Thema | Kulturation 2/2004 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Raimund Krämer | Über die Veröstlichung Europas und das Nutzen eines Präludiums – Die ostdeutschen Länder in der Europäischen Union Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004 | Beitrag
auf der Tagung "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn -
wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der neuen europäischen
Situation" im Februar 2004
Die Europäische Union ist wahrlich etwas Neuartiges in der Geschichte.
Staaten schließen sich freiwillig – ohne Druck einer imperialen Macht –
zusammen und geben von ihrer Souveränität freiwillig ab. Das ist
einmalig in der menschlichen Geschichte! Die EU hat sich in einem
komplizierten Prozeß, vor einem konkreten historischen Hintergrund
herausgebildet, und es ist ein äußerst komplexes Gebilde geworden,
wofür die klassische Staatslehre einfach keinen Namen findet. Die EU
ist kein Bundesstaat, kein Staatenbund, keine internationale
Organisation – aber von jedem hat sie Elemente, aber nichts entspricht
ihr völlig. Die Einbindung von neuen Mitglieder – meist wirtschaftlich
und politisch recht ähnlichen Staaten - verlief über Jahre allmählich,
und letztlich stets mit Erfolg. Nun sollen - historisch gesehen - im
Handumdrehen zehn neue Mitglieder, die recht anders sind, dazukommen.
Die Probleme, ja auch Gefahren, die aus der Osterweiterung für das
komplizierte Institutionen- und Interessengefüge der EU und damit für
die Stabilität in diesem Raum erwachsen, dürfen nicht klein geredet
oder weg geschoben werden. Gewiss, so wie es in der Natur schwer ist,
große Ereignisse und deren Verlauf vorherzusagen, so kündigen sich auch
in der Politik tief greifende Veränderungen nur allmählich an. Die
Techniken zur Früherkennung von Naturkatastrophen werden verfeinert;
wir sollten auch im dem noch viel komplizierteren Bereich der Politik
unsere Sensoren verbessern. Aber vielleicht führt das Bild von den
Erdbeben und Hurrikanen im Kontext mit der EU-Osterweiterung doch eher
in die politische Sackgasse. Nehmen wir lieber die Musik bei der Suche
nach Metaphern zur Hilfe. Dort geht jedem großen Stück ein Präludium
voraus, in dem die Grundmelodie des Ganzen entworfen wird. Und in
diesem Sinne könnte die Mitgliedschaft der fünf ostdeutschen Länder in
der Europäischen Union als Präludium für die kommende Osterweiterung
der Europäischen Union verstanden werden. Aus diesem Präludium, seiner
tragenden Melodie(n) der vergangenen 14 Jahre, ließen sich dann einige
Entwicklungen für das bisher größte politische Projekt der EU, die
Erweiterung um zehn Staaten, „heraushören“.
In meinen Überlegungen kann ich mich auch nicht der zwingenden
Kraft der Trinität entziehen und habe somit drei Punkte. Da die gesamte
Veranstaltung unter der Überschrift "Veröstlichung der EU“ steht,
möchte ich mit dem Begriff der "Veröstlichung" beginnen, danach das
„Präludium“ beschreiben, um dann schließlich einige „Lehren“ für das
gesamte Stück zu ziehen.
1. Was heißt Veröstlichung?
Die Auseinandersetzung mit dem Osten, in welcher konkreten
politischen Gestalt auch immer, war ein wesentliches Moment für die
geistige und politische Formierung des (westlichen) Europas. Dabei ist
es ein Paradoxon, dass wichtige geistige und kulturelle Quellen des
"abendländischen Europa" gerade aus jenen Regionen stammen, von denen
man sich seit 400 Jahren so bewusst unterscheidet. Ja, die "Erfindung
Europas" geschieht ausdrücklich in Abgrenzung zum Osten! Jahrhunderte
vorher war noch der Osten das Zentrum der (christlichen) Zivilisation,
und zu diesem Osten wollte man dazugehören, ”Gott schütze San Markus,
Venedig und den Osten”, so ein venezianisches Motto im 9. und 10.
Jahrhundert. Im 15. und 16. Jahrhundert nahm der Gedanke von Europa als
politische Einheit Gestalt an und verdrängte allmählich die bis dahin
zwar brüchige, jedoch dominierende gemeinsame christliche Identität.
Gerade diese christliche Identität verband sich bis dahin geographisch
mehr mit Asien und entsprechend wurde Asien, der Osten, kulturell
”über” Europa eingeordnet. Mitte des 15. Jahrhunderts - dies war die
Zeit, als das "Zweite Rom", das byzantinische Konstantinopel, im Jahre
1453 von den Kriegern Sultan Mehmet II. erobert worden war, trat das
Wort Europa zunehmend an die Stelle von "Christenheit". Ja dieser
Begriff wurde gerade im Kontext der islamischen Bedrohung sowohl
sprachlich als auch inhaltlich ausgeformt. Papst Pius II. benutzte ihn
angesichts des türkischen Vormarsches und gebrauchte beim Fall
Konstantinopels als einer der ersten das Adjektiv "europeus". Erasmus,
der in der EU-Historiographie als einer der ersten "Europäer" gilt,
forderte 1526 die christlichen Könige auf, ihre internen Streitigkeiten
zu beenden und eine gemeinsame Front gegen die türkische Gefahr zu
bilden, und er rief "die Völker Europas" zum Kreuzzug gegen die Türken
auf. 1566 erschien in Florenz erstmals eine "Geschichte Europas". Und
in den neuen Karten war Europa nicht nur weiblich, sondern auch
abgegrenzt von Asien (wohl aber mit Polen, Litauern, Bulgaren und
Russen).
Europa war ein Kampfslogan, und das von Beginn an, und es blieb
dabei bis heute, ob im niederländischen Unabhängigkeitskrieg im 16. und
17. Jahrhundert als während auch der Kämpfe der protestantischen
Allianz gegen Ludwig XIV. von Frankreich. Zugleich wurde Europa immer
westlicher. Die Barrieren im Osten einerseits und die Ausdehnung im
Westen im Zuge der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch die
"Katholischen Könige" Spaniens andererseits hatten zur Folge, dass
Europa immer stärker mit "dem Westen" zusammenfiel. Bis ins 18.
Jahrhundert war selbst Amerika eine zutiefst "europäische
Angelegenheit", in Politik, Wirtschaft und Kultur. Der Atlantik war das
”neue Mittelmeer” und verband eher beide Seiten als dass er sie
trennte. Amerika wurde Europas ”occidente extreme”, der ferne Westen
Europas.
Seit 500 Jahren wandert Europa westwärts, sein Antipode war der
Osten, der mit Despotie und Barbarei, Armut und Rückständigkeit
verbunden wurde. Im Westen hatte jedoch Hegels vagabundierender
Weltgeist endlich eine Heimstatt gefunden, die von Dauer zu sein
schien. Europa wurde zum Zeitgeber. Der Kalte Krieg in der 2. Hälfte
des 20. Jh. und die mit ihm verbundene vermeintliche oder gar reale
Gefahr aus dem Osten führte katholische, oder sagen wir lieber
abendländische Politiker wie Adenauer, De Gasperi und Schuman zu dem
Integrationsprojekt EG. Europa wurde wieder ein politisches Projekt,
nun ein sehr konkretes. Und es war sicherlich kein geographischer
Zufall, dass die EG mit Römischen Verträgen begründet wurde, frei von
protestantischen, orthodoxen oder gar unchristlichen Einflüssen. Dieses
Projekt war vor allem durch den weströmischen, d.h. vor allem
katholischen Kulturkreis stark geprägt. (Die holländischen Kalvinisten
wurden vielleicht ob ihrer Geschäftstüchtigkeit geduldet.)
Das karolingische Westeuropa übernahm den Begriff für den gesamten
Raum und mittlerweile ist es fast normal, dass man in Leitartikeln,
Reden oder Seminaren von ”Europa” spricht und die Europäische Union
meint. Das Projekt EG, später EU war erfolgreich, trotz Eurosklerose,
nächtlichen Krisensitzungen und oft widersinnigen technokratischen
Bestimmungen. Die räumlichen Erweiterungen – zunächst nach Westen, dann
nach Süden, Südosten und Norden – waren Ausdruck dieser Attraktivität
und Anziehungskraft der Europäischen Union. Zug um Zug kamen mit den
einzelnen Erweiterungsrunden auch andere kulturelle Traditionen und mit
ihnen auch die Probleme und der Ärger für manchen "gestandenen
Europäer" in das Projekt Europa.
Der Erfolg kann zum Dilemma werden. Im materiellem Sinne, wenn die
sozialen und wirtschaftlichen Disparitäten in diesem Raum immer größer
werden, jedoch die Möglichkeiten, diese auszugleichen immer geringer,
und die großen Erwartungen, vor allem die finanziellen, immer weniger
erfüllt werden können. Auf der politischen Ebene wurde es immer
schwieriger, einen Konsens unter den Mitgliedern herzustellen. Einige
Politiker sehen deshalb in einer "variablen Geometrie" eine Lösung, die
praktisch jedoch Abstufungen und damit auch neue Hierarchien zwischen
den EU-Mitgliedern bedeuten würde. Aber auch auf der Ebene der
politischen Kultur, jenen "Grundannahmen über die politische Welt, also
grundlegenden Ordnungsvorstellungen" (Rohe 1994, S.165), werden mit den
Erweiterungen die Gemeinsamkeiten eher kleiner als größer. Hinzu kommt
der Wegfall des Identität stiftenden Feindbildes von der
kommunistischen Gefahr zu Beginn der 90er Jahre.
Das Europäische Wendejahr 19989 leitete auch in der damaligen EG
eine Richtungsänderung ein. Ab jetzt ging es östlich: Am 3. Oktober
1990 mit den fünf ostdeutschen Ländern, immerhin 300 km nach Osten und
dann Mitte der 90er Jahre mit Österreich und Finnland wurde dieses Go
East fortgesetzt; und in 2 Monaten wird dies nicht nur einfach
fortgesetzt, sondern aufgrund der Quantität – in Zahl der neuen
Mitglieder, der Bevölkerung und der sozialen Probleme – kann man mit
gutem dialektischen Gewissen von einer neuen Qualität in der
Entwicklung der (west)europäischen Integration sprechen.
Europa, genauer die EU, wandert östlich, geographisch, politisch,
kulturell - es ist ein Prozess, den man ”Verwestlichung des Ostens”
nennen kann. (Ich habe in einem früheren Aufsatz selbst von der
“Europäisierung des Ostens” geschrieben). Aber vom Veranstalter wird
dies als ”Veröstlichung der EU” gedeutet – ohne Fragezeichen am Schluss
(Offenbar wollte man den erheblich drastischer klingenden Begriff der
”Verostung” nicht; den hatte Arnulf Baring mit Blick auf Deutschland
zum Schrecken seiner Mitbewohner in Zehlendorf und Charlottenburg in
den 90er Jahren kreiert). Da Begriffe nicht Schall und Rauch sind, und
der Streit um Begriffe uns zum Kern jeder Debatte führt, lohnt es sich,
zumindest kurz, dabei gedanklich zu verweilen.
Wie alle Begriffe ist auch Veröstlichung kontextbedingt und mit
Interessen, zumindest Intentionen verbunden: Auf linksrheinischen
Gebieten verkündet, löst er sicherlich Schaudern aus; in der
Baringschen Variante gar lässt er an Hunnen und Soffjetts denken. Wenn
dieser Begriff hier in Berlin, 80 Km von der deutsch-polnischen Grenze,
im Osten Deutschlands benutzt wird, dann hat der Begriff der
Veröstlichung eher den Reiz des Subversiven. In ihm stecken Widerspruch
und Wille zu Andersartigkeit weil er sich einer linearen
Fortschrittslogik des Westens entzieht und nicht an die Fortschreibung
des karolingisch geprägten westeuropäischen Integrationsmodells glaubt
und weil er auf die Vielfalt von Entwicklung aufmerksam macht und damit
auf Gegenentwicklungen verweist, die im besten Fall das bisherige
Modell ergänzen und bereichern und im schlechtesten Fall dieses Modell
zum Scheitern bringen.
Wenn der französische Philosoph André Glucksmann den Optimismus,
man könnte auch Fortschrittsglaube sagen, als das Opium des Westens
bezeichnet, dann könnte die Veröstlichung zu dem beitragen, was Lord
Dahrendorf, der geadelte deutsche Soziologe der Politik dringend
empfiehlt: eine „Entziehungskur von den Illusionen“. Veröstlichung also
als Chance zu politischer Nüchternheit? Veröstlichung als Chance, um im
Nebel der europäischen Wahrheiten halbwegs feste Koordinaten zu finden?
Veröstlichung auch als Chance, um gefrorene Gewissheiten über Europa
aufzubrechen und neue Denkmöglichkeiten für diesen Kontinent
auszuloten? Ich denke, der Begriff kann im besten intellektuellen Sinne
zu unserer Debatte beitragen! Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt.
2. Präludium der Osterweiterung?
Die nachholende “Europäisierung” der ostdeutschen Länder
Das Jahr 1990 brachte die dritte Erweiterung für die Gemeinschaft,
die zugleich die erste in Richtung Osten war. Am 3. Oktober dieses
Jahres verschob sich die Europäische Gemeinschaft erstmals seit ihrer
Gründung im Jahre 1957 um 300 km nach Osten. Mit der deutschen
Vereinigung vollzog sich, von der Öffentlichkeit kaum als solche
beachtet, auch die erste Osterweiterung. Jene 430 km, die unter der
Bezeichnung "Friedensgrenze" die DDR und die Volksrepublik Polen
getrennt hatten, sowie die 460 km zwischen der DDR und der CSSR
mutierten nicht nur zur Ostgrenze des vereinten Deutschlands, sondern
auch zur östlichen Außengrenze der EU, von Schengenland und schließlich
auch von Euroland. Mit dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder[1] zur
Bundesrepublik standen diese somit vor einer doppelten Herausforderung:
Einerseits die Integration in das politische, rechtliche und
wirtschaftliche System der Bundesrepublik und andererseits die
Einbindung in die Europäische Gemeinschaft. Das europäische Gegenstück
zum deutschen Einigungsvertrag war ein Paket von 200 Übergangsregeln,
das Sonder- und Anpassungsbestimmungen für die ostdeutschen Länder für
einen Zeitraum von fünf Jahren enthielt.[2] Auf den ersten Blick sind
die ostdeutschen Länder ein Beispiel par excellence für die
Verwestlichung Europas: Einst das westlichste Gebiet der pax sovietica
war, wurde nun zum östlichsten Teil von Europa occidentalis. Obwohl sie
damit von "draußen" nach "drinnen" wechselten, blieben sie Grenzland.
Der französische Politologe Christoph Rufin nahm Anfang der 90er Jahre,
als die Ordnung des Kalten Krieges zusammengebrochen war und eine
"neue" verkündet wurde, eine "altrömische Folie" und legte sie unter
die globalen Entwicklungen (Rufin 1993).[3] Nimmt man diese Idee und
wendet sie auf unsere Problematik an, so kann die Vermutung formuliert
werden, dass die ostdeutschen Länder als östliche Peripherie der
OECD-Welt die letzten 10 Jahre ein Teilabschnitt des "neuen Limes"
gegenüber den "neuen Barbaren" waren; und diese “Aufgabe sollen nun
andere übernehmen.
Diese erste Osterweiterung brachte auch für die EG, nun bald EU,
neue Herausforderungen, ja sie kündigte die neuen Problemlagen an,
zumindest für jene, die bereit waren, sie zu hören. Aber diese
Bereitschaft war lange Zeit sehr begrenzt! Mit den fünf ostdeutschen
Ländern gehörte der Europäischen Union nun ein Gebiet an, das durch
einen tiefgreifenden sozialen, politischen und kulturellen Umbruch
charakterisiert ist; in dem sich offenbar alles - mit Ausnahme der vier
Jahreszeiten - verändert hat. So etwas hatte es bisher - auch nicht im
Falle Spaniens – nicht gegeben. Zugleich zeigte sich, dass die
"europäische Dimension" für die Transformation, die sich im Osten
Deutschlands vollzog, von erheblicher Bedeutung war. Die Europäische
Union bot von Anfang an den regionalen Eliten finanzielle Mittel. Sie
bedeutete für sie zugleich eine institutionelle und auch
legitimatorische Ressource und sie stellte auch eine politische
Leitidee dar. Mehr noch: Im Kontext ihrer Partnerschaftspolitik
unterstützte die EU die Herausbildung regionaler politischer Netzwerke,
aus denen sich in einzelnen Politikfeldern, wie z.B. Landwirtschaft
oder Stahlindustrie, Interessenkoalitionen bildeten. Die europäische
Vernetzung der einzelnen Länder, die 1990 einsetzte, orientierte sich
primär auf die Einbindung in die Strukturen und Mechanismen der
Europäischen Union. Man sollte dabei nicht vergessen, dass der Prozess
der nachholenden europäischen Vernetzung für die ostdeutschen Länder in
einem Moment einsetzte, in dem mit der Neuformulierung des Artikels 23
GG (”Europa-Artikel”) und den Verträgen von Maastricht die Debatte um
die Außenbeziehungen der Länder erheblich zunahm. Dies führte zu einer
deutlichen Erweiterung ihrer “europäiscchen” Kompetenzen, die sie heute
gar nicht immer ausfüllen wollen oder können.
In einer ersten Phase folgten die ”neuen” den ”alten” Ländern. Die
ostdeutschen Länder übernahmen die ”Münchener Thesen”, in denen 1989
die damaligen 11 Länder ihre Positionen zu den Maastricht-Verhandlungen
definiert hatten. Die ostdeutschen Länder haben in ihren jeweiligen
Verfassungen auch dieser Herausforderung spezielle Artikel gewidmet.
[4] Wer sind die ostdeutschen Akteure in dieser neuen europäischen
Arena?
In erster Linie die Landesregierung. In den politischen Exekutiven
der ostdeutschen Länder wurden Ministerien bzw. spezielle Abteilungen
innerhalb von Ministerien geschaffen. In der Mehrzahl gehört diese
Thematik institutionell zu den Justizministerien, manchmal zum
Wirtschaftsministerium. Besondere Bedeutung haben die Staatskanzleien.
Und auch die Ministerpräsidenten sollen nicht vergessen werden,
besonders als ”letzte Trümpfe” in heiklen Situationen. Fast alle
Ministerien der Länder haben EU-Beauftragte, wobei sicherlich den
Fondsverwaltern die größte Bedeutung zukommt. Zugleich wurden in
jüngster Zeit verstärkte Anstrengungen unternommen, wie z.B.
Studienprogrammen für ”europabezogenes Verwaltungshandeln”, mit denen
die ”Europakompetenz der Landesverwaltungen” erhöht werden soll. Alle
ostdeutschen Länder unterhalten heute in Brüssel Verbindungs- bzw.
Informationsbüros. Interessant ist, dass einige ostdeutsche Länder auch
Informationsbüros in Nord-, Mittel- und Osteuropa eingerichtet haben,
so u. a. Sachsen-Anhalt im bulgarischen Plodiv, Sachsen in Prag und
Mecklenburg-Vorpommern in Tallin. Zugleich finden wir wirtschaftliche
und andere gesellschaftliche Institutionen und Mitspieler, die über
unterschiedliche Interessen, Konzepte und Ressourcen bei ihrem
europäischen Handeln verfügen. Dazu gehören u. a. Wirtschaftsbüros der
Industrie- und Handelskammern und Nichtregierungsorganisationen. In den
letzten 13 Jahren entstanden in allen ostdeutschen Länder
Organisationen, die sich mit der europäischen Problematik befassen – es
sind aber auch viele mittlerweile wieder verstorben! Die
Landesparlamente als die konstitutionell wichtigste Institution der
Länder spielten (und spielen) eine recht marginale Rolle in den
europäischen Beziehungen. Die EU ist eine Domäne der Exekutive! Dies
war (und ist) jedoch kein "ostdeutsches Phänomen".
Gegenüber der EU in Brüssel stand von Beginn an die Förderpolitik
der EU, konkret die Strukturfonds, im Zentrum der Aktivitäten der
ostdeutschen Länder. Die Maximierung der Zahlungen aus Brüssel galt und
gilt bis heute als Schwerpunkt politischen Handelns gegenüber Brüssel
(zum Teil vía Berlin). Dabei ging es sowohl um die Gesamtsumme als auch
um deren Verwendungsmöglichkeiten.
Gleichzeitig wurden zu anderen westeuropäischen Regionen
kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindungen auf aufgebaut.
[5] Das klare "Let´s Go West" der Politik fand zunächst breite
Unterstützung in der Bevölkerung, in den ersten Jahren herrschte
Europa-Optimismus. Die EU war der Westen, dessen Freiheiten und
Lebensstandard man haben wollte. Dem Osten, dem man bisher angehört
hatte, kehrte man nun den Rücken zu. Mittlerweile hat sich dieser
Optimismus deutlich abgeschwächt. Das zeigen nicht nur, aber auch die
geringen Beteiligungen bei Europa-Wahlen im Osten Deutschlands.[6] Nach
anfänglicher Europa-Euphorie herrscht Desinteresse, Skepsis,
Enttäuschung und auch Kritik gegenüber “den Bürokratien im fernen
Brüssel" vor, und dies nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei
den regionalen politischen Eliten.
Ein Schwerpunkt der Arbeit der ostdeutschen Länder in und gegenüber
Brüssel war und ist bis heute die Information über die Dimensionen des
Wandels. Besonders in den ersten Jahren war dies nur schwer zu
vermitteln. Die ostdeutschen Länder als ein Teil Deutschlands, des
vermeintlichen "Kassenwarts der EU", diese sollten zu den ärmsten
Regionen der EU gehören? Dieses Gebiet gehörte, gemessen am
Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Einwohner, zu Beginn der 90er Jahre
tatsächlich zu den ärmsten Regionen der EU.[7] Die Auseinandersetzungen
um den Status der Ziel-1-Zone waren heftig und zogen sich hin. 1994
erhielten dann alle fünf Länder, einschließlich Ost-Berlin, diesen
Förderstatus. Die Summe von 26 Mrd. DM war gewiss keine
Sonderbehandlung. Im Gegenteil! Die einzelnen Länder hatten mit einer
größeren Summe gerechnet. Zunehmend zeigte sich dabei auch, dass jedes
Land seine spezifischen Interessen in Brüssel zu vertreten hat, so im
Falle Mecklenburg-Vorpommerns hinsichtlich des Erhalts der Werften oder
bei Brandenburg hinsichtlich der Sicherung des Stahlstandortes
Eisenhüttenstadt.
Ostdeutsche Länder und EU-Osterweiterung
Was die EU-Osterweiterung betrifft, so hatten die ostdeutschen
Länder folgende Position: All ostdeutschen Länder traten sehr
prononciert für eine baldige Aufnahme der mittel- und osteuropäischen
Länder auf. Man verstand sich als “Anwalt”, so Sachsens damaliger
Ministerpräsident Biedenkopf, der z.B. in seiner Regierungserklärung im
Jahre 1995 erklärte, Sachsen werde ”Anwalt für die baldige Aufnahme
unserer östlichen und südöstlichen Nachbarn in die Europäische Union
sein.” Zugleich betonte er – und das findet man auch bei allen anderen
ostdeutschen Erklärungen -, dass es nicht zu Verwerfungen auf den
Märkten oder bei den Agrarstrukturen kommen dürfe. Außerordentlich
stark war das geopolitische Interesse. Mit den Neuaufnahmen will man
nun aus der misslichen Grenzlage heraus. Auch wenn man diese Lage
bisher euphemistisch als “Brückenfunktion” – umschreibt, man will
letztlich in die ”Mitte”. Das wurde zwar selten laut, aber doch hörbar
artikuliert.[8]
Diese Position war zugleich mit der Erwartung verbunden, dass durch
Übergangsregelungen, wie z.B. bei der Freizügigkeit von Arbeitskräften
für die neuen Mitglieder, und Reformen in der EU selbst weder deren
angespannte soziale Lage verschärft, noch die materielle Unterstützung
für die ostdeutschen Länder gefährdet wird. Die ostdeutschen Länder
waren und sind auch direkt in der Heranführung der neuen Mitglieder
involviert, sei es als Länderbeobachter bei den Verhandlungen oder
durch die Entsendung von Beratern und Experten in die
Beitrittsländer.[9]
3. Lessons to be learnt? Einige Erfahrungen aus dem Osten Deutschlands
Wenn man die Mitgliedschaft der ostdeutschen Länder als Präludium
der EU-Osterweiterung des Jahres 2004 versteht, so könnten aus dem
vergangenen Jahrzehnt sicher einige Erfahrungen der ostdeutschen Länder
gezogen werden. Was kann man daraus lernen? Was könnte man, wenn man
wollte. Ich möchte hier einige Widerspruchspaare formulieren, die einen
Spannungsbogen bedeuten, indem sich die ostdeutschen Akteure in diesem
Mehrebenensystem, diesem Patchwork EU, bewegten und die m. E. auch für
die neuen Mitglieder wichtig sein werden.
Institutionen versus Prozesse
Die Erfahrung zeigt, dass es notwendig ist, zügig in die
Institutionen hineinzugehen und sich dort zu verankern. Die neuen
Akteure müssen wissen, wie die Prozesse in diesem Netzwerk ablaufen.
Dabei zeigt sich dann, dass bereits vor der offiziellen Annahme durch
den Ministerrat wichtige Entscheidungen in Gremien, wie dem Ständigen
Ausschuss, gefällt werden, und dass man gerade gegenüber solchen
Gremien seine Lobby-Arbeit aktiv ausrichten muss. Eine andere Erfahrung
der ostdeutschen Länder besteht darin, dass neue politische
Herausforderungen auch zu neuen institutionellen Arrangements führen
können, teilweise müssen. Das heißt, die ostdeutschen Länder haben
zunehmend sowohl im innerdeutschen Politikprozess als auch gegenüber
der EU eigene institutionelle, teilweise informelle Strukturen
aufgebaut. Dort wird vorher beraten und die Politik abgestimmt. Das
gilt vor allem für die Bereich Agrarpolitik und Strukturfonds.
Politischer Wille versus soziokulturelle Realität
Einerseits finden wir den politischen Willen, in EU-Mechanismen in
Brüssel zu mitzuarbeiten. Man ist auch bereit, EU-Mechanismen im
eigenen Lande zu etablieren. Aber die Erfahrung im Osten Deutschlands
zeigt, welche enormen kulturellen Probleme es gibt, sich in diesem
EU-Labyrinth effizient zu bewegen. Es ist ein französisch geprägtes
Verwaltungssystem. Und wenn es Deutschland insgesamt recht schwer
fällt, sich in diesen politischen Mechanismen zu bewegen, so gilt das
für die ostdeutschen Ländern in besonderem Maße. Ich denke, dass diese
soziokulturelle Barriere auch für die neuen Mitglieder eine langwierige
Herausforderung sein wird.
Gleichberechtigung versus Asymmetrie
Die formale Gleichberechtigung bei der Mitarbeit eröffnet Chancen.
Es zeigt sich zugleich, dass jedoch die ökonomische Ungleichheit
erheblich die Chancen mindert, gleichberechtigt in der EU
mitzuarbeiten. Hier sei beispielhaft auf die Ko-Finanzierung bei der
Vergabe der Strukturfonds verwiesen. Arme Regionen, wie die
ostdeutschen Länder, haben einfach kein Geld dafür, zumindest immer
weniger. Vorhandene Mittel, die es im Europäischen Sozialfonds gibt und
die darauf warten, dass sie abgerufen werden, können nicht genutzt
werden, da ein Land wie Brandenburg nicht gegenfinanzieren kann –
jedoch reiche Regionen Europas haben diese Mittel und sind sogar
bereit, 50 Prozent gegenzufinanzieren. Ein Blick auf die
Informationsbüros der deutschen Länder in Brüssel macht dieses Dilemma
ebenso deutlich.
Gemeinsamkeit vs. Konkurrenz
Es gab und gibt viel Gemeinsamkeit zwischen den ostdeutschen
Ländern. Dazu gehören nicht nur die Geographie und Geschichte, sondern
auch die De-Industrialisierung, Landwirtschaftsstrukturen oder die
demographische Entwicklung. Das hat dazu geführt, dass man oft
gemeinsam in der EU auftrat, z.B. handelten die fünf
Ministerpräsidenten gemeinsam gegenüber der Kommission. Zugleich wurde
auch deutlich, dass sich erstens die Lage zwischen ihnen zunehmend
differenziert und zweitens die ökonomische Schwäche nicht zu mehr
Gemeinsamkeit, sondern eher zu mehr Konkurrenz untereinander führt. Das
zeigte sich z.B. beim Konflikt zwischen Sachsen und der Kommission um
Beihilfen für ein VW-Werk in Sachsen. Hier wurde sichtbar, wie die
Konkurrenz innerhalb dieser Gruppe zugenommen hat. Bei den neuen
Mitgliedern muss man mit einer ähnlichen Entwicklung rechnen: Zwar
ähneln sich ihre Entwicklungsprobleme, aber letztendlich führen diese
zu mehr Konkurrenz zwischen ihnen.
Drinnen versus draußen
Mit dem Beitritt in die Europäische Union ist man zwar „drin“, aber
man bleibt in der (östlichen) Randlage. Und dies zwingt dazu, mit (oft
ungeliebten östlichen) Nachbarn, die weiterhin „draußen“ sind, zu
kooperieren, dies sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Damit steht
die Nachbarschaftspolitik der neuen Mitglieder auf der politischen
Agenda auch der neuen Mitglieder, d.h. die Gestaltung der Beziehungen
mit der Ukraine, mit Russland oder Rumänien.
Europapolitische Blauäugigkeit versus ehrliche Debatte
Politik ist gefordert, illusionslos zu handelt, aber damit tut sie
sich schwer. Wenn aus Erwartungen Enttäuschungen werden, ist die Gefahr
nationalistischer und populistischer Bewegungen groß. Deshalb ist es
wichtig, bereits im Vorfeld der Erweiterung eine ernsthafte,
realistische, ehrliche, differenzierte Debatte zu führen. Was bringt
die EU-Osterweiterung und wie geht es weiter? Dazu gehört sicherlich
auch die Problematik Beitritt der Türkei. Wenn in Umfragen mehr als 40
Prozent in Deutschland eher Nachteile erwarten und ein Großteil auch
dagegen war, dann steht die Frage, wo diese in den Diskussionen waren?
Das heißt, es gibt in unserer Bevölkerung zwar einen großen Teil, die
diese Entwicklungen eher skeptisch sehen. Aber so mancher Politiker
neigt dazu, dies relativ schnell in die europafeindliche (und meist
auch noch in eine nationalistische oder gar rechte Ecke) zu stecken.
Ich denke, dass diese Bedenken ernst(er) genommen werden müssen.
Sicher wird sich die Geschichte nicht wiederholen. Wenn jetzt die
neuen Staaten in die EU kommen wird nicht das Gleiche passieren, was
mit den ostdeutschen Ländern passiert ist. Die Spezifik der
ostdeutschen Länder als Teil eines (alten) Mitgliedslandes der EU ist
sicherlich die wichtigste. Aber es gibt natürlich Ähnlichkeiten und
Parallelen. Wenn man die Mitgliedschaft der ostdeutschen Länder in der
EU als Präludium deutet, dann heißt das, dass also hier schon
musikalische Figuren des Hauptstücks, der großen Erweiterung, erkennbar
waren. Das heißt auch, hier könnten einige Lehren gezogen werden. Sie
müssen nicht, aber sie könnten und wenn der Beitrag dafür einige
Anregungen gibt, wäre das Anliegen erfüllt.
Anmerkungen
1] Ich benutze den geographischen Begriff der "ostdeutschen
Ländern" gegenüber der Bezeichnung "neue Bundesländer". Einerseits
haben einige dieser Länder, wie z.B. Brandenburg und Sachsen, eine
jahrhundertealte Geschichte und nach über 13 Jahren steht die Frage,
wie lange sie als "neu" gelten sollen. Andererseits spricht auch das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich von "Ländern"
und nicht von "Bundesländern".
2] Vom 3. Oktober 1990 an galten in diesem Gebiet sowohl das
gesamte Primärrecht der EG als auch 80% der daraus abgeleiteten Gesetze
und Regulierungen.
3] Im Kern steht die Idee des römischen Limes, der Grenze zwischen
dem Imperium und den Barbaren. Dominierte in den letzten 50 Jahren eine
scharfe Frontlinie zwischen West und Ost, so bilde sich jetzt ein
Grenzgürtel zwischen Norden und Süden heraus. Dieser bestehe nach Rufin
aus Pufferstaaten wie Mexiko oder der Türkei. Räume wie das Mittelmeer
oder Mittelasien sollen den Norden, die OECD-Länder, vor den "neuen
Barbaren" aus dem Süden schützen. Dies führe, so Adolf Muschg, zu einer
"überraschenden Kenntlichkeit" der Weltkarte.
4] Die Präambel der Verfassung Brandenburgs beschreibt das Land als
"ein lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem sich
einigenden Europa und in der einen Welt" und verpflichtet das Land in
Kapitel 2 "zur Kooperation mit anderen Völkern, speziell mit dem
polnischen Nachbar". Die Verfassung des Freistaates Sachsen
unterstreicht in Artikel 12 die Verantwortung des Landes für die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen gutnachbarschaftlicher
Beziehungen, engerer Beziehungen in Europa und einer friedlichen
Entwicklung der Welt und Artikel 11 der Verfassung von
Mecklenburg-Vorpommern verpflichtet das Land ”die europäische
Integration zu verwirklichen und die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit, insbesondere im Ostseeraum, zu fördern.”
5] Sachsen z.B. entwickelte mit der französischen Region Bretagne
Beziehungen und Thüringen mit der englischen Grafschaft Essex und der
französischen Region Picardie.
6] Die Wahlbeteiligung in Brandenburg bei den letzten Wahlen bei 30%.
7] Ende 1992 lag das regionale Pro-Kopf-BIP in allen ostdeutschen
Ländern unter 50% des EU-Durchschnitts. Dagegen lagen z.B. die
portugiesischen bei 67% und die griechischen bei 61% (Schuster 1996, S.
184). Heute liegen die ostdeutschen Länder bei zirka 65-70% des
EU-Durchschnitts.
8] Mit dem Hinweis auf Brandenburgs derzeitige EU-Randlage
versprach H.-O. Bräutigam in den 90er Jahren, dass das Land von der
Erweiterung ”wesentlich profitieren werde”. Deshalb unterstütze die
Landesregierung dies nachdrücklich, ”auch wenn ein Teil der deutschen
und auch der Brandenburger Bevölkerung dieser Politik noch
zurückhaltend gegenübersteht.” Und bei der Aufzählung der Vorzüge der
EU-Osterweitung spricht die sächsische Staatsregierung bereits unter
Punkt 2 davon, dass man die ungünstige Randlage damit verlassen werde
und ein Stück zur Mitte der EU rücken werde.
9] Brandenburg ist u. a. mit Beratern in Estland präsent, die im
Agrarbereich, vor allem an der Einrichtung von Grundbuchämtern,
beteiligt sind. Auf einer Konferenz zu den Beziehungen Brandenburgs zu
Mittel- und Osteuropa im Juni 1998 in Potsdam machten Vertreter aus den
MOE-Staaten deutlich, dass sie gerade an Beratern aus den ostdeutschen
Ländern interessiert sind, da diese einen ähnlichen
Erfahrungshintergrund haben und schneller auf die konkreten Situation
vor Ort reagieren können.
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