Thema | Kulturation 1/2005 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dieter Kramer | Die Diskussion um kulturelle Grundversorgung und das Recht auf die eigene Kultur
| Die
Diskussion um Kulturelle Grundversorgung und das Recht auf die eigene
Kultur - am Beispiel der Auseinanerderstzungen in der Kulturpolitischen
Gesellschaft und der Deutschen UNESCO-Kommission: Im Januar 2005 hatte
ich Gelegenheit, in Berlin an einer Sitzung der Deutschen
UNESCO-Kommission zum Entwurf einer Deklaration zur kulturellen
Vielfalt und an einer Diskussion der Kulturpolitischen Gesellschaft zum
Thema „Kulturelle Grundversorgung“ teilzunehmen. Nachfolgend ein
kommentierender Bericht über meine Eindrücke.
Paradigma Grundversorgung
In der Kulturpolitischen Gesellschaft wird derzeit heftig darüber
diskutiert, ob man zur Absicherung der Leistungen der öffentlichen Hand
auf ein Konzept der kulturellen Grundversorgung einlassen soll (vgl. Kulturpolitische Mitteilungen IV/2004).
Mit einem solchen Konzept kommen alle Regimes zurecht,
planungsfreudige Demokratien wie Erziehungsdiktaturen. Als man (ich
schließe mich dabei ein) noch daran dachte, Gesellschaft gezielt zu
verändern, gab es Diskussionen über die notwendige Infrastruktur für
Kultur und Freizeit: Man ging davon aus, dass zur Staatstätigkeit die
Bereitstellung einer Infrastruktur nicht nur der Verkehrswege, des
Rechtes, der Bildung gehört, sondern auch Schwimmbäder, Sportstätten,
Museen und Theater. Kulturplanungen waren an der Tagesordnung (vgl. z.
B. Dieter Kramer/Fred Foltin: Kultur- und Freizeitangebote in
Mittelhessen. In: Hessische Städte- und Gemeinde-Zeitung Nr. 10 Okt.
1976, 341-343; Hilmar Hoffmann/Dieter Kramer: Freizeitpolitik in der
Großstadt. Probleme und Aufgaben. In: Hessische Blätter für Volks- und
Kulturforschung, NF 7/8 (1978), S. 70-80; Dieter Kramer:
Regionalplanung und Kultur. In: Hessische Blätter für Volks- und
Kulturforschung NF 5/1977, 6-25, ... gekürzt auch in: Schissler, Jakob
(Hg.): Politische Kultur und politisches System in Hessen. Frankfurt/M.
1981 (Hessen-Bibliothek im Insel Verlag), S. 355-373).
Beim Hessischen Museumsentwicklungsplan vertrat ich in den 1970er
Jahren zunächst die Auffassung, man könne eine Art Museumsgesetz
verabschieden, das in Relation zu den Planungsparadigmen der Zentralen
Orte für Orte von einer bestimmten Gewichtung (dem schematischen Raster
mit Klein-, Mittel- und Oberzentren folgend) ein Museum vorschreiben
sollte. Später erwies es sich (und die Vorhaltungen der Experten schon
in der ersten Phase meiner Überlegungen deuteten in die gleiche
Richtung) als sinnvoll, zu sagen: Nur wenn eine Initiative besteht,
wenn aktive Träger zu erwarten sind, ist ein neues Museum in einem Ort,
wo es vorher noch keines gab, sinnvoll.
Lässt man sich wirklich auf Planungen ein, die auf Analyse,
Statistik und Empirie begründet sind, werden sie oft genug von der
Politik über den Haufen geworfen: Die langwierigen Planungen zur
Prioritätenliste Bürgerhäuser in Frankfurt am Main, an denen ich
mitwirkte, waren so überflüssig wie ein Kropf, weil die Politik dann
doch wieder Prioritäten setzte, die im Grunde schon vorher feststanden.
Für die Städte geht es um das Lavieren zwischen „Mindestversorgung“
und dem Herunterkürzen auf einen überall ähnlichen niedrigen Standard.
Damit entsteht das gleiche Problem wie bei den „gleichwertigen
Lebensbedingungen“ im föderalen Staat: Wenn sie festgeschrieben werden,
tendiert man zu einem niedrigen Standard; wenn die spezifischen
Unterschiede berücksichtigt werden, dann müssen dennoch
Mindeststandards festgeschrieben werden. Bei materiellen Standards
(Gesundheit, Schulpflicht, Sozialhilfe gemäß Warenkorb) mag das
angehen. Aber was gehört zum Kulturwarenkorb?
Mit dem Paradigma „Grundversorgung“ begibt man sich auf das
Glatteis der flächendeckenden Richtwerte, wo man dann einen Mittelwert
konstruiert und hier abspeckt, da draufsetzt. Erreichte hohe Standards
(wie z.B. in Frankfurt am Main) deren damit gefährdet. Zudem scheint
hier primär nur die öffentliche Hand berücksichtigt. Die
Kulturbürokratie (oder die kommunale Politik insgesamt, oder wer auch
immer) zieht die Definitionsmacht an sich: Sie kann und darf
definieren, was sie für wichtig hält. Das Recht auf die eigene Kultur,
die gepflegt (entwickelt) werden soll – fraktal auf allen Ebenen, von
der Minorität bis zum Staat, unter Einbezug der Zivilgesellschaft,
hätte dann keine Chance. Dieses Recht aber wäre der Kern eines anderen
Denkmodells (s. u.).
Nur an der Oberfläche kratzt auch die Debatte darüber, ob das
Kulturstaatsgebot in die Verfassung aufgenommen werden soll. Es ist ein
Nebenkriegsschauplatz: Mit einer entsprechenden Verfassungsklausel
würden manche sich dann deklamatorisch salvieren können, ohne die
freiwillige Selbstverpflichtung und die nicht präzis, sondern
allenfalls allgemein (im Sinne von dass, aber nicht wie) formulierte
Pflichtaufgabe Kultur mit Inhalt zu füllen.
Lebendiges kulturelles Milieu
Eigentlich geht es nicht um die Frage: Kann man Kultur planen? Sondern: Was kann man in der Kulturpolitik planen?
Der entscheidende Mangel bei dem Paradigma Grundversorgung liegt
für mich darin, dass die Elastizität und Dynamik des kulturellen Lebens
nicht berücksichtigt wird. Die Nachfrage nach kulturellen Produkten und
Leistungen ist (wenn man in der Sprache der Ökonomie bleibt)
außerordentlich elastisch.
Interessanter als die Planungskategorie „Kulturelle
Grundversorgung“ ist die Zielvorstellung „Lebendiges kulturelles
Milieu“. Sie berücksichtigt die Elastizität der Kulturnachfrage und
behält es gesellschaftlich-politischen Entscheidungen vor, für
Künstler, Kulturarbeiter und entsprechende Angebote bzw.
Wirkungsmöglichkeiten Raum zu schaffen, um das Recht auf die eigene
Kultur zu realisieren (und dieses Recht bezieht sich nicht auf eine Dienstleistung, sondern auf die Wahrnehmung des Menschenrechts auf die eigene Kultur, s. u.).
Die Programmatik „lebendiges kulturelles Milieu“ lässt sich auch
mit dem Programm „Erarbeitung einer mentalen Infrastruktur“ von
Christian Meier kombinieren.
Aus eigener Kraft können in erster Linie die Privilegierten sich
solche Milieus schaffen. In anderen Fällen führt erst Anregung durch
Gebietskörperschaften, NGO´s, oder FBO´s (Faith based Organisations)
dazu (früher wurde das unter dem Stichwort soziokulturelle Animation diskutiert; vgl. die Diskussion um die Inkaufnahme von Ungleichheit vs. „gleichwertige“ Lebensbedingungen).
Qualität wird bei den lebendigen kulturellen Milieus zunächst in
einem eher kleinen Bezugsrahmen definiert. Wenn
gebietskörperschaftliche Institutionen bei der Förderung mit der Frage
nach der Anerkennung der Qualität auf allgemeineren Ebenen konfrontiert
werden, können sie sich der bereits von Adorno empfohlenen Strategie
der beratenden Experten (Jury) bedienen, bei denen dann allenfalls noch
die Zusammensetzung eine Rolle spielt.
Lebendige kulturelle Milieus sind geeignet, Gesellschaft „auf der
kommunikativen Ebene“ zusammenzubringen (Glaser), auch wenn sie
materielle Probleme nicht unmittelbar lösen (aber „Empowerment“ zur
Verbesserung der Lage begünstigen können). Daher ist es durchaus
sinnvoll, zum Umgang mit gesellschaftlichen Problemlagen solche Milieus
zu unterstützen. Sie fördern die aktive Kohärenz und die Integration.
Lebendige kulturelle Milieus können so auch als Bestandteil der
Entwicklung von Lebensqualität verstanden werden.
Fragt man, welche Bereiche von kulturellen Subsystemen abgedeckt
werden, die von anderen Systemfeldern nicht berücksichtigt werden
(Helga Trüpel), dann wird man bald auf die Frage der Bindekräfte
kommen, mit denen Gesellschaft zusammengehalten wird: Die gemeinsamen
Erfahrungen, Symbole und das System der Werte und Standards wird nicht
nur durch die Verfassung, sondern auch im Sektor Kultur produziert (die
“mentale Infrastruktur“, von der Christian Meier spricht).
Dass solche Milieus dynamisch sind, wird auch bei dem Vorschlag der Kulturgutscheine
nicht berücksichtigt: Mit ihnen sollen Nutzer selbst entscheiden,
welche der (öffentlich finanzierten?) kulturellen Angebote sie nutzen
wollen. Damit soll die Angebotsorientierung durch eine individuelle
Nachfrageorientierung ersetzt (oder ergänzt) werden. Aber so entsteht
kein diskursiv mit anderen gemeinschaftlich entwickeltes lebendiges
Milieu, das sich auch auf die konkreten Lebensverhältnisse bezieht.
Dienstleistung Kultur?
Mit dem Verweis auf die politische Zielvorstellung „Lebendiges
kulturelles Milieu“ ist man besser gewappnet gegen die Unterwerfung
kultureller Leistungen unter die Vorstellungen von Dienstleistungen in
der EU-Dienstleistungsrichtlinie und den GATS-Verhandlungen.
Max Fuchs hat hingewiesen auf die Bedeutung von GATS (General Agreement on Trade with Services) als Nachfolger und Fortsetzung von GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) und parallel zum Schutzabkommen für Geistiges Eigentum TRIPS (Trade Related aspects of intellectual property), verhandelt im Rahmen der WTO (World Trade Organisation).
Es hat insofern mit Kultur zu tun, „als man seinerzeit eine Systematik
von allen möglichen (insgesamt 16) Dienstleistungskategorien entwickelt
hat, worunter nicht nur die üblichen (etwa die
Finanz-)Dienstleistungen, sondern eben auch soziale und kulturelle
Dienstleistungen, Bildung und audiovisuelle Medien gezählt werden.“
(Max Fuchs: Kulturelle Vielfalt, der Welthandel und der Staat. Ms.
01/2005, S. 2/3). Zwar kann jedes Land selbst entscheiden, welche
Märkte es in das GATS-Abkommen einbringen will, aber für Deutschland
ist das Verhandlungsmandat längst an die EU übergegangen, und die
vertritt mit ihrer derzeit diskutierten Dienstleistungsrichtlinie eine
weitgehende Liberalisierung (und weil darin auch soziale
Dienstleistungen eingezogen sind, hat in diesen Tagen auch
Bundeskanzler Schröder Bedenken angemeldet).
Wenn es um ein Bollwerk gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie und
gegen GATS geht, steht das Recht einer Gemeinschaft, selbst zu
entscheiden, was für sie kulturell wichtig ist, zur Debatte (damit ist
die Rolle des Staates angesprochen). Die politische Freiheit einer
Gemeinschaft zur Bestimmung von Standards und Werten und der Förderung
der dazu notwendigen Kräfte darf nicht unterlaufen werden – mit der
einzigen Einschränkung: Menschenrechte sind vorgeordnete Standards. Das
Recht auf eigene Sprache und Kultur, wie es im Human Development Report
von 2004 (Cultural Liberty in Today´s Diverse World, Kulturelle
Freiheit in unserer Welt der Vielfalt. Kurzfassung des Berichts über
die menschliche Entwicklung 2004. Berlin: Deutsche Gesellschaft für die
Vereinten Nationen e.V. (DVN) 2004) formuliert ist (s. u.), gilt nicht
nur für Minderheiten. Es ist anzuerkennen als Teil der Aneignung und
Gestaltung von Welt (Iso Camartin). Die in Auseinandersetzung mit der
Lokalität (der konkreten Lebenswelt) entwickelte Kultur ist Teil der
geschützten kulturellen Vielfalt. Diesbezüglich besteht auch eine
Verbindung zur Diskussion über biologische Vielfalt: Für die
Lebensgemeinschaften des südamerikanischen Regenwaldes wurde die Formel
von der (schützenswerten) biologisch-kulturellen Lebenswelt entwickelt.
Kulturverträglichkeitsprüfung
Die EU-Verfassung bestätigt die kulturelle Vielfalt, und die
europäischen Verträge fordern die Kulturverträglichkeit aller Maßnahmen
der EU. Das ist eine längst nicht ausgefüllte Leerstelle in diesen
Verträgen, deshalb kann man sich bei den aktuellen Verhandlungen noch
nicht auf vorhandene Meinungsbildungen und Vorbilder beziehen (der
Schutz regionaler Produkte wie Wachauer Marillen oder Parmaschinken in der EU könnte allerdings argumentativ mit hinzugezogen werden).
Die übliche Diskussion über die Kulturverträglichkeit kann sich
dabei solcher Argumente bedienen, wie Jack Lang sie zusammengefasst hat
(Jack Lang: Politik und Kultur. In: Berliner Lektionen 1993. Gütersloh
1994, 143 – 161). Er hat sich durch der Rhetorik vom schlanken Staat
nicht davon abbringen lassen, das Recht der Kultur zu verteidigen. Er
weiß, dass, will man eine eigene und attraktive Kultur haben, der Boden
dafür bereitet werden muss. Als Pragmatiker hält er sich nicht allzu
lange bei spekulativen Auseinandersetzungen auf, er rekurriert für die
Begründung seiner Kulturpolitik dann sehr ausgeprägt auf die
Gemengelage der Interessen: Wenn er für ein "Europa der 32 Stunden"
eintritt, um über verkürzte Arbeitszeit die Zahl der Arbeitsplätze zu
vergrößern, dann bedarf es der Kunst und Kultur" damit die befreite
Zeit keine leere, sondern eine reiche, volle Zeit ist." (150) Aber die
Kunst ist ihm auch "Hebel der ökonomischen Entwicklung" - wegen der
Umwegrentabilität, aufgrund derer Investitionen in kulturelle
Infrastruktur sich auszahlt (150/151).
Wichtig ist für unseren Zusammenhang ist, dass er sagt:
Kulturprodukte (wie Bücher, bei denen das deutsche System der
Preisbindung als "Abmachung zwischen Berufsvereinigungen" für ihn
vorbildlich ist) keine Ware sind, sondern einmalige Kunstprodukte.
Und:. "In der Kunst findet die Konkurrenz auf dem Feld der Qualität
statt, des Begehrens ..." (153), und deswegen will er die Kultur nicht
dem "merkantilen Totalitarismus" unterwerfen, tritt für
Quotenregelungen im Fernsehen ein und wehrt sich gegen den Vorwurf des
Protektionismus, den die USA im Zusammenhang mit den GATT-Verhandlungen
für die Kulturindustrie erhoben. Die Freiheit des Marktes steht gegen
"die Freiheit der Völker, ihr Recht auf ihren originären nationalen
Ausdruck" (155). "Die Freiheit, in unserer, in unseren Sprachen zu
sprechen, ist diese Freiheit nicht mehr wert als die Freiheit der
Suppenhändler? Jener, die uns mit ihren Serien überschütten wollen, in
denen Drogen, Gewalt und alles andere transportiert werden?" (155)
Nun könnte man das eine „chinesische“ oder „iranische“
Argumentation" nennen: Auch die iranischen Mullahs wehren sich gegen
den Kulturimport. Nur ist es ein Unterschied, ob in einem frei und
demokratisch organisierten Kulturprozess so etwas gesagt wird und
entsprechend freiwillige Entscheidungen zustande kommen, oder in einem
autoritären Regime es dekretiert und mit Zensur verbunden wird. "Man
muß nein sagen können", und wenn die Menschen in einer demokratischen
Gesellschaft zu etwas, was ihre zentralen Lebensinteressen betrifft,
nein sagen, dann ist das absolut legitim. Aufgrund kultureller Optionen
nein zu sagen ist marktkonform. Jack Lang lässt sich auch nicht
irritieren durch die disperse Gemengelage, die er mit seinen Argumenten
anspricht. Früher hätte man ihn des Opportunismus geziehen oder gesagt:
Die Kunst ins Zentrum zu stellen und gleichzeitig ihre
Instrumentalisierung zu empfehlen, das sind sich gegenseitig
ausschließende Ziele. Lang hat am Beispiel der Landwirtschaft
entsprechende Sonderregelungen legitimiert: "Auch sie ist für mich eine
Frage der Zivilisation - jenseits der Probleme, der Quoten, des Geldes
und so weiter. Man kann die großen amerikanischen Weiten nicht mit
unseren Dörfern vergleichen, mit unseren 200 000 Dörfern in Europa, mit
unseren empfindlichen Landschaften." (157) Jack Lang ermutigt so,
Grenzen zu setzten: Die tragenden Werte und Standards einer Kultur sind
verteidigenswert, nicht nur gegen den äußeren Feind (davon geht auch
die "wehrhafte Demokratie" immer aus, und die Anti-Hitler-Koalition des
Zweiten Weltkrieges hat entsprechend gehandelt). Nein, sie sind auch
verteidigenswert gegen die Gefährdungen durch die Exzesse des Marktes
und gegen den "merkantilen Totalitarismus". Das sagt und schreibt sich
einfach.
Menschliche Entwicklung und Kultur
Da das Instrumentarium der Kulturverträglichkeitsprüfung nicht
entwickelt wurde, lässt es sich auch nicht anwenden auf die aktuelle
Diskussion um Dienstleistung und Freihandel. Eine andere Analogie, die
Hermann Glaser in die Diskussion eingebracht hat, ist die der
Medienordnung: Das private Fernsehen wird in der einschlägigen
Rechtsprechung nur gerechtfertigt, weil es das öffentlich-rechtliche
gibt, das die informationelle Selbstbestimmung garantiert – analog dazu ist auf dem Recht auf die eigene Kultur zu beharren.
Ich würde jene Argumentation ins Zentrum stellen, die des Rechtes
auf die eigene Kultur und Sprache im Kontext der Menschenrechte
festschreibt. Der Human Development Report von 2004 (Cultural Liberty
in Today´s Diverse World, Kulturelle Freiheit in unserer Welt der
Vielfalt. Kurzfassung des Berichts über die menschliche Entwicklung
2004. Berlin: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.
(DVN) 2004) verbindet, ausgehend von der Situation der etwa 10 % der
Weltbevölkerung, die als Minderheit in Staaten mit anderskultureller
Mehrheit leben (in mehr als 2/3 aller Länder gibt es solche
Minderheitengruppen), politische Freiheit mit kultureller
Freiheit, und diese wiederum mit dem Respekt und der Anerkennung der
Würde der eigenen Kultur. Kulturelle Freiheit bezieht sich dabei auf
Respektierung und Anerkennung kultureller Identitäten, den Gebrauch der
Muttersprache im alltäglichen Leben, das Recht auf Religionsausübung
und die Nichtdiskriminierung in Politik, Erziehung und Arbeit.
Das kann wohl nicht nur für Minderheiten innerhalb von Staaten
gelten, sondern auch für die kulturellen Rechte der Bevölkerung in
allen Staaten, d. h. auch die kulturell (relativ) homogene Bevölkerung
in Nationalstaaten.
Der HD-Bericht fokussiert auf eine neue multikulturelle Politik,
impliziert einen ethischen und einen praktischen Imperativ.
Gewohnheitsrecht auf der lokalen Ebene gilt es zu berücksichtigen.
Die Diskussionen um „kulturelle Vielfalt“ können mit Hilfe des
derzeit diskutierten Entwurfes einer „Convention on the protection of
the diversity of cultural contents and artistic expressions” der UNESCO
einen zusätzlichen Schutzmechanismus einzubauen, um nationale
Kulturpolitik betreiben zu können. Wie manche ähnlichen Dokumente hat
eine solche Konvention nur deklaratorischen Charakter und keine
bindende Gesetzeskraft, aber sie formuliert Ansprüche an die Politik,
auf die man sich berufen kann. Der Entwurf geht davon aus, dass alle
Kunst- und Kulturformen und einschlägige Prozesse „sowohl ökonomisch
betrachtet werden können (also ‚Waren’ sind), als auch kulturell
aufgefasst werden können, was heißt, dass sie Träger von Identitäten,
Werten und Bedeutungen sind.“ (Max Fuchs). In letzterem Zusammenhang
sind sie schutzwürdig.
Instrumentalisierung von Kultur: Identitätspolitiken
Eine besondere Problematik entsteht, wenn man sich bei diesen
Diskussionen auf Identitätspolitik bezieht: Sie deckt nur einige
Sektoren ab. Beim beliebten Identitätsmanagement ist zu
berücksichtigen, was Martin Krusche zu bedenken gibt: „Regionale
Identität ist die kleine Schwester des Ethnos“ (Martin Krusche: Das
sind wir! Regionale Identität ist die kleine Schwester des Ethnos. In:
Pöllinger Briefe 54/1997, S. 11-12). Mechanismen der Inklusion und der
Exklusion (mit einer rasch aus dem Ruder laufenden Eigendynamik, wie
die Ethnologen belegen können) sind damit verbunden.
Die Wirtschaft interessiert sich für Identitätspolitiken oder für
die Kulturhauptstadt-Bewerbungen nicht für Kultur allgemein wegen,
sondern in erster Linie weil durch diese Bewerbungen ein Klima für
Dynamik und positiven Image-Transfer entsteht (mit Imagegewinn für
Unternehmen, aber auch für Politiker). Der Ausstieg aus der
institutionellen Ebene (der Förderung durch die Gebietskörperschaften)
hin zur eventorientierten Projektebene (bei diesen und bei den
Sponsoren) ist motiviert dadurch, dass Politiker und Sponsoren
Auftrittsmöglichkeiten suchen.
Was die Demographie anbetrifft, so wollen wir Lebenszeit und
Lebensqualität als kostbarste Güter des Menschen betrachten. Und wie
mit einer alternden Gesellschaft umzugehen ist, das ist eine Frage der
Kultur als integralem Wertesystem einer Gemeinschaft. Es kann dabei
nicht eine Beschäftigungstherapie für aus dem Sinnzusammenhang von
Erwerb und Lebenspraxis herausgerissene Menschen gehen, sondern um die
Qualität des Lebens mit anderen in der Kette der Generationen. In der
Renaissance wurden entsprechende Vorstellungen entwickelt.
Betont wird immer wieder, dass Menschen multiple Identitäten
besitzen, daher nicht auf eine einzige Rolle/Identität festgelegt
werden dürfen. Die Freiheit der Wahl (enlargement of people´s choices)
ist diesbezüglich zentral. Für den Umgang mit kultureller Vielfalt
werden im HD-Report die neuen Verfassungen in Afghanistan und Irak als
Beispiel genannt, aber auch Sri Lanka (und wir erinnern uns an die
Diskussionen um die Verfassungen in den Baltischen Staaten).
Dieser Text von Dieter Kramer wird in den „Kulturpolitischen Mitteilungen“ erscheinen (http://www.kupoge.de/kumi)
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