Thema | Kulturation 2/2004 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Siegfried Lokatis | Im Reiche Baron Hagers oder Wie modern war die Buchzensur in der DDR?
| Allein
die Modernität ihrer Zensur qualifiziert eine Diktatur als „modern“. Es
war die Kraft der Zensur, die der Sowjetunion erlaubte, gleichzeitig
den GULAG auszublenden, den Sputnik-Mythos zu entfalten und die
Überlegenheit zentraler Planwirtschaft zu suggerieren. So täuschte sie
trotz Glasnost bis 1989 westliche Historiker und Soziologen, von denen
kaum einer die Auflösung des sowjetischen Imperiums voraussagen konnte.
Zensur verschaffte dem rumänischen Diktator Nicolae Ceaucescu eine
liberal-demokratische Aura, verhalf Saddam Husain dazu, einen
verlorenen Krieg zu überstehen und erlaubte den serbischen
Kriegsfürsten, das Urteil der Weltöffentlichkeit zu überspielen.
Zensur ist, auch wo die Verfassung es anders vorsieht, schon im
Hinblick auf Jugendschutz und die Bekämpfung von Kinderpornographie
durchaus der Normalfall. Kein Filmproduzent und kein
öffentlich-rechtlicher Fernsehsender, weder das ***Institut noch
Sabine*** kommen ohne mehr oder weniger geschickt ausgeübte Methoden
der Zensur aus, die man, wie in der DDR, meistens als „redaktionelle
Verantwortlichkeit“ bezeichnet[Anm. d. Red.: Damit der Name des
Instituts bzw. der Nachname von Sabine nicht von der Sache ablenken, um
die es dem Autor geht, wurden sie durch drei Sternchen ersetzt.].
Es lohnt sich immer, nach ihren Spuren zu suchen. Wie viele
Hollywood-Filme wurden – wie die erste Fassung von „Casablanca“ in der
Bundesrepublik Deutschland – geschnitten und falsch synchronisiert, um
aus Nazi-Gangstern Kommunisten zu machen? Wie viele Sprachregelungen
wird jeder vorsichtige Lektor und Redakteur von sich aus beachten, wenn
es um die Interpretation des Holocausts oder den politisch korrekten
Schutz von Minderheiten, um die Reputation wissenschaftlicher
Institute, großer Banken und Verlagskonzerne geht?
Wenn man sich im Iran wie in China, in Berlin wie in München mit
unterschiedlichem Glück an der Kontrolle des Internets und des
Satellitenfernsehens versucht, handelt es sich zweifellos um ein, was
immer darunter zu verstehen sei, irgendwie modernes, wenn nicht gar
postmodernes oder nachpostmodernes Phänomen. Dass es sich auch bei der
Buchzensur um eine moderne Angelegenheit handeln kann, liegt im
Gegensatz dazu keineswegs auf der Hand. Die Prozeduren
wissenschaftlicher Textkontrolle und Selektion beispielsweise
verlaufen, wenn es um Druck- und Übersetzungskosten geht, allzu oft
langwierig wie im Mittelalter.
So assoziieren wir beim Thema Buchzensur nicht wie bei anderen
Massenmedien die neueren Formen der Informationskontrolle, sondern
Index und Inquisition, Bücherverbrennung und Ecos mordenden
Klosterbibliothekar. Bekanntlich hat die Buchzensur eine lange, bis zu
Jan Assmanns alten Ägyptern zurückreichende Vorgeschichte. Der Kampf um
die Gestalt kanonischer Texte, ihre Abschrift, Übersetzung,
Interpretation und Verbreitung prägt seit zweitausend Jahren die
europäische Kirchengeschichte. Die Vernichtung einer ketzerischen
Handschrift oder der Bibliothek von Alexandria war seinerzeit
hocheffektiv, zumal das Pergament für ein Buch den Gegenwert von acht
Bauernhöfen kosten konnte. Ganze philosophische Schulen und
theologische Strömungen, von denen kaum mehr als der Name erhalten ist,
wurden auf diese Weise ausgerottet. Die Methoden wurden im Wandel der
Zeiten nicht notwendigerweise effektiver: Es wirkte im 16. Jahrhundert
durchaus abschreckend, wenn ein unorthodoxer Bischof am Pranger sein
ketzerisches Buch aufessen musste. Die Bücherverbrennung von 1933
machte hingegen die betroffenen Autoren so weltbekannt wie die
Morddrohungen Salman Rushdie. Bei 451 Grad Fahrenheit lernt man die
Bücher auswendig. Diskreter und ökonomischer ist die Methode, Bücher
einzustampfen.
Die Buchzensur gilt seit Metternich als das klassische Instrument
der Restauration und ideologischen Konservierung. Wer etwas Neues und
Abweichendes schrieb, bekam sie als Hemmung zu spüren. Auch die
DDR-Zensur galt bisher keineswegs als in irgendeiner Hinsicht modern.
Schriftsteller wie Günther de Bruyn und Christa Wolf erlaubten sich hin
und wieder den Spaß, ihre Zensoren mit jenen der Restauration nach 1815
in Beziehung zu setzen. Kurioserweise hieß Metternichs Oberzensor,
Baron Hager, wie der Chefideologe der SED. Klaus Schlesinger hätte eine
„staatlich sanktionierte Zensur mit weißen Stellen in Büchern und dem
Namen des Zensors im Impressum“, verglichen mit dem Zustand in der DDR,
sogar als Fortschritt empfunden, und Stefan Heym karikierte treffsicher
die Zensur seines Landes, indem er Ulbrichts „Heilige Schrift“, die
achtbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, als Salomons
„König David Bericht“ verspottete. Man muss den Kontext solcher Kritik,
ihre Camouflage-Funktion berücksichtigen. Natürlich ist es für den
Autor von taktischem Interesse, ob der Gegner noch Keule und Dolch
bevorzugt oder Zeitzünderbomben und Minenfelder gelegt hat. Doch
vorsichtig formuliert stand für den Autor eines ausgemusterten
Manuskriptes die Frage nach der Modernität der Zensur kaum im
Vordergrund.
Der Spott der Autoren war keineswegs unbegründet. Hinter
zensurpolitischen Willkürmaßnahmen verbargen sich oft nicht mehr als
tantenhafte Prüderie und banausischer Dilettantismus. Zensurakten
erweisen sich in dieser Beziehung als unerschöpfliches Füllhorn
grotesker Geschichten, wenn etwa ein Gutachten zum Satyricon „die
fortschrittlich entschiedene Fixierung des prinzipiellen
Dekadenzcharakters“ des Petronius und die Umkleidung der „antikischen
Freiheitlichkeit des homosexuell-päderastischen Begehrens nach vollem
und weidlichem Vollzug des coitus‘ in die sinngleiche, aber im Wort
nicht reizzündende Formel nach ,Erfüllung der letzten Wünsche‘“ als
„entwicklungsentsprechende ... Bereinigung des für unsere
fortgeschrittene Humanität prononziert Pornographischen“ begrüßte.
Auch wies das Zensursystem der DDR eine ganze Reihe feudaler Züge
auf. Privilegienwirtschaft und Mäzenatentum blühten. Führende
Funktionäre unterstützten „ihren“ Verlag mit Papier und ermöglichten
gelegentlich auch politisch missliebigen Autoren den Druck ihrer Werke.
In dieser Hinsicht waren die berüchtigten verlegerischen Ambitionen des
MfS nur ein trauriger Sonderfall. Ein notorischer Mangel an
„ideologisch zuverlässig schreibenden Kadern“, Lektoren und Zensoren,
eine alle gesellschaftlichen Bereiche, Organisationen, Ministerien und
Institute überwuchernde Kulturbürokratie sorgte in einem
beneidenswerten Ausmaß für die Vollbeschäftigung der Literaturfreunde
und ihrer Verwandten. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass ein
Schriftsteller selbst als Zensurgutachter arbeitete, seine Frau im
Verlag, ein Bruder im Schriftstellerverband, eine Tante beim Rundfunk,
ein Vetter im Kulturministerium. Und die DDR war ein kleines Land, in
dem jeder jeden kannte. Ohne möglichst hochkarätige Beziehungen konnte
der Autor lange auf seine Druckgenehmigung warten. Das Klientelwesen
grassierte also wie im Westen, aber deshalb wird niemand das
Zensursystem als „modern“ bezeichnen.
1965 befand sich die Fertigstellung der achtbändigen „Geschichte
der deutschen Arbeiterbewegung“ in der Endphase. Walter Ulbricht
persönlich zeichnete als Herausgeber. Unter seiner Anleitung hatten
über 300 Historiker, organisiert in Arbeitsgruppen, an dieser
„Meistererzählung“ der SED mitgearbeitet. Jedes Team bekam einen
eigenen „Stilredakteur“ zugewiesen, und als Handbuch zur Schreibhilfe
entstand sogar eine spezielle „Stilfibel“. Deshalb wirken die acht
Bände trotz der Unzahl von Autoren und Korrektoren wie aus einem Guss
geschrieben. Das sogenannte „Geschichtswerk“ galt fortan als Maß aller
Dinge, als Quelle historischer Wahrheit. Bis zum Sturz Ulbrichts wurde
jedes historiographische Manuskript, aber auch historische Romane und
Kinderbücher vom Zensor darauf abgeklopft, ob der Text mit dem
„Achtbänder“ übereinstimmte oder nicht. Entsprechend penibel waren die
Mechanismen der redaktionellen Textkontrolle bei der Entstehung des
„Geschichtswerks“ organisiert. Man kann sagen, es wurde um jeden Satz
gerungen. Das Institut für Marxismus-Leninismus sorgte dafür, dass die
Erinnerungsberichte der Parteiveteranen und die Quellenstudien zur
„örtlichen Arbeiterbewegung“ mit den aktuell gültigen zentralen Dogmen
der SED übereinstimmten, vor allem mit der „führenden Rolle“ von
Ulbrichts KPD-Zentrale im Widerstand, mit dem 1958 von Ulbricht
deklarierten „bürgerlich-demokratischen Charakter der
Novemberrevolution“ und mit der „Nationalen Grundkonzeption“. Ganze
ZK-Sitzungen waren dem Werk gewidmet, die führenden
Geschichtszeitschriften trugen die Diskussion in die Öffentlichkeit und
auch Mitglieder des Politbüros opferten ihre kostbare Zeit. Um dem Werk
den letzten Segen und unanfechtbare Geltung zu verleihen, wurden alle
Passagen, die sowjetische Interessen berühren konnten, in Moskau
gegengelesen. Dabei wurde, weil die Termine drängten, folgendes
Verfahren angewandt. War ein Kapitel fertig gestellt, fuhr der Leiter
des Instituts für Marxismus-Leninismus damit zum Flughafen Schönefeld.
Dort wartete ein zuverlässiger Sonderkurier mit seiner Maschine. Wie
viel leichter hätten es die Genossen gehabt, wenn sie statt eines
Sonderflugzeuges mit FAX oder E-Mail hätten arbeiten können!
An dem Beispiel lässt sich gut ablesen, welche Bedeutung dem
geschriebenen Wort zugemessen wurde, welche Mittel man für dessen
Kontrolle zu investieren bereit war. In den Zensurakten und
Verlagsarchiven finden sich zahllose mehr oder weniger
wissenschaftliche Gutachten, Argumentationen, Korrespondenzen und
Verhandlungsprotokolle. Relativ selten wurde seit Beginn der sechziger
Jahre die willkürliche, „administrative“ Anweisung von oben. Man wird
deshalb lange ratlos hin- und hersuchen, inwieweit sich die
Zensurpraxis in der Diktatur von westlichen Großverlagen und
Fernsehsendern genau unterscheidet. Ein solcher Hauptunterschied dürfte
jedenfalls im Primat der Kontrolle liegen, in der Bereitschaft, riesige
Zensurlektorate aufzubauen und alle möglichen Aufsichtsinstanzen
zwischenzuschalten. Ein politisch brisantes Manuskript konnte, den
Staatssicherheitsdienst nicht mitgerechnet, in der DDR vom Fachlektor
zum Abteilungsleiter der Zensurbehörde gut zehn Stationen durchwandern,
der es dann „nach oben“ ins ZK und Politbüro weiterreichte. Die
Verfahren in der Sowjetunion galten übrigens als wesentlich
umständlicher, und die Zensoren der DDR setzten ihren Ehrgeiz daran,
das Procedere irgendwie abzukürzen.
Dabei ging es in „Gesellschaften sowjetischen Typs“ nicht nur um
die Unterdrückung von öffentlicher Kritik, sondern um ein
unverzichtbares Steuerungs-mittel, die Verankerung einer
alternativlosen Diskursformation. Zensur ermöglichte der Staatspartei,
ihre Ideologie zu entfalten, ein paßgerechtes Geschichtsbild
durchzusetzen, eine autarke Erziehungspolitik zu treiben und eine
breite Mitgliederbasis in ausgerichteter Bewegung zu halten. Zensur
verlieh Definitionsmacht über die „politische Linie“. Dass Trotzki und
nicht Stalin aus den Büchern verschwand, zeigte der Partei, wo die
Macht saß. Später ersetzte man Stalin durch „die sowjetische Führung“.
Aber gerade die Absurdität solcher rituellen Hinrichtungen lehrte den
Glauben, sie verwies auf den Ort der Macht.
Auf dem Gebiet der Zensur war die DDR nicht nur „modern“, sondern
nahm seit Ende der fünfziger Jahre unangefochten die Spitzenstellung
ein und definierte das vielbeschworene „Weltniveau“. Die Diktatoren der
Welt hatten Anlaß, neidvoll nach Ost-Berlin aufzublicken.
Welches Land wird seine Archive öffnen, um der DDR diesen Ruhm
streitig zu machen? Leider wissen wir wenig über die manchmal
anscheinend noch aktive Zensur in anderen ehemaligen Ostblockländern.
Aber wenn sich eine DDR-Delegation nach Warschau, Prag oder Havanna
aufmachte, um die dortigen Methoden der Zensur zu studieren, zuckten
die Reisenden über die laxen und undifferenzierten Verfahren nur
verächtlich die Schulter. Seit Ende der fünfziger Jahre wurden die
Manuskripte aus den „Bruderländern“ in Ost-Berlin deshalb
vorsichtshalber noch einmal nachzensiert, auch wenn das hin und wieder
zu offiziellen Protesten und diplomatischen Verwicklungen führte.
Um ein naheliegendes Missverständnis auszuschließen: die
ideologische Grenzkontrolle richtete sich zwar ursprünglich gegen
liberalistische Aufweichungen und so genannte „Tauwetterliteratur“. Sie
diente 1958 der Durchsetzung einer „harten Linie“. Zensur konnte sich
aber durchaus auch umgekehrt, als Schutzschild der Reformbestrebungen
der sechziger Jahre auswirken, um z.B. überholte stalinistische Titel
oder Auswirkungen der Kursverhärtung unter Breshnew fernzuhalten.
Zensur beschaffte der SED so ein Stück Souveränität und
Handlungsspielraum auch dem großen Bruder gegenüber. Sie wirkte als
„ideologische Schleuse“ und flexibles Steuerungsinstrument. Zensur war
ein Machtmittel, das nicht an einen konkreten Kurs gebunden war,
sondern gerade den wichtigsten Hebel darstellte, um einen Kurswechsel
durchzuführen und öffentlich sichtbar zu machen.
Die hier postulierte internationale Spitzenstellung der DDR-Zensur
gründete nicht so sehr auf ihrer besonderen Rigidität und der Mischung
von kommunistischem Lagerdenken, stalinistischer Unbedenklichkeit,
preußischer Gründlichkeit und lutherisch-pietistischer
Schriftgläubigkeit. Einmalig war vielmehr die Herausforderung, vor die
sich die Zensur gestellt sah und die sie zu ständiger Verbesserung, zur
Modernisierung der Methoden zwang. Sie sollte die antifaschistische
Umerziehung fast der gesamten Bevölkerung literaturpolitisch
vorantreiben. Während Länder wie Polen, die CSSR und Ungarn durch die
Sprachgrenze vor „ideologischen Viren“ natürlich geschützt waren und
sich Toleranz eher leisten konnten, hatte sich der „Klassenfeind“ der
DDR im gemeinsamen Sprachraum breitgemacht. Im geteilten Deutschland
sah sich sozialistische Literaturpolitik ständiger, breiter
Feindeinwirkung ausgesetzt.
Schon früh lernte man jedoch, pragmatisch beide Augen zuzudrücken,
wenn es um Deviseneinnahmen ging. So exportierte der Dresdner Verlag
der Kunst mittels einer Tarnfirma in den fünfziger Jahren
Heiligenbilder nach Polen und Pin-Up Bilder in den Orient. Die
Druckereien des vornehmen Akademie-Verlags reservierten ihr
Kunstdruckpapier für schwedische Pornos. In bestimmten Verlagen
etablierte sich sogar eine Art Zensur unter umgekehrten Vorzeichen, die
mit Blick auf den Westexport ideologisch befrachtete Stellen,
Friedensparolen und Lenin-Zitate strich.
Ob es um den Import sowjetischer Literatur oder eine effektive
Kontrolle von Wandkalendern ging, ob es sich um die Förderung von
Kinderbüchern oder die Etablierung effektiver Kontrollmechanismen
handelte: auf allen Gebieten läßt sich ein ähnlicher Lern- und
Erfahrungsprozeß beobachten. Auch in der DDR war „Zensor“ kein
anerkanntes Berufsbild. Man musste erst lernen, welche Bücher man
kürzen und welche einstampfen musste, austesten, wann ein
kommentierendes Nachwort und eine Auflagenkürzung genügten. Man musste
ausprobieren, wann man einen Autor besser totschwieg, gegen ihn eine
Kampagne organisierte oder ihn ausreisen ließ, welche Texte zur
Begutachtung ins Außenministerium und welche in das gefürchtete
Institut für Marxismus-Leninismus gehörten. Jede einzelne „ideologische
Panne“, ob es sich um ein überholtes Stalin-Zitat oder ein schlecht
retuschiertes Bild handelte, wies auf ein bisher übersehenes Loch im
Netz der Überwachung hin, das gestopft werden musste, auf einen
unzuverlässigen Lektor oder oberflächlichen Gutachter. Man lernte, dass
man Nachwuchsautoren anders zensieren musste als den Heiligen Augustin,
daß es bei Texten des „klassischen Erbes“ und „Weltliteratur“
zweckmäßig war, nach Möglichkeit nur das Nachwort zu begutachten, und
ansonsten das Schwergewicht der Kontrolle auf die Vorauswahl zu
verlagern. So wirkte Zensur als Filter bei der Adaption fremder
Literaturen und konstituierte einen ganz eigen-artigen Kosmos von
Ideen, Sichtweisen und Traditionen, ein spezifisches und, wie sich
inzwischen gezeigt hat, durchaus nachhaltiges „kulturelles Gedächtnis“.
Einen deutlichen Modernisierungsschub signalisierten die 1961
entstandenen „Richtlinien der Zensur“, die die wechselseitigen
„Verantwortlichkeiten“ von Lektoren, Verlegern, Gutachtern und Zensoren
festlegten. Für jeden Zensurvorgang bedurfte es fortan im Prinzip einer
„wissenschaftlichen Konzeption“. In der DDR begann die große Zeit der
Kybernetik, und auch das Zensursystem wurde nach
organisationstheoretischen Überlegungen umgebaut. Die Verlage
diskutierten als Elemente sich selbst steuernder Regelkreise über die
Kriterien, nach denen sie zensiert werden wollten.
Planungsgemeinschaften entstanden, in denen Verlage, Buchhändler,
Ministerien und wissenschaftliche Institute die Produktion festlegten.
Die Zensur beschränkte sich zunehmend auf die Wahrnehmung einer
TÜV-Funktion bei der Endabnahme. Diese war freilich nach der Logik des
Systems unverzichtbar: Bücher brauchen ihre Zeit. Wenn der Roman fertig
war, galt nach aller Wahrscheinlichkeit ein ganz anderer politischer
Kurs als zur Zeit der Konzeption des Werkes, neue Sprachregelungen
waren in Kraft getreten, bestimmte „führende Genossen“ durfte man nicht
mehr zitieren. Auch die skrupellosesten Opportunisten und die
gläubigsten Kommunisten waren allein, ohne die Hilfe der Zensur,
schlechterdings nicht in der Lage, dem Zickzack der politischen
Generallinie zu folgen.
Durch eine ständig verbesserte und zunehmende flexibel gehandhabte
Planmethodik sowie durch die Verlagerung der Kontrolle in die Verlage
und das Vorfeld der Produktion wurde das gewohnte Verhältnis zwischen
Zensor und Autor auf den Kopf gestellt. Vorher funktionierte Zensur
idealtypisch im Wortsinn als „Reaktion“. Der Autor schrieb, die Zensur
hinkte nach. Nun hinkte die Zensur dem Autor nicht mehr nach, sondern
eilte ihm auf dem „Bitterfelder Weg“ voraus und spornte ihn an. Man
wies ihn auf bestimmte Themen und ließ ihn auf einer LPG oder in einem
Kombinat die dazu nötigen Erfahrungen sammeln. Wenn ein Autor mit
seinem Buch nicht rechtzeitig fertig wurde, galt das in den sechziger
Jahren als Planungsfehler und schlechte Kontrolle des Verlages.
Auch die Qualität der Gutachten nahm spürbar zu. Man lernte auf
nuancierte Weise unterschiedliche Grade von Fiktivität und Faktizität
zu entdecken und zu handhaben, wobei auf die Dauer zunehmend die Texte
ihr Recht, die Autoren an Autonomie gewannen. Schriftsteller und
wissenschaftliche Autoren wirkten zugleich als Gutachter. Autor und
Zensor wechselten oft die Rolle. Dass die Zensur verwissenschaftlichte,
bedeutete auf der anderen Seite, dass der Umgang mit der Zensur zum
alltäglichen Bestandteil wissenschaftlicher Praxis wurde.
Ob es sich um Lenins Werke oder mathematische Formelbücher, um
Fachliteratur für Planer und Leiter oder um populärwissenschaftliche
Bücher handelte: außerhalb des Zensursystems gab es für Texte, egal
welcher Art, schlechterdings keinen Ort. Geistige Produktion vollzog
sich im Hinblick auf den unvermeidlichen Kampf um die Publikation.
Welches Buch wurde nicht von vornherein mit Blick auf die Zensur
verfasst? Wie viele Autoren verbrachten einen Großteil ihrer
Überlegungen damit, die Zensur hinters Licht zu führen? Einer der
großen Erfolge moderner Literaturpolitik war die Erziehung des Autors
zur Selbstzensur. Aber Selbstzensur allein genügte nicht, um ein
Manuskript „durchzubringen“. Der Schriftsteller brauchte einen gut
informierten Lektor, einen geschickten Gutachter oder einen
kunstsinnigen Verleger. Mit bewundernswerter Manövrierkunst wurde auf
allen Seiten um die Druckgenehmigung, die Auflagenhöhe, die
Papierqualität oder einzelne Textpassagen gerungen.
Auseinandersetzungen um die Publikation von Manuskripten lagen in
der Logik des bürokratischen Systems. Die staatliche Druckgenehmigung
legitimierte jedes einzelne Buch als politisch erlaubt und gültig. Man
konnte sich darauf als Handlungsanweisung berufen. Speziell Bücher aus
der Sowjetunion waren in dieser Hinsicht latent noch gefährlicher als
Westliteratur, die ohnehin als „feindlich“ galt, und bedurften
entsprechender Kontrolle. Aber auch sonst galt jedes erschienene Buch
als Präzedenzfall für weitere. Während ein einzelnes Werk eine
„ideologische Panne“ bedeuten konnte, definierten zwei Bücher bereits
eine „neue Linie“. Umgekehrt verunsicherte jedes Buchverbot die Verlage
und engte die Grenzen des öffentlich Mitteilbaren wieder ein.
Ideologische Kurswechsel wurden durch spektakuläre Zensurentscheidungen
signalisiert, aber auch der Alltag war von permanenten
Auseinandersetzungen um das Erscheinen von Büchern geprägt, die hinter
den Kulissen, im Vorfeld der Öffentlichkeit geführt wurden.
Das wohl wichtigste Handwerkszeug, das sich ein Zensor aneignen
musste, war deshalb das Fingerspitzengefühl für Handlungsspielräume und
Einflusschancen. Wenn um Auflagenhöhen, Termine und Änderungsauflagen
gestritten wurde, musste der Zensor wissen, welcher formelle und
informelle politische Rückhalt dem jeweiligen Autor zur Verfügung
stand, ob der CDU-Verlag auf Kosten der NDPD mehr Papier erhalten
durfte, ein Nationalpreisträger angesehener war als das Institut für
Zeitgeschichte oder ob ein Nachwuchsdichter wo-möglich die rechte Hand
Walter Ulbrichts war. Verbot man ein Buch des Kirchenverlags St. Benno,
kam womöglich der Bischof zu Besuch. Kürzte man die Papierzuteilung des
CDU-Verlags, so protestierte der Parteivorstand, und die
Jugendorganisation FDJ war bestrebt, nicht weniger Papier als der
Gewerkschaftsverlag zu erhalten. Ein möglichst großes Stück vom
Papierkuchen zu erhalten, war wichtig für die Finanzierung und zugleich
Prestigefrage. Es gab weder freie Wahlen noch politische Umfragen, so
dass – ein merkwürdiges Pendant zum heutigen
Einschaltquotenfetischismus – die Auflagenhöhe der Druckerzeugnisse zum
wichtigen Indikator für offizielles Ansehen mutierte. Es dauerte einige
Jahre, bis sich zwischen der Zensurbehörde und den organisationseigenen
Verlagen eine Art Gewohnheitsrecht und Proporzsystem einpendelte, das
die unterschiedlichen Einflusschancen der „gesellschaftlichen Kräfte“
widerspiegelte.
Im Grunde war jede einzelne Zensurentscheidung das Resultat eines
verborgenen Kräftespiels, von Stellvertretergefechten der
„gesellschaftlichen Kräfte“, von Organisationen, Ministerien,
Wissenschaftlern und Künstlern. Im Begutachtungsprozess wurden
wissenschaftliche, ökonomische, finanzielle, pädagogische, ästhetische
und politische Ansprüche ausgehandelt und gegenseitig abgewogen. Zensur
funktionierte also nicht nur „administrativ“ von oben nach unten,
sondern auch als wechselseitiger Austauschprozess und Politikersatz.
Sie wurde dadurch durchlässig für gesellschaftliche Einflüsse. Ihre
Kriterien konnten sich bei günstiger politischer Großwetterlage bis zu
einem gewissen Grad durchaus an aktuelle ästhetische und
wissenschaftliche Strömungen anschmiegen. Hier hing allerdings viel vom
Zufall ab. Ein bornierter Abteilungsleiter der Hauptverwaltung Verlage
und Buchhandel oder ein überängstlicher Verlagsdirektor konnten ganze
wissenschaftliche Disziplinen lahmlegen. Aber auch in der Zensurbehörde
gab es aufgeschlossene und natürlich hochbelesene Leute, die mit
eigenwilligen Autoren und initiativfreudigen Lektoren gern an einem
Strang zogen, um ein „problematisches Buch“ zu retten. Die Entstehung
und Durchsetzung einer „kritischen Gegenwartsliteratur“, des „Ole
Bienkopp“ Erwin Strittmatters und Christa Wolfs „Christa T.“ wäre ohne
Rückendeckung aus der Zensurbehörde undenkbar gewesen. Die Frontlinie
verlief nicht immer zwischen Zensur und Autor, sondern spaltete die
Zensurbehörde wie den Schriftstellerverband.
So war Zensur ein allgegenwärtiges, das gesamte intellektuelle
Leben prägendes, in mancher Hinsicht auch anregendes Phänomen. Sie
konstituierte einen unübersichtlichen neuen Kosmos, eine ganz
eigenartige Ordnung des Diskurses, die nach systemspezifischen
Spielregeln der Informationskontrolle funktionierte, ein Wabensystem
mit mehr oder weniger scharf überwachten, auch praktisch zensurfreien
Räumen. Doch auch wenn sie tolerant verfuhr, gab die Zensurbehörde
ihren Machtanspruch nicht preis, sondern unterwarf jeden Text dem
Verfahren. Sogar in der Druckgenehmigungsakte zu Goethes Farbenlehre
findet sich der Vermerk „Keine Einwände. Einverstanden.“
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