Thema | Kulturation 2/2006 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Lutz Haucke | Alte Farben – neue Werte ?
Krzysztof Kieślowskis FARBENTRILOGIE (1993/94)
| Für Karin Hirdina zum 65.Geburtstag
1993 erhielt Kieślowski den Goldenen Löwen des Festivals von
Venedig für seine FARBENTRILOGIE (ex aequo), auf der Berlinale 1994 den
Regiepreis. „Kieślowskis neuestes Projekt ist eine Trilogie, deren
einzelne Teile nach den Farben der französischen Trikolore benannt
sind. Sie sollen die von der Französischen Revolution propagierten
Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit behandeln. Die
Auseinandersetzung mit zentralen Werten der abendländischen bzw.
europäischen Kulturtradition setzt sich somit fort“, stellte Peter
Hasenberg (1993) fest. [1]
Pierre Lachat hat ein thematisches Zentrum für die Farbentrilogie bestritten:
„Es ist müßig diskutieren zu wollen, was nun als -’logie’ zu gelten
habe und was nicht. Sicher ist TROIS COULEURS in dem platten Wortsinn
eine Trilogie als sie von allem Anfang an als solche geplant war; und
sie ist in dem eben platten Wortsinn keine solche, als bei weitem wenig
konkret benennbare erzählerische Substanz vorhanden ist, um BLEU, BLANC
und ROUGE auf unmittelbar sinnfällige Weise miteinander zu
verbinden.“[2]
Die FARBENTRILOGIE des Polen K. Kieślowski, die als französische
Produktion gedreht wurde, setzt polnische Denkweisen an der Schwelle
der 90er Jahre zur Französischen Revolution in einem übertragenen und
polemischen Sinne in Beziehung. Nach 1990 waren die polnischen
Regisseure in die Freiheit entlassen. Das System der Zensur, das sie
kannten und auf das sie sich in den vergangenen Jahrzehnten eingestellt
hatten, existierte nicht mehr. Andererseits waren bisher verfolgte
Themen nicht mehr machbar – nicht zuletzt durch den Wegfall einer
staatlich subventionierten Filmindustrie. Die friedliche Revolution
hatte gesiegt, aber welche Werte waren es nun, auf die man in der
gewandelten Situation setzen konnte. Polen schaute nach Westeuropa und
suchte die möglichen Bindeglieder zwischen Ost- und Westeuropa. Der
polnische Katholizismus gab die Orientierung.
Mit ZWEI LEBEN DER VERONIKA (PL/FR 1991) beginnt bei K. Kieślowski
eine neue Periode in seinem Schaffen, die als „französische“ Periode
bezeichnet worden ist und die mit der FARBENTRILOGIE (1993/94)
fortgesetzt wurde.
Kieślowski interessierte nicht so sehr das politische
Demokratiesyndrom – so wie ihn auch im sozialistischen Polen nicht
politische Kategorien interessiert hatten. Vielmehr ging es ihm um die
Frage, ob und wie die zunehmende Individualisierung in der modernen
europäischen Gesellschaft mit dem Wertekanon der Französischen
Bürgerlichen Revolution LIBERTÉ, EGALITÉ, FRATERNITÉ überhaupt noch
vereinbar sei und ob es nicht darum gehen müsse, existentialistische
Sinnfragen für das Individuum neu zu erkunden und welche europäischen
Werte in diesem Zusammenhang da Bestand hätten.
Die von Paul Coates vertretenen These, dass die FARBENTRILOGIE von
Kieślowski als ein apolitisches Werk zu bezeichnen sei, das im
Widerspruch stünde zum Œuvre des großen polnischen Regisseurs, der sich
sonst durch sozialkritische Sichten ausgezeichnet hatte, stimmt und
stimmt auch nicht. Denn Kieślowskis philosophische Negation der
politischen Werte der Französischen Revolution für Gegenwart und
Zukunft aus individuell-existentieller Sicht ist bereits ein
grundsätzliches politisches Faktum des Wertewandels. [3]
Vereinfacht auf einen Nenner gebracht werden die Farben der
Trikolore und die mit ihnen verbundenen alten Werte mit den von
Kieślowski erzählten Stories als untauglich für individuelle
Lebenskonzepte in der postmodernen Gesellschaft abgelehnt. Blau als
revolutionäres Symbol der Freiheit wird zur romantischen Farbe von
Todeserfahrung und innerer Selbstüberwindung in der Perspektive des
Hohen Liedes der Liebe im ersten Brief des Paulus an die Korinther.
Weiß als die historisch überkommene revolutionäre Symbolfarbe der
Gleichheit wird in der Komödie zur Symbolfarbe der Postmoderne. Die
Skepsis gegenüber den Tradierungen bestimmt die Definitionen der Farbe
Weiß. Sie ist zu entdecken mit der schneebedeckten Müllhalde (die
Gleichsetzung von Weiß in der polnischen Flagge und Müllhalde verweist
auf bitteren polnischen Sarkasmus), die für die polnische Heimat des
Rückkehrers steht, und im blendenden Weiß, das als kommentierendes
Zeichen des gemeinsamen Orgasmus der Liebenden montiert wird.
Kieślowski zweifelt generell am Sinn der Frage nach der Gleichheit:
„Ich stelle mir meist äußerst einfache Fragen. Zum Beispiel: Kenne ich
überhaupt jemanden, der das Gefühl der Gleichheit teilen will? Oder ist
‚Gleichheit’ zu einem Begriff geworden, der nur noch in einem
politischen oder geschichtlichen Kontext sinnvoll ist? Ich bin zu der
Überzeugung gekommen, dass der gewöhnliche Mensch überhaupt nicht
gleich sein will…Nachdem ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, habe
ich versucht, daraus eine Geschichte zu konstruieren.“ [4]
In FARBE ROT taucht das Farbzeichen in vielfältigen Funktionen auf:
es dient sehr oft zur physisch-psychischen Aktivierung in der
Wahrnehmung von Interieur und Kostüm (rot sind die Autos von Auguste,
dem Jurastudenten, und das des Drogendealers; rot ist die Markise des
Café Chez Josef; rot sind oftmals Zimmerwände z.B. beim Tierarzt, auch
beim Richter Joseph Kern; rote Elemente entdeckt man im Zimmer von
Valentine; rot ist das Interieur eines Bowlingzentrums und des
wiederkehrenden Ballettsaales, rot ist das Fährticket). Dramaturgisch
wird die Farbe Rot eingesetzt, um wichtige Peripetien in der Handlung
anzukündigen z.B.: erscheint in der Exposition vor dem Unfall der
Hündin Rita, den Valentine verursacht, im Bild markant die Farbe Rot;
der Szene, in der Valentine die Abhöranlage des Richters entdeckt,
gehen Szenen voran, in denen die Her- und Aufstellung eines 8m x 20m
roten Plakates mit Valentine als Model erfolgt.
Die Farbe Rot als revolutionäre Symbolfarbe der Brüderlichkeit, die
konnotativ verbunden werden kann mit Symbolen der Arbeiterbewegung und
des ehemaligen Sozialismus [5], erscheint nicht auf dieser gewaltigen
Plakatwand, auf der das Fotomodel erschrocken und in Trauer blickt. Die
Farbe Rot der Trikolore wird von Kieślowski ihrer politischen Macht
entbunden zugunsten eines Leitmotivs des Erschreckens und der Trauer,
des tiefen Betroffenseins. Bezogen auf die Story ist es ein Trauern um
die Einsamkeit und die Verlorenheit von Menschen, die in der
telefonischen Verkabelung und Aufzeichnung ihre seelischen Defizite
preisgeben. Es könnte auf einer zweiten Ebene (als Konnotation des
Regisseurs) auch als Trauer gedeutet werden in Bezug auf die
Verführbarkeit durch die rote Revolutionssymbolik im 20.Jahrhundert,
die sich nach Kieślowski als untauglich für die Lösung der
existentiellen Probleme des Individuums erwiesen hat.
Das rote Plakat kann als Zeichen von Betroffenheit dramaturgisch in
der Handlung funktionieren, wenn der verstörte Auguste mit dem
Scheitern seiner Beziehung zu Karin fertig werden muss. Weiterhin: wenn
der Richter in das Theater fährt, um eine Modenschau der Valentine zu
besuchen, woran sich ein Gespräch zwischen ihm und Valentine
anschließt, in dem er sein Lebensgeheimnis offenbart. Auch im Finale
kehrt das rote Plakat wieder und wird zum Zeichen für das spätere
Fährunglück: das Plakat wird bei Unwetter und Sturm abgenommen und für
Sekunden erscheint nochmals die Fotografie der erschreckenden
Valentine. So gesehen setzt die Dramaturgie des Films auf eine Vielzahl
von handlungs- und figurengebundenen Zeichenebenen der Farbe Rot, ohne
dass das Trikolorerot, das für Brüderlichkeit steht, als Bildzeichen
zur Sprache kommen würde. Einzig in diesem Film der Trilogie wird die
Auseinandersetzung mit der Farbe der Trikolore radikal ausgesetzt.
Nächstenliebe und Brüderlichkeit sind Werte, die einzig und allein aus
der gesprochenen Sprache in der zwischenmenschlichen Kommunikation, aus
den Dialogen zwischen Valentine und dem pensionierten Richter Joseph
Kern erstehen. Kieślowski spielt als Regisseur mit den Differenzen
medialer Diskurse. Er wertet das zwischenmenschliche Gespräch nicht nur
gegenüber politischen Bildformeln der Farbe Rot auf. Er unterläuft auch
die Hohlheit der Bildformeln der Werbung (im Film handelt es sich um
ein Plakat zur Kaugummiwerbung mit dem Slogan „Bei jeder Gelegenheit,
Lebensfrische!“).
Diese Absage an alte Farben revolutionärer Umbrüche verweist auf
die Neubesinnung auf individuell-existentialistische Werte in den
frühen neunziger Jahren seitens Kieślowskis. Es liegt die Frage nahe,
auf welche europäischen Kulturwerte Bezug genommen wird. Und – was in
der Diskussion der FARBENTRILOGIE meist ausgeklammert wird – auf welche
soziokulturellen Milieus Kieślowski sich in seiner „französischen
Periode“ ganz im Unterschied zu seinen in Polen vor 1989 gedrehten
Filmen nun bezieht. Seine polnischen Dokumentar- und Spielfilme haben
Wertefragen – auch mit einem religiösen Hintergrund wie in DEKALOG,
1987/88, - oftmals mit Blick auf die Unterschichten verfolgt (z.B.:
SPOKÓJ / GEFÄHRLICHE RUHE, 1976; AMATOR / DER FILMAMATEUR, 1979).
In der FARBENTRILOGIE verbindet sich die Umdeutung politischer in
existentialistische Werte mit der Perspektive auf das Milieu der
Mittelschicht (begüterte Komponistengattin, dubioser Geschäftsmann und
Spekulant, hoher Justizbeamter im Ruhestand und Fotomodel). Überspitzt
könnte man sagen, dass
Kieślowski nach 1990 seine Suche nach Werten der europäischen
Kulturgemeinschaft mit einem Blickwechsel von den polnischen
Unterschichten zum westeuropäischen Mittelstandsmilieu als neuer
Leitkultur (in seiner moralischen Widersprüchlichkeit) fokussierte.
Die FARBENTRILOGIE - eine Trilogie europäischer Kulturwerte?
In DIE ZWEI LEBEN DER VERONIKA (La double vie de Véronique, 1991)
hatte Kieślowski eine Story von der inneren Verwandtschaft einer Polin
und einer Französin, von der Parallelität ihrer Lebensläufe erzählt und
eine europäische Sicht im Stoff geltend gemacht. Seit Ende der 80er
Jahre war dieser polnische Regisseur der 1960er Generation in den
Blickpunkt westeuropäischer Aufmerksamkeit geraten. 1988 hatte er in
Cannes den Spezialpreis der Internationalen Jury für KURZER FILM ÜBER
DAS TÖTEN / KROTKI FILMI O ZABIJANIU erhalten und im darauf folgenden
Jahr wurde die Aufführung des Zyklus DEKALOG auf den Filmfestspielen in
Venedig(1989) zum Welterfolg. Ohne sich mit dem Etikett „religiöse
Filme“ einverstanden zu erklären, hatte Kieślowski die 10 christlichen
Gebote als ethische Modelle europäischer Kultur neu entdeckt.
Es ist die Frage berechtigt, ob Kieślowski Synthesen von
europäischen Kulturwerten versucht, die zum einen aus der christlichen
Ethik, aus der Bibel, herstammen und zum anderen aus den Utopien der
französischen Revolution?
In der polnischen katholischen Presse ist Kieślowskis DEKALOG von kirchlich-dogmatischer Seite abgelehnt worden.
Hanna Borowska schrieb: „Im DEKALOG, wie wir ihn auf dem Bildschirm
gesehen haben, gibt es keine Hoffnung. Wie auch, da Christus außer acht
gelassen wurde. Krzysztof Kieślowski hat nicht die Zehn Gebote, sondern
das Gegenteil davon gezeigt: Entartungen, Anomalien, Pathologien und
Alpträume - wie speziell dafür ausgewählt. All das mag es ja irgendwo
geben, aber warum müssen wir uns damit nähren? ... In Kieślowskis
DEKALOG siegt gewöhnlich das Böse. ’Bestenfalls’ bleiben die Menschen
mit Gewissensbissen zurück. Sie verharren so über Jahrzehnte, und der
Satan wird fortwährend so sein Spiel mit ihnen treiben können. Sie sind
geknechtet, gefesselt durch die Sünde. Sie werden kein Glück finden.
Sie werden Rettungsversuche bei Psychiatern unternehmen. Nur weiß ich
nicht, wozu in diesem Fall Christus gestorben ist. Sein Blut ist im
Sand versickert.“ [6]
Seine FARBENTRILOGIE hat mitnichten die Ideale der französischen
Revolution bedacht. Es sind Antithesen und ein postmoderner Rückzug in
das der Historie entbundene existentielle Konfliktdasein von Figuren.
Kieślowski will gegen eine absurde Welt Konstruktionen ethischer
Modelle eines Sich - Findens nach der Erfahrung des Nichts anbieten.
July, die Komponistengattin, die den Autounfalltod des Mannes und der
Tochter verarbeiten muss; Karol, der polnische Friseur, der von seiner
Dominique in Paris vor die Türe gesetzt wird und der seine Karriere als
Immobilienglücksjäger im Polen der Wendezeit nutzt, um ihrer sicher zu
sein; der Richter in ROT, dem ein Fotomodel (und Studentin) begegnet
und ihm verhilft, der Wahrheit seines Lebens ins Auge zu schauen.
Karsten Visarius schrieb: „Nach dem Blau der Freiheit und dem Weiß
der Gleichheit steht ROT, letzter Teil der an der Trikolore und den
Idealen der französischen Revolution orientierten DREI FARBEN -
Trilogie unter dem Motto der Brüderlichkeit. Einen brauchbaren
Schlüssel zur Entzifferung des Films hält der Zuschauer damit so wenig
in den Händen wie in den beiden vorangegangenen, es sei denn in Form
einer für Kieślowski bezeichnenden Antithese. Denn ROT variiert vor
allem anderen, als dominantes Thema und emotionale Grundfarbe, das
Motiv der Einsamkeit.“[7]
Eine Verabschiedung vom Realismus konstatiert H.G. Pflaum in seiner Rezension von DREI FARBEN. BLAU:
„Der Realismus hat ausgedient für Kieślowski. Sein KURZER FILM ÜBER
DAS TÖTEN entwarf noch eine Topographie der Betonwelt von Warschau, und
der in Polen gedrehte Teil von DIE ZWEI LEBEN DER VERONIKA ließ Krakau
noch als realen Ort erscheinen; Paris hingegen wurde zum Traumrevier,
in dem der neue Film des polnischen Regisseurs sich bewegt, ohne
räumliche Fixpunkte zu suchen. Nur an Frankreich scheint sich
Kieślowski noch erinnern zu wollen. An die Stelle der fast spröden
realistischen Bilder sind jetzt erlesene Tableaux getreten. Kieslowski
inszeniert, als wolle er mit jeder Einstellung seine dokumentarischen
Anfänge vergessen machen und als hätte der Wechsel von der slawischen
in die romanische Welt einen geradezu obsessiven Stilwillen in ihm
freigesetzt.“[8]
Hinzukommen Wandlungen in der polnischen Filmgeschichte.
Kieślowskis Entwicklung ist im Vergleich zu den Ausgangspunkten des
„polnischen Kinos der moralischen Unruhe“ an einen Endpunkt angelangt.
Waren die Filme der 1970er Jahre (DER FILMAMATEUR, 1979) noch auf eine
Zertrümmerung von Mythen in der polnischen Gesellschaft, in dem Falle
des Alltags, gerichtet, so ist die FARBENTRILOGIE in ihrer
westeuropäischen Sicht der Lebensumstände einer Komponistengattin,
eines Fotomodels und eines pensionierten Richters von alle dem und dem
ihm eigentümlichen tragischen Realismus scheinbar weit entfernt. Man
kann den Wandel nationaler Mythen durch einen Rückblick auf Wajdas
Generationstrilogie in den 50er Jahren kenntlich machen: von den
nationalen Mythen führte der Weg bei Kieślowski in den 70er Jahren zum
„Kino der moralischen Unruhe“, zur ethischen Auseinandersetzung mit den
Verfälschungen in der Gegenwart des sozialistischen polnischen Staates
und in den 1990ern zum Privaten, zu ethischen Modellen, die aber immer
weiter in einer stilvollen postmodernen Dramaturgie westeuropäischer
Prägung endete - eine Ausnahme bildet die sehr polnisch erzählte
Tragik-Komödie vom Aufstieg des kleinen Friseurs Karol zum
erfolgreichen Immobilienmakler. Hat sich der Realist Kieślowski
letztlich in der Stunde Null der polnischen Filmproduktion an der
Schwelle der 1990er Jahre den westlichen Produktionsstandards, der
westeuropäischen Industrie angepasst?
Kieślowski war in seiner Entwicklung der „polnischen Schule“ der
Nachkriegsgeneration (A. Munk, A. Wajda) verbunden, aber er betonte
auch den Generationsgegensatz: „Auch sie wollten vor allem die Wahrheit
zeigen - nur ging es bei ihnen vor allem um die Mythen des Krieges, um
die Verfälschungen der unmittelbaren Vergangenheit. Während es uns
heute um Verzerrungen und Verfälschungen in unserer heutigen
Entwicklung geht.“ [9]
Verbindet sich also mit Kieślowskis FARBENTRILOGIE die Absage an
Nationalismus und ein Verschleiß der nationalen Mythen? Ist die
Entdeckung von Werten der europäischen Kulturtradition ein Ausweg aus
der Krise nationaler Werte Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre?
Einen Hinweis für die Denkweisen polnischer Intellektueller können
wir der Rede des Dramatikers Tadeusz Rózewicz an der Universität
Warwick (1990)entnehmen: „Nach der Epoche der Gasöfen und Massengräber
sollte der Mensch das kostbarste Gut auf Erden sein...Die Generation
der Soldaten und Partisanen des Zweiten Weltkrieges tritt ab, betrogen
und enttäuscht. Ich bin ein Dichter, so sagt man, doch ich bin vor
allem der Dichter meiner Generation. Einer Generation, betrogen von
Regierungen, Parteien, von Ideologien, von Glaubensrichtungen und durch
sich selbst.“[10]
Er verwies auf ein grundlegendes polnisches Generationsproblem.
Hat der Zusammenbruch sozialistischer Staaten im Ostblock für
Künstler, die in der Kritik nationaler Mythen zugleich eine
Gesellschaftskritik in diesen Systemen verfolgten, generell zu einer
Distanz zur nationalen Historie geführt? Wajda produzierte zwar einen
Dokumentarfilm über Katyn, kehrte 1985 in CHRONIK VON LIEBESUNFÄLLEN
zum Kriegsausbruch 1939 zurück, hatte aber nach dem DANTON (1982)
vorrangig Literaturverfilmungen (insbesondere Dostojewski) verfolgt.
Für diese Entwicklung könnte aber auch gelten, dass das „Kino der
moralischen Unruhe“ der 1970er Jahre (Krzysztof Kieślowski, Krzysztof
Zanussi, Grzegorz Krolikiewicz, Antoni Krauze, Roman Załulski) das
Politische mehr und mehr aus der Verletzung ethischer Ideale im
Sozialismus entwickelte und Wajdas Frage nach Nation und Historie nicht
mehr interessant war.
Die Filme dieser Ära konnten „eine aus der Realität kommende Unruhe
reflektieren. Eine Unruhe über den Verlust ethischer Ideale, eine
Furcht vor der Auflösung moralischer Normen.“[11]
Es scheint so, dass die Näherung an die westeuropäischen Kulturen
der Gegenwart die einstmals gehabten ethische Modelle schwieriger
werden lassen: Übergänge zu stilistischer Manie und betontes
Konstruieren der Stories sind in den letzten Filmen Kieślowskis zu
beobachten. Und: die inneren Welten der Menschen zwischen Absurdität
und neuen Hoffnungen sind an die Stelle nationaler Mythen und sozialer
Utopien getreten.
In der Literatur über Kieślowski hat neuerdings Monika Erbstein
(1997) den Bezug zu den Idealen der Französischen Revolution in der
FARBENTRILOGIE betont, aber aus der Perspektive von Antithesen
Kieślowskis:
„Am Ende von DREI FARBEN BLAU steht das ‘Finale’, mit dem Text des
Hohen Lieds der Liebe. Die Liebe spielt in allen drei Filmen der
Trilogie eine wichtige Rolle. Es ist keine begehrende Liebe, sondern
christliche Nächstenliebe...Die Trilogie hat, so gesehen, wirklich
religiösen Charakter, aber ich denke, dass es Kieślowski, wie auch
schon im DEKALOG, nicht um Religion geht, sondern um Menschlichkeit, um
das Zusammenleben und seine Regeln, um Humanität. Es liegt diesen
Arbeiten eine moralische Reflektion zu Grunde. Ausgangspunkt war die
französische Flagge mit den Farben Blau, Weiß und Rot und die damit
verbundenen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit...“ [12]
FARBE BLAU (1993)
„Abseits der Kinomoden steht die Farbdramaturgie in Krzysztof
Kieślowskis Trilogie zum Blau, Weiß und Rot der französischen
Trikolore. In TROIS COULEURS: BLEU (F / Polen / CH 1993) erfährt July
de Courcy (Juliette Binoche) eine Pervertierung der Freiheit, da sie
durch einen tragischen Unfall ihren Mann, einen bedeutenden
Komponisten, und ihre kleine Tochter verliert. Zerrissen zwischen
Todessehnsucht und Lebenskraft taucht sie – einmal sogar in
Embryohaltung – in das Wasser eines blau ausgeleuchteten Schwimmbeckens
ein. Ohne Atemluft und schwerelos übt sie sich im Sterben, aber ihr
Lebenswille treibt sie nach Luft ringend an die Oberfläche. In der
Einsamkeit einer Trauer, die Julie weder teilen noch mitteilen kann,
begegnet ihr die Farbe Blau als Heimsuchung verdrängter Erinnerungen:
ein in blauer Folie gewickelter Lutscher ihrer Tochter, eine
Komposition ihres Mannes, die von blauem Licht begleitet wie ein
orchestriertes Gewitter aus ihrem Kopf heraus bricht. Gekoppelt an die
Musik des unvollendeten Konzerts, welche Julies Ehemann für das
vereinigte Europa geschrieben hatte, wird die blaue Farbe zum
emotionalen Ausdruck nicht abgeschlossener Trauer, für die es keine
Bilder geben kann – eine Tonfarboberfläche, die den Zuschauer auf das
Hören des Unausdrückbaren verweist“, schreibt Susanne Marschall. [13]
Sie benennt zwar das herausgehobene Blau des Schwimmbeckens, das
übernatürlich verfremdet wird. Ich würde allerdings bei Kieślowskis
Farbendramaturgie des Blau und der Rollenfunktion der Heldin eine
leitmotivische Dialektik entdecken wollen. Das hyperblaue Schwimmbecken
wird zum Medium des Zusammensinkens, des Treibenlassens einerseits und
andererseits des Kampfes und damit des Rückgewinnens der Lebenskräfte.
Kieślowski versucht die Katastrophe zu konfrontieren mit der Dimension
der existentiellen individuellen Freiheit, die erst wieder gewonnen
werden muss von der Heldin (nach der Katastrophe gibt sie erst einmal
ihr ganzes bisheriges Leben auf, verkauft das Haus, begibt sich in die
Anonymität, vernichtet die Noten des Mannes zu einem europäischen
Konzert; ihre erste Reaktion auf die Katastrophe ist die völlige
Negierung des bisherigen Lebens, ja geradezu eine Zerstörung, wenn man
an die Vernichtung der Noten denkt).
Susanne Marschall übersieht weiterhin das 2.Leitmotiv in BLAU: eine
kugelförmige, aus Glaslüstern bestehende Lampe. Signalisiert das Blau
des Schwimmbeckens die Weite des Raums – in dem sie sich passiv
verlieren oder gegen den sie aktiv ankämpfen kann -, so ist gerade die
Kugelform der Lampe ein Zeichen für ihre innere Geschlossenheit,
Abgeschlossenheit nach außen im Banne der Katastrophe, wobei aber das
blaue Licht genau dies nun auch aufheben kann im Fließen nach außen,
was eine neue Dimension der Freiheit reifen lässt ( bezeichnenderweise
ist die Lampe als Zeichen in Szenen eingesetzt, in denen die Heldin
sich Menschen zuwendet).
Beide Farbmedien lassen sich also in Beziehung setzen zur Farbe
Blau der Trikolore und ihrer Losung LIBERTÉ in einem doppelten und
widersprüchlichen Sinne: Passivität der Trauer – Aktivität des wieder
aufgenommenen Lebenskampfes, innere Abkapselung im Zeichen der
Katastrophe und verströmende Energie, auch Hinwendung zu anderen
Menschen ( so zu Olivier, dem Sekretär ihres Mannes, so zu der
Prostituierten Lucille, der sie seelischen Beistand gibt, so zur
Geliebten ihres Mannes, die von ihm ein Kind erwartet und für das July
Verantwortung übernehmen wird) im Zeichen einer sich allmählich wieder
entfaltenden Eigenverantwortung und tätigen Liebe.
Aber: Kieslowski macht einen Wertewandel im Vergleich zu tradierten
Werten der Revolutionssymbolik geltend. Er macht eine
christlich-existentielle Dimension von LIBERTÉ auf, die sich außerhalb
jeglicher politischer Kategorien entwickelt und die ausschließlich am
Individuum und seinem Wiedergewinnen von seelischer Kraft nach der
Umwälzung, nach der Katastrophe orientiert ist. Ihn interessiert nicht
die Farbe Blau der Trikolore mit ihrem von der Französischen
Bürgerlichen Revolution getragenen sozialen Impetus. Ihn interessiert
1993 der Wertewandel vom revolutionären Umbruchsbewusstsein hin zu
einer letztlich im christlichen Wertebewusstsein kulminierenden
existentiellen individuellen Freiheit als einem Wert der europäischen
Kultur. Aber bezeichnend ist auch, dass diese Freiheitsproblematik die
einer sozial gesicherten und finanziell unabhängigen Frau des
begüterten Mittelstandes ist. Für Frauen der Unterschicht in sozial
problematischen Verhältnissen könnte sich eine ganz andere
Freiheitsproblematik ergeben (wie in Filmen des englischen Realisten
Ken Loach mehrfach bewiesen z.B. LADY BIRD, 1994, die Sozialarbeiterin
Sarah in MY NAME IS JOE, 1998).
Die Farbe Blau in diesem Film wird von Kieślowski einerseits über
die beiden oben genannten Leitmotive alternativ zur Trikolore
entfaltet. Darüber hinaus wird sie auch in eine Vielzahl von
Farbempfindungen und semantischen Zwischentönen zerlegt. „Als reiner
Farbraum ist die Bläue ein bilderloser Ort der Leere, an dem es nichts
mehr zu sehen gibt und der zugleich alles bedeutet, was sich nicht
zeigen lässt: Kühlung, Heilung, Katharsis, Transzendenz, Mystik,
Spiritualität, Unendlichkeit, das Absolute, Jenseits, Ewigkeit, Tod“,
schreibt Susanne Marschall. [14]
Für Kieślowskis Werteverständnis ist bezeichnend, dass der Film mit
der Aufführung des nun geretteten und bearbeiteten europäischen
Konzerts endet und diesem als (alter) neuer europäischer Wert eine
Textstelle aus dem 1.Brief von Paulus an die Korinther, 13, Das
Hohelied der Liebe unterlegt wird:
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle…
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse
und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge
versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts…
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht…
Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.
Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird…
Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ [15]
FARBE WEISS (1993)
Kieślowski hat in FARBE WEISS eher eine Komödie mit vielen
Ungleichheiten geschaffen – auf der Ebene Paris als Ort des totalen
Verlustes aller existentiellen Sicherheiten und der persönlichen
Katastrophe und auf der Ebene des heimatlichen Polens, „der Müllhalde“,
als Feld der mit Glück gehandhabten Ungleichheiten, auf der
Geschlechterebene, auf der Ebene finanzieller Möglichkeiten. Es ist
eine polnische Chaplinade mit vielen Zufällen und Slapstick -
Einfällen. Es ist die Geschichte eines Pechvogels, der zum Aufsteiger
in der Wendezeit Polens wird und diese Wendezeit kennt keine
Gleichheiten im Sozialen. In einem weiteren Sinne setzt Kieślowski
gegen die ideologische Pathosformel der Gleichheit im sozialistischen
Polen die Ungleichheit im Polen vor und nach der Wende. So ist Polen im
Vergleich zum prosperierenden Frankreich ungleich, weil wirtschaftlich
völlig heruntergekommen. Margarete Wach geht soweit, Karols Impotenz
gegenüber Dominique als Metapher für diese Situation zu werten. [16]
Und andererseits offenbaren die dubiosen Geschäftsgebaren in der
Wendezeit in Polen so krasse Ungleichheiten, dass Gleichheit eine nicht
mehr haltbare verschlissene, ideologische Formel ist.
Zur Komödie kann die Story werden, weil Kieślowski die Gleichheit
in ständigen Verkehrungen entwickelt. „Es findet sich (die Gleichheit)
– versteckt -auf verschiedenen Ebenen zwischen Mann und Frau, auf der
Ebene der Ambitionen, im Reich der Finanzen. In WEISS geht es nicht um
Gleichheit, sondern um Ungleichheit. In Polen sagt man: ’Jeder will ein
bisschen gleicher sein als der andere.’ Der Satz ist fast ein
Sprichwort geworden und will sagen, dass die Gleichheit unmöglich ist:
Sie steht im Widerspruch zur Natur. Daher auch das Scheitern des
Kommunismus. Aber dennoch ist es ein schönes Wort und man sollte alles
tun, damit es Gleichheit geben kann - auch wenn man weiß, dass es einem
nicht gelingen kann, und das ist ein Glück: Denn wirkliche Gleichheit
endet in einem konzentrationären System“, sagte Kieślowski. [17]
Es wird eine Geschichte erzählt von Karols (Zbigniew Zamachowski)
Verlust der geliebten Dominique (July Delpie), Friseuse in Paris,
unbefriedigt und deshalb die Ehescheidung durchsetzend und einem
märchenhaftem Aufstieg als Immobilienhändler und einer märchenhaften
Inszenierung des Todes seiner selbst.
I. Phase ( Exposition, erste Peripetien): Schock und Verlorensein
Karols (Dominique lässt sich scheiden / er lernt den Polen Mikojan in
Paris kennen, der ihn für einen Killerauftrag gewinnt; er kommt
versteckt in einem Koffer in die Heimat / er ist auf dem Flugplatz mit
einer Diebesbande konfrontiert, die ihn im Koffer entführt hat);
II. Phase (Peripetien): Der Aufstieg Karols mit Hilfe des dubiosen
Mikojan, den er schließlich auf eigenen Wunsch töten soll und mit dem
er sich aber verbrüdert; es gelingt ihm, gegen die Interessen einer
Gang Immobiliengeschäfte erfolgreich zu tätigen;
III. Phase (Kulmination und Finale): Karol lässt sich zum Scheine
ermorden und Dominique reist an in Polen, denn er hat sie zur Erbin
seines Vermögens erklärt. Karol taucht wieder auf und in einer
Liebesnacht wird nun erstmals in ihrer Beziehung ein Orgasmus ihre
Gleichheit glückhaft besiegeln. Weißes Licht am Ende eines langen
Tunnels und schließlich eine Einstellung mit flutendem Weiß schneidet
Kieślowski symbolisch in die Szene. Margarete Wach, die eine
ausgezeichnete Monographie zu Kieślowski geschrieben hat, hat die
Semantik dieser Sequenz und auch Kieślowskis Hang zum Absurden in ihr –
Gleichheit als nur noch sexuelles Problem – hervorgehoben. [18]
Karol will sich nach Hongkong absetzen, aber er entdeckt erneut
seine Liebe zu Dominique. Es scheint so als wolle Kieślowski in
grotesker Weise die ungleiche Liebe von Karol und Dominique im
Schlussbild besiegeln, wenn er zeigt, dass nun Karol in das Gefängnis
gehen muss, um bei seiner Dominique sein zu können.
Kieślowski zeigt einerseits polnische Verhältnisse der „Wende“
(Bank- und Immobiliengeschäfte, Maffia) und andererseits wie ein
kleiner, unbedeutender Pole seine geliebte Französin zurück erobert,
wie er sie straft und wie er sie wieder gewinnen kann. Die Komödie
operiert mit Verkehrungen und sie operiert schließlich mit dem „Wunder
der Hoffnung“ - als existentiellem Wert, der als Anti-Wert zur (nicht
einlösbaren) sozialen Gleichheitsutopie gedeutet werden kann.
FARBE ROT (1994)
In diesem Film ist die Handlung in Genf angesiedelt und wieder wird
ein westeuropäisches Land gewählt, das im Vergleich zu dem
wirtschaftlich verkommenen ehemaligen sozialistischen Polen als
Prototyp der Bürgerlichkeit und des Wohlstandes gilt. Kieślowski nimmt
diese Bürgerlichkeit nicht ohne die moralische Prüfung an. Er erzählt
nicht eine sondern mehrere Geschichten von der Einsamkeit und von
seelischen Defekten, aber er hält dem entgegen letztlich Werte,
humanitäre (christliche?) Werte, die als Regulative in dieser Kultur
konfliktlösend sind.
Der letzte Film der FARBENTRILOGIE verknüpft Ästhetik und Ethik in
einer Weise, die über die beiden vorangegangen Filme hinausgeht.
Die Ästhetik dieses Films wird von mehreren Besonderheiten bestimmt:
(1) Kieślowski stellt nicht mit der Farbe Rot den Wert
„Brüderlichkeit“ dar. Er zeigt Bilder, die die gewachsenen technischen
Möglichkeiten der Verkabelung der Menschen zum Indikator für Einsamkeit
und seelische Defekte werden lassen. Der Vorspann des Films zeigt, wie
jemand eine Rufnummer am Telefon wählt und dann folgen technisch
perfekte Bilder von Kabeln und Kabelverbindungen, von Schaltstationen.
Es liegt der Schluss nahe, dass das Telefongespräch mit seiner Nähe zur
Intimität und der gleichzeitigen Distanz der Telefonierenden in diesem
Film als Indiz für einsame Menschen, die nach zwischenmenschlicher
Kommunikation suchen, steht. Das Telefon – auch die Abhöranlage - wird
in diesem Film als ein Indikator des Zerfalls der zwischenmenschlichen
Beziehungen in der Gegenwart gezeigt. Brüderlichkeit wird in der
Nächstenliebe gesehen, die im Gespräch und im Glauben an das Gute in
den Menschen, auch im Respekt vor ihren Geheimnissen, eine
humanisierende Möglichkeit bietet, um dem Absurden des eigenen
Verhaltens entrinnen zu können. Nächstenliebe und im weiteren Sinne
Brüderlichkeit ist nicht mit einem medialen Farbzeichen Rot zu
erfassen. Hierzu sind das Dialogisieren und das verstehende Zuhören
notwendig. Die gesprochene Sprache kann zum Medium der Brüderlichkeit
werden. Kieślowski führt im Rahmen eines ethischen Denkmodells auch
einen Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen der Farbe im Vergleich
zur Sprache.
(2) Die Handlung des Films ist chronologisch aufgebaut, aber statt
einer durchgängigen Storylinie präsentiert der Regisseur eine
Hauptstory (die Begegnungen des Fotomodels mit dem pensionierten
Richter), die sich bricht in parallelen Stories ( Fakten der
Lebensgeschichte des Richters wiederholen sich in der Story des
Jurastudenten und jungen Richters Auguste; obwohl Valentine ihren
Freund in England hat, und sie ihren Nachbarn Auguste nicht kennt,
erzählt der Regisseur Szenenfolgen, in denen der Schluss nahe liegt,
dass beide als Paar füreinander bestimmt sind, im Finale sind beide ein
Paar insofern als sie die einzigen überlebenden Schweizer auf der
verunglückten Fähre sind). Diese Aufsplitterung der Handlung in
verschiedene Stories, die sich mitunter nicht eindeutig in das
dramaturgische Schema Exposition, Peripetien, Kulmination, Katastrophe
einordnen lassen, legt den Verdacht nahe, dass der Regisseur wie ein
Richter über seine Figuren waltet und eine Poetik des Zufalls als
Kunstmittel geltend macht. Er folgt in der Verschachtelung von Stories
nicht klassischen dramaturgischen Schemata. Er praktiziert eher eine
Begegnungsdramaturgie, die aber Besonderheiten aufweist. Der Zufall
führt Valentine in des Richters Haus, durch Zufall entdeckt sie, dass
der Pensionär die Telefonate seiner Nachbarn abhört. Der Zufall führt
Valentine und August beim Fährunglück zusammen. Für die Begegnungen ist
auch charakteristisch , dass sie sich oftmals in der
Telefonkommunikation erschöpfen (z.B. findet die Kommunikation von
Valentin mit ihrem heroinabhängigen Bruder und ihrer einsamen Mutter
ausschließlich über das Telefon statt; das gilt auch für die
Beziehungen zwischen Valentine und ihrem eifersüchtigen Freund Michel;
das gilt auch für Karin, die einen Wetterauskunftsdienst betreibt und
die bis zur Trennung von Auguste mit ihm per Telefon verknüpft ist).
Die Begegnungen – ob zwischen Valentine und dem Richter, ob es die
Telefonate sind - sind oftmals ausschließlich durch das Dialogisieren,
durch eine Dramaturgie des Gesprächs bestimmt. Dies sind Diskursformen,
die Kieślowskis Anliegen, Werte in den Beziehungen der Menschen
sichtbar zu machen, stützen. Einzig die Beziehung zwischen Auguste und
seiner Freundin Karin weist einige Aktionen auf, wenn Auguste Karin
nachspioniert.
(3) Die Farbe Rot dominiert in diesem Film in besonderer Weise:
a) Rot taucht im Interieur und in den Kostümen oft und vielfältig
auf; der Regisseur schafft damit Wahrnehmungsauffälligkeiten in den
Szenen ohne dass diesen semantischen Qualitäten zugeordnet sind. Man
könnte meinen, dass diese schillernde Vielfalt der Farbe Rot im Leben
seiner Figuren ausschließlich ästhetischen Überlegungen folgt und nicht
an eine ethische Wertediskussion gebunden ist.
b) Davon unterschieden ist der Gebrauch der Farbe Rot als „Signal“
im dramaturgischen Aufbau (z.B.: die übermäßige Roteinblendung in der
Scheibe von Valentines Auto vor dem Unfall der Hündin Rita; das rote
Werbeplakat mit dem Foto der Valentin, das Erschrecken und Trauer zeigt
und das im Vorfeld von Szenen eingeblendet wird, die seelische Defekte
von Menschen offenbaren oder – so im Finale – das Fährunglück
vorwegnehmen).
Die Farbe Rot wird also in diesem Film niemals semantisch in
Anlehnung oder in Polemik mit der Trikolore verwendet. Sie taucht – im
Gegensatz zur Farbe Blau und Weiß in der Trilogie – niemals als Medium
einer Wertediskussion auf. Es scheint so, als ob Kieślowski die im
20.Jahrhundert so bedeutungsschwere Farbe Rot nicht in einem
Wertediskurs zur Sprache kommen lassen wollte – vielleicht ist dies
auch seiner Haltung zum ehemals gehabten Sozialismus geschuldet.
Die Hauptgeschichte lässt sich vereinfacht wie folgt benennen:
I. Phase (Exposition): Der Unfall der Hündin Rita bei Valentins
nächtlicher Autofahrt. Sie bringt das verletzte Tier zu dem Besitzer,
den pensionierten Richter Joseph Kern, der darauf ohne Teilnahme
reagiert. Ihr Interesse für den einsamen und misanthropischen Mann ist
geweckt.
II. Phase (Peripetien und erste Kollisionen): Sie entdeckt bei
ihren Besuchen, dass der einsame Richter in seinem Haus eine
Abhöreinrichtung für Telefonanschlüsse in seiner näheren Umgebung
besitzt. Die Telefonate eines verheirateten Homosexuellen, zwischen
einer alten, einsamen Frau und ihrer Tochter offenbaren Grenzbereiche.
Valentine nimmt Abstand von dem Versuch, dem verheirateten Mann
mitzuteilen, dass seine Telefonate abgehört werden. Der Richter sieht
sich in seinem Ekel vor den menschlichen Abgründen bestätigt. Er ist
nicht schlechthin ein Voyeur. Er ist ein Richter, der sich selbst die
Grenzen seiner Profession angesichts absurden Tuns der Menschen
beweisen will. Valentine bezeichnet den Glauben an das Böse im Menschen
als den falschen Weg. Während der Richter in seiner Einsamkeit das
Böse, das Zerstörerische der Menschen sucht, glaubt Valentine an das
Gute im Menschen. Sie glaubt daran, dass im Verstehen und im
Verständnis des anderen seelische Defekte überwunden werden können und
praktiziert damit Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit im christlichen und
im therapeutischen Sinne.
III. Phase (Peripetien, Kulmination): Da der Richter sich selbst
angezeigt hat, kommt es zu einem Gerichtsverfahren. Valentine hat ihn
dazu veranlasst, wie er ihr im Gespräch gesteht. Im Ergebnis unterlässt
er seine Abhöraktionen. Auf ihre Frage: „Gibt es jemanden, den Sie
lieben?“ antwortet Joseph Kern mit „Nein“. Nach einer Modenschau kommt
es zu einem einschneidenden Gespräch zwischen Joseph Kern und der
Valentine, in dem der pensionierte Richter das Geheimnis seines
absurden Tuns offenbart. Die Frau, die er liebte, hatte ihn verlassen
wegen eines anderen Mannes. Er verfolgte sie. Sie verstarb bei einem
Autounfall. Später hatte er über den Mann in einem Prozess zu richten,
in dem zu entscheiden war, ob dem Manne auf Grund seiner Verantwortung
für einen Markthallenbau, angesichts des Einsturzes der Halle und
mehreren Toten, eine hohe Strafe zuzusprechen war. Er urteilte auch aus
persönlichen Beweggründen zuungunsten des Mannes.
Mit dieser Beichte ist er imstande, seine Eigenverantwortung für
sich und andere Menschen zu definieren. Mit dieser Beichte gewinnt er
gegen das absurde Sein, das sein Leben bestimmte, die Chance zur
moralischen Freiheit, aber auch die Barmherzigkeit der Valentine.
IV. Phase (eher ein unkonventioneller Ausklang als ein klassisches
Finale): Der Richter sieht im Fernsehen die Bilder eines Fährunglücks
und ist betroffen, denn er hatte Valentine diese Fährfahrt empfohlen.
Kieślowski lässt aber eine Poetik des Zufalls am Ende der
FARBENTRIOLOGIE walten: Valentine und – nun die Überraschung des
Regisseurs für den Zuschauer – auch die Hauptpersonen der anderen zwei
Filme der Trilogie werden gerettet. Nicht ein konstruiertes Happy
Ending schließt die Trilogie ab sondern ein philosophisches Konstrukt:
die absurde Macht des Todes ist nicht absolut, sie kann durch
den Zufall aufgelöst werden. Es schließt sich der Kreis der
existenzphilosophischen Themen der FARBENTRILOGIE: die Poetik der
Zufälle ermöglicht es, gegen das absurde Sein humanitäre Möglichkeiten
des Überlebens zu setzen. In diesem Sinne versteht sich Kieślowski
letztendlich auch als ein höherer Richter, der seinen Figuren in seinem
ethischen Denkmodell ironisch ihren Platz zuweist.
Kieślowski dazu: „In meinen Filmen, wie in meinem Leben, suche ich
nach dem Moment, der über die Zukunft entscheidet. Das, was zur Auswahl
steht. Das Gute oder das Böse. Zufall oder Notwendigkeit...“ [19]
Margarete Wach hat in Anlehnung an polnische Diskussionen auf
Kieślowskis geistige Verwandtschaft mit der existenzphilosophischen
Position Albert Camus hingewiesen [20]
Es gibt keinen Hinweis auf den möglichen Einfluss von Camus´ Roman
DER FALL (1953) auf den Film FARBE ROT. Auch ist die Story von Roman
und Film nicht vergleichbar, weist aber einige Ähnlichkeiten auf. Im
Roman unterhält sich ein ehemals erfolgreicher Pariser Rechtsanwalt,
der im Amsterdamer Matrosenviertel in einer Kneipe sich zum Bußrichter
erklärt hat und die Armen zur Beichte ihres Lebens aufruft, mit einer
Person, die er in der Kneipe kennen gelernt hat und der er von seinem
Leben und seinen Lebensansichten erzählt. Mit dem Schluss des Romans
liefert Camus ein existenzphilosophisches Denkmodell. Der ehemalige
Rechtsanwalt bewahrt zu Hause ein gestohlenes Bild mit dem Titel
„Unbestechliche Richter“ auf, das von der Polizei gesucht wird. So
gesehen ist er ein Fall für die Gerichte und die Strafgesetzgebung.
Sein eigentliches Problem ist aber ein moralischer Konflikt, der mit
Gesetzen nicht zu ahnden ist – nur mit seinem Gewissen. Er hat einst in
Paris – aus Bequemlichkeit und mangelnder Nächstenliebe – den
Todessprung einer jungen Frau in die Seine nicht verhindert. Er war zu
bequem, Hilfe herbei zu rufen. Er war zu feige, in die Seine zu
springen, um die Selbstmörderin zu retten. Und er ist am Schluss des
Romans wiederum ein Versager in diesem Sinne. Er kann und will nicht
gegen seine absurde Situation mit der Tat angehen. Er belässt es beim
Leiden als der Buße und bei der Beichte. Er müht sich wie Sisyphos mit
dem Gesteinsbrocken, ohne zur moralischen Freiheit zu gelangen.
Im Gespräch sagt der Richter: „Wahrhaftig, lieber Freund, wir sind
merkwürdige, jämmerliche Kreaturen, und wenn wir im geringsten
Rückschau auf unser Leben halten, ermangeln wir nicht der
Gelegenheiten, uns über uns selbst zu erstaunen oder zu empören.
Versuchen Sie es! Sie dürfen gewiss sein, dass ich Ihre eigene Beichte
mit einem tiefen Gefühl der Brüderlichkeit anhören werde.“ [21]
Diese Sätze muten an wie ein Schlüssel zur Befindlichkeit des
pensionierten Richters Joseph Kern. Nur dass Kieślowski an die Stelle
der oben genannten Brüderlichkeit (im Sinne gemeinsamer pessimistischer
Sicht auf die Mitmenschen und das eigene Verhalten) eine andere
moralische Dimension setzt: Brüderlichkeit im Sinne der Nächstenliebe,
der Barmherzigkeit und des Glaubens an das Gute im Menschen.
Indem der pensionierte Richter durch Valentine dazu gebracht wird,
die Ursache seines seelischen Defektes zu beichten, wird es ihm
möglich, über die eigenen Fehler zu richten und eine neue Dimension von
Zukunft zu gewinnen.
Während Camus in DER FALL einen Rechtsanwalt und Richter vorführt,
der die Brüderlichkeit mit einer Ethik der Komplizenschaft von Richter
und Zuhörer in der Frage des Geworfenseins des Menschen in Versagen und
Schuld gleichsetzt und der das Leiden der Masse mit Nihilismus
verbindet, versucht Kieślowski mit der Besinnung auf christliche Werte
einen Gegenentwurf, der die solidarische Humanität gegen die soziale
Desintegration setzt.
FARBENTRILOGIE, Existenzphilosophie und Ethik
Für französische Existentialisten wie Sartre oder Camus war der
zweite Weltkrieg die grundsätzliche Erfahrung der Absurdität des Seins.
Die Wertekrisen der Nachkriegszeit beförderten ihre Suche nach der
Freiheit des Individuums in der Praxis von Selbstverwirklichung und
wahrzunehmender Eigenverantwortung gegenüber absurden Wirklichkeiten.
Angst, Ekel, Leiden, Tod, Liebe erweisen sich als Grundsituationen, in
denen das einsame Ich die Grenzen seiner Erkenntnis durchschreiten
kann.
Kieślowski, der in seiner Studienzeit in den 60er Jahren mit dem
französischen Existentialismus in Berührung kam, hatte nicht so sehr
Sartres „Marxismus und Existentialismus“ (Paris 1960) mit der Polemik
gegen Lukácz im Auge. Seine Erfahrungen im sozialistischen Polen, die
von Alltagszwängen der Konformität, von Korruption, von Bürokratie, von
Mangelwirtschaft, widersprüchlicher Fortschrittsgläubigkeit, vom
Totalitarismus und Zensur geprägt waren, ließen ihn fragen nach dem
Sinn menschlicher Existenz und nach der Dialektik von Bösem und Guten
im Individuum in einer indoktrinierten Gesellschaft. An der Schwelle
der 1990er Jahre schlägt das bei diesem Regisseur um in eine
metaphysischere Sicht der menschlichen Innenwelten.
Kieślowski formulierte: „Heute versuche ich stärker, mich der
inneren, der tieferen Welt des Menschen, die ich als Geheimnis
bezeichnen würde, zu nähern. Dazu gehört auch das, was er zu verstecken
sucht: seine Angst, seine Tränen, seine Einsamkeit, all die
Schicksalsschläge wie Todesfälle und Verluste, die wir im Leben
hinzunehmen haben. Aber auch positive Erlebnisse: wie etwa eine Geburt
oder glückliche Zufälle gehören zum Geheimnis des menschlichen Lebens.“
[22]
An diesem Punkt setzt die FARBENTRILOGIE an, aber Kieślowski
fetischisiert nicht die Geheimnisse der Innenwelten. Er ist mit Albert
Camus verwandt, wenn er die Revolte gegen die Absurdität verbindet mit
der humanisierenden Geste der mitmenschlichen Solidarität, wenn auch
der Roman DER FALL in dieser Hinsicht im Schaffen von Camus eine
entgegen gesetzte Ausnahme bildet.
Das ist Kieślowskis Schnittfläche zu FREIHEIT, GLEICHHEIT,
BRÜDERLICHKEIT als europäischen Kulturwerten, die für ihn nicht auf
Sozialutopien zu beschränken sind.
Diese Denkweise weist ihn aber als einen eminenten Ethiker des
Kinos aus. Seine Semantik der Farben der französischen Revolution
entspringt nicht einer Normethik sondern seine drei Filme liefern
Denkmodelle und ergeben sich aus einer Haltungsethik, die den Sinn
menschlicher Existenz hinterfragt in Konkretionen.[23]
Kieślowskis FARBENTRILOGIE kann deshalb auch als eine Konstruktion
ethischer Modelle gelesen werden, die auf die Erkenntnis von
Werteinsichten beim Zuschauer zielt. Interessant ist, dass die
Dramaturgie jeweils verschiedene Perspektiven von Lebenserfahrungen der
Figuren geltend macht, die in einzelnen Schritten von
Kontrasterfahrungen zu Sinnerfahrungen führen.
In allen drei Filme der FARBENTRILOGIE sind zu entdecken:
(1) einschneidenden Kontrasterfahrungen der Figuren mit Erfahrungen der Negation bisheriger Wertsysteme
Die Orientierungskrise, in die die Figuren fallen, hat zunächst
Divergenzen von Wertmustern zur Folge, ohne dass die Figuren sofort
einen Wandel zu neuen Sinnerfahrungen machen würden (die Frau des
Komponisten löst alles, was sie an den Mann band auf oder vernichtet
ist; Karol vollzieht einen sozialen Abstieg in Paris, er erhält das
Angebot, jemanden zu ermorden, er ist bei seiner Ankunft in Polen mit
Dieben konfrontiert, er ist konfrontiert mit gewissenlosen
Immobilienhändlern; der pensionierte Richter, der seine telefonierenden
Nachbarn anzapfte und der die Telefonate als Beweis für die
Kümmerlichkeit und Abartigkeit der Menschen, für ihr Lügen und
Verbergen im Alltag nimmt und damit seinen Ekel vor den Menschen nährt,
macht in den Diskussionen mit Valentine Kontrasterfahrungen;
kennzeichnend für Kontrasterfahrungen der Valentine sind die Szenen, in
denen Valentine den vom Richter abgehörten Ehemann, der mit seinem
homosexuellen Geliebten telefoniert, warnen will, aber vor der
beschaulichen Familiensituation zurückschreckt).
D.h. die Kontrasterfahrungen führen erst einmal zu einer Diagnose
der moralischen und seelischen Defekte der Figuren. So betont Charly
Martig: „Modellethik geht vom Defekten aus (Diagnose aus der
Kontrasterfahrung), führt zum Aufgehen neuer Potenzen durch ethische
Förderungsgestalten (Realisierung von Sinnerfahrung durch Modelle) und
ermöglicht eine wirklichkeitsgerechte Meliorisierung, d. h. eine
Steigerung der sozialen und individuellen Möglichkeiten. In diesem
Sinne führt sie hin zu einer sozial-therapeutischen Ethik.“[24]
(2) Die Entwicklungen der Figuren vollziehen sich über Sinnerfahrungen
Die existentialistische Sicht Kieślowskis ist humanistisch:
absurden Realitäten wird die Sinnerfahrung entgegengesetzt, durch die
erst moralische Freiheit gewonnen werden kann.
FARBE BLAU: Julys Begegnung mit anderen Menschen (ein Verfolgter,
dem sie hilft / die Prostituierte, die ihre Hilfe braucht / Oliviers
Arbeit am Europakonzert / die Entdeckung der Freundin ihres Mannes)
lassen sie einen Wandel vollziehen. Kontrasterfahrungen schlagen um in
die Sinnerfahrung, die es ihr ermöglicht, ihre Orientierungskrise zu
überwinden.
FARBE WEISS: Karol entdeckt, dass er in den Immobiliengeschäften
Geld machen kann, aber Sinnerfahrungen gewinnt er erst in der erneuten
Begegnung mit Dominique, die ihn nun wirklich liebt.
FARBE ROT: der Richter zeigt sich an und die Nachbarn verklagen ihn
und seinen Voyerismus, aber er entdeckt einen tieferen Sinn in seinem
Handeln durch die Gespräche mit Valentine; er findet in Valentine einen
Menschen, der an die Nächstenliebe glaubt. Er entdeckt menschliche
Brüderlichkeit als Wert.
(3) Motivations- und Intensitätserfahrung
Kieślowski zielt auf Wandlungen seiner Figuren, nicht in dem Sinne,
dass er Emanzipationen von Persönlichkeiten vorführen würde. July
überwindet ihre Orientierungskrise (BLAU) schließlich in moralischer
Freiheit kraft der Liebe als Haltung zu Menschen und Welt. Karol
(WEISS) vollzieht die Wende vom Pechvogel, der alles verloren hat, zum
Aufsteiger, der die Hoffnung der Liebe wieder gewinnt. Der Richter
(ROT) gibt durch die Gespräche mit Valentine seine Abhörpraktiken auf,
weil er beginnt, an der Richtigkeit seiner Motivation zu zweifeln. Er
gewinnt die Kraft zur Beichte seines Lebens. Träume intensivieren
seinen Motivationswandel.
Alle drei Filme der FARBENTRILOGIE kreisen um eine Betroffenheit,
die aus zerstörter Liebe resultiert (der Unfall in BLAU als die
Katastrophe, die Ehemann und Tochter aus Julys Leben reißt; die
Scheidung für Karol in WEISS am Anfang der Story; die verdrängte
Ehemisere des Richters als tieferer Grund , seiner Gleichgültigkeit und
seiner Menschenverachtung). Deshalb trifft auf alle drei Zentralfiguren
zu, was Charly Martig zur Dramaturgie eines Films von DEKALOG
feststellte: „Zur Aneignung von Sinneserfahrungen in der eigenen
Lebenserfahrung gehört schließlich die Intensität der Betroffenheit,
aus der erst die Möglichkeit entsteht, unter gegebenen Umständen ein
anderer zu werden. Wen nichts rührt, für den sind Einsichten
akademisch. Deshalb werden Sinnerfahrungen oft erst im Leiden zu
durchschlagenden Motivationserfahrungen. Im Leid kulminiert die
Intensitätsform der menschlichen Lebenserfahrung: im Leid des Übels, im
Leid des Unrechts, im Leid der Liebe.“ [25]
Welche ethischen Modelle entwirft Kieslowski in der FARBENTRILOGIE?
FESTSTELLUNG 1
Thematisch entwirft Kieslowski ethische Modelle der Liebe – und
bezieht sie auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als zentralen
humanitären Werten menschlicher Existenz. Charly Martig prägte für
einen Film von Kieślowski die These, dass bei Kieślowskis Stories von
der Liebe Erotik, Sexualität und Fürsorge durch das Medium der
Zärtlichkeit in einem theologischen Sinne verbunden werden. [26]
Welche Modelle der Ehe, Sexualität, Liebe sind in allen Filmen der FARBENTRILOGIE zu entdecken?
I. Die Ehe als gesetzliche Institution, in der die Partner einander
verpflichtet sind, wird durch Katastrophe oder eigenes Verschulden
zerstört. Kieślowski befragt existentielle Probleme in absurder
Situation, die daraus entstehen
BLAU: Die Zerstörung der Ehe kommt von außen - durch den Unfall.
July zerstört alle bisherigen Bindungen, will ein völlig neues Leben
beginnen und muss lernen, ihre Eigenverantwortung in Freiheit erst zu
finden.
WEISS: Die Zerstörung ergibt sich mit der von Dominique
durchgesetzten Ehescheidung in Paris. Durch den absurden Aufstieg des
Karols in der polnischen Heimat beginnt für beide – über viele komische
Situationen – eine Neuentdeckung ihrer Liebe und Ehe.
ROT: Die Zerstörung erfolgte durch die Ehefrau, die ihren Mann
wegen eines anderen verließ. In seinem Hass versuchte er diesen Mann in
einem Gerichtsprozess zu vernichten und flüchtete sich im Alter in die
Einsamkeit, in den Ekel vor den Mitmenschen (und damit auch vor sich
selbst). Erst durch die Aufmerksamkeit und Fürsorge einer jungen Frau
findet er die Kraft, die von ihm geschaffene absurde Situation zu
überwinden.
II. Sexuelle Bedürfniserfüllung als Grundlage des Selbstbewusstseins ist widersprüchlich
In allen drei Filmen ist die Sexualität eine entscheidende
Triebkraft, die freie Entscheidungen ebenso einschließt wie
Verletzungen der Liebe. Existentiell kann diese Freiheit Seelenqualen,
Demütigungen und absurde Situationen zur Folge haben.
BLAU: July, die Frau des Komponisten hat Sex mit dem Freund ihres
verunglückten Mannes, ordnet das aber ausschließlich einem egoistischen
Abschiednehmen vom bisherigen Leben unter.
WEISS: dem in Qual vergehenden Karol berichtet Dominique am Telefon
von ihrer sexuellen Beziehung zu einem anderen Mann, um ihn zu
verletzen
ROT: ein verheirateter Mann gesteht in einem Telefonat seine Liebe zu seinem homosexuellen Geliebten.
III. Liebe als intersubjektive Erfahrung und als soziale Liebe-
das Hohe Lied der Liebe - Liebe als Bekräftigung der Individualität und als Hoffnung der sozialen Integration
Kieślowski sieht letztlich in dem christlichen Verständnis der
Liebe einen europäischen Kulturwert, mit dem die Einsamkeit und
Verlorenheit des Einzelnen überwunden werden kann. Die Liebe wird damit
für ihn zu einer humanitären Möglichkeit der Integration des Einzelnen
in die Gesellschaft.
BLAU: die Überwindung der Orientierungskrise der Frau des
Komponisten und das Finden von Selbstverwirklichung und
Eigenverantwortung im Zeichen des Wertes des Hohen Liedes der Liebe
(1.Brief des Paulus an die Korinther)
WEISS: Karols Inszenierung seines Todes ist anfangs Rache an
Dominique, wird aber schließlich zum Beginn einer neuen Hoffnung auf
ihre gemeinsame Liebe
ROT: der pensionierte Richter gewinnt durch die Gespräche mit
Valentine, die ein Prinzip der sozial-therapeutischen orientierten
Liebe verfolgt, die Fähigkeit zur Reflexion seines Lebens, zur
Korrektur seines negativen Wertsystems.
Untersucht man diese drei Modelle so lassen sich für das Verhältnis
von moralischen Normen und Werteinsichten folgende Schlussfolgerungen
treffen:
(1) Ehe wird nicht primär durch „Nachkommenschaft“ (im katholischen
Normensystem) bestimmt und es wird der Gegensatz von
gesetzlich-institutioneller Verpflichtung und individuellen
Lebenserfahrungen und Lebensmöglichkeiten geltend gemacht (Dominique
lässt sich von Karol scheiden / die Frau des Richters betrog ihn).
Kieślowski verzichtet auf eine Diskussion des Normensystems der Ehe,
aber er formuliert mit dem Hohen Lied der Liebe (in FARBE BLAU)
grundlegende Werteinsichten.
(2) Sexuelle Befriedigung ist elementarer Bestandteil des Lebens
und wird als solche nicht in einer Tugendethik normiert (z.B. wie die
katholische Verurteilung der Homosexualität), aber Kieślowski überlässt
dem Zuschauer das Urteil. Andererseits zeigt er, wie vorschnelle
Verurteilungen ungerechtfertigte Folgen haben können
(Unterschriftensammlung gegen die Prostituierte im Wohnhaus /
Verweigerung der Unterschrift durch July).
(3) Das integrierende Erfahrungsmodell ist das der Liebe als
sozialer Kraft (Nächstenliebe, Solidarität, Verstehen, Güte, Verzeihen
etc.), das auch Erotik einschließen kann.
FESTSTELLUNG 2
Das ethische Modellverfahren (wie es von Kieślowski verfolgt wird)
zielt nicht darauf, allgemeine Normative von Gut und Böse zu vermitteln
- also Moralnormative zu diskutieren und zu präsentieren -, sondern aus
konkreten szenischen Situationen und der Lebensgeschichte der Figuren
werden Werteinsichten abgeleitet.
FESTSTELLUNG 3
Einige der Figuren gehen über ihre Vergangenheit hinaus und
gelangen zu der Frage, welches Leben sie führen können statt dass sie
der Frage folgen, wie sie ihr Leben leben sollen. D. h. das Gewinnen
von (Lebens-) Möglichkeiten durch die Gestaltung von Sinngebungen (des
Handelns) ist der therapeutische und im weiteren Sinne soziokulturelle
Nutzen von ethischen Modellen. Damit grenzt sich Kieślowski ab von
einer Normverordnung, von einer „Du sollst“-Orientierung, und dies
sowohl in Bezug auf seine Figuren als auch in Bezug auf den Zuschauer.
FESTSTELLUNG 4
Kieślowskis ethisches Modell der Liebe wird geprägt von Figuren,
die Opfer ihrer Lebensumstände sind, die durch den Zufall in eine
Orientierungskrise geraten. Er zeigt keine idealen Auflösungen
existentieller Krisen. Es fällt deshalb auf, dass seine postulierten
Werteinsichten auf ein Credo des Verstehens hin programmiert werden.
Obwohl die Begegnungsdramaturgie oftmals das Gespräch in den
Vordergrund rückt (insbesondere in FARBE ROT), werden die Figuren in
kräftigen Kontrasten ihres Handelns dem Zuschauer vorgeführt (July
vernichtet das Europakonzert ihres tödlich verunglückten Mannes- July
bearbeitet das scheinbar verloren gegangene Konzert und lässt es
aufführen; Karol ist bereit, für Geld zu morden – er verbrüdert sich
mit Mikojan, den er ermorden sollte; der Richter als ein Voyer - der
Richter ist ein Büßer [27]. Damit verbunden werden Fürsorge,
Brüderlichkeit, Nächstenliebe als Möglichkeiten des persönlichen
Handelns in konkreten Situationen und in der Gestaltung von Sinn von
Kieślowski geltend gemacht.
Schlussbemerkung
Kieślowskis hintergründiges Spiel mit LIBERTÉ, ÉGALITE, FRATERNITÉ
will die Grenzen überkommener politischer Utopien in der Gegenwart
deutlich machen. Er insistiert darauf, dass im Zuge der
Individualisierung in der Postmoderne die Selbstverwirklichung des
Individuums in Eigenverantwortung eine existentielle und moralische
Dimension hat, die für die Überlebensfähigkeit des Einzelnen wichtiger
sein kann als das bloße Massen-Pathos der großen politischen Utopien.
Dass Kieślowski dies in einer Zeit der Umwälzungen in Osteuropa und der
Erneuerung der europäischen Kulturgemeinschaft am Anfang der neunziger
Jahre geltend gemacht hat, verweist sowohl auf die Tiefe der
politischen Einschnitte als auch auf die Notwendigkeit einer
Wertediskussion, die die individuelle Freiheit als europäischen
Kulturwert auslotet.
Es sollte gleichzeitig nicht übersehen werden, dass die Frage der
moralischen Freiheit des individuellen Handelns sich für die
Unterschichten mit ihren sozialen und politischen Benachteiligungen
anders darstellt als für die finanziell unabhängige gehobene
Mittelschicht. In der FARBENTRILOGIE gibt es Mitleid fordernde Szenen
von der Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit der Armen und
insbesondere der Alten. Aber Kieślowski hat den schwerwiegenden
Unterschied zwischen der existentiell-moralischer Freiheit des
Individuums und der Freiheit, unter Brücken zu schlafen (B. Brecht), in
der FARBENTRILOGIE nicht mehr im Blick. In Europa hat sich einzig und
allein der Realist Ken Loach diesen Blick bewahrt. Ken Loach, den
Kieślowski für seinen Realismus in den sechziger, siebziger Jahren
einst als Bezugspunkt neben Bergman, Fellini und Orson Welles benannt
hatte.[28]
Luc Boltanski und Ève Chiapello sprechen in „Der neue Geist des
Kapitalismus“ (Paris 1999) davon, dass die Künstlerkritik im
neoliberalen Kapitalismus gegenwärtig gelähmt sei durch das, „was man
je nach Standpunkt ihren Erfolg oder ihr Scheitern nennen kann.“ [29]
Künstlerkritik an den Defekten der Gesellschaft – sozialen und
politischen – könnte seit den neunziger Jahren mit zwei Möglichkeiten
umgehen:
„Einerseits könnte sie auf dem Weg fortfahren, den sie im
19.Jahrhundert eingeschlagen hat (Kritik an bürgerlicher Moral, Zensur,
Einfluss von Familie und Religion, den Fesseln, die eine sittliche und
sexuelle Emanzipation behindern….)…“ [30]
Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, das Ende aller Werte,
„sogar das Ende jeder Realität (Herrschaft des Virtuellen)“ zu
verkünden, „den Eintritt in das Zeitalter des Nihilismus und (sie)
schlüpft (dann) doch zugleich – paradoxerweise – in das
aristokratische, aber abgetragene Gewand des Pamphletisten: einsames
‚Bewusstsein’ gegenüber den verdummten Massen… Sie verbarrikadiert sich
in der reaktionären Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit,
den behüteten Gemeinschaften (statt individualistischer Vereinsamung),
… der echten und aufrichtigen Liebe…“[31]
Kieślowski scheint, mit seiner FARBENTRILOGIE dieser Möglichkeit
der Kritik des Künstlers an den Defekten der Gesellschaft partiell zu
folgen.
Boltanski und Chiapello nennen beide Möglichkeiten für die Zukunft
eine Sackgasse angesichts der neueren Entwicklungstendenzen des
neoliberalen Kapitalismus. Sie schreiben: „Um einen Ausweg aus dieser
Sackgasse zu finden, sollte sich die Künstlerkritik vielleicht mehr,
als es gegenwärtig der Fall ist, die Zeit nehmen, die Frage nach
Emanzipation und Authentizität neu zu stellen. Dazu sollte sie von den
neuen Formen der Unterdrückung und der Ökonomisierung ausgehen…“ [32]
Man sollte für die Zukunft nicht ausschließen, dass die politische
Utopie LIBERTÉ, EGALITÉ, FRATERNITÉ in einer solchen Künstlerkritik
wieder aufleben könnte.
Anmerkungen
1 Peter Hasenberg: Annäherung an den Menschen. Schwerpunkte im
filmischen Werk Krzysztof Kieślowskis. In: Das Gewicht der Gebote und
die Möglichkeiten der Kunst. Krzysztof Kieślowskis “Dekalog“ - Filme
als ethische Modelle. Hrsg. Walter Lesch / Matthias Loretan. Studien
zur Theologischen Ethik 53. Freiburg/Wien 1993, S. 56.
2 Pierre Lachat: BLAU meint das Geistige, ROT das Wirkliche. WEISS ist keine Farbe. In: Filmbulletin 3/94, S. 22.
3 Vgl. Paul Coates: The Red and the White. The Cinema of People’s Poland. London/NY 2005, S. 188-226.
4 Selten ist Film der Kunst nahe gekommen. Ein Interview von Merten Worthmann. In: Berliner Zeitung vom 04. 04. 1994.
5 „ Rot ist die Farbe der Revolutionen, des Aufstands. Ihr Platz
ist auf der Seite der Unterdrückten, des Volkes. Es würde an dieser
Stelle zu weit führen, auf die Geschichte der roten Fahne als einem
Symbol der Freiheit oder als Zeichen der Arbeiterbewegung im Detail
einzugehen.“ Susanne Marschall: Farbe im Kino. Schüren: Marburg 2005,
S. 283.
„Rot ist die Farbe mit der längsten Wellenlänge im sichtbaren
Spektrum, so dass sie im Kontrast zu anderen Farben auf den Betrachter
zuzukommen scheint. Auch im zweidimensionalen Bild entfaltet Rot diese
Raumwirkung. Monochromes Rot besitzt eine starke Leuchtkraft und wirkt
psychophysisch aktivierend auf den Betrachter. Aus diesem Grund wird
Rot immer dann als Funktionsfarbe…gewählt, wenn die Aufmerksamkeit von
Menschen geweckt werden soll. …Menschen haben mit roten Dingen
existenzielle Erfahrungen machen müssen. Darum steht Rot niemals im
Schatten anderer Dinge. Es beansprucht in jeder Beziehung den
Vordergrund für sich. Hans Gekeler stellt in seinem ‚Handbuch der
Farbe’ nur eine kleine Auswahl roter Objekte zusammen, die deutlich
werden lässt, dass Rot für das Wahre, Heilige, Edle, Erotische,
Kostbare und für juristische Autorität, das Erhabene, weltliche und
religiöse Macht, Aufruhr, Warnung und Gefahr steht.“ Ebd., S. 284.
6 Hanna Borowska: Spor o DEKALOG(Streit um den DEKALOG). In: Tygodnik Katolicki vom 25. 03. 1990.
7 Karsten Visarius: Drei Farben: ROT. In: epd Film 9/94, S. 39
8 H. G. Pflaum: DREI FARBEN. BLAU. In: epd Film 11/93, S. 39.
9 Kieślowski im Gespräch mit Michael Hanisch, 1979.Zit. nach:
Informationsblatt Nr.24 zu AMATOR (DER FILMAMATEUR), 10.Internationales
Forum des Jungen Films. Berlin 1980, S. 5.
10 Zitiert nach: Dorothea von Törne: Man ist frei. Tadeusz Rózewicz, Dramatiker und Lyriker. In: TAGESSPIEGEL 21. 3. 98.
11 Kieślowski im Gespräch mit Michael Hanisch, 1979. Zit. nach:
Informationsblatt Nr.24 zu AMATOR(DER FILMAMATEUR), 10.Internationales
Forum des Jungen Films. Berlin 1980, S. 6.
12 Monika Erbstein: Untersuchungen zur Filmsprache im Werk von
Krysztof Kieślowski, Alfeld/Leine 1997, Reihe: Aufsätze zu Film und
Fernsehen Bd. 58, S. 102/03.
13 Susanne Marschall: Farbe im Kino. Schüren: Marburg 2005, S. 62.
14 Ebd., S. 65.
15 Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985, S.207.
16 Vgl. Margarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Kino der moralischen Unruhe. KIM: Köln 2000, S. 347.
17 Kieślowski in: Franz Ulrich: Trois couleurs. Blanc. Drei Farben. Weiss. In: ZOOM, 1994/3, S .33.
18 Vgl. Margarete Wach: Krzystof Kieślowski. Kino der moralischen Unruhe. KIM: Köln 2000, S. 342f., S. 348.
19 Zit. Nach Pagnon, Gérard: L’ itinéraire de Krzysztof Kieślowski.
In: Études cinématographiques. Krzystof Kieślowski Nr.203/210, Paris
1994, S. X.
20 Margarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Kino der moralischen Unruhe. KIM: Köln 2000, S. 20 f .
21 A. Camus: Prosa. Volk und Welt: Berlin 1977, S. 462.
22 Ambros Eichenberger: „Ich habe zehn Filme über unsere Zeit gemacht“. Interview mit Krzysztof Kieślowski, ZOOM 9/1990, S. 31.
23 Nach Dietmar Mieth: Moral und Erfahrung. Beiträge zur
theologisch-ethischen Hermeneutik. Studien zur theologischen Ethik,
Universitätsverlag Freiburg/Wien 1977 ist zu unterscheiden zwischen
Norm- und Modellethik. Danach ist Normethik:
- Erfahrungen werden durch wissenschaftliche Erkenntnis gefiltert,
um gültige Sollens-Sätze für ethische Entscheidungsfragen zu
formulieren
Modellethik:
- narrative Erzählungen, d h. nicht die Nachahmung ist wichtig
sondern Erfahrungen in der Historie, in der Kunst, im Alltag werden in
Denkmodellen verdichtet
Haltungsethik:
„Auch diese (neue)Sittlichkeit hat Leitvorstellungen, aber...solche
der Konkretion. Ein Vorbild kommt der neuen Sittlichkeit schon näher,
hat freilich immer noch einen Grad an Allgemeinheit, der in der
Entwicklung der eigenen Sache prohibitiv wirken kann. Was darum
gebraucht wird, sind nicht Vorbilder, sondern Modelle, die durch ihre
Konkretheit ebenso sehr der direkten Nachahmung entzogen wie der
Nacheiferung empfohlen sind. Dabei kommt der Literatur und Kunst, den
Explikationsmöglichkeiten des Menschen in allen Materialien große
Bedeutung zu. Normativität lässt sich in Lehrbüchern fassen, Konkretion
jedoch nur in Einzeldarstellung.“ H. Rombach: Strukturontologie.
Freiburg i. B. 1971, S. 257.
24 Charly Martig: Kieślowskis KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE. Von der
Analyse des Blicks zur Liebe als ethischem Modell. In: Das Gewicht der
Gebote und die Möglichkeiten der Kunst. Krzysztof Kieślowskis
“Dekalog“-Filme als ethische Modelle. Hrsg. Walter Lesch/Matthias
Loretan: Studien zur Theologischen Ethik 53. Freiburg/Wien 1993, S.
91/92.
25 Ebd., S. 122.
26 Vgl. ebd., S. 98/99.
27 A. Camus hat in seinem Roman DER FALL(1953) die Dialektik vom
Richter als Büßer so beschrieben: „Da es unmöglich war, die anderen zu
verurteilen, ohne sich selbst all sogleich mitzurichten, musste man ich
selbst mit Anklagen überhäufen, um das Recht zu erlangen, die anderen
zu richten. Da jeder Richter eines Tages zum Büßer wird, musste man
einfach den umgekehrten Weg einschlagen und den Beruf des Büßers
ergreifen, um eines Tages zum Richter werden zu können.“ A. Camus:
Prosa, Volk und Wissen: Berlin 1977, S. 460.
Beachte die Parallele in FARBE ROT: der Richter in FARBE ROT zeigt
sich und seine Telefonabhöraktionen an und legitimiert damit zugleich
dieses Richten infolge des Büßens.
28 Vgl. Margarete Wach, a. a. O., S. 23/24.
29 Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, UV: Konstanz 2006, S. 506.
30 Ebd., S. 507,
31 ebd.,
32 ebd.
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