Thema | Kulturation 2/2005 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dietrich Mühlberg | Dinge des Alltags als Gedächtnisorte? Über Eigenheiten ostdeutscher Erinnerungskulturen
| Dieser
Aufsatz geht auf einen Beitrag für die Arbeitstagung „Lieux de mémoire
dans les Nouveaux Länder“ zurück, die am 20. Mai 2005 im ISH Lyon
stattgefunden hat.
Die in ostdeutschen Bundesländern ausgeprägte Eigenheit,
Alltagsgegenstände aus der DDR-Zeit als kulturelle Hinterlassenschaft
zu sammeln und auszustellen, regt zu der Frage an, ob und wie solche
Objekte als „Gedächtnisorte“ funktionieren. Allerdings reicht der
heutige Forschungsstand für klare Antworten und eine schlüssige
Darlegung noch nicht aus. Ein Einfaches Beispiel könnte erklären, wie
schwierig die Interpretation dieses Umgangs mit alten Gegenständen ist.
Abb. 1: Angebot des Internet-Auktionshauses eBay: drei alte Dosen Fisch (Archiv des Verfassers)
Begibt man sich zur Recherche in das Internet und ruft beim
Auktionshaus eBay das sogenannte Ostalgie-Angebot auf, wird man mit
einer eigenartigen Objektwelt konfrontiert. An einem Tag im Mai 2005
waren das über 300 Positionen, das meiste mit dem Vermerk: „Ostalgie
pur!“. Darunter fanden sich Küchenschränke, diverse Schnapsflaschen,
Rasierapparate, Eierbecher, Still-Büstenhalter (ungebraucht),
Silvesterraketen (ebenfalls ungebraucht), sogar diverse Konserven.
Darunter fand sich auch die Offerte, drei verschiedene Büchsen Fisch
aus Rostock zu erwerben, deren Haltbarkeitsdatum schon vor vielen
Jahren abgelaufen war. Ausdrücklich hieß es: „Dieser Fisch ist zum
Verzehr nicht geeignet“ - was kann dazu bewegen, ihn dennoch zu kaufen?
Durchstöbert man den riesigen Internet-Flohmarkt, so drängen sich drei Vermutungen auf.
1. offenbar kann gegenwärtig jeder hinterlassene Gegenstand symbolisch aufgeladen für ostdeutsche Vergangenheit stehen;
2. wenn das so ist, dürfte die ostdeutsche Erinnerungskultur kaum über die niedere Ebene der Alltagsdinge hinausgekommen sein;
3. offenbar ist es vor allem die Exklusivität des Erinnerns, die
zählt (nur „wir Ostler“ können wissen, dass die Rostocker Konserven
nicht die besten waren, nur wir wissen, dass erst Ende der 80er
versucht wurde, Tintenfische anzubieten, nur wir haben den Einfall,
verdorbenen Fisch in Dosen zum Sammelgebiet zu erklären usw.).
Was beim Umgang mit den alten Dingen in den Köpfen vorgeht, das ist
nicht untersucht worden. Ich möchte auf drei Probleme eingehen und
damit das spezielle ostdeutsche Untersuchungsfeld andeuten. Zuerst wäre
zu fragen, ob und wie sich an Alltagsgegenständen überhaupt Momente des
kollektiven Gedächtnisses festmachen können. Dann sollte geprüft
werden, ob die Ostdeutschen überhaupt eine „Erinnerungsgemeinschaft“
bilden und schließlich ist auch danach zu fragen, durch welche sozialen
Mechanismen und Institutionen ein an Alltagsgegenstände gebundenes
kollektives Erinnern zustande kommen kann.
![Vorsatzblatt von Günter Höhne](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_002.jpg)
Abb. 2: Vorsatzblatt des Buches von Günter Höhne, Penti, Erika und
Bebo Sher. Klassiker des DDR-Designs (Schwarzkopf & Schwarzkopf,
Berlin 2001)
Zunächst etwas zu den Besonderheiten von Alltagsobjekten.
Sind die Dinge, die wir alltäglich benutzen, überhaupt als
Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung geeignet? Nach der
Lektüre der von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen
dreibändigen Übersicht deutscher Erinnerungsorte werden wir das eher
bezweifeln müssen. Denn hier wird das Alltagsleben weitgehend
ausgeblendet - wie auch die Perspektive der „kleinen Leute“ nicht
berücksichtigt wird. Auch „Gegenständliches“ kommt – sieht man von der
Produktionsgeschichte des Volkswagens ab – so gut wie nicht vor. Das
kann Gründe in der Sache haben oder an der Perspektive der Autoren
liegen, die mehrheitlich der westdeutschen bildungsbürgerlichen Schicht
angehören und überdies professionell in der „Erinnerungsarbeit“ tätig
sind. Als sicher kann gelten, dass alltägliche Gegenstände nur dann zu
einem „Ort“ in der Topografie des kollektiven Gedächtnisses einer
Gesellschaft/Gemeinschaft werden können, wenn sie selbst sehr langlebig
sind oder „im Gedächtnis“ lange fortleben. Das trifft für viele
Gegenstände des Alltagslebens nicht unmittelbar zu, sie werden einfach
„verbraucht“, werden zu Müll. Sie können aber als Typus von Dauer sein.
Als solcher sind sie oft symbolisch aufgeladen: das Haus, das Boot, das
Messer, das Brot usw. Hier handelt es sich um universelle
Gebrauchsgegenstände, die bei den verschiedenen Populationen je eigene
Herkunftsmythen und verschiedene symbolische Aufladungen haben.
Jenseits dieser Sphäre sind die „Gebrauchsgegenstände“ der Reichen oft
langlebige Unikate mit eigener Geschichte und entsprechender
Verankerung im Gedächtnis der Besitzerschicht (wie auch in den Legenden
der Ausgeschlossenen). Für frühere Zeiten gilt wohl insgesamt, dass
dauerhaftere Objekte, wie Häuser, Möbel, Kleidung, Gerätschaften,
Werkzeuge usw. von Generation zu Generation weitergegeben worden sind –
erst recht die wertvolleren Dinge: Schmuck, rituelles Gerät, Bücher
oder Kunstwerke. Bis zum Beginn der industriellen Moderne ist die
Weitergabe in den Familien gesichert. In den dörflichen und städtischen
Milieus definiert die jeweilige kulturelle Ordnung, welches Gewicht die
tradierten Objekte haben, welche Erinnerung sich an sie knüpft, wo sie
ihren Platz im kollektiven Gedächtnis haben. Die ganze überschaubare
„künstliche Umwelt“ bildet das objektive Gedächtnis der vormodernen
Gemeinschaften.
Das ändert sich bekanntlich mit dem Übergang zur industriellen
Moderne: die Gegenstände des Alltagslebens sind immer neue Produkte
industrieller Massenproduktion, die an ihrem schnellen moralischen
Verschleiß interessiert ist. Die „Weitergabe“ im vormodernen Sinne
entfällt, doch kommen neue Archetypen hinzu: Kühlschrank,
Waschmaschine, Auto, PC – internationale Phänomene, ohne regionale
Herkunftsmythen, die nur ausnahmsweise symbolisch so befrachtet sind,
dass sie zu Orten kollektiver Erinnerung werden können. Solcherart
aufgeladen sind sie wohl nur, wenn mit ihnen im Lebenslauf des
einzelnen oder in der Geschichte der sozialen Gruppe eine besondere
Erfahrung verbunden ist, wenn sie etwa ein Übergangs-Ereignis
markieren, sie für einen Erfolg oder für einen gravierenden Verlust
stehen usw. So wäre es gut möglich gewesen, in die „Deutschen
Erinnerungsorte“ eine Essay über Plattenspieler, Kofferradio und
Musikkassette aufzunehmen, symbolisieren sie doch den Anfang einer
neuen Jugendkultur, mit neuen Freiheiten ebenso wie mit neuen
Marktabhängigkeiten. Ob aber bestimmte Häuser und Wohnungen, Möbel,
Geräte, Kleidung, Devotionalien, Nahrungsmittel, Freizeitgeräte, aber
auch Design-Stile und Moden dauerhaft im kollektiven Gedächtnis
aufbewahrt werden, hängt von den Umständen ihres Markt-Auftritts ebenso
ab, wie vom weiteren Schicksal der Erinnerungsgemeinschaft.
Bilden die Ostdeutschen eine Erinnerungsgemeinschaft?
Aber bildet die rezente ostdeutsche Teilpopulation überhaupt ein
„Erinnerungskollektiv“? In diesem Punkte folgen Etienne François und
Hagen Schulze ihrem französischen Vorbild auf die nationale Ebene und
lassen ihre Autoren von „Deutschland“ reden. Regionale, ethnische oder
soziale Gruppen mit eigenen Traditionsbeständen wurden bei der Auswahl
der Gedächtnisorte nicht berücksichtigt. Dies allerdings mit einer
Ausnahme. Sie vermuten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen,
die sich als dauerhaft erweisen könnten. Hier sahen die Herausgeber
sogar eines der Motive für ihr Tun: die Deutschen, schreiben sie,
stehen vor der Aufgabe, ihre „gegensätzlichen Gedächtniskulturen, die
sich Laufe von vierzig Jahren zunehmend voneinander entfernt hatten“[1]
gegenseitig anzuerkennen und zusammen zuführen. Allerdings bleibt das
weitgehend ein Wunsch, denn sie suchen gar nicht nach Bezugspunkten im
kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen, die Auskunft über ihre
Selbstbilder, Mentalitäten und Erinnerungen geben könnten. Hier halten
sie sich thematisch an das, was Westdeutschen einfällt, wenn sie an die
DDR denken sollen: Mauer, Jugendweihe, Stasi, „Wir sind das Volk“. Die
westdeutsche Nachkriegsgeschichte dagegen ist opulent vertreten, sodass
ostdeutsche Leser die drei Bände vor allem als Information über west-
deutsches Selbstverständnis lesen. Aber auch westdeutsche Kritiker
zeigten sich in diesem Punkte unbefriedigt. So hält Christoph Jahr das
nationale Erinnerungsmodell von Pierre Nora für grundsätzlich nicht auf
Deutschland übertragbar, da die Erinnerungslandschaft hier "stets sehr
viel heterogener, kulturell, konfessionell und regional gebrochener als
im zentralistischen Frankreich"[2] war.
Dass Ost und Westdeutsche die „große Geschichte“ seit 1945
unterschiedlich erlebten und jeweils auch in ein anderes Geschehen
verwickelt waren, ist sicher unbestritten. Sie erinnern darum auch
anderes und auch auf andere Weise. Es dürfte aber augenblicklich schwer
zu entscheiden sein, ob sich allein dadurch schon eine spezifisch
ostdeutsche Erinnerungskultur herausgebildet hat. Zweifel daran sind
angebracht, fehlen den Ostdeutschen dafür doch zwei entscheidende
Voraussetzungen. Sie haben keine übergreifenden kommunikativen Netze,
die alle (wenn auch mehr oder weniger) einbinden und sie besitzen keine
Deutungshoheit über die eigene Geschichte.
Andererseits gibt es „harte“ Faktoren, die das Erinnern der
Ostdeutschen an ihre spezielle Herkunft immer wieder erzwingen oder
anregen. Einmal – und das bleibt ja nicht verborgen, sondern wird
alltäglich öffentlich thematisiert – leben sie in einem Landstrich, der
sich in allen sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen, mentalen
„Kennziffern“ von den westlichen Regionen der Bundesrepublik
unterscheidet. Dazu zählen längere Arbeitszeiten, niedrigere (oder
keine) Tarife, höhere Arbeitslosigkeit, geringeres Arbeitslosengeld,
andere Sozialhilfesätze usw. Und auch wenn sie in den Westen gehen,
bleiben sie vielfach Ostler: an den Unis erhalten sie weniger
Stipendium, bei der Bundeswehr einen geringeren Sold, ihre Rente wird
niedriger berechnet und ihre Persönlichkeitsrechte bleiben
eingeschränkt. Und weil das auch für diejenigen gilt, die nach 1990
geboren sind, dürfte diese „objektive Zuweisung“ zu einer sozialen
Minderheit oder Teilgesellschaft noch lange wirksam sein und das
Erinnern wach halten.
Gewichtiger als diese Nachteile ist wohl, dass die von den großen
Medien beherrschte Öffentlichkeit Ostdeutschland und seine Population
als eine Sonderzone mit besonderen Bewohnern behandelt – egal, ob vom
„Subventionsgrab Ost“ oder von der „Plattenbaumentalität“ die Rede ist.
Gelingt es Künstlern, Wissenschaftlern, Publizisten oder Politikern
ostdeutscher Herkunft, sich öffentlich zu behaupten, wird ihnen
zwangsläufig das Ostetikett angeheftet. (Auffällig: bei den dominant
erfolgreichen Sportlern unterbleibt das, da genügt der Hinweis auf
ihren Herkunftsort.)
Von „DDR-Staatskünstlern“ ist die Rede, ostdeutsche Schriftsteller
werden als „DDR-Autoren“ oder als „Autoren aus den neuen Ländern“
vorgestellt und gehandelt. Niemand käme auf den Gedanken, Günter Grass
einen „Schriftsteller aus den alten Bundesländern“ zu nennen. Kommen
Leute aus dem Osten zu Worte, dann genießen sie den „Ostbonus“ und
haben die „Ostsicht“ einzubringen. Als „ehemaliger Bürgerrechtler“ hat
sich in den Medien ein besonderer Typus des Ostdeutschen verfestigt,
dessen lebendige Erinnerungen diese Ausgrenzung immer wieder
bestätigen.
Abb. 3: Titel der westdeutschen illustrierten Zeitschrift Stern 18/2002 (Archiv des Verfassers)
Als ostdeutsche Leistungen werden immer wieder „die
Spreewaldgurke“, eine Suppe „Soljanka“ und ein Hochwasser
hervorgehoben. So regen die großen Medien der Bundesrepublik alle
Ostdeutschen – egal, wo sie inzwischen siedeln – dazu an, sich ihrer
Zugehörigkeit zu einer Sonderpopulation zu versichern (oder sich heftig
davon zu distanzieren). Es kann also vermutet werden, dass „die
Ostdeutschen“ noch über einen längeren Zeitraum ein eigenes
„Erinnerungskollektiv“ bilden werden, wobei sie sicher zugleich anderen
kulturellen Milieus angehören können.
Bei näherer Betrachtung erweist sich dies als eine sehr eigenartige
Erinnerungsgemeinschaft, wird ihr Gedächtnis doch weitgehend von
„Fremden“ verwaltet, ist keineswegs Sache der Ostdeutschen selbst.
Westdeutsche haben die Zentren ostdeutscher Erinnerungsarbeit
(historische Institute, Gedenkstätten, Stiftungen, Archive, Sammlungen,
Museen, Medienanstalten, Zeitungsredaktionen) leitend besetzt, ziehen
aber auch Ostdeutsche zur Mitwirkung heran. Der Vorteil des Fremden –
Fähigkeit zu Distanz und Objektivität – hat einen in diesem Kontext
gravierenden Nachteil: nämlich die sachlich bedingte Unfähigkeit,
ostdeutsches Erinnern zu verstehen. Überdies ist Empathie durch die
mentale Ausstattung der meisten so funktionierenden Westdeutschen
blockiert. Ihre Sinnes- und Geistesart steht der politischen Weisung
zur Delegitimierung der untergegangenen ostdeutschen
Gesellschaftsordnung nicht entgegen. Schnell entdecken sie das
Unnormale, Deviante, Absonderliche, dass sich in allen Ebenen der
Öffentlichkeit (die wissenschaftliche eingeschlossen) gut vermarkten
lässt. Allerdings verstimmt das auch diejenigen Ostdeutschen, die
selbst über die Kuriositäten und Idiotien der eigenen Vergangenheit
lachen. Wenn sich Fremde darüber amüsieren, wird das als Häme empfunden
– ein wichtiger Impuls für die Konstituierung von
Erinnerungskollektiven.
Solch Verdruss ist ein Moment der allgemeineren ideologischen
Ost-West-Kontroversen, die das Erinnern der Ostdeutschen geprägt haben.
Inzwischen stehen sich - wenn es um die Geschichte der DDR geht - die
Erinnerungen der Ostdeutschen und die professionelle wie die mediale
Geschichtsdeutung von Westdeutschen wenig vermittelt gegenüber. Es
scheint hier eine doppelte Unfähigkeit vorzuliegen. Die hegemonialen
Interpreten vermögen es nicht, den Ostdeutschen Angebote zu machen, die
ihnen eine positive Beziehung zur selbst erlebten Geschichte gestatten.
Und die Ostdeutschen haben die Deutungshoheit über die eigene
Vergangenheit verloren und vermögen es darum auch nicht, die eigene
Geschichte als Moment übergreifender Nationalgeschichte darzustellen.
Ihre Erinnerungsarbeit bewegt sich darum weitgehend in den eigenen
lebensweltlichen Zusammenhängen, bleibt möglichst politikfern und ist
im Normalfall ein eklektisches „Sowohl-als-auch“. Das ist vermutlich
der Hauptgrund dafür, dass alltägliche Gebrauchsgegenstände nicht nur
als Anlässe und Katalysatoren der Rückbesinnung funktionieren, sondern
sie - stellvertretend für nicht vorhandene gewichtigerer Sinnträger -
symbolisch stark überfrachtet werden und als trotziger Beweis dafür
herhalten, dass damals „doch nicht alles schlecht gewesen ist“.
Die empirische Grundlage für diese Vermutung ist noch recht
schwach. Niemand hat bislang das ganze institutionelle Feld der
bundesdeutschen Geschichtskultur darauf abgeleuchtet, in welcher
Beziehung es zur Erinnerung der Ostdeutschen steht (zu der ja auch die
zeithistorischen Studien der abgedrängten ostdeutschen Wissenschaftler
gehören[3]).
![Mineralwasser](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_004.jpg)
Abb. 4: Werbung für ein Mineralwasser aus Ostdeutschland, dessen
Texte an frühere politische Losungen erinnern sollen und den
Ostdeutschen für ihre Treue danken (zum „3. Mal beliebtestes
Mineralwasser im Osten“) (Archiv des Verfassers)
Zur Genesis einiger Institutionen ostdeutschen Erinnerns
Als sich für sie die am 9. November 1989 die Grenze plötzlich und
unerwartet öffnete und sich dann bald der Beitritt der politisch
reformierten DDR zur Bundesrepublik abzeichnete, war kaum jemandem
bewusst, dass damit die Beziehung zur Vergangenheit komplett neu
definiert und damit alles Erinnern in eine neue Motivlage gekommen war.
Dies auch, weil nun die ganze Aufmerksamkeit auf die neue aktuelle
Lebenssituation konzentriert war. Manch Überschwang führte zu
leichtsinniger Trennung von all dem, was sich offenbar erledigt hatte,
was zu "historischem Ballast" geworden war. Bibliotheken flogen ebenso
in die Container wie Archive von Kultureinrichtungen und Betrieben,
Straßen und Plätze wurden umbenannt, Denkmäler abgebaut, in den Straßen
staute sich der Sperrmüll von überflüssigen Möbeln und Geräten, und
"Super-Illu", die neue Illustrierte für die Ostdeutschen, setzte auf
den Titel: "Vor der Wende mußte Meike aus Berlin die hässliche blaue
FDJ-Bluse anziehen. Heute trägt sie am liebsten Reizwäsche. Doch der
Wandel ist nicht nur äußerlich. Die neue Freiheit ist wie ein Ventil
für die Seele."[4]
![FDJ-Bluse](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_005.jpg)
Abb. 5: Cover und eine Innenseite der „SUPER illu“: das Mädchen
Meike aus Ostberlin hat die FDJ-Bluse endgültig abgelegt (Archiv des
Verfassers).
Man mag die Art und Weise der Schmutzpresse ablehnen, die hier alte
und neue Alltagsgegenstände konfrontiert, doch zweifellos drückte das
einen Zeitgeist aus. Der Historiker hat ihn nüchterner beschrieben: "Es
ist dies eine Situation, die distanziertes und differenzierendes
Geschichtsdenken kaum aufkommen lässt. DDR-Nostalgie und
Totalverdammung stehen abrupt und ziemlich hilflos gegeneinander."[5]
Bevor sich dieses Verhältnis zu den Gütern der eigenen
Vergangenheit änderte, regte sich westdeutsches Interesse. Denn als
viele Ostdeutsche ans Wegwerfen gingen und die Restbestände
ostdeutscher Produktion an allerlei schäbigen Orten zu Schleuderpreisen
feilgeboten wurden, freuten sich alle jene im Westen, die schon länger
auch das andersartige oder kuriose Zeug aus dem Osten gesammelt hatten
– wie etwa der Fluxus-Sammler Manfred Berger in Wiesbaden. Nun gab es
alles in Hülle und Fülle. Schon 1990 begann eine Serie größerer und
kleinerer Ausstellungen, die einzelnen Momenten des früheren
Alltagslebens gewidmet waren. Bergers Bestand bildete die Grundlage für
eine Ausstellung des Deutschen Werbemuseums Frankfurt, bei der auch
DDR-Werbung gezeigt wurde[6].
![Spurensuche](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_006.jpg)
Abb. 6: Cover und eine Innenseite des Katalogs Spurensicherung, Frankfurt/M 1990 (Archiv des Verfassers).
Die ersten Bücher zum (minimalistischen) DDR-Design erschienen
gleichfalls 1990 „im Westen“{7] und in die Kinos kam ein
Kompilationsfilm aus der Kino und Fernsehwerbung der DDR „Flotter
Osten“. Dieser Film lief auch im Osten war dort das erste öffentliche
Ereignis, sich mit der eigenen Alltagsgeschichte und ihrer Objektwelt
zu beschäftigen.
![SED](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_007.jpg)
Abb. 7: Cover von „SED - Schönes Einheitsdesign“, 1990 (Archiv des Verfassers).
![Flotter Osten](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_008.jpg)
Abb. 8: Video des Dokumentarfilms „Flotter Osten“ (Archiv des Verfassers).
Werbung und Produktdesign wurden schnell zu den öffentlichen
Hauptthemen, und viele Museen versuchten sich damit als Institutionen
deutsch- deutscher Erinnerungskultur zu profilieren, meist unter
Nutzung bereits länger bestehender privater Sammlungen. So auch das
Deutsche Hygiene-Museum Dresden mit einer Ausstellung zur
Drogerie-Werbung der DDR[8].
![Drogeriewerbung](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_009.jpg)
Abb. 9: Doppelseite aus dem Katalog „Schmerz laß nach. Drogeriewerbung in der DDR“ 1992 (Archiv des Verfassers).
In den Folgejahren wurden Museen, Sammlungen und Ausstellungen, die
Alltagsobjekte sichtbar ausstellten, zu attraktiven Hauptorten
ostdeutscher Erinnerungskultur. Wenn auch zu bedenken bleibt, dass nur
eine winzige Minderheit der Population diese ästhetischen
Erinnerungsräume aufsucht und zur erinnernden Selbstbefragung nutzt, so
können diese musealen Einrichtungen, die ursprünglich oft von
westdeutschen Stellungslosen und Glückssuchern begonnen wurden,
inzwischen doch als wichtige Orte im örtlichen und regionalen
Kulturleben gelten. Dabei sind die mehr offiziellen musealen
Einrichtungen stärker pädagogisch
![Minolpirol](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_010.jpg)
Abb. 10: Cover einer Geschichte der DDR-Werbung von Simone
Tippach-Schneider (1999), die auch eine erste Übersicht dauerhafter
Erkennungsmarken ostdeutscher Produkte gibt (Archiv des Verfassers).
und im Sinne der westdeutschen Geschichtsdeutung ausgerichtet,
weniger sind sie Werkstätten imaginativen Erinnerns. Die eher privaten
Sammlungen dagegen tendieren zum „originellen Objekt“ ebenso wie zum
sogenannten „liebevollen Bewahren“. Eine besondere Rolle in diesem
weiten Felde spielt die Sammlung in Eisenhüttenstadt. Sie hat mit einer
Folge von Ausstellungen und (damit meist verbundenen Tagungen) wichtige
konzeptionelle Beiträge zum Thema geleistet. Die erste Ausstellung mit
dem Anspruch, musealisierte Alltagsobjekte als Auslöser reflektierender
Erinnerung zu verstehen, wurde 1995 in Eisenhüttenstadt, dem Ort der
Sammlung zur ostdeutschen Alltagskultur, eröffnet.
![Dokzentrum](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_011.jpg)
Abb. 11: Internetseite des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt (Archiv des Verfassers).
Das Begleitbuch[9] zur Ausstellung spiegelt die Auffassung der
Ausstellungsmacher, die Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung
anlässlich dieser Ausstellung bildeten dann den Grundstock eines
Aufsatzbandes, der zwei Jahre später erschienen ist[10].
Praktisch wie theoretisch war es problematisch, dass in Vitrinen
"bleiche Lebensmittel-Leichname aus DDR-Zeiten"[11] ebenso zu
besichtigen waren wie die Gebrauchskunst von einst. Die
alltagskulturelle Ausstellung zeigte "Dinge, die noch in Gebrauch sind.
Die Eingeborenen der Kultur des realen Sozialismus begegnen den Sachen,
die sie zu Hause haben, im Museum - dem Stuhl, dem Kochtopf und
anderem. Sobald sie dieses Museum betreten, werden sie zu seinem
lebenden Inventar. Denn der Anblick der dislozierten eigenen Dinge sagt
ihnen, dass sie dahin gehören."[12]
![Begleitbücher](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_012.jpg)
Abb. 12: Cover zweier Begleitbücher zu Ausstellungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur (Archiv des Verfassers).
Richtungweisend war 1996 eine Ausstellung in Berlin, die die
überkommenen Alltagsobjekte in ihren wirtschaftlichen und kulturellen
Zusammenhängen zu zeigen bemüht war und bei der sich (neben der
reicheren Mittelausstattung) zwei Faktoren günstig auswirkten. Einmal
waren die Ausstellungsmacher vor allem ostdeutsche Ethnologen,
Kulturwissenschaftler und Ökonomen mit eigenem „Erinnerungspotenzial“,
denen darum interessante Präsentationen aus der Sache heraus möglich
waren. Und dann hat die Beschränkung auf die Sechziger Jahre auch den
ostdeutschen Besuchern den distanzierten Blick zurück ermöglicht. Die
starke Publikumsresonanz (west wie ost) beruhte auch darauf, dass bei
der Gestaltung stärker auf sinnliche Reize, auf Verblüffung und
Anregung gesetzt wurde als auf Belehrung und Information. Die
historische Interpretation blieb dem Buch zur Ausstellung
vorbehalten[13]. Vergleichbar damit ist nur noch die Ausstellung, die
das Dokumentationszentrum Eisenhüttenstadt zum 50. Jahrestag der
DDR-Gründung veranstaltete, bei der für jedes Jahr der DDR-Geschichte
ein Alltagsobjekt stand[14].
Die Ausstellung „Wunderwirtschaft“ stand am Beginn einer neuen
Phase. Das Rückerinnern der Ostdeutschen hatte sich sichtlich
verändert, ihr anfangs unbestimmtes und eher distanziertes Verhältnis
zur Dingwelt der Vergangenheit endete zusammen mit der chaotischen
Umbruchphase, die der ersten Orientierung und schnellen Einübung in die
neue Gesellschaft diente[15]. Danach hatte - trotz heftiger sozialer
Probleme größerer Gruppen und Regionen - für die Mehrheit der
Ostdeutschen eine Phase privater Konsolidierung eingesetzt. Die
wirtschaftliche Lage der Familien verbesserte sich. Allerdings endete
der gesamtwirtschaftliche Aufholprozeß schon Mitte der 90er, und
inzwischen wird auch die Spanne zwischen ost- und westdeutschen
Lebensverhältnissen wieder größer – fortdauernder Anlass, Herkunft und
Schicksal zu überdenken.
![Wunderwirtschaft](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_013.jpg)
Abb. 13: Begleitbuch zur Ausstellung Wunderwirtschaft (Archiv des Verfassers).
Schon 1992/93 lassen sich erste Signale eines neuen
Selbstbewusstseins der Ostdeutschen ausmachen. Es begann die Phase der
für Westdeutsche meist unverständlichen "Ostalgie", Zeit der positiven
Rückerinnerung an das Leben in der DDR[16]. Das gestiegene Bedürfnis
nach positivem Erinnern arbeitete sich zunächst - und das einigermaßen
unerwartet - an der eben noch geschmähten Ding- und Bilderwelt der DDR
ab. Der inzwischen "fremde Blick" auf Überreste der eigenen Lebenswelt
war häufig nicht viel mehr als ein Abrufen unreflektierter Erfahrungen,
ein naives Spielen mit den Artefakten des "früheren Lebens". Der
kultige Umgang mit Fahnen, Uniformen, Mopeds, Trabant-Autos,
politischen Festformen, mit Popmusik, ostdeutschen Speisen, mit
skurrilen Alltagsgegenständen, Grußformeln usw. entsprach einerseits
der allgemeinen Eventkultur mit ihren bizarren Stoffen und Praktiken
und wurde kommerziell ausgebeutet. Zugleich war das die einzige
unverfängliche Form, die eine positive Beziehung zur eigenen
Vergangenheit (eingeschlossen die blauen Blusen der FDJ)
ermöglichte[17].
Kommerziell erfolgreich konnten die nun reichlich angebotenen
"ostalgischen" Videos, Spiele, Bilderbücher, CDs, Poster, Kochbücher
und die karnevalesken Events nur sein, weil sie geschickt den
lebensweltlichen Erinnerungsbestand aktivierten. Ähnlich ausgerichtete
Internetseiten nahmen zu und an vielen Orten wurden
alltagsgeschichtliche Ausstellungen eröffnet. Die regionalen
Fernsehprogramme Ost zeigten wieder Filme aus der DEFA-Produktion und
wiederholten Sendungen des DDR-Fernsehens. Und es wurden so genannte
"Ostprodukte" zu Reliquien. Weil die Leute auf der Suche nach dem
"Geschmack von einst" waren, machten Bäcker Reklame mit dem Versprechen
"echter Ostbrötchen".
Auffällig war, dass es vor allem die so genannten Genussmittel
waren, von denen die Erinnerung an den alten Osten erwartet wurde:
Zigarettensorten, Spirituosen, ostdeutsch gerösteter Kaffee,
eigenartige Schokoladen. Eine junge Künstlerin nannte das Motiv: "Wenn
Du wissen willst, wie Westkindheit war, dann gehst du und kaufst dir
'ne Kinderschokolade. Aber meine Kindheitsbonbons gibt's nicht
mehr."[18]
An dieser Stelle muss etwas über die große Bedeutung des Marktes
und der Werbung für die Erinnerungskultur der Ostdeutschen gesagt
werden. 1990 hatte der abrupte Übergang in die Warenwelt des Westens
für die Verbraucher dazu geführt, dass von einem Tag auf den anderen
alle gewohnten käuflichen Gebrauchsgegenstände durch Waren aus dem
![DDR Hotel](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_014.jpg)
Abb. 14: Faltblatt eines Hotels in Zittau, das mit seiner Ausstattung als ein DDR-Museum wirbt (Archiv des Verfassers).
Westen ersetzt worden waren. Alle Handelseinrichtungen wurden
sofort von westdeutschen Unternehmen übernommen und der neue Markt
strategisch organisiert - vom Zeitungsvertrieb über den Bierhandel und
die Modebranche bis zu den Autohäusern organisiert. Einen solchen
schlagartigen Übergang einer Population von 16 Millionen Menschen in
ein neues Versorgungssystem hatte es noch nie gegeben. Es war auch
darum die große Zeit der Marktforschung, die sicher der lernfähigste
Zweig der Sozialforschung ist[19].
Marktforscher machten u. a. die verblüffende Entdeckung, dass die
Affinität der Ostdeutschen zu den neuen Waren aus dem Westen irgendwie
mit deren unterschiedlicher Distanz oder Nähe zum Köper zusammenhing.
Sie beobachteten Kaufzurückhaltung bei allem Neuen, das dicht an den
(oder gar in den) Körper gehörte: etwa Unterbekleidung, Seife,
Kosmetik. Gingen Ostdeutsche daran, sich neu einzurichten, so
beschränkte sich das lange auf Bad und Küche, das „Wohnzimmer“ blieb
meistens und das intime Schlafzimmer fast immer, wie es war.
![Kochbücher](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_015.jpg)
Abb. 15: Nostalgische Kochbücher zur DDR-Geschichte (Archiv des Verfassers)
Pointiert meinte Volker Braun: „Der Sozialismus geht, und Johnny
Walker kommt.“[20] – was den Whisky betrifft irrte er: der ließ sich im
Osten nicht recht verkaufen, hier wurden bald nicht nur die
altvertrauten Schnapssorten wieder getrunken (entweder „Klarer“, wegen
seines blauen Etiketts „Blauer Würger“ genannt oder ein „Brauner“ der
Marke Goldkrone), sondern auch das eigene Bier und der eigene Sekt.
Inzwischen sind die eigenen Kaffeesorten wieder da und legen an Umsatz
zu. Vor allem werden diejenigen Zigaretten geraucht, die hier schon
immer geraucht worden sind und die im Westen niemand kennt. Das ist
Verdienst der Marktforschung, denn schnell haben die westdeutschen und
internationalen Konzerne ihre Strategie verändert und die ostdeutschen
Produktmarken wiederbelebt, die sie zusammen mit den ostdeutschen
Produktionsstätten „gekauft“ hatten. Das hat sich gelohnt, denn einige
der Produkte sind heute sogar gesamtdeutsche Marktführer geworden: so
die „Spirituose“ Goldkrone und die Sektmarke „Rotkäppchen“.
![F6](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_016.jpg)
Abb. 16: Werbung für die alte Zigarettenmarke F6, die nur im Osten bekannt ist: „Geschmack verbindet“ (Archiv des Verfassers)
Aufschlussreich ist dabei die auf die Mentalität der Ostdeutschen
zugeschnittene Werbung. So wird in einigen Fällen ausdrücklich auf
deren stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl angespielt. So etwa bei der
Zigarette „F6“ (vor Jahrzehnten von der volkseigenen Tabakindustrie als
Filter Nr. 6 mit dem Kürzel F6 herausgebracht), die in der Straßen- und
Zeitungswerbung mit einem „Kollektiv“ von sechs sympathischen Menschen
wirbt. Ähnlich die Sorte Cabinett mit dem ostigen Slogan „von Mensch zu
Mensch“.
![Cabinett](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_017.jpg)
Abb. 17: Die ostdeutsche Marke Cabinett wird mit der für
Ostdeutsche typischen Beziehung „von Mensch zu Mensch“ beworben (Archiv
des Verfassers)
Die Werbung für die Sorte Club ist besonders originell, sie
erinnert an die mit dem politischen Kurs von Erich Honecker 1971
einsetzende stärkere Beachtung konsumtiver Bedürfnisse – einschließlich
neuer Zigarettenmarken, die damals auf den Markt kamen. Gezeigt wird
eine rauchende junge Frau mit der Unterschrift „Erichs Patenkind“ und
die Aufforderung: „Willkommen im Club“.
![Club](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_018.jpg)
Abb. 18: Willkommen im Club von Erichs Patenkindern (Archiv des Verfassers).
Auch die inzwischen aufgekommene Erinnerung an die „altbekannte
Qualität“ spielt eine Rolle, sind Ostdeutsche heute doch mehrheitlich
davon überzeugt, dass viele Waren früher besser waren. Nahrungsmittel
ohnehin, aber auch etliche technische Güter.
Diese Vorurteile und Zuschreibungen nutzte die Werbung erfolgreich.
Heute kann die Werbeindustrie als eine wichtige (wenn nicht sogar
wichtigste) Institution ostdeutscher Erinnerungskultur angesehen
werden. Sie hat herausgefunden, wo die (oft familiäre) Erinnerung an
die gewohnten Konsumgüter sich bei der Kaufentscheidung gegenüber
westdeutschen (oder internationalen) Produkten als stärker erweist. Bei
Konsumgütern aus dem Bereich fortgeschrittener Technologie gelang das
nur ausnahmsweise (etwa bei Kühlschränken, nicht bei PKW).
Die Vorstellung von der hohen Qualität der DDR Produkte ist nicht
nur Verklärung. Sie hat ihre Wurzel auch darin, dass eine lange
Lebensdauer des Produkts sowohl zu den angestrebten Zielen
sozialistischer Produktion als auch zu den Erwartungen der Konsumenten
gehörte. Verbraucher waren gerade in diesem Punkte sehr sensibel und
protestbereit. Autos und Waschmaschinen, Möbel und Geschirr, praktische
Kleidung, Gartengeräte, Werkzeuge, Sportgeräte – alles sollte möglichst
„lange halten“, alles war eine sorgsam zu pflegende Ressource. Dies
auch, weil der sozialistischen Ideologie nach alle auf alles einen
Anspruch hatten und folglich der Mangel an etlichen Konsumgütern
unvermeidlich war. Pfleglicher Gebrauch des Besitzstandes rangierte
auch darum höher als seine modische Erneuerung. Im Osten waren
Konsumenten wie Produzenten gebrauchswertorientiert, die Gesetze der
Warenwelt wurden beiden Seiten mit der Zeit immer fremder.
Sicher lag darin ein Grund für die heute kritisierte
„Unwirtschaftlichkeit“ des ostdeutschen Systems wie aber auch für
dessen unsinnige Schmähung als „Mangelwirtschaft“. In dieser
gebrauchswertorientierten mentalen Prägung – ostdeutsche Unternehmer
setzen zu ihrem Schaden noch heute stärker auf die Qualität als auf die
Verkäuflichkeit ihres Produkts - steckt sicher ein kritisches Potenzial
gegenüber dem kapitalistischen System der Warenproduktion, ein
distanziertes Verhältnis zur Überflussgesellschaft. Beides gehört zum
Selbstverständnis der Ostdeutschen. Vielleicht ist darum der Griff zu
den ostdeutschen Markenprodukten auch eine eher symbolische Handlung.
Wie ja auch das Deklarieren dieser Produkte als „ostdeutsche“ nur
symbolischen Charakters ist, werden sie doch nicht unbedingt „am Orte“
und meist nicht nach den alten Rezepturen und Technologien hergestellt.
Jedenfalls ruft die Werbung oftmals ausdrücklich dazu auf, sich für die
Ware als Ostprodukt zu entscheiden – mitunter sogar alternativ. Etwa
wenn es im Getränke-Discount der Firma Marktkauf in Ostdeutschland zwei
Abteilungen gab, eine für „deutsche Biere“ und eine zweite für „Bier
neue Bundesländer“
Die Zahl der Versandhäuser und Läden wächst, die ausschließlich
Ostprodukte führen – davon „repräsentieren“ viele eine traditionelle
DDR- Marke oder kommen aus einem ostdeutschen Traditionsbetrieb. Eine
entsprechende Verkaufsmesse für sog. Ostprodukte („Ostpro“) zieht
steigende Besucher- und Käuferzahlen an.
![Deutsche Biere](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_019.jpg)
Abb. 19: Hinweisschilder im Getränke-Discount der Firma Marktkauf
in Ostdeutschland unterscheiden „deutsche Biere“ und „Bier neue
Bundesländer“ (Archiv des Verfassers).
Ähnliches gilt für die Typische DDR-Wohnung. Der Plattenbau hat es
inzwischen zum Symbol für das „triste Alltagsleben“ in der DDR gemacht
worden (eine Ausstellung des Österreichischen Museum für Volkskunde zur
Alltagskultur in der DDR hatte den Titel „Leben in der Platte“[21]).
![Platte](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_020.jpg)
Abb. 20: Begleitbuch zur Ausstellung „Leben in der Platte“, Wien 1999 (Archiv des Verfassers)
Darum ist es verwunderlich, dass bei dem seit Jahren enormen
Überangebot an Wohnungen so viele Familien weiterhin das Wohnen im
Plattenbau anderen Möglichkeiten vorziehen. Hier entscheidet offenbar
der aktuelle Gebrauchswert. Aber – und das ist in unserem Kontext das
Entscheidende - die unumgängliche Begründung für das unverständliche
Festhalten an der geschmähten „Platte“ ist auf jeden Fall eine bewusste
Beziehung auf die Vergangenheit.
Dies umso mehr, als in fast allen ostdeutschen Groß- und
Mittelstädten der Abriss von überflüssigen Wohnhäusern (insgesamt mehr
als drei Millionen Wohnungen) die Kommunen vor schwere Entscheidungen
stellt, die öffentlich diskutiert werden. Hier stehen sich häufig
Altstadtsanierung und die Plattenbauten alternativ gegenüber, schon
darum dürfte die „Platte“ zu den ostdeutschen Gedächtnisorten zählen.
![Plattenparadies](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_021.jpg)
Abb. 21: Die Illustrierte für Ostdeutsche preist die Schönheit der
Plattenbau-Wohnung, SUPER-illu Sept. 1998 (Archiv des Verfassers).
Etwas anders ist das bei der bekanntlich stark modeabhängigen
Kleidung, hier beschränkt sich die rückgreifende Erinnerung auf
Versatzstücke für einen entsprechenden Retro-Look junger Leute oder
begegnet uns als demonstrativ kostümierter Aufzug im halböffentlichen
Bereich: mit dem einst verpönten Trainingsanzug der Nationalen
Volksarmee, im Sportdress der DDR-Nationalmannschaft oder in der
FDJ-Bluse. Dennoch gibt es auch hier den bewussten Rückgriff auf die
DDR-Vergangenheit. So wird z. B. ein bestimmter Typ von ganz einfachen
Sandalen und Schuhen, die über mehrere Generationen von jungen Leuten
bevorzugt worden sind, inzwischen wieder produziert – auch ich habe sie
vor gut fünfzig Jahren bereits getragen. Sie symbolisierten einst das
einfache freie Leben, waren Accessoires aller Typen von Aussteigern und
werden mit diesem Image auch heute erfolgreich vertrieben.
![Sandalen](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_022.jpg)
Abb. 22: Über fast vier Jahrzehnte millionenfach produzierte Schuhe
(Sandalen und Tramper) im Angebot eines Versandhauses für Ostprodukte
(Archiv des Verfassers).
Dafür, dass das Bekenntnis zum Produkt zugleich eine erinnernde
Identifikation mit der Zeit ist, aus der es stammt, spricht der Umgang
mit den überkommenen Dingen außerhalb der aktuellen Marktbeziehungen.
Von Bedeutung dafür ist es, dass zur Gebrauchswertorientierung der
DDR-Konsumgüterproduktion nicht nur das Ziel einer langen Lebensdauer
gehörte. Der Massenbedarf war nur durch die industrielle Großserie mit
langer Laufzeit zu befriedigen.
![Schlüssel](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_023.jpg)
Abb. 23: Seit 1956 dauerhaft produziertes Schlüsselsortiment (Günter Höhne, Penti, Erika und Bebo Sher).
Sie wiederum führte zu einer Beschränkung auf wenige Grundtypen –
bei Autos wie beim Brot, bei Werkzeugen wie bei Wochenendhäusern usw.
Das verlangte von den Designern, die modischen Trends als zweitrangig
anzusehen und die Produkte – soweit das die verfügbare Technologie
zuließ – mit den ästhetischen Zeichen zeitloser Güte auszustatten. Die
aufeinander folgenden Schulen der Produktdesigner haben die
ostdeutschen Sortimente in diesem Sinne immer erfolgreicher
durchgestaltet, von der handlichen Bürste bis zum Großgerät (auf
Werkzeuge, Maschinen, Industriebauten – sicher auch Alltagsgegenstände
– kann hier nicht eingegangen werden).
Alles zusammen hatte zur Folge, dass die DDR-Gesamtpopulation so
gut wie alle Produkte des Landes in ihrer bestimmten ästhetischen
Gestalt kannte. Das über eine lange Zeit gültige Design - das sich bei
allen Veränderungen im Grundgestus treu geblieben ist[22] – hat sich
allen dauerhaft eingeprägt. Auch dies führte dazu, dass die Begegnung
mit Alltagsobjekten der Vergangenheit immer daran erinnert, dass früher
eben alles anders war. So gut wie alle früheren Alltagsobjekte
„provozieren“ den Betrachter und sind darum über den üblichen
Erinnerungswert alter Dinge hinaus geeignet, sich mit dieser
Vergangenheit zu identifizieren oder sich von ihr zu distanzieren.
![Bürsten](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_024.jpg)
Abb. 24: Wiedererkennbares DDR-Design: Bürstensortiment, produziert seit 1962 (Günter Höhne, Penti, Erika und Bebo Sher).
Überdies hat sich mit dem Eintauchen in die westliche Warenwelt
inzwischen auch ein Blick für die ästhetische Qualität von alten Dingen
entwickelt, den die Massenhaftigkeit und die Ausschließlichkeit der
Objekte früher verstellt haben. Mittlerweile hat sich auch die
Sehnsucht nach der bunten Warenwelt des Westens mit den Jahren
erschöpft. Aufdringliche Werbung ist inzwischen lästig, weil sie nicht
(wie von früher gewohnt) über das Produkt informiert und - ebenso wie
die Hochglanzverpackung und Design - weit mehr verspricht, als das
Produkt halten kann. Und so kann manchem sogar die in Material und
Drucktechnik äußerst sparsame Verpackung der DDR in ihrem technologisch
bedingten Pastellton wieder ästhetisch reizvoll erscheinen.
![Kräne](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_025.jpg)
Abb. 25: Beispiel für wiedererkennbares DDR- Industriedesign (Günter Höhne, Penti, Erika und Bebo Sher).
Wenn die kommerzielle Sphäre als „Großraum“ ostdeutschen Erinnerns
anzusehen ist, so sind doch auch an anderen kommunikativen Orten
diverse Alltagsobjekte Gegenstand reflektierenden Erinnerns. Es ist
wohl vor allem der hohe Grad an eindeutiger Wiedererkennung, der zum
Spielen mit einer Fülle von Details einlädt. Jedenfalls wird die
„ostige“ Design- und Objektwelt von der Werbung wie von den Künsten
(Malerei und Fotografie bis Theater und Kinofilm) ausgiebig genutzt.
Filme wie „Sonnenallee“ oder „Good bye Lenin“ sind geradezu als eine
Folge sprechender „Sachobjekte“ inszeniert[23].
![Pastell](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_026.jpg)
Abb. 26: Einfacher Druck auf einfachem Papier – der für die
ostdeutsche Verpackung typische Pastellton ohne Glanz (Archiv des
Verfassers).
Abschließend möchte ich auf kommunikative Situationen außerhalb des
Marktes hinweisen, in denen Alltagsobjekte Erinnern provozieren oder
ermöglichen. Da ist zunächst das Völkchen der Sammler, eine Kerngruppe
jeder Erinnerungskultur. Es kommuniziert über seine Vereine, Messen und
Ausstellungen. Da Flohmärkte, Tauschbörsen und Präsentationen
inzwischen auch das Internet okkupiert haben, kann nun jedermann das
vielfältige Treiben nicht nur beobachten sondern auch mitspielen. DDR
ist hier – weil abgeschlossenes Sammelgebiet und vielfach noch billig –
sehr beliebt und gesammelt wird davon so gut wie alles: von Briefmarken
und Münzen über Uniformen, Filmplakate und Schallplatten bis zu
gepanzerten Armeefahrzeugen. Bei eBay und anderen können wir sofort als
Käufer oder Verkäufer geschichtsträchtiger Alltagsdinge einsteigen.
Oder in einen der vielen Chatrooms einloggen, die vorzugsweise dem
Talken über die Erfahrungen in der DDR gewidmet sind.
Ähnlich „erinnerungsaktiv“ geht es bei den beliebten historischen
Umzügen wie bei den zahlreich gefeierten Dorf- und Kleinstadtjubiläen
zu. Während man für den "historischen Teil" den Fundus des nächsten
Theater und das Heimatmuseum benötigt, können für "unsere Zeit" (wie
sie auf dem Dorfe genannt wird) alte Traktoren, der LPG-Bus, die
Rübenhacken, die blauen Arbeitsanzüge und die bunten Kittelschürzen,
diverse Fahnen und die Schilder von Dorfkonsum und LPG zur
Zeitmarkierung eingesetzt werden - alles noch aus eigenen Beständen und
mit der Chance, hier zum „Erinnerungsort“ zu werden.
![Zonentalk](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_027.jpg)
Abb. 27: Buchausgabe eines Internet-Chat zur Erinnerung an den Alltag in der DDR (Archiv des Verfassers)
In dieser Alltagskommunikation (und nur wenig darüber) bildete sich
auf diese Weise eine "Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, in der sich
überlieferte Elemente, Spolien der untergegangenen DDR erhalten und
umbilden"[24]. Hinzuzufügen wäre, dass nur wenig davon die "nationale
Ebene" erreicht, nicht über regionale und lokale Öffentlichkeiten und
eher intime Kreise hinausgeht. Solche Formen gemeinschaftlichen
Erinnerns stehen in Wechselwirkung mit anderer lokaler Kommunikation,
mit Kabaretts, Theatern, Galerien und Kneipen. Sie bilden – wieder wie
zu Zeiten der DDR - wichtige Elemente lokaler Öffentlichkeiten, in
denen Ostdeutsche den Ton angeben und das auch deutlich herauskehren.
Ganz anders gepolt sind die von Westdeutschen betriebenen Medien,
die ostdeutsche Erinnerungen selbst vermarkten. Das sind neben der
regionalen Presse (flächendeckend von zwei Konzernen betrieben) und den
öffentlich-rechtlichen Regionalprogrammen der ARD, die ausschließlich
für Ostdeutsche gemachte Wochenillustrierte „SUPER illu“. (Westdeutsche
könnten über weite Strecken gar nicht verstehen, wovon da gehandelt
wird.)
SUPER illu vermarktet geschickt (und mit rechtskonservativem
Hintergrund) die Erinnerung der Ostdeutschen, die sie in einer Weise zu
wecken bemüht ist, die das positive Alltagsleben von den immer negativ
gezeichneten weiteren Lebensumständen abhebt.
![Superillu](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_028.jpg)
Abb. 28: Typische Aufmachung der Illustrierten Zeitung für
Ostdeutsche: bekannte ostdeutsche Schauspieler als Seller (Archiv des
Verfassers).
Schließlich wären da als „Gedächtnisorte“ in doppeltem Sinne alte
ostdeutsche Printmedien zu erwähnen, die selbst Alltagsdinge mit
erkennbarer Vergangenheit sind. Besonderes Augenmerk verdienen dabei
drei Zeitschriften für Kinder, die in Auflagen um 70 000, offenbar von
Eltern gekauft werden, die selbst mit ihnen Kindheit und Jugend verlebt
haben.
![Jugendzeitschriften](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_029.jpg)
Abb. 29: Bericht über traditionelle ostdeutsche Kinder- und
Jugendzeitschriften, die sich wieder auf dem Markt behaupten,
Medienseite des „Tagesspiegel“ vom April 2005 (Archiv des Verfassers).
![Bummi](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_030.jpg)
Abb. 30: Cover und Innenseite der alten Zeitschrift für Vorschulkinder „Bummi“ vom Mai 2005 (Archiv des Verfassers).
![Mosaik](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_031.jpg)
Abb. 31: Cover und Innenseite der einzigen DDR-Comic-Serie „Mosaik“ vom Mai 2005 (Archiv des Verfassers).
Auch diese Alltagsprodukte erinnern an ihr früheres Layout, werden
wiedererkannt und haben die Chance, auch von der nächsten
Ost-Generation als legendäre Gestalten verehrt zu werden. Wie stark
(und auf welche Dauer) sich an Alltagsgegenständen aus der DDR-Zeit
kollektives Erinnern festmacht, ist bislang nicht untersucht worden. Es
lohnte schon, weil diese deutsche Teilgesellschaft einige interessante
Eigenheiten besaß.
![Frösi](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_032.jpg)
Abb. 32: Die ehemalige FDJ-Kinderzeitschrift „Fröhlich sein und
singen“ (Frösi) versuchte im Mai 2005 einen Neustart, der auf die
Erinnerung heutiger Eltern baut. (Archiv des Verfassers).
Vor allem: das Alltagsleben war für die Generationen der
Ostdeutschen jeweils recht ähnlich, die Zahl der Gebrauchsgegenstände,
an denen sich ihr Lebensgefühl fest machen konnte, war für alle
überschaubar. Ungewiss ist, ob einige als Gedächtnisorte besonders
herausragen – etwa die „Platte“, der „Trabant“, das Moped Schwalbe oder
der fälschlich „Datsche“ genannte Kleingartentyp?
Es könnte auch die ästhetisch recht einheitliche Produktwelt
insgesamt als ein Erinnerungs-Ort gesehen werden. Weil die Ostdeutschen
inzwischen in einer auch im Gegenständlichen (eingeschlossen Städte,
Dörfer, Landschaft) völlig veränderten Welt leben und die erinnernde
Rückbindung an das Vergangene ihnen gelegentlich wichtig zu sein
scheint, kann jede Begegnung mit einem Objekt der früheren Produktwelt
komplexe Erinnerungen auslösen, kann es für das Ganze des einstigen
Universums nützlicher Dinge stehen. Untersucht ist dieses
Bindungsbedürfnis nicht.
![Norm und Eigensinn](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_033.jpg)
Abb. 33: Das Begleitbuch zu einer Ausstellung des
Dokumentationszentrums Alltagskultur (1999) zeigt auf dem Umschlag eine
typische Alltagssituation (Archiv des Verfassers).
Aus eigener Erfahrung zum Schluss ein Bespiel. Für meine Söhne –
Mitte der 60er geboren – war das Moped „Schwalbe“ (auch Jahrgang 1964)
das erste eigene Gefährt. Damals bereits gebraucht gekauft, war es
jedoch noch modern und begehrt. Für spätere junge Generationen war
dieses massenhaft benutzte Fahrzeug eher ein Oma-Sessel und verpönt.
Vor allem auf dem Lande war dies klug erdachte Moped in Gebrauch, und
über die Jahre wuchs im langsam eine Aura zu. Heute ist die „Schwalbe“
– besonders im Westen – ein praktisches Fahrzeug mit Kultstatus,
weitergegeben in vielen Fan-Clubs junger Leute. Blickt man auf ihre
Internetunterhaltungen in den Clubs, so wägen sie auch detailliert ab,
warum dieses Ostprodukt anders ist als eine Isetta, was es auszeichnet
und auf welches Alltagsverhalten es deutet („die durften im Osten mit
15 schneller fahren“ …“da sollte alles einfach zu reparieren sein“ …
„modischer Schnickschnack war nicht gern gesehen“ usw.). Auch ich
könnte – wie meine Söhne – Geschichten dazu beisteuern, die Enkel
kennen sie schon und die Urenkel werden sie wohl auch noch hören (und
vielleicht damit fahren wollen). Sucht man das Moped Schwalbe im
Internet, dann hat eBay aktuell über 50 Produkte im Angebot, Google
kommt auf 21.000 Anzeigen. Das Werk in Suhl vermeldet, dass das Gefährt
momentan nicht am Lager ist. Offenbar kann die „Schwalbe“ als
Alltagsgegenstand zu den ostdeutschen Erinnerungsorten gezählt werden
(mit gesamtdeutscher Tendenz).
![Schwalbe](_bilder/_dyn/2005/2005-08-31_alltag_034.jpg)
Abb. 34: Das DDR-Kultobjekt „Schwalbe“ (Dokumentationszentrum Alltagskultur)
Anmerkungen
1 Etienne François et Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, C. H. Beck, München 2001, S. 11.+
2 Christoph Jahr, Marmor, Stein und Erinnerung bricht. Die Sammlung
der „Deutschen Erinnerungsorte“ ist komplett, Die ZEIT (15. 11. 2001),
Literaturbeilage November 2001.
3 Die Materiallage ist nicht ungünstig, denn Hinweise auf
erinnerndes Verhalten finden sich in diversen Umfrageergebnissen
(Forsa, Allensbach, Emnid u.a.), finden sich bei der Marktforschung
(sinus, Burda, Mediaperspektiven u.a.), in soziologischen und
sozialpsychologischen Studien (Universitäten Trier und Leipzig, WZB,
BISS, SFZ, Gewis u. a.), in Reportagen und publizistischen Äußerungen,
in ostpolitischen Debatten (Landtage, Forum Ostdeutschland der SPD u.
a.), vor allem auch in den Ostdeutschland betreffenden Kunst- und
Literaturdebatten, in Ausstellungen und in ihrer Resonanz
(Besucherbücher, Presse), in autobiographischen Bekenntnissen und
weiterem (insgesamt heterogen) Material.
4 Super-Illu vom 26. 09. 1991 (Nr. 40), S. 10.
5 Peter Hübner, "Geronnene Fiktionen"? Alltag in der DDR als
Gegenstand der zeithistorischen Forschung, in: Konrad H. Jarausch und
Matthias Middell (Hg.), Nach dem Erdbeben. (Re-)Konstruktion
ostdeutscher Geschichte und Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, S.
266.
6 Spurensicherung. 40 Jahre Werbung in der DDR, Ulrich Giersch und
Helmut M. Bien (Hg.), Karin Westermann (Redaktion) Dietrich Mühlberg
(wissenschaftliche Beratung), Ausstellung und Katalog, Frankfurt/M.
1990.
7 Georg C. Bertsch, Ernst Hedler et Matthias Dietz, SED – Schönes Einheits Design, Taschen, Köln 1990.
8 Schmerz laß nach. Drogerie-Werbung in der DDR, Deutsches
Hygiene-Museum Dresden (Hg.), Dresden 1992. Auch hier war das Team
Bien/Giersch/Westermann am Werk.
9 Tempolinsen und P2 – Alltagskultur der DDR, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.), be.bra Verlag, Berlin 1996.
10 10 Gerd Kuhn und Andreas Ludwig (Hg.), Alltag und soziales Gedächtnis. Ergebnisse Verlag, Hamburg 1997.
11 Gert Selle, Erinnern - Suchbewegung in der Wirklichkeit. In: Kuhn/Ludwig, Alltag und soziales Gedächtnis, a. a. O., S. 87.
12 Ebd. Selle warf ein Generalproblem musealen Umgangs mit
Alltagsgegenständen auf: „In Eisenhüttenstadt sind die Dinge und ihre
Betrachter schon unter pädagogische Kuratel gestellt. Man traut sich
kaum, etwas anzusehen, ohne die Texttafeln zu lesen, die den
Erinnerungsverkehr mit der DDR-Vergangenheit regeln sollen. … es wird
eine pädagogische Lesart zwischen Anbiederung und Irreführung angeboten
…“ (S. 87/88).
13 Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren (Buch zur
Ausstellung im Stadtmuseum Berlin), hrsg. von der NGBK, Böhlau, Köln,
Weimar, Wien 1996.
14 Das Begleitbuch zur Ausstellung: Fortschritt, Norm und
Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Dokumentationszentrum
Alltagskultur der DDR e. V. (Hg.), Ch. Links, Berlin 1999.
15 Lutz Niethammer formulierte feinsinnig: "Der neue Kontext
westlicher 'Normalität' erscheint wie eine Befreiung zur Realität, aber
in der DDR ist er ein phantastisches Gebilde aus schnell wechselnden
Vorstellungen, die sich noch nicht an den eigenen Fähigkeiten und der
Organisierung eines Alltags bewährt haben. "Lutz Niethammer, Glasnost
privat 1987. In: L. Niethammer, A. v. Plato u. D. Wierling, Die
volkseigene Erfahrung. Berlin 1991, S. 68.
16 Bereits 1992 ließ sich der ostdeutsche Kabarettist Uwe Steimle
beim Patentamt München das Wort "Ostalgie" eintragen; das kostete ihn
1700 DM Gebühren.
17 Vgl. Thomas Beutelschmidt: Out of fashion oder mega in? Die DDR
im Spiegel ihrer Objekte, Bilder und Töne, in: Rundfunk und Geschichte,
23. Jg. Nr. 4, Oktober 1997, S. 224.
18 Antje-Ulrike Buckow und Uta Rinklebe: Deutsch-deutsche
Partnerschaften - die Annäherung zweiten Grades. Seminararbeit Berlin
1998, S. 21.
19 Der Marktforschung ist die angepasste Übertragung der
sinus-Milieus auf die ostdeutsche Teilgesellschaft ebenso zu verdanken
wie etwa die Burda-Studie zu den Wohnstilen der Ostdeutschen: Berthold
Bodo Flaig, Wohnwelten in Ostdeutschland. Alltagsästhetik, Wohnmotive,
Wohnstile, Gartenwerte und Gartenstile in den neuen Bundesländern. Ein
Forschungsbericht der Burda GmbH Offenburg (Hg.), Heidelberg 1993. Die
Befunde dieses Forschungszweigs gehören sicher zu den
kulturgeschichtlich aussagekräftigsten Beobachtungen.
20 Volker Braun, Lustgarten, Preußen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main 1996, S.140.
21 Wenzel Müller, Leben in der Platte. Alltagskultur der DDR der 70er und 80er Jahre, Wien 1999.
22 Siehe dazu: Günter Höhne, Penti, Erika und Bebo Sher. Klassiker
des DDR-Designs, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2001.
23 Wenn im Film „Good bye Lenin“ Gläser von Spreewälder Gurken
beschafft werden müssen, um eine fiktionale DDR aufrecht zu erhalten,
dann denkt der westliche Betrachter, des Ostdeutschen Glück hätte in
solchen Gurken bestanden. Der Ostdeutsche begreift es als ironische
Anspielung, denn Spreewälder Gurken hat als bald nach Gründung der DDR
nicht mehr gegeben, saure Gurken waren fortan Importe aus Bulgarien und
Polen. Selbst wenn das Ganze eine Geschäftsidee der Firma ist, die
heute Gurken aus Polen unter dem Label „Spreewälder“ verkauft, so kommt
doch Erinnern in Gang – die Gurke als Gedächtnisort.
24 Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen, in: Merkur, Jg. 49 (1995), H. 9/10, S. 856.
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