Thema | Kulturation 2/2004 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dietrich Mühlberg | Über den Kunstgenuss - Theater, Oper, Konzert, Museum und Galerie
| Vorbemerkung
In seiner Reihe „Lebenswelten“ hat der Ch. Links Verlag das Buch
„Genussbarometer Deutschland – wie wir zu leben verstehen“
herausgebracht. Anlass war eine von JTI Germany in Auftrag gegebene
Untersuchung, die herausbekommen sollte, ob denn inzwischen auch
Deutsche zu genießen verstehen. Der drittgrößte Tabakkonzern der Welt
benötigte solche Hintergrundinformationen und so liegt nun „Die große
deutsche Genuss-Studie 2004“ vor. Ihre wichtigsten Erkenntnisse werden
im Buch vorgestellt. Darüber hinaus hat der Herausgeber Thomas Platt
fünfundzwanzig Autorinnen und Autoren dafür gewonnen, sich die diversen
Genüsse der vier Genießer-Grundtypen unter den Deutschen näher
anzusehen. Die öffentliche Kunstrezeption ist danach Sache der
„Erlebnisgenießer“, die sich deutlich von den Couch-, Geschmacks-, wie
auch von den Alltagsgenießern“ (so die ermittelte Typologie)
unterscheiden. Nachstehender Text ist (um die kulturhistorischen
Hinweise leicht gekürzt) in diesem Buch erschienen (S. 144 – 155),
dabei wurden auch die Nachweise der essayistischen Gesamtdarstellung
angepasst. Zu finden ist der Titel unter: Thomas Platt (Hg.),
Genussbarometer Deutschland. Wie wir zu leben verstehen, Berlin, Ch.
Links, 1. Aufl. September 2004, 254 S., 14,90 Euro.
Die verschwiegenen Kunstgenießer
Noch zu keiner Zeit waren die Künste im Alltag der meisten
Deutschen so präsent wie heute. „Wir konsumieren heute fünf Stunden
täglich Kunst: Musik, Popvideos, Fernsehspiele, Krimis, Kinofilme,
Gerichtsshows und TV-Serien. Ich rede noch gar nicht über Werbespots,
Computerspiele, Schausport, Illustriertenfotos, Fortsetzungs- und
Fotoromane, Erzählungen, Comics, dickleibige Schmöker und all die
anderen populären Genres, die Sinne, Gemüt und Intellekt erfreuen.“
(Maase 2004) So der Tübinger Ethnologe Kaspar Maase in seinen
„Überlegungen zur alltäglichen ästhetischen Erfahrung“. Von den meisten
„außerhäuslichen“ Kunstangeboten, die den Erlebnisgenießer
interessieren könnten, ist da noch gar nicht die Rede: von Diskotheken,
Klubs und anderen angesagten Locations, von Kirchenmusik,
Rockkonzerten, Feuerwehrbällen, Dorffesten und Karneval, von
Hofbräuhaus bis Love Parade - in allen sind die diversen Künste nicht
nur Beigabe, sondern "organisieren" meist das Ereignis. Es steht außer
Zweifel, dass alle diese Kunstangebote uns Vergnügen bereiten sollen.
Und der Bedarf noch solchen ästhetischen Genüssen wächst beständig, der
anhaltende Boom der Kulturwirtschaft belegt es.
Wie aber kann es dann geschehen, dass die Künste nur ganz am Rande
vorkommen, wenn die Deutschen über ihre Genüsse berichten? Hier hätten
sich doch mindestens die (etwa) fünfzehn Prozent der Erwachsenen melden
müssen, denen die Künste aller Gattungen und Genres viel bedeuten, die
regelmäßig ins Theater gehen, zu den Ausstellungen pilgern und die
Konzertsäle füllen. Und weiteren gut dreißig Prozent der Deutschen sind
die „hohen Künste“ nicht fremd, sie gehen schon mal mit in die Oper,
besuchen im Urlaub den Kunstkaten oder den Louvre. Auch sie haben den
Interviewern von der Genussforschung nichts davon erzählt. Freilich
sind diese Zahlen unter Fachleuten umstritten, als sicher gilt nur,
dass die Hälfte aller Erwachsenen nicht an solchen künstlerischen
Produktionen interessiert ist, dagegen rechnet das Kulturmanagement nur
drei bis fünf Prozent der Bevölkerung zu den "Intensiv-Nutzern" (Klein
2002).
Eine so geringe Anzahl könnte die Ursache dafür sein, dass
Kunstgenießer in der Untersuchung nicht wahrgenommen worden sind.
Wahrscheinlicher ist, dass die Kunstliebe von den Befragten gar nicht
genannt worden ist. Einmal weil alle die, die sich täglich an
Kunstproduktionen – im Radio, im Fernsehen, im Stadtbild, im Klub, im
Kino, in der Disco usw. – erfreuen, das gar nicht für „Kunst“ halten.
Andererseits kommen die Liebhaber der hohen Künste gar nicht auf den
Einfall, ihre Neigungen unter die Genüsse einzureihen. "Genuss"
assoziiert gerade bei ihnen Hedonismus, eine vielleicht ins Unmäßige
spielende Sinnlichkeit. Und die kann weder vom Pflichtmenschen noch vom
Verehrer des Artifiziellen goutiert werden. Der „Genussmensch“ ist bei
den Protestanten und bei den Sozialisten ohnehin kein Vorbild (gute
Katholiken sollen Verständnis für ihn haben). Diese kulturellen
Wertungen habe eine lange Geschichte.
Kunst darf nicht auf Genuss reduziert werden!
Ein genießendes Vergnügen an der Kunst, das nicht durch ästhetische
Bildung ausgewiesen und reguliert ist, galt und gilt unter gebildeten
Deutschen als unangemessen. Wurden mit diesem Verdikt zunächst die
Aufsteiger und Parvenüs des frühen Industriekapitalismus abgestraft,
galt das kulturkritische Urteil dann vor allem den künstlerischen
Formen der Massenkultur, die um die vorige Jahrhundertwende aufkamen.
Ein Redetext von 1902 könnte – entsprechend modernisiert – von einem
heutigen kulturkonservativen Mahner stammen: "Gehen Sie in die
Tanzlokale und Musikhallen, in die Theater und Museen, sehen Sie sich
die Wohnung und die Kleidung selbst der Armen an, und Sie werden
finden, daß sich überall ein unwiderstehlicher Drang nach Freude
kundgibt. Gehen wir dieser Freude auf den Grund, so finden wir, oft zu
unserem Entsetzen, die Freude an der Kunst. Aber in welcher
Zerrgestalt! Der geschmacklose Flitter der Kleidung, der traurige
Oeldruck an der Zimmerwand, die Musik des Bierkonzerts und
Tingeltangels, das Schauerdrama und der Schauerroman - das alles
empfindet die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes als Kunst! Was
uns Ekel bereitet, wird als Lust empfunden." (Heinrich Wolgast 1903) So
Heinrich Wolgast, ein überaus verdienstvoller Verfechter der
ästhetischen Erziehung in einer Rede vor deutschen Lehrern. Die
deutschen Bildungsbürger jener Zeit haben unter Kultur vornehmlich die
„hohen Künste“ verstanden und es ist darum nur allzu verständlich, dass
die volkspädagogisch Veranlagten unter ihnen sich über das Aufkommen
der Massenkünste empörten. Ganz offensichtlich verkamen ihnen hier die
Künste (oder wie sie meinten: die Kunstsurrogate) zum reinen
Genussmittel.
Dieser kulturkritische Vorbehalt gegenüber künstlerischen
Vergnügungen und Genüssen war langlebig, seine vermutlich nachhaltigste
Begründung erfuhr er durch Theodor Adorno: Lüge, Verdummung, Ablenkung,
Stillstellung der kritischen Kräfte der Gesellschaft - das alles lauert
hinter einem genussorientierten künstlerischen Angebot. Das hat auch
die Alltagsmoral geprägt. Da wird zwar nicht mehr die
"verabscheuungswürdige Genussmoralität" attackiert, doch trotz allem
Bekenntnis zum Genießen meinen immerhin 42 Prozent der Befragten in
unserer Untersuchung, dass es unserer Gesellschaft besser ginge, wenn
nicht so viele nur an ihren Genuss dächten.
Darum bedarf es heute noch der Rechtfertigung, wenn in einem Buch
über die Genüsse der Deutschen auch von der Kunst die Rede sein soll.
Noch immer dürfte es als banausisch gelten, den Umgang mit den Künsten
mit der Vorliebe für Pralinen und Zigarren, für Wellness oder
Partyszene in einem Atem zu nennen. Die "gebildeten Deutschen" dürfte
es befremden, wenn ihre Kunstliebe solcherart auf Genussfähigkeit
reduziert wird, ihre kundige Leidenschaft für das Schöne als schnöde
Begehrlichkeit nach sinnlichen Reizen und emotionaler Verzauberung
gesehen wird. Bei Kunst denken sie eher an das Entschlüsseln von
Strukturen und Botschaften, an Kontemplation, seelische Hingabe oder
intellektuelle Lust. Und dann sollen sich diese Kunstfreunde auch noch
unter die "Erlebnisgenießer" einordnen! Dies mögen sie überhaupt nicht,
obwohl gerade sie allen Merkmalen dieses "Genießertyps" am besten
entsprechen.
Kunst ist hier zu Lande kein Genussmittel und darum auch nicht
extra besteuert, sondern mit öffentlichen Mitteln gefördert. Dagegen
muss für den Konsum künstlerischer Produktionen, die vor allem dem
Vergnügen, der Erbauung und der Rekreation dienen - wir nennen sie
Unterhaltungs- oder Gebrauchskunst - der Konsument selber aufkommen.
Hier handelt es sich ja um konfektionierte Genüsse, wie sie die
Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie vermarktet: ohne jede
ästhetische Provokation, ohne moralischen Anspruch und ohne politische
Bezüge oder gesellschaftskritische Invektiven. Noch eine Stufe tiefer
finden sich Schund, Kitsch und Billigpornografie eingeordnet, mit denen
Begierden ausgebeutet werden, die - obwohl real sicher ein ganz
bedeutendes "Genuss-Segment" - in diesem seriösen Buche besser nicht
erwähnt werden.
Deutsche begründen ihre Genussdistanz philosophisch
Worin die doppelte Provokation besteht, Kunst als Genuss und als
individuelle Erlebnisstrategie zu behandeln, wird schnell klar, wenn
wir an die große Autorität Immanuel Kant denken. In seiner Analyse des
Geschmacksurteils kam er zu dem Schluss: was uns Genuss verschafft und
darum von uns begehrt wird, ist "nur" angenehm. Die Empfindung des
Schönen dagegen (worin er die Wirkungen der Kunst zusammenfasst) ist
"interesseloses Wohlgefallen" (Immanuel Kant). Seitdem gilt allein die
zweckfreie Konzentration auf das ästhetische Objekt, gilt die
kontemplative Aneignung als legitimes Modell ästhetischer Erfahrung.
Schopenhauer hat es uns in Stammbuch geschrieben (und damit zugleich
einen neuen Begriff geprägt): "Die höchsten, die mannigfaltigsten und
anhaltendsten Genüsse sind die geistigen". (Arthur Schopenhauer1851)
Wahre (hohe, ernste) Kunst kann der sinnlichen Wirkungen zwar nicht
entbehren, ist aber ein „geistiger Genuss“.
Vorherrschend ist die Meinung, Kunstrezeption habe sich der
"Logik", der Struktur und der Geschichte des Werkes zu widmen, sich ihr
unterzuordnen. Echter "Kunstgenuss" stelle sich nur ein, wenn es
gelinge, das Potenzial des Werkes für sich aneignend und deutend
auszuschöpfen. Selbstverständlich wird dieses Kunstverständnis
vielfältig relativiert, doch es bildet den Grundzug aller
"anspruchsvollen" Kunstlehren, egal ob sie sich auf das Artifizielle,
auf die gesellschaftskritische oder die identitätsstiftende Funktion
der Künste, auf deren Erkenntniswert oder auf ihre Autonomie
konzentrieren.
Solange auch das Feuilleton an dieser Kunstauffassung festhält,
dürfte die Wandlung der Deutschen zu Genussmenschen noch nicht völlig
abgeschlossen sein. Noch immer kann es als sicher gelten, dass ein
betuchter Franzose geneigt ist, für ein gutes Essen mehr auszugeben als
ein deutscher Opernfreund für den kompletten Ring von Richard Wagner
zahlt.
Kunst war immer auch Genussmittel
Über Generationen war es für die gebildeten Schichten der deutschen
Gesellschaft eine verpflichtende Konvention, sich im Theater sehen zu
lassen, sonntags das städtische Museum zu besuchen, nicht nur die
Hausmusik zu pflegen und im Freundeskreis von einer Bildungsreise
berichten zu können. In der Konversation waren Schillerzitate
angebracht. Viele Künstler haben uns von der Pein wie von den Genüssen
dieser Kulturpraxis berichtet, die inzwischen ihre Verbindlichkeit
verloren hat. Und auch die Kultur der Deutschen wird - bei aller
offiziellen Wertschätzung der traditionellen Hochkunst - nicht mehr mit
ihr gleichgesetzt.
Damit ist es eher möglich geworden, sie als das zu nehmen, was sie
immer auch war: ein Genussmittel. Schon in den 80er Jahren hat Gerhard
Schulze die deutsche Population kultursoziologisch untersucht und sie
dann als eine "Erlebnisgesellschaft" beschrieben. (Gerhard Schulze
1992) "Genuss" war für ihn dabei eine zentrale Kategorie:
"Erlebnisorientierung ist definiert als das Streben nach
psychophysischen Zuständen positiver Valenz, also nach Genuss." Immer
stärker setze sich als Verhaltensstrategie durch, was er als "Projekt
des schönen Lebens" beschrieb. Dabei ist jeder für seine Erlebnisse
selbst zuständig. "Tun, was einem gefällt, heißt in der
Erlebnisgesellschaft: die Situation so zu arrangieren, dass sie die
gewünschte innere Wirkung in einem selbst hervorruft. Man betrachtet
die Welt als Speisekarte und stellt sich ein optimales Menü zusammen."
(Gerhard Schulze 1999).
Damit verfielen die ausschließlich kognitiven Konzepte der Kritik,
die die Kunstrezeption einseitig zu einem werkorientierten
anspruchsvollen intellektuellen Vorgang machen und die selbst dort, wo
in Oper und Konzert der Hauptakzent auf dem Lukullischen lag, es nur
als Mittel für einen höheren Zweck dulden mochten. Die Kultursoziologie
kann heute angeben, welche Arten ästhetischen Verhaltens
("alltagsästhetische Schemata") in welchen sozial-kulturellen Milieus
üblich sind. Anders gesagt: wer denn an welchen Kunstformen Genuss
finden kann, wer den Umgang mit klassischer Musik sucht, wen wir im
Museum antreffen können, wer den Arztroman liest, wer zum Rockfestival
reist und wer ins Theater geht.
Allerdings sind Aussagen über "den Deutschen" noch schwer möglich.
Es gibt keine einheitliche Kulturstatistik für die Bundesrepublik, die
man auswerten könnte und es finden sich erstaunlich wenige (und dann
auch nur punktuell ansetzende) Untersuchungen zum Publikum der
künstlerischen Angebote. Doch sie weisen ähnliche Tendenzen aus, so
dass durchaus sichtbar wird, was die erlebnisfreudigen Deutschen ins
Museum, in den Konzertsaal, zu Festivals oder ins Theater zieht und was
sie dort genießen.
Die deutsche "Kulturlandschaft" ist ohne Beispiel
Vom Theater in allen seinen Sparten – das Konzert eingeschlossen -
wäre zuerst zu reden, weil für diese Kunstform bei den Deutschen der
größte Aufwand getrieben wird. Sie leisten sich beinahe so viele
Theater wie der ganze Rest der Welt zusammen. Die Statistik weist (für
die Spielzeit 2000/2001) 150 öffentlich getragene Theaterunternehmen
(mit 728 Spielstätten) aus, die gut 20 Millionen Besucher hatten und je
Besuch in Durchschnitt 91,30 EUR "Betriebszuschuss" erhielten. (Diese
und andere Angaben nach: Kulturstatistik 2003, Kulturfinanzbericht
2003, Theaterstatistik Deutscher Bühnenverein 2002)
Diese Zuwendung ist beträchtlich, gemessen an anderen
Haushaltstiteln der Länder und Städte freilich kaum erwähnenswert. Doch
die Kassen sind leer, die Spielräume gering und damit die Neigung immer
größer, bei den Kunstinstituten zu kürzen. Um das abzuwenden, kam eine
(selbstverständlich deutsche) Politikerin sogar auf den Gedanken, diese
einmalige deutschsprachige Theaterlandschaft ganz und gar durch die
UNESCO zum Weltkulturerbe erklären zu lassen. Zumindest eine Großmacht
könnte dem zustimmen, ist doch der bei den Deutschen mit Abstand
populärste Bühnenautor ein Engländer. "Romeo und Julia" und "Hamlet"
führten mit 179 300 beziehungsweise 127 262 Besuchern die vom Deutschen
Bühnenverein veröffentlichte Liste der Top-Ten der Saison 2000/2001 an.
Im Opernbetrieb siegte völlig unangefochten ein deutschsprachiger
Komponist mit 271 221 Besuchern seiner "Zauberflöte" und 148 734
verkauften Karten für "Figaros Hochzeit". Auch nach der Zahl der
Aufführungen lag er mit der Zauberflöte an der Spitze (437), gefolgt
von einem Preußen, dessen „Zerbrochener Krug“ auf 402 Vorstellungen
kam. Diese Rekordzahlen deuten auf die anhaltende Liebe zum Vertrauten
und Bewährten. Doch sie können uns auch täuschen, weil eine solche
Hit-Parade verdeckt, dass viele Theater mit neuen Stücken über die
Lebensweise junger Leute besonderen Erfolg haben. Ihre häufig noch kaum
bekannten Autoren stehen als Gruppe im Publikumsinteresse gewiss weit
vor Shakespeare. Ähnlich wird verdeckt, dass sich das zeitgenössische
Musiktheater immer mehr als hermetische Kunstwelt versteht und auch
unter den Kunstliebhabern nur noch wenige entschlüsseln können, was da
gespielt wird. Von "aktiver Zuhörkunst" als Fähigkeit Musik zu
genießen, ist dort längst nicht mehr die Rede.
Ein einzigartiges kulturelles Angebot sind auch die knapp 5000
öffentlich betriebenen deutschen Museen (103 Millionen Besucher 2001),
darunter sind 497 ausdrücklich den Künsten gewidmet. Die belegen nach
den volks- und heimatkundlichen Museen mit 16 Millionen Besuchern den
zweiten Platz, auch hier mit leicht steigender Tendenz. Doch während
die meisten Theater ein örtliches und regionales Publikum haben, spielt
für die Kunstmuseen der überregionale Tourismus eine beträchtliche
Rolle. Sie gehören zu den Anziehungspunkten von Urlaubsreisen und ihre
großen Ausstellungen sind Kunstfreunden oft selbst eine Reise wert.
Mit ihren Orchestern liegen die Deutschen inzwischen gleichfalls
ganz vorn, 130 "Theater- und Kulturorchester" weist die jüngste
Kulturstatistik aus, 4686 Konzerte gaben sie in der Saison 200/2001.
Führend hier Nordrhein-Westfalen, das sich 20 Orchester leistet und in
der Zahl der Konzertbesucher (147.000) ganz knapp vor Sachsen und
Baden-Württemberg liegt. "Ruhrgebiet ist Kulturgebiet": Essen,
Gelsenkirchen, Bochum, Duisburg, Düsseldorf und Dortmund haben eigene
Sinfonieorchester und Konzertsäle, teils gerade erst glanzvoll erneuert
(Essen) oder kurz vor Sanierung oder Neubau. Hier profitieren die
Kunstgenießer vom prestigeorientierten Konkurrenzverhalten der
Stadtregierungen, unterstützt von Kulturpolitikern, die darin ein
Symbol für die gelungene Transformation der Industrieregion in eine
Kulturlandschaft sehen und darauf hoffen, dass das klassische Konzert
auch weiterhin sein Publikum findet.
Möglich ist diese kulturelle Opulenz nur, weil dies alles die
"öffentliche Hand" fördert: Theater und Orchester verbrauchen den
größeren Teil des Kulturbudgets der Länder wie der theaterbesitzenden
Kommunen. Laut Kulturfinanzbericht (der Statistischen Ämter des Bundes
und der Länder vom Mai 2004) wurden 2001 für Theater und Musik
insgesamt mehr als 3 Milliarden Euro ausgegeben (37 % aller
Kulturausgaben), für Museen, Sammlungen und Ausstellungen fast 1,4
Milliarden Euro (gut 17% der Gesamtausgaben). Für klassische Konzerte,
Opernhäuser und Sprechtheater werden jährlich um die 35 Millionen
Eintrittskarten verkauft (und subventioniert).
"Aufwand" meint aber auch das, was aus der eigenen Tasche zu
bezahlen ist. Das sind beileibe nicht nur die Billetts, denn der
Theater- und Konzertbesuch ist ein recht komplexer Genuss. Er macht
seinen Liebhabern schon vorweg Umstände, die offensichtlich als fester
Brauch und Vorfreude Teil des Vergnügens sind: angemessene Kleidung,
Theatertasche, Friseur, Verabredungen, Reservierung im Restaurant.
Echte Theaterenthusiasten unternehmen wegen einer bestimmten
Inszenierung lange Reisen, vertiefen sich vorher in die Opernpartitur -
anderen genügt der Blick in den Opernführer.
Daneben bildete sich in den letzten Jahrzehnten eine andere Art von
komplexem Kunstgenuss aus. Aus den kleineren Städten steuern die
Touristenbusse die Musical-Theater in Stuttgart, Berlin und Hamburg an,
hier bilden Hafenrundfahrt, "Cats" und die Reeperbahn ein
vielschichtiges geselliges Vergnügen. Strittig ist, ob der Anlass
solcher Reisen, das Musical von Andrew Lloyd Webber oder ein
Boulevardstück, tatsächlich zur Theaterkunst zu rechnen wären. Denn
hier will der Veranstalter ja ausdrücklich Profit machen, während das
"richtige" Theater im Durchschnitt nur 16 Prozent seiner Kosten selbst
einspielen kann, dafür aber einen „kulturpolitischen Auftrag“ erfüllt
(und sich darum besser nicht als Genussmittel anpreist). Solche
Abgrenzung ist auf den ersten Blick plausibel, denn sie soll die Grenze
markieren zwischen dem, was der öffentlichen Förderung wert ist und
dem, was sich selbst rechnen muß (obwohl auch privat betriebene
Kunstunternehmen etwas aus den "Fördertöpfen" von Ländern und Kommunen
erhalten, man denke nur an das Tempodrom in Berlin).
Darum müssen Staat und Kommunen wissen, was Kunst ist (gesagt wird
meistens: Kultur). "Kunst hat für das Subjekt entwickelnden Charakter,
Unterhaltung dagegen ist Bestätigung". Sie "eliminiert aus dem
ästhetischen Material die widersprechenden Momente; dem Konsumenten
soll 'keinen Augenblick die Ahnung von der Möglichkeit des Widerstands'
(Max Horkheimer 1947) gegeben werden", (Chup Friemert 1990), soll
falsches Einverständnis mit der Welt bewirken. Eine solche
Gegenüberstellung wird unserem Umgang mit unterschiedlichen Kunst-,
Unterhaltungs- und Genussangeboten schon deshalb nicht gerecht, weil es
den sozialen Hintergrund der ästhetischen Normen eines nach kulturellen
Milieus differenzierten Publikums nicht berücksichtigt und gar nicht
untersucht, was die verschiedenen Kunstgenießer alles so mit den
Künsten erleben. Da wäre über die unterschiedlichen Wirkungen erst noch
zu diskutieren, die ein rundum gelungenes, weil phantastisch gespieltes
klassisches Konzert und ein Frauen-Power-Clip der aggressiven Pop-Lady
Pink auf uns haben. Was könnte affirmativer sein, als sinnliche und
emotionale Wiedererkennungserlebnisse, als bewunderungswürdige
Virtuosität und der Genuss beseligenden Wohlklangs?
Die Musical-Touristen stört das alles wenig, sie folgen der Werbung
und erfreuen sich am ganzen Programm. Sie wissen nichts davon, dass
"legitimer ästhetischer Genuss ... nur besonders qualifizierten
Geistern an besonders qualifizierten Gegenständen möglich" sei. (Kaspar
Maase 2004) Die privaten Bühnen hatten 2000/2001 über 11 Millionen
Besucher (Tendenz steigend). Dies färbt auf die ernsthafteren
Kunstfreunde ab. Auch sie entscheiden sich zunehmend nach Vorliebe und
Interesse und immer weniger nach bildungsbürgerlicher Konvention. Auch
dies ist an der Statistik des Deutschen Bühnenvereins ablesbar. Danach
blieb die jährliche Besucherzahl der Musiktheater zwischen 1991/92 und
2001/02 zwar fast konstant (7,5 zu 7,2 Millionen), doch die Oper verlor
7 % ihrer Besucher, die Operette gar 24 %, während das Musical um 25 %
zulegte. Solche Verschiebungen in der Publikumsgunst haben mehrere
Ursachen und einige betreffen nicht nur Theater und Konzert.
Was wissen wir über das Publikum?
Bei den deutschen Museen gibt es lange schon eine
"Besucherforschung", die viele Methoden (detaillierte Statistik,
Interviews, Verhaltensbeobachtung usw.) entwickelt hat, das Publikum zu
verstehen. ("Museen und ihre Besucher") So wurde ermittelt, dass die
15- bis 30-Jährigen überproportional vertreten sind, die Besucher über
ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau verfügen und die Museen
eigentlich von den Ferntouristen leben. Inzwischen aber ging der Anteil
der jungen Leute zurück und die "Seniorenquote" stieg kräftig an - über
die Ursachen wird noch diskutiert. Werden mit geringeren Schülerzahlen
auch die Gruppen kleiner, die mit der Lehrerin zur Documenta nach
Kassel fahren oder wird hier das einst gewonnene Stammpublikum älter?
(Annette Noschka Roos 2003) Allerdings ist zu beachten, dass in diesen
Forschungen die bildungsorientierten Historker den Ton angeben, weil
die Kunstmuseen nur ein kleines Segment der Museumslandschaft bilden.
So ist über die Motive des Kunstinteressierten hier wenig zu erfahren.
Ganz ähnlich steht es mit der Aufmerksamkeit der Theater für ihr
Publikum. "Der Theaterbesucher ist, sieht man von seinem Alter und
Geschlecht einmal ab, ein den Theatern unbekanntes Wesen; die einzigen
Gruppen, in die das Publikum üblicherweise unterteilt wird, sind
Jugendliche, Abonnenten und 'freie Besucher'; alle weiteren
Differenzierungen beruhen mehr oder minder auf Spekulation; wo und wie
sich der theaterinteressierte Bürger informiert und welches letztlich
seine Entscheidungskriterien für oder wider einen Besuch sind, entzieht
sich der Kenntnis der Theater." (Armin Klein 2004)
Hier spitzt Armin Klein etwas zu, denn der Ludwigsburger Professor
für Kulturmanagement gibt selbst viele Hinweise auf die
Besuchermentalität, die sich auf diverse Teiluntersuchungen gründen
können. Auch an Theatern begann die partielle Zuschauerforschung schon
vor vielen Jahren und löste immer wieder Debatten aus. Als in den
frühen siebziger Jahren Studierende für die Volksbühne und das Deutsche
Theater in Berlin umfangreiche Zuschauerbefragungen durchführten, waren
die Interviewer ebenso wie die Theaterleute und die Kulturpolitiker
überrascht, als sie auf die ermittelte Rangordnung der Motive für den
Theaterbesuch blickten. Alle Anstrengungen des Theaters - Stück, Regie,
Ausstattung - waren für das befragte Publikum nicht so wichtig wie die
Gelegenheit, "schön zurechtgemacht" mit vertrauten Menschen ausgehen zu
können und an einem repräsentativen Ort auf andere festlich gekleidete
Menschen zu stoßen. Auch die Geselligkeit danach wurde erwähnt ("schön
Essen gehen", eine Flasche Wein trinken). Wichtig war es auch, die
Schauspieler einmal leibhaftig zu sehen, die man vom Kino und vor allem
vom Fernsehen her kannte. Das Befragungsergebnis konnte bei einem
Publikum nicht anders ausfallen, das seine Theaterkarten mehrheitlich
über ein Abonnement erhielt und nur durch Tausch mit Freunden oder
Kollegen einen Einfluss auf Stück und Termin hatte. Selbstverständlich
äußerten sich die Befragten auch zu den Stücken und den Vorstellungen
kritisch oder anerkennend. Auch das Angebot des Theateranrechts wurde
bewertet (zu wenig Musiktheater, zu wenig Komödien), aber die starke
Gewichtung der vielen anderen Komponenten, die das Vergnügen am
Theaterabend (wie übrigens auch am Konzertbesuch) ausmachen, zwang
damals zum Überdenken des Angebots.
Was will die nachwachsende Generation?
Wovon hängt es heute (und in Zukunft) ab, ob „Erlebnisgenießer“ ein
Kunst-Event buchen? Die Grundkonstellation dürfte sich in den letzten
dreißig Jahren nicht geändert haben, entscheidend ist nach wie vor, ob
man seine Kindheit und frühe Jugend in einem "kulturell
anregungsreichen Milieu" (Dieter Kramer) verbrachte und dabei gelernt
hat, welches Vergnügen diese Kunstformen bereiten und dass sie mit
einiger Selbstverständlichkeit zur eigenen Lebenswelt gehören. Wer
heute zu den Kunst-Genießern gehört, hat diese Gabe meist seiner
Herkunftsfamilie und womöglich auch seiner Schule zu verdanken.
Unter den aktuell wirksamen Einflussfaktoren müsste an erster
Stelle die Werbung in allen ihren Formen zu nennen sein. Sie geht heute
nicht nur von der expandierenden Kulturwirtschaft aus. Auch die
konkurrierenden Städte preisen ihre Kunsteinrichtungen als
"Standortfaktoren" an und wetteifern darin, den Tourismus durch
künstlerische Events aller Art zu beleben. Ein Festival folgt dem
anderen, kaum ein Ort von Belang ohne Kultursommer, Schlossfestspiele
und Kunstbiennale. 1991 hatte die Frankfurter Kunsthalle Schirn großen
Erfolg damit, abends, wenn die Freizeit beginnt, ihre Türen zu öffnen
und den Theatern wie den Bars mit einem attraktiven Kunst-Event
Konkurrenz zu machen. Für 2002 registrierte der Deutsche Museumsbund
mehr als 100 verschiedene Museumsnächte, am spektakulärsten die
halbjährlich stattfindende "Lange Nacht der Museen" in Berlin, die
Zehntausende anlockt und mit der versucht wird, vor allem junge
Besucher diese Events zu treuen Anhängern zu machen. Umgekehrt werben
auch die Theater, Orchester und Museen mit "komplexen" Genuss-Angeboten
von Kunst, Ambiente und Verköstigungen. Typisch dafür ist eine aktuelle
Zeitungsnotiz aus Osnabrück (Neue OZ 15. 04.04): "Das Euregio
Musikfestival vereint in diesem Jahr zum ersten Mal Ess- und
Kunstgenuss in Form der 'Opera Culinaria'". Das gab es im kommerziellen
Kulturbetrieb bereits (viel) früher, nun zieht die "hohe Kunst" nach.
Vielleicht noch mit Bedenken: Da gab es am 24. April in Osnabrück ein
Streichquartett von Schostakowitsch von vier Saxophonen geblasen in der
Kombination mit einem Fünf-Gänge-Menü. Das klingt etwas kurios und
lässt vermuten, dass sie es in Osnabrück noch nicht wagen. ein
"richtiges" Streichquartett zum Menü aufspielen zu lassen. Es wäre erst
noch zu erproben, wer alles daran Genuss fände, wenn die Berliner
Philharmoniker eine Mahler-Sinfonie beim Brunch "zu Gehör" brächten.
Auch die Kunstinstitute selbst entwickeln neue Marketingstrategien
um Publikum anzulocken. Hohe Besucherzahlen sollen ihren Anspruch auf
öffentliche Mittel bekräftigen. Zugleich wollen sie zeigen, wie
intensiv sie selbst dabei sind, Mittel zu erwirtschaften. Beispielhaft
hat das die Ausstellung von Kunstobjekten aus dem New Yorker Museum of
Modern Art durch die Neuen Nationalgalerie in Berlin gezeigt. Hier
geriet die Werbekampagne beinahe größer als das Kunstereignis und wurde
zum „Selbstläufer“. Möglich wurde das, weil die Art der ausgestellten
Kunstwerke den potenziellen Besuchern aller gebildeten Schichten und
Milieus geläufig ist, was neu zu entdecken war, bestand in Varianten
des Vertrauten. Einem Massenauftrieb standen also keine ästhetischen
Barrieren entgegen. So war nur die Einmaligkeit der Gelegenheit
massenmedial zu suggerieren und die erreichte Rekordmarke möglichst
täglich zu verkünden. Hier wurde auf die Freude am Wettstreit, auf
Reiselust und Gefallen am öffentlichen Auftritt gesetzt. Dazu kam die
Anziehungskraft der Aura von Objekten, die von den Reproduktionen,
Postkarten, Schulbüchern und Kunstkalendern her vertraut sind. Die
Gelegenheit, an einem einmaligen Ereignis mitzuwirken, hatte sich schon
bei Christos Reichstagsverhüllung als Magnet erwiesen. Erst dieser Mix
machte hier den Genuss aus und sicherte damit den "Freunden der
Nationalgalerie" den kommerziellen Erfolg, den die Versicherungen wie
die Manager des MoMa zur Bedingung gemacht hatten. Der bedrängte
Berliner Finanzsenator ist hocherfreut über diesen Nachweis, dass
Genuss von Hochkultur sich durchaus selbst tragen kann, während dem
bürgerlichen Puristen dies Gewicht eines wenig dezenten Marketings
nicht ganz geheuer sein kann.
Jüngere Leute haben damit keine Probleme. Und gerade an ihnen kann
vielleicht abgelesen werden, wie sich das Publikumsinteresse in Folge
übergreifender mentaler Wandlungen langsam verschiebt, die Schulze als
Übergang in die Erlebnisgesellschaft beschrieb und als Subjektivierung,
als zunehmende Selbstmanipulation auch kritisch beurteilte. So
verflüchtigt sich mit jedem neu ins Kulturleben tretenden Jahrgang
etwas mehr vom bildungsbürgerlichen Respekt vor dem Museum als Tempel
und dem Theater als moralischer Anstalt. So geht auch die in
Bildungshaushalten von Kind an eingeübte Andachtsbereitschaft zurück
und damit schwindet auch die geduldige Treue. Die Älteren nehmen zwar
Publikumsbeschimpfung noch (genussvoll!) hin, bei Publikumsverarschung
aber bleiben auch sie weg. Die Jüngeren dagegen amüsieren sich mit
Schlingensief, gehen zu Casdorf und wählen nach tendenziell immer
spezielleren Kriterien aus. Darum gehen die Abonnements und die
Besucherorganisationen stark zurück. Die "Kennerschaft wird immer
spezifischer" sagt uns Stefan Bachmann, Schauspielchef in Basel.
(Gerhard Jörder 2001) Und die Theater mühen sich erfolgreich, ihren
musealen Bildungscharakter loszuwerden, indem sie auf aktuelle Themen,
moderne Texte und ungewöhnliche Kunstmittel setzen. Die freien
Theatergruppen sind ihnen da voraus und haben darum vor allem junges
Publikum. (Untersuchungen Hamburg und Zürich)
Allerdings haben wir auch zu bedenken, dass die deutsche
Gesellschaft schrumpft und der Anteil der jungen Leute, die als
nachwachsendes Publikum in Frage kommen, recht schnell kleiner wird.
Das bringt die Genuss-Anbieter im Feld der hohen Künste schon heute in
Schwierigkeiten - nicht nur Schulen werden in geschlossen, auch die
Kinder- und Jugendtheater verlieren an Publikum. Will man die nähere
Zukunft dieser "Genuss-Anbieter" abschätzen, darf man
selbstverständlich nicht nur den demographischen Einbruch kalkulieren,
obwohl er ja auch eine der Ursachen für die Finanznot derer ist, die
heute diesen Teil des Kulturbetriebs sichern und geneigt sind, diese
Verpflichtungen zu reduzieren. Weiter zu bedenken, dass unter den neue
hinzugekommenen Kommunikations- und Aneignungsformen auch solche sind,
die für den kunstorientierten Erlebnis-Genießer interessant sind - sein
Zeitbudget sich aber nicht groß ändert. Wenn ich alle großen Museen der
Welt via Internet besuchen kann, ersetzt das beileibe nicht den Genuss,
den die Originale an einem symbolisch aufgeladenen Ort bieten können,
doch es verändert wahrscheinlich mein Verhältnis zu den Künsten. Mit
Sicherheit hat es Einfluss auf meinen Zeitplan.
Von Gewicht dürfte es auch sein, ob die hier zu erfahrenden Genüsse
weiter beliebt sind und immer wieder nachgefragt werden. Weil unser
Verhalten von vielen Faktoren abhängt, ist das schwer zu
prognostizieren. Auch müsste dafür mehr darüber bekannt sein, was an
diesen Kunstformen wem Genuss bereitet.
Warum bereiten uns öffentliche Kunsterlebnisse Genuss?
Zunächst selbstverständlich sind es die Kunstwerke, ihre
Inszenierungen, die Interpreten, die wir auf uns wirken lassen. Vieles
davon ist uns, oft sogar in weit besserer Qualität, auch zu Hause,
medial vermittelt verfügbar. Selbst am "Eröffnungs-Zauber" der
Philharmonie Essen im Alfried Krupp Saal (1900 Plätze, geschlossene
Veranstaltung, Soltesz dirigierte Bach, Mozart und Richard Strauss)
hätten wir mit dem Fernseher teilnehmen können. Doch gehen wir hin,
können wir das Produzieren und die Produzenten als Selbstdarsteller
unmittelbar erleben. Um zu verstehen, was uns an dieser öffentlichen
Herstellung von Kunstwerken so fasziniert, müssten mindestens
Rezeptionsästhetik, Kunstpsychologie, Kulturgeschichte und
Kultursoziologie bemüht werden. Doch auch ohne solche Vertiefung kann
festgehalten werden, dass der Konzert- und Theaterbesuch eine Art
weltlicher Kirchgang ist, ein gemeinsam zelebrierter Genuss, das
klassische Konzert kann dabei als das höchste aller (deutschen)
Kulturrituale gelten. Öffentlicher Kunstgenuss ist immer ein mehr oder
weniger exklusives Ereignis, das nur stattfindet, wenn wir mit
Gleichgesinnten aus verwandten kulturellen Milieus an einem speziellen
Ort zusammentreffen und auf Zeit nach den tradierten Regeln mitspielen.
Darum noch einige Anmerkungen zu Ort und Zeit.
Für ein Zusammentreffen "verwandter Seelen" mit ähnlichen
Genuss-Erwartungen bieten Theater, Konzertsaal und auch das Museum ein
festes Ritual in entsprechend ausgestatteten Räumen. Darum ist "das
Theater immer noch der Ort, an dem die Leute am heftigsten reagieren,
wenn sie Sachen sehen oder hören, die gegen einen bestimmten Codex
verstoßen ..." (Regisseur Falk Richter 2001). Darum ist gerade das
Theater trotz aller medialen Konkurrenz immer noch das Medium der
ästhetisch artifiziellen Formen, große Metaphern und Symbole. Dies
auch, weil hier die Akteure leibhaftig anwesend sind und man sie von
Kopf bis Fuß sieht - wie man sich dort auch selber sieht und fühlt.
Allerdings immer in der Totale des Bühnenraums. Darum muss auf der
Bühne jede kleine Gebärde, jedes Minenspiel und jedes Flüstern und
zarte lyrische Tremolo so ausgestellt werden, dass es vom zweiten Rang
noch wahrgenommen wird. Vielleicht haben diese permanenten gestischen
Übertreibungen heute einen besonderen Reiz, da das Interesse an der
körperlichen Selbstdarstellung wie an der Entschlüsselung der Codes
fremder Körpersprachen so deutlich zugenommen haben. Die starke
Faszination, die das Tanztheater gerade auf jugendliches Publikum
ausübt, scheint das zu bestätigen. Ballett und Tanztheater haben in den
letzten Jahren deutlich steigende Besucherzahlen.
Genießen hat Zeitsouveränität zur Voraussetzung. Theater und
Konzert haben eine andere Zeitordnung als unser Alltag und die
Medienkünste. Sie verlangen von uns recht großen Zeitaufwand und lassen
sich selbst mehr Zeit als Film und Fernsehen das können und wollen.
Nicht jedermann genießt es, sich dieser Zeit-Opulenz zu unterwerfen
(und hört einen schmissigen vierten Beethovensatz lieber von
"Klassik-Radio" während der Autofahrt ins Büro).
Auch die Ausstellungsbesucher genießen den Zeit-Bruch und geraten
mit ihm in Schwierigkeiten. Die Museen und Galerien laden dazu ein, uns
jenseits hektischen Getriebes die Mußezeit zu nehmen, eine
Ausstellungskomposition auf uns wirken zu lassen, uns in einzelne Werke
zu versenken, Vergleiche anzustellen, im Katalog nachzulesen. Doch hier
haben wir mehr Entscheidungsfreiheit als in der Oper, wo wir - selbst
wenn die Inszenierung miserabel ist, uns Hustenreiz quält und der Sitz
drückt - mindestens bis zur Pause durchhalten müssen. Auf dem
Kunstmarmor der städtischen Sammlung werden die Füße schneller müde als
gedacht und wir erinnern uns bald an die psychologische Untersuchung
nach der jeder ernsthafte Bilder-Betrachter nach 20-30 Minuten so
gesättigt ist, dass er keine weiteren optischen Informationen mehr
aufnehmen kann. So beschließen wir für den Rest einen orientierenden
Schnelldurchlauf und der gewohnte Zeitrhythmus hat uns wieder. Zum
Glück haben sich die meisten Museen inzwischen auf uns eingestellt und
präsentieren Mammutshows nur noch ausnahmsweise.
Zurück ins Theater. Es war ja einst der einzige Ort, an dem
Geschichten in bewegten Bildern erzählt werden konnten. Inzwischen gibt
es da eine übermächtige mediale Konkurrenz, mit der sich die Mehrheit
der Deutschen begnügt. Eine bedeutende Minderheit aber weiß: Dies sind
immer noch die Bretter, die die Welt bedeuten. Jenseits des wirklichen
Lebens ist dies das einzige Medium, in dem die Welt gedacht werden kann
und in dem man sich zugleich selbst fühlen und sehen kann. Hier ist die
Kunst das Ganze der Welt und vermag sie uns gegenwärtig zu machen.
Claus Peymann (dessen Berliner Ensemble in der Zuschauergunst weit vorn
liegt): "Krisenzeiten sind gute Zeiten fürs Theater. Die Menschen
suchen Zuflucht an einem Ort, an dem ein Sinn, an dem Antworten zu
finden sind.
Und dann ist zu bedenken, dass ein neues Publikum mit anderen
Erwartungen nachwächst, Erlebnisgenießer mit einem neuen
„Genussprofil“. Überrepräsentiert ist es in der Warteschlange zur
MoMa-Ausstellung ebenso zu finden wie im fröhlichen Publikum der langen
Museumsnächte. Eine Untersuchung in Rostock (bestätigt durch kleine
Studien zur freien Theaterszene) ergab, dass Jugendliche (unter 25
Jahren) in der "Programmspartenpräferenz" deutlich abweichen. Sie
interessieren sich zwar wie alle anderen Altersgruppen sehr für
Musicals (etwa 57%, in der Befragung war das die Antwort "sehr
interessiert") und für Konzerte (etwa 59%), doch mögen sie kaum die
Operette (etwa 10%) und die klassische Oper (etwa 12%). Dafür
präferieren sie (weit vor allen anderen) das zeitgenössische Schauspiel
(etwa 39%) und das Tanztheater (etwa 36% "sehr interessiert"); auch für
die zeitgenössische Oper interessieren sie sich überdurchschnittlich.
Diese Bekundungen können als Hinweise auf künftiges Genussverhalten
genommen werden. Wenn wir vom Bühnenverein weiter erfahren, dass neben
der Vermehrung der Konzertbesuche um 20 Prozent auch die Kinder- und
Jugendtheater ihre Besucherzahlen übers Jahrzehnt um 12 Prozent
steigern konnten, kann zulässig vermutet werden, dass Theater, Museen
und Konzertsäle auch in der näheren Zukunft noch zu den Orten zählen
werden, die viele deutsche "Erlebnisgenießer" anziehen.
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