienverbände wieder auf. Hier half man einander, wenn Not am Mann
war, hier wurde verteilt, was geerntet, aber nicht selbst verbraucht
werden konnte. Hier feierte man Geburtstage und andere Familienfeste,
bei denen sich oft die ganze Sippe traf. Die zwanglose Gartenatmosphäre
machte es leichter, sich selbst in schwierigen Situationen und bei
vertrackten Familienverhältnissen an einen Tisch zu setzen. Die Familie
als persönlich verbundene Gemeinschaft wurde bei jeder dieser
Begegnungen neu konstituiert. Das half, besondere Formen des
Zusammenhalts und der gegenseitigen Unterstützung am Leben zu erhalten,
die im gewöhnlichen Alltag zu verlanden drohten. So konnten etwa
Großeltern in der DDR normalerweise keinen allzu häufigen Kontakt zu
ihren Enkeln pflegen, weil sie selbst noch berufstätig waren und
infolge der staatlichen Wohnungszuweisung oft nicht in unmittelbarer
Nachbarschaft lebten. Die Gelegenheiten zu unbefangenem, herzlichem
Beisammensein und Austausch beschränkten sich meist auf Feiertage, das
Wochenende und den Urlaub. In der warmen Jahreszeit verabredete man
sich oft im Kleingarten, weil die Älteren ohnehin dort waren und die
Jüngsten da mehr Bewegungsfreiheit hatten als in der Wohnung. Die
Gartenkolonien konnten auch deshalb zum Treffpunkt der Generationen
werden, weil es hier mitunter regelrechte Familiendynastien gab.
Mehrere Gärten einer Anlage waren seit Jahrzehnten fest in der Hand
einzelner Clans. Kleingärten konnten im Unterschied zu Mietwohnungen
quasi vererbt werden. Enkel halfen den Großeltern bei der Gartenarbeit,
wenn deren Kräfte in hohem Alter nachließen, bis sie am Ende die
Parzelle als neue Pächter übernahmen.
Generell waren Kleingartenanlagen immer eine Heimstatt der Alten.
Sie waren diejenigen, die in der Kolonie das Sagen hatten, nicht nur,
weil sie im Unterschied zu den Berufstätigen täglich anwesend sein
konnten, sondern auch, weil sie meist die wichtigen Posten im Vorstand
besetzten. Viele Kleingärtner sahen schon in jüngeren Jahren in der
Parzelle ihren künftigen Alterssitz und arbeiteten bewusst darauf hin,
alles entsprechend vorzubereiten. Im Garten fanden sie, was mit dem
Abschied von der Arbeitswelt verloren ging: Gelegenheit zu sinnvollem
Tun, Eigenverantwortung und selbstbestimmtes Handeln, soziale Kontakte
und Integration in eine Gemeinschaft, Schaffensfreude, Anerkennung
durch andere und persönliche Bestätigung. Besonders wichtig wurde das
für Alleinstehende, für Verwitwete und Geschiedene. Im Garten wurde
zwar jede Hand gebraucht, aber man konnte auch als einzelner bestehen,
sich nach dem Verlust des Partners in eine vertraute Lebenswelt
zurückziehen, ohne zu vereinsamen. Als idealer Lebensplatz für die
Jahre nach der Berufs- und Familienphase ermöglichte der Garten ein
aktives, zufriedenes Älter- und Altwerden. Hier konnten dem Ruhestand
trotz sinkenden Einkommens und schwindender Vitalität auch positive
Seiten abgewonnen werden. Erst jetzt fand der Kleingärtner die Zeit,
den Garten wie seinen guten Ruf zu pflegen und zu einem Ebenbild des
eigenen Ich zu machen. Und er begann, den Garten als Jungbrunnen zu
schätzen, in ihm den besten Arzt zu sehen. Dennoch waren die
Gartenanlagen im Osten keine Altersheime. Bei der Vergabe von
freiwerdenden Parzellen wurden stets junge Familien mit Kindern
bevorzugt. Dadurch blieb eine relativ ausgewogene Altersstruktur
erhalten.
So sehr der Garten die Familien vereinte, knüpfte doch jedes Alter
und Geschlecht ganz unterschiedliche Erwartungen daran. Einerseits
wurde nirgendwo Freizeit so sehr mit Freiheit assoziiert wie hier. Der
Kleingarten war private Freifläche für das ungehinderte Spiel der
Kinder und für kompensatorische Betätigungen der Erwachsenen, frei von
Lärm, Gestank und Verkehr, frei von den kontrollierenden Blicken der
Öffentlichkeit. Andererseits konnten Spaß und Erholung schnell in
lästige Pflichten umschlagen.
Für kleinere Kinder war der Garten ein Abenteuer. Wasser, Erde,
Holz, Steine, Bindfaden boten unerschöpfliche Möglichkeiten. Die beste
Spielzeugkiste war der Schuppen. Hier lernten schon die Jüngsten, mit
richtigem Werkzeug umzugehen. Auch Pflanzen und Tiere weckten ihr
Interesse. Regenwürmer, Schnecken, Insekten, Vögel und Igel konnten für
sie aufregender sein als der wildeste Löwe im Zoo. Viele waren mit
Feuereifer dabei, wenn sie selbst ein eigenes kleines Beet anlegen
durften. In punkto Kreativität und Umwelterziehung war der Kleingarten
im besten Sinne des Wortes ein idealer Kindergarten. Insgesamt kam der
wenig geregelte, nicht so sehr auf Disziplin, Ordnung und Sauberkeit
ausgerichtete Tagesablauf Kindern sehr entgegen. Abends lange am Grill
sitzen, Katzenwäsche, Übernachten auf der Campingliege oder
gelegentlich sogar mit Schlafsack und Taschenlampe im Zelt – all das
atmete Lagerfeuerromantik und war ganz nach ihrem Geschmack. Größere
Kinder dagegen konnten sich im Garten schnell langweilen. Sie vermißten
ihre Freunde, wären vielleicht lieber zum Fußball oder zum Schwimmen
gegangen. Wenn sie dann noch zur Gartenarbeit angehalten wurden, konnte
ihnen der Aufenthalt gründlich verleidet werden. Von einem gewissen
Alter an kamen sie ohnehin nicht mehr mit, genossen lieber die
Freiheit, am Wochenende die Wohnung für sich zu haben oder sonst ihrer
Wege zu gehen.
Für Frauen war die Situation eine besondere. Vielen Ostfrauen mit
Familie lag nicht unbedingt daran, am Wochenende ausgeführt zu werden
und unter Leute zu kommen. Zum einen hatten sie kaum Zeit dafür, weil
an Hausarbeit zu erledigen war, was die Woche über liegen blieb. Zum
anderen stand ihnen oft auch nicht der Sinn danach, denn soziale
Kontakte und öffentliche Aufmerksamkeit hatten sie werktags genug. Sie
suchten eher jene familiäre Häuslichkeit, die sonst immer zu kurz kam.
Dafür schlüpften sie bereitwillig oder auch notgedrungen für zwei Tage
in die klassische Hausfrauen- und Mutterrolle, auch in die der
Kleingärtnerin. Sie konnten sich durchaus mit Leidenschaft in die
Gartenarbeit stürzen oder ans Einwecken machen. Wenn sie dann
allerdings nach einem Tag Hacken und Gießen, Jäten und Ernten,
Gemüseputzen und Kirschen Entsteinen noch die halbe Nacht in der Laube
am Herd standen, um Konfitüre, Ketchup oder Saft zu kochen, weil nichts
von den Früchten des Gartens umkommen durfte, hörte der Spaß selbst für
die passionierteste Kleingärtnerin auf. Der Mann hatte derweil
möglicherweise längst die Flucht ergriffen, half irgendwo aus oder saß
im Vereinsheim beim Bier. Die Kinder schliefen oder waren nur mühsam
mit dem Fernsehprogramm in Schach zu halten. Was als heiteres,
beschauliches Wochenendidyll gedacht war, konnte leicht aus den Fugen
geraten. Die ungewohnte Nähe aller Familienmitglieder und die
unterschiedlichen Vorstellungen vom Gartenleben führten unversehens zu
Reibereien. In solchen Situationen erschien Frauen das schönste
Gartenparadies plötzlich nur noch als etwas, was sie neben all den
anderen Pflichten zusätzlich am Halse hatten. Dann sehnten sie sich
nach den geregelten Verhältnissen am Arbeitsplatz oder danach, ganz
allein inmitten ihrer Rosen zu sitzen.
Denn der Kleingarten war nicht nur Mittelpunkt des Familienlebens,
sondern zugleich ein legitimer Ort, sich von den Seinen auch einmal
zurückzuziehen, ohne gleich alle Brücken abzureißen. Zwar war es meist
Männern vorbehalten, das Feld zu räumen, wenn sich zu Hause
Gewitterwolken zusammenbrauten. Frauen hatten diesen Wunsch auch,
blieben aber durch viele Aufgaben eher an die Wohnung gebunden.
Profitiert haben dennoch alle. Der Garten war dann Blitzableiter und
Seelentröster. Umgraben oder Holzhacken bis zum Umfallen, ein Wort und
ein Bier mit dem Nachbarn, und mancher Ärger war verflogen. Selbst in
weniger brisanten Situationen war der Kleingarten ein verläßlicher
Helfer. In Wohnungen ohne eigenen Raum für jedes Familienmitglied, ohne
Arbeits- und Gästezimmer, ohne Kammern und sonstiges Nebengelass konnte
sich praktisch niemand aus dem Wege gehen, nirgendwo für sich sein. Wer
ungestört seinen Gedanken nachhängen wollte, allein sein mit einer
dringenden Arbeit, einem Kummer, einer Passion oder einer heimlichen
Liebe, der blieb nur im Garten unbehelligt. Eltern flohen hierher vor
dem Partylärm ihrer Sprößlinge, Schichtarbeiter vor den unvermeidlichen
Tagesgeräuschen in Mietshäusern mit etlichen Wohnparteien. Mitunter war
die Laube auch Gästewohnung oder Ausweichquartier für die halbe
Familie, wenn daheim Besucher die Betten belegten.
Mit Ausnahme der Jüngsten besaß meist jeder in der Familie einen
eigenen Gartenschlüssel, konnte also auch solo oder mit Freunden dort
aufkreuzen. Einerseits gab es in den Laubenkolonien eine gewisse
soziale Kontrolle. Es wurde schon registriert, wer da wann mit wem
auftauchte. Andererseits war es völlig in Ordnung, Fremde mitzubringen.
Ob allerdings in den Gartenanlagen wirklich das Leben tobte, ob hier
die eigentlichen Liebesnester des Ostens versteckt waren, wie mitunter
behauptet wird, ist glücklicherweise im Verborgenen geblieben. Dennoch
wußten alle: Wenn man weder zur ihm, noch zu ihr gehen konnte, dann
blieb oft nur der Garten übrig. Im Schutze der Laube machten
Heranwachsende ihre ersten sexuellen Erfahrungen, und auch ältere
Semester führten ihre neuen Eroberungen mitunter hierher. Besonders in
der kalten Jahreszeit, wenn die Laubenkolonien wie ausgestorben
dalagen, waren sie begehrte, verschwiegene Orte. Viele Ostdeutsche
erinnern sich an Sternstunden der Liebe in eisigen Bungalows und
klammen Betten, was der Leidenschaft offenbar keinen Abbruch tat. Der
Kleingarten war sicher der Hort der Familie. Doch die Familie selbst
befand sich fortwährend im Wandel, war an ihren Rändern offen, mit
Schlupflöchern und Übergängen zu anderen Formen des Zusammenlebens.
Selbstversorgung und Nebenerwerb
Seit Mitte der fünfziger Jahre brauchte man den Kleingarten nicht
mehr, um die Familie satt zu bekommen. Von diesem Zeitpunkt an war die
ostdeutsche Bevölkerung im Allgemeinen wohlgenährt, zum Teil sogar
bedenklich übergewichtig. Nach Meinung aller Fachleute wurde insgesamt
zu viel, zu fett und zu süß gegessen – ein Trend, der bis zum Ende der
DDR anhielt. Dennoch blieb der Garten wichtig für die Ernährung. Es war
für die meisten Kleingärtner selbstverständlich, Obst und Gemüse
anzubauen. Ausschlaggebend dafür waren nicht etwa horrende Preise oder
schlechte Qualität der vom Handel angebotenen Naturprodukte. Auch der
bessere Geschmack des Selbstgezogenen spielte kaum eine Rolle. Fades
Obst und Gemüse aus dem industriellen Treibhausanbau – jenes
„schnittfeste Wasser“, das den Westen überschwemmte – war im Osten
gänzlich unbekannt. Entscheidend war vielmehr, dass es immer zu wenig
Obst und Gemüse zu kaufen gab. Auf Konserven konnte man noch am ehesten
zurückgreifen. Auch Tiefkühlerzeugnisse waren im Angebot, darunter
geradezu legendäre DDR-Erfindungen wie etwa der eingefrorene Gurken-
und Tomatensalat, der sich nach dem Auftauen nur noch aus der Tasse
trinken ließ. Frisches dagegen war selbst in der Saison Mangelware,
nicht einmal in Delikatgeschäften oder im Intershop erhältlich. Das
betraf nicht nur die immer knappen Importe wie ungarische
Paprikaschoten, polnische Champignons, bulgarische Weintrauben und
kubanische Mandarinen, sondern auch einheimisches Obst und Gemüse.
Erdbeeren, Kirschen oder Knoblauch zu ergattern, gehörte schon zu den
Glücksfällen. Wer Sonderwünsche hatte, außer den zwei
Standard-Apfelsorten einen anderen Geschmack suchte oder das ewige
Einerlei von Kraut und Rüben satt hatte, konnte sich nur auf
Eigenarbeit und ein gewisses Maß an Selbstversorgung verlassen.
Über die gärtnerischen Fähigkeiten und Erträge ostdeutscher
Kleingärtner waren viele Legenden in Umlauf, die selbst in die amtliche
Statistik der DDR Eingang fanden. Tatsächlich dürfte sich alles aber im
üblichen Rahmen bewegt haben. Die meisten Kleingärtner waren blutige
Laien und hatten als Berufstätige auch gar nicht die Zeit, sich
intensiv dem Gartenbau zu widmen. Viele Laubenkolonien lagen so weit
entfernt von der Wohnung, dass es unmöglich war, mehrmals in der Woche
oder gar täglich zum Gießen zu kommen. Auch mit dem Sachverstand der
Hobbygärtner war es oft nicht weit her. Abgesehen von einigen
Spezialisten, die aus dem Metier kamen, und den alten Hasen, die schon
über Jahrzehnte hatten Erfahrungen sammeln können, hatten die meisten
nicht viel Ahnung. Der Kleingärtner hatte vielleicht einmal Elementares
im Schulgartenunterricht gelernt und manches den Eltern oder Nachbarn
abgeschaut. Er mochte sich auch bemühen, in Gartenzeitungen und
Ratgeberbüchern nachzulesen, entsprechende Rundfunk- und
Fernsehsendungen zu verfolgen oder gar spezielle Vorträge und
Fachberatungen zu besuchen – im allgemeinen blieb es aber bei
lückenhaften Kenntnissen.
Um so mehr wurde mit Hingabe und Liebe gearbeitet. Der Kleingärtner
hatte ein ganz anderes Verhältnis zur Natur als der Erwerbsgärtner oder
der Landwirt. Er verwandte viel Mühe darauf, jedes einzelne Pflänzchen
aufzupäppeln, freute sich auch über kleine Erfolge. Um so größer war
der Stolz, wenn wirklich einmal etwas gut gedieh. So war es dann jedes
mal eine stille Freude und Genugtuung, wenn er die erste Gurke oder
Tomate abnehmen konnte. Die Erinnerung an ihren Duft und Geschmack
hatte den Kleingärtner schon beim Säen und Pflanzen beflügelt. Da war
dann keine Mühe zu groß, Setzlinge vor Frost, Schädlingen und
Krankheiten zu schützen, sie zu wässern und mit Nährstoffen zu
versorgen, ihnen jede nur mögliche Pflege angedeihen zu lassen. Was so
mit dem eigenen Schweiß gedüngt war, schmeckte dann um so besser. Das
ließ auch Fehlschläge rasch vergessen. Wenn in einer einzigen kalten
Nacht alle Pfirsichblüten erfroren, die schönsten Erdbeeren von
Schnecken gefressen wurden, ein heißer Sonnentag die knackigen
Salatköpfe in die Höhe schießen ließ, Radieschen am Ende wurmstichig
und Kohlrabiknollen holzig wurden oder Braunfäule die Tomatenpflanzen
dahinraffte – der Kleingärtner trug es mit Fassung. In seinen Augen war
das höhere Gewalt, gegen die kein Kraut gewachsen war. Er versuchte, zu
retten, was zu retten war, verbrauchte, was noch halbwegs genießbar
schien. Der Rest wurde verfüttert, landete auf dem Kompost oder wurde
vernichtet, um Krankheiten nicht ins nächste Jahr zu schleppen.
Über die Rentabilität seines Tuns dachte der Kleingärtner in der
Regel nicht nach. Betriebswirtschaftliches Kalkulieren war ihm fremd.
Hätte er all die aufgewandte Zeit und Kraft veranschlagt, dazu die
Auslagen für Samen und Pflanzen, Gartengeräte, Dünger,
Pflanzenschutzmittel, Wasser und Strom, für Pacht, Beiträge und
Versicherungen, am Ende auch noch die unvermeidlichen Einbußen und
Verluste gegengerechnet, hätte sich das vermeintlich billige Obst und
Gemüse als überaus teurer Spaß herausgestellt. Aber was zählte, war
nicht der Marktwert, sondern die Freude am Selbstgezogenen, die
Genugtuung, etwas zu haben, was man nicht kaufen konnte, auch das
Bewusstsein, etwas für die Gesundheit zu tun und dabei unabhängig von
mehr oder weniger leeren Gemüsegeschäften zu sein. All das war nicht in
Geld aufzuwiegen.
Inwiefern der Kleingarten Grundlage eines Nebenerwerbs war, lässt
sich schwer sagen. Der Handel kaufte zwar alle Gartenprodukte auf,
selbst kleinste Mengen und zu Preisen, die oft über den Ladenpreisen
lagen. Bei reichem Erntesegen, in Zeiten einer Obstschwemme oder bei
unverhofft hohen Gemüseerträgen konnte das hilfreich sein. Große Mengen
konnte der Kleingärtner meist nicht schnell genug selbst verarbeiten,
und kein Mensch wollte in der Saison tagaus, tagein grüne Bohnen oder
Spinat essen. Bei vielen war es aber verpönt, Überschüssiges aus dem
Garten zu Geld zu machen. Manch einer genierte sich, unter den Augen
der Nachbarn einen Korb Stachelbeeren oder ein Bund Mohrrüben in die
Kaufhalle zu tragen. Der organisierte Aufkauf in der Sparte hatte da
schon eher Erfolg. Insgesamt wurden Gartenprodukte aber vor allem
getauscht oder verschenkt – in Erwartung einer künftigen Gegenleistung.
Sogar für Rentner war es weitaus lukrativer, stunden- oder tageweise im
alten Betrieb auszuhelfen, wo sie als Arbeitskräfte immer gefragt
waren, als das Ruhegehalt durch kleine Beträge aus dem Verkauf von
Blumen, Obst oder Gemüse aufzubessern. Das Geschäftsinteresse der
Kleingärtner hielt sich auch deshalb in Grenzen, weil selbst beim
Direktverkauf auf Märkten oder an der Straßenecke die Preise eine
staatlich vorgegebene Höhe nicht überschreiten durften. Bei
Kleintierhaltern sah die Sache anders aus. Sie produzierten meist von
vornherein nicht ausschließlich für die eigene Familie. Viele konnten
mit Kaninchenfleisch, Eiern oder Honig gutes Geld verdienen.
Vereinsleben
Jeder Kleingartenpächter gehörte dem Verband der Kleingärtner,
Siedler und Kleintierzüchter (VKSK) an. Das war eine gesellschaftliche
Organisation mit über 1,5 Millionen Mitgliedern, die neben
Kleingärtnern auch Siedler, Wochenendsiedler, Kleintierzüchter und
–halter sowie Imker in sich vereinigte. In den VKSK trat man aus rein
pragmatischen Gründen ein. Es gab keine andere Möglichkeit, zu einem
Kleingarten zu kommen. Ohne eine solche Mitgliedschaft kam kein
Pachtvertrag zustande. Dass dem Verband politische und wirtschaftliche
Ziele aufgegeben waren, spielte dabei kaum eine Rolle. Die wenigsten
Kleingärtner kannten das Statut oder nahmen Notiz von den
Verlautbarungen der Zentrale.
Dem Verband schloß man sich jedenfalls nicht an wegen seiner
überzeugenden Ziele oder weil man eine soziale Bindung suchte. Der
erwachsene DDR-Bürger war meist Mitglied in mehreren Vereinigungen, in
der Regel, ohne sich groß um deren Organisationsleben zu kümmern. Der
VKSK machte da keine Ausnahme, zumal es sich hierbei nicht gerade um
eine prestigeträchtige Einrichtung handelte, wo die Mitarbeit
berufliches oder soziales Fortkommen versprochen hätte. Landläufig war
vom VKSK halb abschätzig, halb liebevoll vom Schrebergarten- bzw.
Laubenpieperverein die Rede. Und der durchschnittliche Kleingärtner
erlebte seine Sparte – so hieß die Pächtergemeinschaft einer Anlage im
Osten - ja tatsächlich als Quasi-Verein, kaum als Teil einer
Großorganisation. Sie war ein die Generationen übergreifender Verbund
von Menschen mit gleichen Freizeitinteressen, geprägt von eigenen
Regeln des Zusammenlebens, von Gemeinsinn und sozialer Verantwortung.
Die Sparte hatte zwar keine eigene Satzung, wählte aber einen Vorstand,
traf sich zu Versammlungen, Arbeitseinsätzen und geselligem
Beisammensein. Die Anteilnahme war höchst unterschiedlich ausgeprägt.
Bei manchen erschöpfte sich die Mitgliedschaft im bloßen Entrichten der
Beiträge und Pachtzahlungen. Andere absolvierten die angesetzten
Veranstaltungen nach dem Prinzip der Anwesenheit. Schließlich gab es
überall einen harten Kern von engagierten Gartenfreunden, denen der
Zusammenhalt in der Anlage am Herzen lag und die aus zentralen Vorgaben
das beste zu machen versuchten. Dazu gehörten auch jene braven
Parteisoldaten, die hierzu den Auftrag ihrer Genossen erhalten hatten
oder aus eigenem Interesse privates Hobby, ehrenamtliche Verbandsarbeit
und Parteifunktion miteinander verbanden. Gewiß gab es darunter
Wichtigtuer und Radikalinskis, Möchtegern-Fürsten und Bürokraten, die
jede Weisung von oben buchstabengetreu umzusetzen versuchten. Im
allgemeinen bestimmten aber die Ehrenamtlichen vor Ort im Einvernehmen
mit den Mitgliedern, wo es lang ging.
Als Gemeinwesen lebte die Sparte von und in ihren Projekten.
Vorhaben wie der Bau eines Kulturhauses oder eines Kinderspielplatzes,
das Verlegen einer Wasserleitung oder der Anschluss an die
Stromversorgung – Dinge, die meist wirkliche Knochenarbeit bedeuteten
und durch Eigenleistungen der Mitglieder erledigt wurden, brachten die
Leute näher und stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl. Im Unterschied
zu den „Subbotniks“ in Betrieben und Wohngebieten handelte es sich
hierbei nicht um aufgenötigte Freizeitarbeit. Viele waren mit vollem
Einsatz dabei, weil sie selbst darüber abgestimmt hatten und einen
persönlichen Nutzen darin sahen. Auch wenn Gefahr von außen drohte, die
Anlage geräumt werden sollte oder unbillige Forderungen gestellt
wurden, rückte man zusammen und war sich schnell einig. Ansonsten waren
die Beziehungen eher locker. Mit den Nachbarn suchte man ein gutes
Auskommen, den Vorstand ließ man nicht ohne Not im Regen stehen, es
lebten alte Freundschaften und alte Feindschaften wie in einem Dorf.
Das Gartenjahr hatte seinen eigenen Festkalender, der dem Rhythmus
der Vegetation folgte und die Gewohnheiten des Alltags unterbrach.
Kleingärtner waren schon immer ein geselliges Völkchen und noch nie
Kinder von Traurigkeit gewesen. Traditionell stand alle paar Wochen
irgendein Fest auf dem Programm, bei dem es meist hoch herging:
Frühlings-, Sommer-, Ernte- und Kinderfeste, Faschingsbälle und
Pfingstkonzerte, „Italienische Nächte“, Rentner- und
Kinderweihnachtsfeiern, Sylvesterschwof, zwischendurch Preisskat,
Frühschoppen und andere volkstümliche Vergnügungen. All diese
Traditionen lebten in ostdeutschen Laubenkolonien fort. Manches davon
wurde in den fünfziger und sechziger Jahren von der neuen Obrigkeit als
unzeitgemäß angesehen und eingeschränkt. Besonders der hohe
Alkoholkonsum war ein Stein des Anstoßes, auch die Tatsache, dass bei
solchen Gelegenheiten derbe Späße die Runde machten, altdeutsche Weisen
erklangen oder Schnulzen aus dem Westen, im schlimmsten Fall sogar
Rock- und Beatmusik. Unbefangenheit, Übermut, Rabatz und Rausch, die
einfach zu jedem dieser Spektakel dazugehörten, galten plötzlich als
schlimme Auswüchse. So ist den Leuten in bester aufklärerischer Absicht
manch herkömmlicher Jokus ausgetrieben worden.
Als endlich Friedhofsruhe eingezogen war, der Festkalender auf ein
Sommerfest mit Kinderbelustigungen und eine Rentnerweihnachtsfeier
zusammengeschrumpft war, ansonsten der Kleingärtner lieber bei Bier und
Rostbrätel auf seiner Parzelle sitzen blieb, als sich im Vereinshaus
den neuen Sitten zu fügen, war es auch wieder nicht recht. Der Versuch
der Verbandsspitze, in den achtziger Jahren die alte Festkultur neu zu
beleben, scheiterte allerdings. Viele Traditionen waren endgültig
verloren gegangen. Inzwischen hatten die Leute andere Gelegenheiten und
Formen des Feierns entdeckt. Lebensstil und Zeitrhythmus hatten sich
von Grund auf gewandelt. Die Einbindung in überkommene Gemeinschaften
hatte generell nachgelassen. Und auch die ostdeutsche
Kleingärtnerschaft war nicht mehr dieselbe wie vordem. In den 80er
Jahren waren jene Bildungs- und Einkommensschichten, die traditionell
im Kleingartenmilieu verwurzelt waren, längst nicht mehr unter sich.
Gegen Ende der DDR hatte jeder vierte Kleingärtner ein Hochschulstudium
abgeschlossen, jeder fünfte eine Fachschulausbildung. Berufliche und
soziale Aufsteiger unterlagen im Osten nicht dem Zwang, in Sprache,
Denkart, Normen und Verhalten ihre Herkunft zu verleugnen. Das erklärt,
weshalb sich auch höhere Chargen in den Laubenkolonien wohl fühlten.
Dennoch gingen die Vorstellungen vom fröhlichen Vereinsleben zunehmend
auseinander. Die Festkultur der Ostdeutschen blieb immer den Mustern
der Unterschichten nahe. Gleichwohl wurde es schwieriger, alle
Interessen unter einen Hut zu bringen. Spartenfeste bekamen allmählich
den Charakter von Hausfesten. Viele gingen nur hin, um sich nicht
auszuschließen, um keine Gräben aufzureißen gegenüber den Nachbarn, mit
denen man unter einem Dach oder in einer Anlage zusammenlebte. Ob man
mit Spaß bei der Sache war und auf seine Kosten kam, wurde demgegenüber
nebensächlich.
Kleingartensparten waren seit den siebziger Jahren keine
geschlossenen Gesellschaften mehr, sondern offen für jedermann. Seitdem
die Tore der Anlagen nicht mehr zugesperrt wurden, viele Kolonien sogar
als Naherholungsgebiete für die Allgemeinheit staatlich anerkannt
waren, änderte sich ihr Platz im Kulturleben der Städte und Gemeinden.
Zu Tanzvergnügen und Ausstellungen kamen mitunter mehr Besucher aus den
umliegenden Wohngebieten als aus den Anlagen selbst. Kinderfeste wurden
Attraktionen auch für die Jüngsten aus der Nachbarschaft. Das Sparten-
bzw. Kulturhaus war zudem oft eine Oase in der gastronomischen Wüste
vieler Wohnviertel, jedenfalls der einzige Bier- und Kaffeegarten weit
und breit. Kleingartenanlagen ohne Vereinsheim hatten zumindest einen
sogenannten Getränkestützpunkt - abends und am Wochenende eine der
wenigen Möglichkeiten, für Nachschub zu sorgen, wenn die heimischen
Vorräte zur Neige gingen. Das Vereinshaus stand für Familienfeiern,
Brigade- und Hausfeste zu Verfügung. Polterabende, runde Geburtstage,
Jugendweihen und Silberhochzeiten sind hier gefeiert worden.
Insel der Träume
So handfest und irdisch der Kleingarten auch war, blieb er doch
immer zugleich ein imaginärer Ort, eine Insel der Wünsche, Träume,
Mythen und Erinnerungen, ein Ort, der einen Zauber selbst in sonst ganz
einfache Verhältnisse brachte. So oft der Kleingärtner seine Scholle
auch verfluchen mochte wegen der endlosen Plackerei und des
unentrinnbaren Eingebundenseins - sie zog ihn immer wieder magisch an.
Offenbar hatte der Garten auch eine gleichsam metaphysische Dimension.
Was ist nicht alles auf jene dreihundert Quadratmeter Pachtland
projiziert worden? Die Sehnsucht nach Naturnähe, nach Ruhe und
Beschaulichkeit, nach Rückzug vom öffentlichen Geschrei, von Hektik und
Betriebsamkeit in einen geschützten und schützenden Raum, der Wunsch
nach familiärer Harmonie, der Traum von einem erfüllten Lebensabend: In
der Morgensonne frühstücken, die Stille genießen, dem Gesang der Vögel
lauschen, Blumen an ihrem Duft, Früchte an ihrem Geschmack erkennen,
ausruhen im Schatten eines Baumes, den Regen aufs Dach trommeln hören,
zuschauen, wie sich die Blüten im Dämmerlicht schließen, den
Sternenhimmel betrachten, im Wechsel der Jahreszeiten, im
immerwährenden Werden und Vergehen Momente Ewigkeit spüren und dabei
seinen Seelenfrieden finden.
Der Kleingarten blieb unveränderlich an Ort und Stelle liegen,
überlebte jeden Wandel, mochten die Zeitläufe noch so dahinjagen und
dem eigenen Leben widerfahren, was da wollte. Der Garten war einer der
wenigen Orte, an dem die Zeit stille zu stehen schien – ein tröstlicher
Gedanke, wenn man selbst sichtbar älter wurde. Der Garten begleitete
einen über Jahrzehnte, war darum emotional auch viel stärker besetzt
als etwa die Wohnung, die unterdessen oft mehrmals gewechselt wurde.
Als Sinnbild des Dauerhaften, Überschaubaren, Verläßlichen stand er für
ein Stück Heimat, nach der man sich sehnte aus der Ferne, auch wenn
sich dieses Zuhause bei näherem Hinschauen als recht prosaisches und
begrenztes Gehege erwies. Nicht umsonst wurden die Kleingärten oft die
kleinen Paradiese oder die Paradiese der kleinen Leute genannt.
Vielleicht brauchte der Kleingärtner tatsächlich nicht die Aura ferner
Stätten oder historischer Bilder. Er sah sein abgeschlossenes Fleckchen
Erde als Garten Eden, als Ort, der Glück und Frieden, Ruhe und
Sorglosigkeit versprach, an dem er sich wohlfühlte inmitten von
Pflanzen und Tieren, wo er ein ideales Betätigungsfeld fand und seiner
Natur gemäß leben konnte.
Auch aus einem anderen Grund war der Kleingarten ein geradezu
mythischer Ort. Er erzeugte die Illusion, ein Grundstück zu besitzen.
Der Kleingarten wurde als etwas Eigenes angesehen, als persönliche
Habe, als Sinnbild für Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Sicher war
er das im juristischen Sinne nicht. Aber da im Osten ein Pachtvertrag
beinahe ein Freibrief war, sich jedenfalls kein Eigentümer darum
scherte, was hinter dem Gartenzaun geschah, konnte solch ein Gefühl
entstehen und gepflegt werden. In der DDR hatte das Privateigentum als
selbständige Größe seine Bedeutung weitgehend verloren. Wirtschaft und
Gesellschaft gründeten sich auf Gemeineigentum, an dem der einzelne
durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Kollektiven teilhatte. Diese
Teilhabe ist jedoch immer als abstrakte, formale erlebt worden, hat
kaum den Sinn dafür geweckt, persönlich zuständig und verantwortlich zu
sein.
Völlig unberührt vom allgegenwärtigen und allmächtigen
Volkseigentum blieb dennoch bei vielen der Wunsch nach einem eigenen
Revier. Dahinter standen weniger materielle Ansprüche als vielmehr die
ganz existentielle Lust daran, irgendwo selber Regie führen zu können,
sein eigener Herr zu sein, zu sehen, was man schafft, für sich
persönlich zu arbeiten und die Früchte der Arbeit auch selbst zu
ernten. Gemeineigentum und staatlicher Kollektivismus ließen private
Räume und individuelle Freiheiten als rares, kostbares Gut erscheinen.
Unter diesen Bedingungen bekam das gepachtete Stückchen Land ein
Gewicht und vor allem einen symbolischen Wert, die ihm in anderen
Eigentums- und Rechtsverhältnissen gar nicht zugekommen wären. Unter
Privateigentümern und Grundstücksbesitzern war der Kleingärtner immer
der arme Schlucker, der es nicht zu Eigenheim, Grund und Boden gebracht
hatte. Vor diesem Hintergrund schrumpfte selbst das schönste
Gartenhäuschen zur armseligen Hütte zusammen. In einer Gesellschaft von
gleichermaßen Eigentumslosen galt der Kleingärtner dagegen geradezu als
König, weil er auf seiner Parzelle mehr oder weniger tun und lassen
konnte, was er wollte. Der Kleingarten war hier ein Schatz, der die
Rechte und Freiheiten des Eigentums versprach, ohne den Erwerb und die
damit verbundenen Lasten aufzubürden. Nur wer die staatlich verbrieften
und die vielen zusätzlichen Gewohnheitsrechte ostdeutscher Kleingärtner
kennt, kann das ermessen.
Im Kleingarten konnte sich Geltung verschaffen, was im großen Strom
der Gleichmacherei sonst leicht unterging: der Gestus des Eigentümers,
das persönliche Verantwortungsgefühl, das Bedürfnis nach
Selbstdarstellung und Repräsentation, nach Abgrenzung von anderen. Das
„Klein, aber mein“ hatte im Osten weniger den Beigeschmack von
Selbstbeschränkung und kleinbürgerlicher Betulichkeit. Es bot
Handlungsmöglichkeiten, die anderswo untergraben wurden, erlaubte,
bestimmte Seiten des eigenen Wesens überhaupt erst auszubilden und sich
sonst unstillbare Sehnsüchte zu erfüllen. Kreativität und
Unternehmensgeist sind auf diese Weise erhalten geblieben. Sie
beschränkten sich aber auf den Kreis der privaten Liebhabereien, sind
damit von wichtigen Sphären des Gesellschaft abgezogen worden.
Nachsatz
Es ließ sich hier nur recht flüchtig skizzieren, welche Fülle von
Handlungs- und Erfahrungsräumen ein Kleingarten für DDR-Bürger
eröffnete. Der Fortbestand dieser Lebenswelt, deren Wurzeln bis weit in
das 19. Jahrhundert zurückreichen, konnte über all die Jahre bewahrt
werden. Gewandelt hat sich dagegen das Urteil der politischen Führung
des Landes. Der Blick in die Akten und die Auswertung des übrigen
Quellenmaterials zeigten, wie Illusionen, Ressentiments und Vorurteile
gegenüber dem Kleingarten schrittweise abgelöst wurden von nüchternen,
pragmatischen Überlegungen, die freilich rasch in neues Wunschdenken
mündeten.
Die wechselnden Bewertungen und Sinnzuweisungen aus den politischen
Apparaten haben dem Kleingartenwesen nicht viel anhaben können. Auch
die Versuche, es auf die eine oder andere Weise zu regulieren, blieben
meist äußerlich. So ist das Aufblühen des ostdeutschen
Kleingartenwesens wohl weniger durch die spezielle Kleingartenpolitik
der SED und des Staates bewirkt worden, auch nicht durch Entscheidungen
der VKSK-Führung. Vielmehr war dies ein Ergebnis der Gesamtpolitik. Die
Staatspartei hat durch ihr Vorgehen dafür gesorgt, dass Kleingärten
verblüffend gut in den DDR-Sozialismus passten, viel besser als in die
kapitalistische Gesellschaft, wo sie immer ein Fremdkörper im
Grundstücksmarkt blieben. Denn die SED-Politik hat große Teile der
Bevölkerung – weit über jene Schichten hinaus, die traditionell im
Kleingartenmilieu verwurzelt waren – in eine Lage gebracht, wo der
Kleingarten als ideale Ergänzung zu auskömmlichen, aber vielfach
begrenzten Lebensmöglichkeiten angesehen wurde.
Ausschlaggebend waren wohl die Arbeits- und Einkommensverhältnisse
der Leute, ihr dadurch bestimmter Zeitrhythmus und ihre Wohnsituation.
Selbstverständlich waren auch die Formen familiärer Organisation
wichtig, das Verhältnis der Geschlechter und Generationen, die Konsum-
und Ernährungsbedingungen sowie die Voraussetzungen für Freizeit und
Erholung. Die DDR-spezifische Ausprägung dieser Lebensbedingungen hatte
ihre eigene soziale Logik. Sie erzeugte massenhaft den Wunsch nach
einem kleinen Garten als Gegenpol zu gemeinschaftlichem Eigentum,
öffentlichen Räumen, kollektiven Aktionen und gesellschaftlichen
Angeboten. Was sich dort nicht verwirklichen ließ, sollte sich auf der
eigenen Parzelle erfüllen.
In dem Maße, in dem die politische Führung solchem Bestreben
Rechnung trug, gewann sie an Akzeptanz – nicht nur bei den
Garteninteressierten. Sie konnte darüber hinaus auch das Gesamtsystem
stabiler machen. Denn das Kleingartenwesen nahm manchen Konflikten die
Spitze, beruhigte Unzufriedene, setzte Bindungskräfte frei und
eröffnete Wege zur Selbsthilfe. Auf diese Weise trug es zum sozialen
Frieden und zur inneren Sicherheit bei. All das, was Kleingärten nach
Auffassung ihrer bürgerlichen Protagonisten in der kapitalistischen
Gesellschaft bewirken sollten und weshalb sie einst von Kommunisten so
heftig attackiert worden waren, leisteten sie schließlich auch im
DDR-Sozialismus.
Die Staatspartei erhoffte sich von Kleingärtnern aber noch mehr.
Zusätzlich sollten sie manches von dem wettmachen, was durch den
Fortfall der Marktwirtschaft und durch das Einmauern des Landes an
Leerstellen entstanden war. Im Gegenzug wurden ihnen alle erdenklichen
Freiheiten eingeräumt. Nur vor dem Hintergrund solch hochgesteckter
Erwartungen ist zu erklären, dass das ohnehin ehrgeizige
Kleingartenprogramm der SED noch aufgestockt werden sollte. Für das
Jahr 2000 waren in perspektivischen Überlegungen eine Million
Kleingärten vorgesehen. Allerdings ist die Rechnung nicht aufgegangen.
Zwar passten die kleinen Gärten hervorragend in den Staat der „kleinen
Leute“. Nur wollten selbige am Ende doch anderes und mehr – den
Anschluss an „die Welt“ mit ihren Maßstäben.
Bei vorstehendem Text handelt es sich um die überarbeitete Vorbemerkung zum Titel: Isolde Dietrich, Hammer, Zirkel, Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern. Berlin 2003. ISBN 3-8311-4660-8, 408 Seiten, Abb., 26,- €.
|
| |