Thema | Kulturation 2018 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Isolde Dietrich | Das Kombinatsdirektoren-Projekt
| Isolde Dietrich
Das Kombinatsdirektoren-Projekt
Die Kulturwissenschaftlerin Isolde Dietrich hat an dem hier
vorgestellten biografiegeschichtlichen Generaldirektoren-Projekt von
Beginn an beratend mitgewirkt und es kommentierend begleitet. 2010 in
der Reihe „Bausteine ostdeutscher Kulturgeschichte“ mit ihrem Beitrag
über „Das Spannungsfeld von Wirtschaft und Kultur“. Kulturation
veröffentlichte 2012 ihre Bestandsaufnahme "Das Schweigen der
Kombinatsdirektoren" (www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=176). 2016
folgte ihr erster Bericht über das biografiegeschichtliche Projekt:
"Nützliche Erfahrungen
Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsorganisation"
(www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=202). Mit einem Rückblick auf
sechs erfolgreiche Jahre stellt sie nun in einem erneuten
"Zwischenbericht" für kulturation dar, was die lebensgeschichtliche Erinnerungs-Arbeit mit prominenten Wirtschaftsakteuren eingetragen hat.
Seit 2012 lädt das Berliner Unternehmen Rohnstock Biografien
frühere Kombinatsdirektoren und andere Wirtschaftsführer der DDR zu
sogenannten Erzählsalons ein. Damit war anfangs nur die Hoffnung
verbunden, bisher schweigende Zeugen der Vergangenheit zum Sprechen zu
bringen und ihre Erfahrungen festzuhalten. Inzwischen hat sich dieses
Projekt gemausert. Aus einem kleinen Zirkel des geselligen Austausches
unter Insidern ist eine feste Institution geworden, die weit in die
Öffentlichkeit ausstrahlt.
Wie alles begann
Die Vorgeschichte ist kurz erzählt. Im Grunde gab es drei Gruppen
mit unterschiedlichen Ambitionen und Voraussetzungen, die sich zu einem
Team zusammenfanden und das Projekt aus der Taufe hoben. Da war einmal Katrin Rohnstock, die Geschäftsführerin der
gleichnamigen Firma, die sich auf das Anfertigen und Herausgeben von
Autobiografien spezialisiert hat. Sie hatte seit längerem festgestellt,
dass kaum Ostdeutsche zu ihren Kunden zählten. Das war sicher auch eine
Geldfrage. Vor allem war es aber dem Umstand geschuldet, dass sich
Ostdeutsche nach den Demütigungen der Nachwendezeit mehrheitlich
zurückzogen, sich selbst gegenüber Angehörigen, Freunden und Bekannten
bedeckt hielten, jedenfalls kein Bedürfnis spürten, ihr Leben vor
anderen auszubreiten. Wer sich als Opfer des SED-Regimes darzustellen verstand, konnte
mit Fördermitteln rechnen und war nicht auf die Dienste eines
Unternehmens wie Rohnstock Biografien angewiesen, schied also als
potentieller Auftraggeber aus. Solche Leute mussten ihre Biografien
nicht auf eigene Kosten herstellen lassen. Nur etwa die Hälfte der Ostdeutschen hatte nach der Wende ihren
Arbeitsplatz behalten oder rasch einen gleichwertigen neuen gefunden.
Noch seltener konnte von einem beruflichen Aufstieg die Rede sein, von
dem sich stolz in einer Autobiografie berichten ließe. Für viele wäre
eine Bilanz des eigenen Werdegangs vermutlich bitter ausgefallen. Die
einen waren als Versager bloßgestellt und für den Niedergang der DDR
verantwortlich gemacht worden. Sie hätten mit Erklärungsversuchen nur
noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf ihr Tun gelenkt. Bei anderen
ließ sich der Kreuzweg mit seinen vielen Stationen wie Aberkennung
erworbener Abschlüsse, Herabstufung, Vorruhestand, Entlassung, ABM,
Umschulung, Ein-Euro-Job, Ich-AG, geringfügige Beschäftigung,
Zeitarbeit, Hartz IV, Altersarmut usw. nicht zu einem Bericht über ein
gelungenes Leben oder gar zu einem Heldenepos umdeuten. Dabei gab es aufregende Lebensgeschichten zuhauf, die
aufzuschreiben lohnte. Das hatten nicht zuletzt die Erinnerungen des
DDR-Bankers Edgar Most bewiesen, die aus dem Hause Rohnstock kamen und
auf dem Buchmarkt ein Bestseller wurden. Besonders vermisste Katrin
Rohnstock die Biografien von Fachleuten aus der ostdeutschen
Wirtschaft, auch und gerade weil sie zahlreiche Aufträge von
westdeutschen Unternehmern abgearbeitet hatte.
Zweitens gab es eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern, die
regelmäßig im Hause Rohnstock verkehrte und dort Veranstaltungen zur
DDR-Kulturgeschichte anbot. Von hier kam die These, Alltag, Lebensweise
und Mentalität der Ostdeutschen seien ohne Kenntnis des
Wirtschaftslebens nicht zu erhellen. Gerade für ein so arbeits- und
berufsorientiertes Gemeinwesen wie die DDR liege hier der Schlüssel.
Dabei genüge es nicht, Pläne zu studieren und Statistiken auszuwerten.
Viel interessanter sei die Frage, aus welchem Holz die
Wirtschaftsführer des Landes seinerzeit geschnitzt sein mussten.
Schließlich reichten Ingenieurwissen, kaufmännischer Sachverstand und
Menschenführung nicht aus, um ein sozialistisches Unternehmen durch die
Klippen der staatlichen Planwirtschaft zu steuern. Immer war zugleich
im Maßstab der Volkswirtschaft, gar im Rahmen des RGW zu denken und zu
handeln. Und bei alledem war das Staatsziel der DDR, der Aufbau einer
humanen und sozial gerechten Gesellschaft im Auge zu behalten. Das Wohl
der Beschäftigten zu sichern und gleichzeitig ordentliche, oft auch
sehr harte, wirkliche "Knochenarbeit" zu organisieren, zu verlangen und
durchzusetzen, war ihr Auftrag. Die "klassischen" Arbeitsantriebe –
Eigennutz und Angst vor Entlassung – standen dafür kaum zur Verfügung. Um all das in Erfahrung zu bringen, sei nach Meinung der
Kulturwissenschaftler ein biografischer Zugang besonders geeignet, wie
ihn auch das Unternehmen Rohnstock mit seinem Geschäftsmodell
praktiziere. In einem ersten Schritt müssten die Industriekapitäne, die
Generaldirektoren der großen Kombinate um Auskunft gebeten werden. Nur
so ließe sich klären, wie die Art und Weise der Produktion das Leben
der Menschen weit über den Beruf und den Betrieb hinaus prägte. Der Dritte im Bunde war der gemeinnützige Verein zur Förderung
lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischen Erzählens e.V., der
sich die Ziele von Katrin Rohnstock und die der Kulturhistoriker zu
eigen machte. Dieser Verein versuchte, Fördermittel für so ein Projekt
zu besorgen und die Organisation des Vorhabens nach Kräften zu
unterstützen.
Höchste Eile war geboten
Allen Beteiligten war klar, dass höchste Eile geboten war.
Schließlich gehörten die 1989 amtierenden Generaldirektoren der großen
Industriekombinate einer Generation an, die in den 20er, 30er und
beginnenden 40er Jahren geboren war. Bis auf wenige Ausnahmen – nur
einige waren noch Soldat und in Gefangenschaft gewesen - handelte es
sich um die Generation der Kriegskinder. Viele kamen aus
Flüchtlingsfamilien. Diese Generation hat im Wesentlichen ihre
schulische und berufliche Ausbildung in der SBZ bzw. DDR erhalten, hier
ein Studium in technischen und naturwissenschaftlichen Fachrichtungen
absolviert, später meist noch ein wirtschaftswissenschaftliches Studium
angeschlossen. Bevor sie zum Generaldirektor berufen wurden, hatten
etliche ein vorgeschriebenes gesellschaftswissenschaftliches Studium an
einer Parteischule zu durchlaufen. Diese Männer und (wenigen) Frauen
waren es, die das Erbe der deutschen Industriekultur fortzuführen
hatten, das ihre Vorgänger im Amt - die Angehörigen der sogenannten
Aufbaugeneration - bereits auf einen völlig neuen Pfad gelenkt hatten.
Hierbei erlebten die Generaldirektoren einen beruflichen Aufstieg, der
in den meisten Fällen auch ein sozialer Aufstieg aus "einfachen"
Verhältnissen war. Jene Herkunft dürfte ihren Blick auf
gesellschaftliche Tatbestände zeitlebens geerdet haben. Politisch
wurden alle geprägt durch die ständigen Ost-West-Konflikte, den
Wettlauf und die Konfrontation der Systeme, den kalten Krieg und das
damit verbundene Lagerdenken. So gesehen waren sie eine wirtschaftliche
Führungsriege, die in dieser Konstellation einmalig in der Geschichte
gewesen sein dürfte. Das macht ihre Selbstauskünfte kostbar wie
Goldstaub – unabhängig von allen aktuellen geschichtspolitischen
Erwägungen und Querelen. Es wäre verantwortungslos, auf diese Quellen
zu verzichten. Erste Recherchen hatten ergeben, dass nahezu zwei Drittel von
ihnen bereits verstorben oder in einer gesundheitlichen Verfassung
waren, die keine Befragungen mehr zuließ. Gern hätte man etwa von
Werner Frohn, dem Kombinatsdirektor des Petrolchemischen Kombinats
Schwedt erfahren, wie er das Kunststück fertigbrachte, Arbeitsplätze in
"seinem" Unternehmen in wirklichen Größenordnungen abzuschaffen, ohne
Mitarbeiter zu entlassen. Zu spät – Frohn ging nach 20 Jahren in dieser
Position 1990 in den Vorruhestand, er verstarb 2002. Viele andere
mächtige und auch machtbewusste Wirtschaftsführer, wenn man so will
"sozialistische Manager", die ebenso wie Frohn ihren Handlungsspielraum
auszunutzen und ihre Verfügungsrechte wahrzunehmen wussten,
leistungsmotiviert und leistungswillig waren, innovatives und flexibles
Herangehen an den Tag legten, kommunikativ begnadet waren und die
Belegschaften erfolgreich führten, waren ebenfalls nicht mehr zu
erreichen oder mussten absagen.
Besonders bedauerlich ist, dass von den wenigen Frauen in dieser
Spitzenposition nur noch eine zusagen konnte: Christa Bertag, vormals
Generaldirektorin des VEB Kosmetik Kombinat Berlin. Von Brundhild
Jaeger vom Fotochemischen Kombinat Wolfen und Helge Häger, der
Generaldirektorin des Braunkohlenkombinats Bitterfeld weiß man vom
Hörensagen nur, dass sie ein eisernes Regiment geführt haben sollen.
War das wirklich so und was hat man sich darunter vorzustellen? Hätte
man mehr Frauen befragen können, wäre wohl noch eine andere Dimension
in das Projekt gekommen. Schließlich hatten sie ihre Stellung – im
Unterschied zu westlichen Konzernchefinnen – weder ererbt, noch
erheiratet. Kurz: Rasches Handeln war unumgänglich, wollte man die
führenden Wirtschaftsführer überhaupt noch erreichen.
Hitzige Debatten im Vorfeld
Dennoch gab es zwischen 2010 und 2012 zunächst hitzige Debatten um
das anzugehende Projekt. Diverse Runden versuchten, sich in
unterschiedlicher Zusammensetzung dem Thema zu nähern. Das Team aus dem
Hause Rohnstock und der Verein für lebensgeschichtliches Erzählen
(Bettina Kurzek, Dietrich Mühlberg und Hans Thie –
wirtschaftspolitischer Referent der Linken im Bundestag) verfassten
unter dem Titel "Wirtschaftskrimi Planwirtschaft" einen Aufruf, mit dem
sie die "DDR-Wirtschaftselite" zur Mitarbeit einluden und erklärten,
nun sofort loszulegen. Wirtschaftswissenschaftler empfahlen, Fachleute ihrer Disziplinen
einzubeziehen, was allerdings nur in Ansätzen gelang. Immerhin konnte
der Wirtschaftshistoriker Prof. Jörg Roesler gewonnen werden, der als
Experte für die Geschichte der DDR-Wirtschaft fortan bei allen
Salonveranstaltungen zugegen war und die vorgetragenen Erfahrungen der
Praktiker in den jeweiligen Kontext einordnete. Auch andere
Wirtschaftswissenschaftler wie die Professoren Christa Luft, Thomas
Kuczynski, Klaus Steinitz, Harry Nick u.a. waren gelegentlich dabei,
allerdings ohne dem Profil der Reihe eine andere Richtung zu geben. Die Kulturwissenschaftler um Prof. Dietrich Mühlberg hatten
ebenfalls ein wissenschaftlich gestütztes und begleitetes Vorhaben im
Sinn. Vor allem bestanden sie auf einem klaren Konzept und auf einem
sachlichen, weniger marktschreierischen Grundgestus. Das Schwergewicht
sollte auf dem Erinnern und Bewahren liegen. Es wären persönliche,
individuell einmalige Erfahrungen von Menschen festzuhalten, die ein
völlig neues, ein alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsprojekt
verwirklichen wollten und damit scheiterten. Rechtfertigungen und
vordergründige "Lehren" für Gegenwart und Zukunft seien unbedingt zu
vermeiden. Diese würden den Blick auf das sensationell Andere der DDR
nur trüben und es künftigen Generationen erschweren, das Innovative,
Originelle daran zu erkennen. Durchsetzen konnten sich die
Kulturwissenschaftler mit solch einer Auffassung freilich nicht. Die Diskrepanz dieser verschiedenen Positionen konnte nie
ausgeräumt werden, sorgte immer für Spannungen. Aber vielleicht war es
gerade die Mischung von erfrischender Naivität und kundigeren Bedenken,
die für die rechte Atmosphäre sorgte und dem Projekt am Ende Leben
einhauchte.
Die Sache startete schließlich ohne wissenschaftliches Konzept und
ohne gesicherte finanzielle Basis. Man einigte sich vorab nur auf einen
gewissen Rahmen: Geschwächt durch Krieg und hohe Reparationsleistungen,
abgeschnitten von bisherigen Rohstoff- und Energiequellen ist die
Industrie in Ostdeutschland nach 1945 fast ohne Privateigentum an
Produktionsmitteln und ohne Konkurrenzwirtschaft von neuem aufgebaut
worden. Das hat einen speziellen Typ von Wirtschaftsführern wie von
Arbeitern hervorgebracht, die die DDR binnen weniger Jahrzehnte in ein
international geachtetes Industrieland verwandelt haben.
Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des deutschen Kapitalismus
ist sehr gut erforscht und im Gedächtnis der Deutschen fest verankert.
Die industrielle Erfolgsgeschichte Ostdeutschlands ist dagegen
wenig erforscht und noch weniger in den Köpfen der Menschen präsent.
Das Ende des Staates DDR und die weitgehende Deindustrialisierung
des Landes scheinen die Erinnerung an die Blütezeit der ostdeutschen
Industrie verschüttet zu haben.
Die Generaldirektoren der Kombinate und ihr Führungsstab gehören
nach der im Lande vorherrschender Auffassung nicht zur deutschen
Wirtschaftselite des 20. Jahrhunderts. Sie gelten als Repräsentanten
einer kommunistischen Misswirtschaft und werden höchstens in
soziologischen Spezialabhandlungen untersucht. In der DDR gab es 1989 über 250 Kombinate. Die Hälfte davon (125)
war zentral von Industrieministerien geleitet worden. Die Gruppe der
Generaldirektoren und ihrer Leitungsteams interessierte nicht nur wegen
ihrer Schlüsselrolle in der DDR-Wirtschaft. Sie war zugleich Motor
sozialer und kultureller Veränderungen. Und sie machte im Laufe der
Jahrzehnte selbst eine Entwicklung durch.
Bei der Mehrzahl der Kombinatsdirektoren handelte es sich um
Ingenieure bzw. Naturwissenschaftler mit einer soliden akademischen
Ausbildung. Die meisten machten eine erfolgreiche Nachwende-Karriere,
aber niemand von ihnen stieg in die Riege der 400 deutschen Top-Manager
auf. Nur Karl Döring vom Eisenhüttenkombinat Ost hat eine dem
DDR-Generaldirektor vergleichbare Spitzenposition behaupten können.
Ziel des Projekts am Hause Rohnstock sollte es sein, dem
Negativbild etwas entgegenzusetzen. Im Einzelnen wurden vier
verschiedene Absichten verfolgt: Erstens ging es darum, zeithistorische Erinnerungen biografisch abzurufen und zu sichern. Zweitens
sollte mit den monatlich stattfindenden Vorträgen jeweils eines
Generaldirektors die innere Verständigung zwischen den
Generaldirektoren und den anderen Vertretern der Wirtschaftselite
angeregt werden, um im Miteinander am Bild der wirtschaftlichen
Entwicklung der DDR zu arbeiten und das Selbstbewusstsein der
"Abgetauchten" zu stärken. Drittens sollten prominente
ostdeutsche Wirtschaftsakteure angeregt werden, ihre Autobiografie zu
schreiben bzw. zu Protokoll zu geben. Katrin Rohnstock strebte an, mit
einer Serie von 20 Autobiografien ein Bild der DDR-Volkswirtschaft zu
zeichnen. Vermittelt über Autobiografien von Kombinatsdirektoren -
untermauert mit Fakten und Dokumenten – sollte die
Wirtschaftsgeschichte der DDR aus der Innensicht erzählt werden. Und viertens
war es schließlich ein Ziel, diese Seite der ostdeutschen Geschichte
auf neue Weise ins öffentliche Gespräch zu bringen – gegen die
allgemeine Version, die DDR sei vor allem auf Grund ihrer maroden
Wirtschaft gescheitert.
Schwierigkeiten und Hindernisse
Bei den ersten Versuchen, Kontakt zu früheren Wirtschaftsführern
aufzunehmen, stieß das Projektteam auf eine Mauer des Schweigens. Kaum
jemand war bereit, zuzuhören, zu sprechen, geschweige denn, sich an dem
Vorhaben zu beteiligen. Das war verständlich. Viele waren in den Medien unmittelbar nach
der Währungsunion in ihrer Ratlosigkeit und in ihren vergeblichen
Versuchen, die Unternehmen und damit die Arbeitsplätze von Tausenden zu
retten, bloßgestellt worden – nicht ohne eine gewisse Häme und
Genugtuung. Auch auf anderen Ebenen gab es vernichtende Urteile. So
hatte etwa eine westdeutsche Personalberatungsfirma 1990 über 250
leitende ostdeutsche Wirtschafts-"Manager" zu befinden. Danach hätten
ganze sieben Personen auf Grund ihrer konzeptionellen Stärke, ihrer
hohen Motivation, ihrer Leistungsorientierung, ihres selbstbewussten
Auftretens und ihres Habitus "ganz oben" in der westdeutschen
Führungselite bestehen können. Dazu kamen massive Anschuldigungen bis hin zu polizeilichen
Ermittlungen und Gerichtsverfahren, Drohungen und handfesten
Auseinandersetzungen. Mancherorts wurden Direktoren von aufgehetzten
Belegschaften aus den Betrieben gejagt. Dieses Trauma hatte Spuren hinterlassen. Es war kein
Phantomschmerz, wenn Führungskräfte über zwei Jahrzehnte nach der
Vernichtung ihres Lebenswerks mit Verbitterung an die damaligen
Ereignisse dachten und fürchteten, dass mit dem angestrebten Projekt
neue Denunziationen und Anfeindungen auf sie zukommen würden. Die
allererste Aufgabe bestand also darin, eine Vertrauensbasis zu
schaffen.
Der Start
Offiziell startete das Vorhaben im Sommer 2012 mit einer Beratung
im Hause Rohnstock. Zu zwei Generaldirektoren konnten erste Kontakte
aufgebaut werden, die ihr Interesse am "Wirtschaftskrimi
Planwirtschaft" bekundeten und bereit waren, das Programm
mitzugestalten. Dem einladenden Verein zur Förderung
lebensgeschichtlichen Erzählens und Erinnerns war es gelungen, eine
Anschubförderung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu erhalten. Damit
konnte eine erste Tagung geplant werden, die einen größeren Kreis
erreichen sollte.
Erste Tagung September 2012
Unter dem anspruchsvollen Titel "Krise und Utopie. Was heute aus
der DDR-Planwirtschaft für ein zukünftiges Wirtschaften gelernt werden
kann" fand diese Tagung am 21. September 2012 statt. Zwischenzeitlich war hier im Onlinejournal der Report Das Schweigen der Kombinatsdirektoren
erschienen (www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=176). Auf der
Grundlage eines früheren Vortrags im Hause Rohnstock wurde darin das
Erkenntnisinteresse an den Erfahrungen der einstigen Wirtschaftsführer
noch einmal erklärt und der dringende Appell zum Mitmachen wiederholt.
Am Beispiel der wenigen bereits vorliegenden Autobiografien aus diesem
Milieu ist der Wert solcher Wortmeldungen gezeigt worden. Heinz
Schwarz, ehemaliger Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld, der
mit Leuna "die ältesten Klamotten der DDR am Halse" hatte, Herbert
Richter, der das Kohleveredelungskombinat "Schwarze Pumpe" führte und
nebenbei mit einer "Schwarzinvestition" für den Bau eines Kulturhauses
in Hoyerswerda (der heutigen Lausitzhalle) sorgte und Werner Bahmann,
langjähriger Chefkonstrukteur und Direktor für Forschung und
Entwicklung der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn hatten mit
ihren Lebensberichten schließlich nicht nur die Arbeitswelt
beschrieben, sondern zugleich ein Sittengemälde des Landes gezeichnet. Dieser Text war zusammen mit der Einladung zur Tagung verschickt
worden. Er ist nach den Aussagen diverser Tagungsteilnehmer offenbar
als "Weckruf" verstanden worden. Jedenfalls war die Resonanz – gemessen
an vorangegangenen Startversuchen - erstaunlich groß. 50 Interessenten
fanden sich ein, zwölf von ihnen traten als Referenten auf.
Obwohl der Tagung mit dem Titel eine Richtung vorgegeben worden
war, handelte es sich um sehr unterschiedliche, nach vielen Seiten
offene Beiträge. Es gab Grundsatzerklärungen, detailreiche
Arbeitsberichte, selbstkritische Eingeständnisse,
Legitimationsversuche, Thesen, die Stirnrunzeln hervorriefen – im
Grunde die ganze Bandbreite der im Lande verbreiteten Erinnerungen an
das versunkene Land und der Reaktionen auf die Ereignisse von vor über
zwei Jahrzehnten. Die einzige Besonderheit bestand darin, dass alle den
Versuch verteidigten, das gemeinsame Arbeiten und Leben auf eine völlig
neue Basis zu stellen. Dabei war die grundsätzliche Zustimmung
vielgestaltig. Einige waren mit viel Herzblut dabei. Andere erklärten,
dass ihnen in jungen Jahren Eigensinn und Widerständigkeit ausgetrieben
worden seien. Als man sie schließlich in verantwortliche Positionen
brachte, hätten sie aber Interesse an ihren Aufgaben gefunden und den
Ehrgeiz entwickelt, ihre Sache möglichst gut zu machen – zum Wohle des
Landes. Gleichzeitig teilten etliche die Einsicht, dass das
praktizierte Alternativmodell an seine Grenzen gekommen und so nicht
fortzuführen gewesen war. Repräsentativ konnten weder die Teilnehmer noch deren
Wortmeldungen sein. Denn wer mit der DDR und mit der eigenen
Vergangenheit gebrochen hatte, kam nicht zu solch einer Begegnung. Und
auch wer vor Kummer über die Vernichtung seines Lebenswerkes nicht mehr
an frühere Zeiten erinnert werden wollte, mied ein Wiedersehen mit den
alten Weggefährten. 2012 konnte man nicht mehr von einem ersten Zugriff auf die
Quellen sprechen. Die Zeitzeugen hatten mit dem Abstand der Jahre ihre
Sicht der Dinge gewiss wieder und wieder geändert. Aber zu einem
früheren Zeitpunkt waren sie eben nicht befragt worden, jedenfalls
nicht als Gruppe. Nie hatten sie eine Gelegenheit und einen geschützten
Raum gehabt, in größerer Runde zusammenzukommen und sich zu
verständigen. So hatte die Tagung auch einen Anflug von Klassentreffen
und Stuhlkreis-Therapie. Die lockere Atmosphäre im Salon, Kaffee und
Kuchen, die freundliche Offenheit der Gastgeberin - all das trug dazu
bei, dass hinter den Verkündern von Staatsplanauflagen,
Investitionsvolumina und Jahresbilanzen die Menschen sichtbar wurden,
zu deren Tagesgeschäft das einst gehört hatte. Es ist hier nicht der Ort, auf die einzelnen Beiträge einzugehen. Auszüge sind in dem Sammelband Jetzt reden wir! Edition Berolina 2013 nachzulesen.
Nur so viel: Mit der Tagung wurde der Bann gebrochen, das Schweigen
beendet. Was so vielen Teilnehmern bisher den Mund versiegelt hatte,
spielte plötzlich keine Rolle mehr. Das war ein kleiner Sieg über die
scheinbar allmächtige DDR-Aufarbeitungsindustrie mit ihren einseitigen
Urteilen. Von nun an gingen die Protagonisten des Projekts Schritt für
Schritt an die Öffentlichkeit.
Was folgte, waren über 50 Salons mit Teilnehmern, die an den
Schalthebeln der DDR-Wirtschaft gesessen hatten: Kombinats- und
Werksdirektoren, leitende Mitarbeiter aus dem zentralen Parteiapparat,
aus den diversen Wirtschaftsministerien, aus der staatlichen
Plankommission, vom Amt für Preise usw., aber auch
Wirtschaftssoziologen aus Ost und West sowie Schriftsteller wie Volker
Braun und Daniela Dahn. Es gab Buchdiskussionen, Filmvorführungen und
Ausstellungsbesuche. Dabei zeigte sich, dass es am günstigsten war,
immer nur eine Person bzw. ein Team oder ein Thema in den Mittelpunkt
der jeweils dreistündigen Veranstaltung zu stellen. Eingangs wurden die
Anwesenden von den Moderatoren mit dem Werdegang des jeweiligen
"Hauptdarstellers" vertraut gemacht, der danach einen etwa einstündigen
Vortrag hielt. Anschließend stellte der Wirtschaftshistoriker Jörg
Rösler das Vorgetragene in größere geschichtliche Zusammenhänge. Danach
wurde diskutiert. Dabei ging es mitunter hoch her, kamen doch
unterschiedliche Erfahrungshintergründe und Perspektiven der Teilnehmer
zur Geltung, wurden Erkenntnisse und Sichten ausgehandelt.
Die Initiatorin der Reihe Katrin Rohnstock begriff die monatlichen
Salons als "Vorlesungsreihe", als "Universitäten zur
DDR-Wirtschaftsgeschichte". Bei einer Anhörung der Linksfraktion im
Bundestag meinte sie leicht selbstironisch, "keine Ahnung von Ökonomie"
zu haben. Jedenfalls dürfte es anfangs für den einladenden Verein
gegolten haben, dem heute mit Christa Bertag, Uwe Trostel und Eckhard
Netzmann wirtschaftserfahrene Fachleute vorstehen. Auch für die
Kulturwissenschaftler war klar, dass im Rahmen solcher Veranstaltungen
keine wirtschaftshistorischen Fachgespräche geführt werden konnten.
Hier sollten Erinnerungen der DDR-Wirtschaftselite zusammengetragen und
Bewertungen von den Beteiligten gemeinsam ausgehandelt werden. Der
eigentliche Sinn der Unternehmung lag darin, zum Erzählen zu animieren,
Erfahrungen der Gewährsleute aus den Kombinaten ans Licht zu bringen
und festzuhalten. Mit diesem Konzept entwickelte der
Generaldirektoren-Salon über die sechs Jahre seiner Existenz eine
eigene Darstellungsweise, die die Wirtschaftsakteure nicht nur selbst
praktizierten, sondern auch an neu Hinzukommende weitergaben. Eine
(unvollständige) Übersicht der Veranstaltungen sowie weitere
Informationen zum Projekt sind übrigens einzusehen unter
www.kombinatsdirektoren.de.
Zweite Tagung Dezember 2013
Am 8. Dezember 2013 fand nach neun erfolgreichen
Salon-Veranstaltungen eine zweite Tagung statt. Sie stand unter dem
recht allgemeinen Motto "Wie die Generaldirektoren heute auf die
Erfahrungen in ihren Kombinaten blicken", thematisch sollten sich die
Beiträge dann um Produktivität und Volkseigentum
gruppieren, weil diese beiden Komplexe in der öffentlichen Debatte
immer wieder zum Kristallisationspunkt gemacht wurden. Beide Themen
wurden nacheinander in zwei Podiumsdiskussionen debattiert. Die
Praktiker aus der Wirtschaft berichteten sehr persönlich und
kenntnisreich, teils auch unterhaltsam und pfiffig, sehr zur Freude des
großen Auditoriums (ca. 200 Gäste). Mit den unverdaulichen Brocken
Produktivität und Volkseigentum taten sie sich aber schwer. Auch
Wirtschaftspolitiker, Wissenschaftler und die Moderatoren, die von
außen kamen und als ausgewiesene Experten empfohlen waren, konnten
hierzu nichts Nennenswertes beisteuern. Es zeigte sich – wie auch schon
bei der ersten Tagung – dass abstrakte Kategorien im Kontext
praktischer Erfahrungen leere Worthülsen bleiben, zumal wenn sie
theoretisch nicht ausgereift und mehrdeutig sind.
Da die Tagung mit der Buchpremiere von Jetzt reden wir! begonnen
hatte, damit ein erstes sichtbares Ergebnis des Projekts vorgezeigt
werden konnte, und da sie vielen Gästen ein Wiedersehen mit einstigen
Mitstreitern und Weggefährten ermöglichte, herrschte eine gelöste
Stimmung. Da hielt man sich nicht lange mit theoretischen
Spitzfindigkeiten auf. Auf diese Veranstaltung, auf das damit verbundene Projekt und vor
allem auf die erste Publikation gab es ein beachtliches Medienecho.
Zusammen mit dem großen Teilnehmerkreis und dessen Mundpropaganda
sorgte diese Resonanz dafür, dass sich der Titel quasi zu einem Renner
entwickelte. Immerhin erlebte er fünf Auflagen mit insgesamt über
10.000 verkauften Exemplaren, was für ein Sachbuch mit solch einer
Thematik bemerkenswert ist. Mit dem Buch war der Grundstein gelegt für
zahlreiche öffentliche Diskussionsrunden der Autoren mit Lesern und
anderen Interessenten. Hier wiederholte sich, was schon bei den
allerersten Begegnungen im Hause Rohnstock zu beobachten war: Sobald es
eine Gelegenheit und einen Ort gab, sich ohne Bevormundung über das
Leben und Arbeiten in der DDR auszutauschen, öffneten sich die
Schleusen. Niemand vermochte das "Volkseigentum" umfassend zu
definieren oder zu interpretieren, aber fast jeder erzählte ganz
selbstverständlich davon, wie es war, damals in "meiner" Brigade, in
"unserem" Betrieb und "unserem" Ferienheim.
Mein letzter Arbeitstag.
Abgewickelt nach 89/90. Ostdeutsche Lebensläufe. edition berolina 2014.
Kritisiert wurde das Generaldirektoren-Projekt vor allem aus linker
Perspektive. Es würden nur die Eliten befragt, nicht aber die breite
Masse der "Werktätigen". Deshalb wurde im Hause Rohnstock ein weiteres
Buch erarbeitet, das das Generaldirektoren-Projekt ergänzte. Im Zentrum
standen diesmal nicht die Chefetagen, sondern Arbeiter, Meister,
Ingenieure, Lehrausbilder, Kohlekumpels, Werftarbeiter, Vertreter der
Gewerkschaft – sie erzählten von ihrem beruflichen Werdegang und ihren
Arbeitserfahrungen vor und nach dem Ende der DDR. Einschränkend muss
gesagt werden, dass es schließlich weniger die klassischen
Industriearbeiter, sondern überwiegend Angestellte, teils studierte
Leute waren, die den Band prägen. Immerhin waren es keine Vertreter aus
Spitzenpositionen, sondern gleichsam "Namenlose". Auch hierzu gab es
Salongespräche und zahlreiche Einzelinterviews, die den Einsatz von
Autobiografikern und aufwendige Recherchearbeiten nach sich zogen.
Fördermittel kamen diesmal von keiner Seite, den Befragten konnte auch
kein Geld abverlangt werden, so dass die Firma Rohnstock alle Auslagen
aus Eigenmitteln bestritt. Geschäftlich hat sich diese Investition
nicht ausgezahlt, auch weil der Titel von den Medien ignoriert wurde.
Es gab lediglich eine Auflage in recht überschaubarer Höhe, inzwischen
ist der Titel nur noch in der Kindle Edition als eBook erhältlich.
Dabei dürfte das Buch mit zu den stärksten aus dem Unternehmen
Rohnstock gehören. Stellvertretend für jene vier Millionen Ostdeutsche,
die im Zuge der deutschen Einheit ihren Arbeitsplatz verloren,
schildern sieben Frauen und 23 Männer ihren unfreiwilligen Abschied vom
gewohnten Berufsleben und den Versuch, in einer fremden Arbeitswelt Fuß
zu fassen und sich dort zu behaupten. Diese Rückbesinnung – ein
Vierteljahrhundert nach dem seinerzeit als radikal und bedrohlich
empfundenen Bruch in der eigenen Biografie – fällt vielstimmig aus. Eines lassen aber alle Beiträge aufscheinen – jenen Unterton A, A
wie Arbeit, der ganz selbstverständlich in der DDR herrschte und der
alle verband. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht mag es unsinnig
gewesen sein, dass in dieser Gesellschaft jeder seinen Platz im
Arbeitsleben und sein Auskommen durch Arbeit hatte. Selbst notorische
Faulpelze, Bummelanten und Schluckspechte mussten von den Brigaden
irgendwie mit durchgeschleppt werden. Es ist allerdings nie eine
volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einschließlich einer
(Folge-)Kosten-Nutzen-Analyse gemacht worden, ob es billiger gewesen
wäre, solche Menschen als Arbeitslose zu alimentieren. Kurz – die DDR
war eine Arbeitsgesellschaft, und zwar durchgängig. In Europa galt hier
wohl mit die längste Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeit. Beruflich
gegen Bezahlung zu arbeiten war der Normalzustand für Männer wie für
Frauen. Das zeigen die Beiträge. Und sie zeigen noch eine zweite
Tatsache: Mit der Arbeit verlor man nicht nur das Einkommen, sondern
auch den vertrauten Umgang mit den Kollegen, das tägliche Mittagessen,
den Betriebsarzt, den Sportklub, den Nähzirkel, den Urlaubsplatz, das
Kinderferienlager, das Brigadevergnügen. Man verlor das Zeitkorsett,
die ganze Struktur des Alltags bis hin zum Familienleben kam ins
Rutschen. Vor allem aber ging die Anerkennung durch andere verloren, am
Ende sogar der Stolz und die Selbstachtung. In diesem Punkt berühren
sich die Erinnerungen der "Namenlosen" mit denen der
Kombinatsdirektoren, zeigen sie doch, dass die "Generäle" Verantwortung
trugen nicht nur für die Planerfüllung, sondern dass sie mit jedem
Handeln oder Unterlassen ganz elementar über das Wohl und Wehe der
Beschäftigten entschieden. Übrigens haben fast alle Protagonisten des Bandes eine neue
Stelle gefunden. Sie vergleichen seitdem unbewusst ständig das "Damals"
mit dem "Heute", dem "Jetzt". Die meisten Frauen entschieden ganz
pragmatisch: Hauptsache Arbeit, egal was. Männer taten sich da meist
schwerer. Ihr Berufsstolz und Statusbewusstsein hinderten sie mitunter,
sich unter Wert zu verkaufen. Es gab auch einige, die "nur noch heulen"
konnten, schwere gesundheitliche Probleme bekamen und froh waren, wenn
sie sich in den Vorruhestand oder in die Rente retten konnten. Repräsentativ sind auch diese Lebenswege nicht. Die wirklich
Gestrandeten waren nicht bereit, sich öffentlich zu Wort zu melden oder
zogen als schwer Gebeutelte ihren Beitrag aus Scham zurück. In zwei
Fällen haben die Familien einer Veröffentlichung der Geschichten nicht
zugestimmt, weil sich die Erzähler inzwischen das Leben genommen
hatten. Es ist wie im Falle des Generaldirektoren-Projekts: Das
Rohnstock-Team hat Sonden hinab gelassen in ein soziales Terrain, das
in den offiziellen Bekundungen keine Rolle spielt oder mit den Bildern
vom "Jammer-Ossi" und vom "Versager" abqualifiziert und verhöhnt wird.
Erste Autobiografie:
Karl Döring: EKO Stahl für die DDR – Stahl für die Welt:
Kombinatsdirektor und Stahlmanager. Eine Autobiografie. edition
berolina 2015.
Karl Döring hatte im Dezember 2012 den allerersten Salon der
Generaldirektoren bestritten. Im September 2015 erschien seine
Autobiografie, die erste eines Kombinatsdirektors, die im Rahmen des
Projekts entstand. Viele Passagen des Buches hat Karl Döring selbst
verfasst – anhand seiner Aufzeichnungen aus früheren Jahren. Eines
seiner Motive war, endlich selbst über sein Leben und über die
wirtschaftlichen Regularien der DDR Auskunft zu geben und sich nicht
ständig von Leuten, die nicht in diesem Land gelebt hatten, erklären zu
lassen, wie alles war. Dass Döring Stahlexperte durch und durch ist, musste er
eigentlich nicht betonen. Das beweist allein die Tatsache, dass er den
Standort Eisenhüttenstadt rettete, indem er das EKO nach 1989
zusammenhielt und als Aktiengesellschaft in die Marktwirtschaft führte.
So konnte das Unternehmen auf eigene Rechnung – also vorbei an der
Treuhand, die ganz andere Pläne hatte – 1995 an das belgische
Industrieimperium Cockerill-Sambre verkauft werden. Inzwischen gehört
es nach mehreren Transaktionen zum weltgrößten Stahlkonzern
ArcelorMittal. In der Autobiografie beschreibt Döring (Jg. 1937) den weiten Weg
vom sächsischen Leinewebersohn über den Absolventen der ABF und einer
Moskauer Hochschule für Stahltechnologie, Stationen in den Stahlwerken
von Riesa und Hennigsdorf, über den stellvertretenden Minister für
Erzbergbau, Metallurgie und Kali, den Generaldirektor des EKO bis zum
Vorstand in Europas größtem Stahlkonzern. Das Geheimnis seines Erfolgs:
"Man muss sich schinden". Den Fleiß habe er wohl von seinen Eltern
geerbt. Die Aufbruchsstimmung nach dem Kriege habe ein Übriges getan.
Die Begeisterung für die Metallurgie habe ihm der Chemielehrer mit auf
den Weg gegeben. (Es scheint, als habe es damals im Osten begnadete
Chemielehrer gegeben. Auch die Generaldirektorin vom Kombinat Berlin
Kosmetik berichtet von einem solchen.) Ansonsten habe ihm wohl seine
politische Bildung über alle Klippen hinweggeholfen – nicht einzelne
Lehrsätze, "aber die Fähigkeit zu analysieren". Geld sei wichtig im Leben, jedoch nie sein Motiv oder Maßstab
gewesen. Döring war ins EKO geholt worden, weil sein Vorgänger mit
einer neuen Technologie nicht klar kam und die Planerfüllung miserabel
war. Als sich vier Monate nach Dörings Amtsantritt daran nichts
geändert hatte, kürzte der zuständige Minister sein Gehalt um die
Hälfte. Schließlich trug der Generaldirektor die alleinige persönliche
Verantwortung. So lasch die ökonomischen Regulative im Gesamtsystem
sein mochten – an dieser Stelle wurde knallhart durchgegriffen.
Eigentlich hätte Döring seine Fachdirektoren auch auf 50 Prozent setzen
sollen, was er ablehnen konnte, weil hierüber nicht der Minister,
sondern er selbst zu entscheiden hatte. Schließlich brauchte er seine
eingespielte Führungsmannschaft. Nur gemeinsam konnten sie die
Technologie des modernen Konverterstahlwerks beherrschen lernen, was
schließlich auch gelang. Gehaltskürzungen hätten in dieser kritischen
Phase nur demotivierend gewirkt. Als Generaldirektor habe er mit 3200 DDR-Mark angefangen, sei
1989 bei 3600 Mark angekommen. Das war das Dreifache eines
Facharbeiterverdienstes. (In der DDR wurde kein Geheimnis um Lohn und
Gehalt gemacht. Die winzigen Lohnstreifen lagen frei herum, das
Jahreseinkommen wurde ins grüne SV-Buch eingetragen, was jede
Krankenschwester beim nächsten Arztbesuch in die Hände bekam. Und
spätestens, wenn der Vertrauensmann die Gewerkschaftsbeiträge
kassierte, konnte jeder auf der Liste sehen, was die lieben Kollegen
verdienen.) Zuletzt habe er als Vorstand in Europas größtem
Stahlkonzern sechsstellig im Jahr verdient. Das sei schon
schwindelerregend gewesen, doch kein Vergleich zu dem, was es heute in
den Konzernspitzen gebe. Das halte er für sittenwidrig, überhaupt, dass
es seit der Wende nur noch um Geld, Geld, Geld gehe. Mitarbeiter seien
für ihn keine Kostenfaktoren, sondern Träger von Know-how, ohne die
kein Stahl gelinge.
Erfolg sei in der DDR ganz anders gemessen worden, nämlich an der
Planerfüllung, ein Umstand, den auch andere Generaldirektoren immer
wieder hervorhoben. Hinter dem sperrigen Wort verbargen sich Realien,
konkrete Gebrauchswerte, die dringend benötigt wurden, ohne die andere
nicht arbeiten oder leben konnten. Notfalls mussten sie auch ohne
Gewinn oder mit Einbußen produziert werden, um die Gesellschaft als
Ganzes am Laufen zu halten. Der Staatshaushalt würde die Verluste dann
ausgleichen. Nie war mit fiktivem Kapital jongliert worden, hinter dem
keine wirklichen Werte standen. In diesem Sinne waren die
Führungskräfte grundsolide, waren sie "ehrbare Kaufleute". Hätte es im
System harte Finanzierungsregelungen gegeben, hätten sie sicher auch
gewinnorientierter gearbeitet. So aber blieb es bei der Planerfüllung,
d.h. der Maximierung des Nutzens und nicht des Gewinns. Es ist hier nicht der Ort, Dörings Autobiografie umfassend zu
würdigen. Man muss sie selbst lesen, auch um zu sehen, wie ergiebig das
Generaldirektoren-Projekt sein könnte, wenn es auf eine gesicherte
finanzielle Basis gestellt werden würde.
Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf ein weiteres Buch, das am
Ende zwar nicht mehr direkt vom Rohnstock-Team betreut wurde, aber doch
durch viele Fäden mit ihm verknüpft blieb. Es handelt sich um Hans-Joachim
Lauck: Edel sei der Stahl, stolz der Mensch: Erinnerungen eines
Kombinatsdirektors und Ministers. Das Neue Berlin 2017.
Man könnte meinen: Noch einmal Metallurgie, noch ein Stahlmanager,
noch einer, der einmal Minister war, noch einer vom Jahrgang 37, noch
einer, der aus einer Arbeiterfamilie kam. Aber gerade das macht den
Reiz aus. Von den äußeren Koordinaten her scheinen sich die beiden sehr
ähnlich zu sein. Ein Blick in die Bücher zeigt aber, dass es bei allen
Gemeinsamkeiten doch auch Andersartigkeiten gab – im Selbstverständnis,
in der Berufs- und Arbeitsauffassung, in dem, was sie freute und was
sie ärgerte, in ihrem Blick auf das Leben, auf die Welt und auf die
eigene Person. Beide inszenieren sich nicht als Lichtgestalten, die
kraft ihrer besonderen Fähigkeiten und durch einsame, kluge
Entscheidungen die Geschicke ihrer Kombinate zum Besten gewendet haben.
Ganz im Gegenteil – immer betonen sie den Anteil ihrer Mitarbeiter, die
Kraft der gesamten Führungsriege. Und doch waren es eben ganz
verschiedene Typen, die da in ein und derselben Liga spielten: Döring,
der kunstliebende Schöngeist, und Lauck, der leidenschaftliche Förderer
der Betriebssportgemeinschaft BSG Stahl Brandenburg. Unterschiede gab
es vor allem auch hinsichtlich der Möglichkeiten, die sich ihnen am
Ende der DDR boten. Döring konnte um den Erhalt "seines"
Stahlunternehmens kämpfen. Lauck konnte das nicht, denn zu dieser Zeit
war er nicht Generaldirektor, sondern Minister. Als Mitarbeiter des
Staatsapparates war sein Ende besiegelt, ganz unabhängig von seiner
persönlichen Tüchtigkeit. Faszinierend ist der Vergleich in mehrfacher Hinsicht. Beide
waren Ingenieure. Bei der Lektüre ihrer Autobiografien drängt sich auch
dem Laien der Eindruck auf: der erfahrene Ingenieur ist dem
Betriebswirt, dem Volkswirt und erst recht dem Juristen in solchen
Führungspositionen überlegen. Er ist von Hause aus kreativ,
schöpferisch, erfinderisch, hat immer das Machbare im Auge, kann
Technologien und menschliche Ressourcen am besten beurteilen, ist
unschlagbar hinsichtlich seiner Problemlösungskompetenz ("Dem Ingenieur
ist nichts zu schwör"). Auch mitten in den Niederungen des
Tagesgeschäfts sieht er übergreifende Zusammenhänge und komplexe
Abläufe, kann sinnvoll steuernd eingreifen und das soziale System
Kombinat, Unternehmen, Betrieb usw. entsprechend ausrichten. Die
nötigen Finanzkenntnisse, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft,
Weltwirtschaft kann der Ingenieur – unterstützt von Experten - bei der
Arbeit erwerben. Schließlich geht es in der Praxis dabei weniger um
technokratisches Optimieren, sondern eher um die Gabe, sehr
verschiedene Dinge gleichzeitig zu bedenken und vorauszuschauen – eine
Anforderung, mit der der Ingenieur aufgewachsen ist und die bereits
während seines Studiums ständig an ihn gestellt wurde.
Der Vergleich die Autobiografien von Döring und Lauck lohnt auch
in anderer Hinsicht. Beide waren im Verlauf ihres beruflichen
Werdegangs abwechselnd Generaldirektor und Minister – wie übrigens auch
Eckhard Netzmann, Hans Sandlaß und Karl Nendel. Damit rückt die
strategische Allianz dieser beiden Führungspositionen in den Blick. Als
Dritten im Bunde ließe sich noch die entsprechende Fachabteilung im ZK
der SED hinzufügen, wo Christa Bertag, die Generaldirektorin des
Kombinats Berlin Kosmetik vor ihrer Berufung in dieses Amt tätig war.
Alle diese Posten waren mit Experten aus der jeweiligen Branche
besetzt, meist mit Diplomingenieuren, die die gleiche Fachsprache
sprachen und das gleiche theoretische Hinterland hatten. Das verband
sie und machte sie zu einem mächtigen, auch operativ handlungsfähigen
Akteur. Sicher gab es da immer Spannungen und hin und wieder auch Sand
im Getriebe, wie Döring und Lauck den Leser wissen lassen. Schon wegen
der unterschiedlichen Verfügungs- und Handlungsrechte war das gar nicht
anders denkbar. Doch wenn rasche Entscheidungen nötig waren, konnte ein
Anruf genügen, um eine dringende Angelegenheit zu klären. Selbst Kräfte
von Volksarmee und Sowjetarmee ließen sich auf diesem kurzen Weg
mobilisieren, etwa wenn Gefahr im Verzuge war oder andere
außergewöhnliche Umstände es erforderlich machten. Was für das Triumvirat von Generaldirektor, Minister und
ZK-Abteilung galt, bestimmte in gewisser Weise auch das Verhältnis der
Kombinatsdirektoren untereinander. Man kannte sich – teils schon vom
Studium her, teils von den Weiterbildungslehrgängen am Zentralinstitut
für Sozialistische Wirtschaftsführung in Rahnsdorf, nicht zuletzt von
den berühmt-berüchtigten Leipziger Seminaren mit Günter Mittag während
der Messe. Der Umgangston war im Allgemeinen
freundschaftlich-kollegial, kleinere Eifersüchteleien und andere
Unverträglichkeiten eingeschlossen. Die Kombinate wurden "höheren Orts"
eben unterschiedlich bewertet, als strukturbestimmend oder weniger
wichtig eingestuft, mit Investitionsmitteln, wissenschaftlichem
Personal, Reisemöglichkeiten usw. besser ausgestattet oder
vernachlässigt. Das hat auch böses Blut erzeugt und blieb nicht ohne
Folgen für das Klima unter den Führungskräften. Bei Havarien oder in
anderen kritischen Situationen stand man sich aber immer bei.
Generaldirektoren waren in der Regel Monopolisten, Konkurrenz zwischen
ihnen konnte es gar nicht geben. In den Salons bei Katrin Rohnstock
erzählten viele von informellen Beziehungen zwischen den Kombinaten
nach der Devise: Hilfst Du mir, helf ich Dir. Das spielte sich alles
außerhalb der Planvorgaben ab.
Welche skurrilen Formen das annehmen konnte, hatte Wolfgang
Biermann, der bereits 2001 verstorbene Generaldirektor des Kombinats
Carl Zeiss Jena, von dem die Erklärung überliefert ist "In Jena bin ick
det Zentralkomitee", schon vor über zwanzig Jahren berichtet. Aus der
Kamerafertigung, einem Bereich mit hohem Frauenanteil, kamen ihm Mitte
1989 Klagen zu Ohren, dass es seit Monaten keine billigen
Damenschlüpfer mehr zu kaufen gebe, nur noch die teuren Spitzenhöschen
für 30 oder 50 Mark. Da habe er sich verpflichtet gefühlt, etwas zu
unternehmen. Er habe seinen Kollegen in einem sächsischen
Textilkombinat angerufen und um Hilfe gebeten. Darauf habe Zeiss
100.000 Stück in der gewünschten Baumwollqualität erhalten, die - als
angebliche Überplanproduktion deklariert - direkt im Betrieb über die
Gewerkschaft verkauft wurden. Im Gegenzug stellte Zeiss Ferienplätze
für die Belegschaft des kleinen Werks für Untertrikotagen in
Limbach-Oberfrohna zur Verfügung, und als Zeiss international im
Fußball-Europacup spielte, gingen die ersten 100 Karten dort hin. Das
Textilkombinat habe seinen Plan dann eben mit Trainingsanzügen erfüllt,
was ohnehin viel mehr brachte als billige Unterhosen. Man kann dies als
Hausvaterpolitik eines ansonsten als Despoten verrufenen Chefs ansehen,
wie sie nur in der Mangelwirtschaft möglich und nötig war. Man kann es
als Ausweis der hohen Improvisationskunst nehmen, die jedem
Generaldirektor abverlangt wurde. In jedem Fall wird sichtbar, dass die
sogenannte Kommandowirtschaft viele Poren hatte. Der Plan mochte ein
Befehl sein. Wie man ihn erfüllte, wurde letztlich vor Ort entschieden.
Nebenbei: Unlängst ist eine Biografie über Wolfgang Biermann erschienen (Dietmar
Remy: Zeiss-Generaldirektor Wolfgang Biermann: ein sozialistischer
Manager im Traditionsunternehmen. Gera, Garamont, der
Wissenschaftsverlag 2018). Da ist im Zusammenhang mit der
Schlüpferaktion von 20.000 gelieferten Stück die Rede. Biermann selbst
hatte allerdings in einem Interview vom September 1993 von 100.000
Stück gesprochen. An diesem winzigen Detail lassen sich die
Unterschiede zwischen einer Biografie und einer Autobiografie erkennen.
Für den Historiker, der eine Biografie schreibt, ist der Zeitzeuge ein
unsicherer Kantonist. Er wird sich nie allein auf dessen Aussagen
verlassen, sondern diese immer mit anderen, belastbareren Belegen
abgleichen. Für ihn ist klar: Alle Quellen "lügen", die mündlichen wie
die schriftlichen, die überkommenen Bilder ebenso wie die Gegenstände.
Daher ist Quellenkritik das A und O seiner Arbeit. Für die
Autobiografiker bei Rohnstock sieht die Sache anders aus. Sie wollen ja
gerade die Sicht ihrer Protagonisten wiedergeben. Bei groben
Ungereimtheiten recherchieren auch sie, ob die Dinge sich wirklich so
zugetragen haben können, wie sie ihnen geschildert werden. Aber sie
wissen, dass Erinnerungen immer eine Mischung von Dichtung und Wahrheit
sind und gerade die Verknüpfung beider Elemente die jeweilige Person
charakterisiert. War Biermann ein großmäuliger Aufschneider, wenn er so
gewaltig übertrieb? Wollte er sich als besonders fürsorglicher Chef
präsentieren? Wusste er überhaupt, wieviel Frauen in der
Kamerafertigung beschäftigt waren? Wollte er einfach, dass die
Feinmechanikerinnen endlich Ruhe gaben und ihrer Arbeit nachgingen?
Schade, dass in diesem Fall keine Autobiografie mehr zu erwarten ist,
die auch den kleinen Geschichten Raum geben würde und aus der man etwas
über die Motive des Mannes erfahren könnte.
Zwei Sammelbände
Als absehbar war, dass sich die von der Firma Rohnstock
angestrebten 20 Autobiografien von Generaldirektoren nicht so rasch
würden realisieren lassen, wurde zunächst ein anderes Format in die Tat
umgesetzt. Es erschienen zwei Sammelbände mit jeweils kurzen Statements
von früheren "Wirtschaftskadern". Auf den Titel Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist aus dem Jahr 2013 folgte 2016 Jetzt reden wir weiter! Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist.
In den beiden Anthologien kamen insgesamt 17 Generaldirektoren
großer Kombinate zu Wort. Auffällig an ihrem beruflichen Werdegang ist,
dass 14 von ihnen zunächst eine klassische Berufsausbildung
absolvierten, nur drei fanden ihren Einstieg in die Arbeitswelt über
ein Ingenieurstudium. Zu den Lehrberufen gehörten Schlosser,
Werkzeugmacher, Former, Elektriker, Chemiefacharbeiter,
Lederzuschneider, Brauer und Mälzer. Auf dem sogenannten zweiten
Bildungsweg qualifizierte sich die Mehrzahl von ihnen über ein
technisch-naturwissenschaftliches Studium für eine Führungsposition,
wobei sie in der Regel der jeweiligen Branche treu blieben. Einen
wirtschaftswissenschaftlichen Bildungsgang haben einige als Erst-,
andere als Zweitstudium durchlaufen. Meist blieb es auf diesem Gebiet
aber bei den obligatorischen Weiterbildungslehrgängen. Eine einer
Business School vergleichbare, also vorwiegend auf Betriebswirtschaft
ausgerichtete Lehranstalt hat aus diesem Kreis niemand besucht. Auch
Juristen waren nicht darunter.
Das erklärt vielleicht die produktbezogene,
gebrauchswertorientierte Perspektive der Kombinatsdirektoren, die sie
immer wieder schnell zum Fachsimpeln veranlasste. Es ging in diesem
Wirtschaftssystem stets um konkrete Wertschöpfung, nie um
Renditeerwartungen von Aktionären.
Im Einzelnen sind in den beiden Bänden mit Beiträgen vertreten Führungskräfte aus den Bereichen Schwermaschinenbau (Eckhard Netzmann), Metallgießerei (Lothar Poppe), Elektromaschinenbau (Heiner Rubarth), Industrieanlagen-Import (Herbert Roloff), Kraftwerksanlagenbau (Manfred Dahms und nochmals Eckhard Netzmann), Stahlproduktion (Karl Döring und Hans-Joachim Lauck), Energiewirtschaft (Herbert Richter und Hans Sandlaß), Klimatechnik (Günter Kretschmer), Mikroelektronik (Karl Nendel), Automobilindustrie (Winfried Sonntag), Sportgerätebau (Wolfgang Neupert), Schuh- (Joachim Lezoch), Kosmetik- (Christa Bertag), Pharma- (Winfried Noack) und Getränkeindustrie (Peter Lietz).
Die Berichte der Generaldirektoren kommen aus berufenem Mund.
Schließlich melden sich hier Wirtschaftsführer, die im Laufe ihres
Lebens Teil hatten an zwei gewaltigen Experimenten – nicht am Computer,
nicht im Labor, sondern am lebenden Organismus einer gesamten
Volkswirtschaft. Es handelte sich nicht um Tierversuche. "Probanden"
waren Millionen lebender Menschen.
Der erste Versuch war das Wagnis, ein völlig neues Gesellschafts-
und Wirtschaftsmodell (nahezu) ohne Privateigentum an
Produktionsmitteln auszuprobieren, eine kriegszerstörte Industrie und
Infrastruktur wieder aufzubauen und die neuentstandene DDR in einen
prosperierenden Wirtschaftsraum zu verwandeln. Entgegen allen
Prophezeiungen hat sich dieser Bauplan über vier Jahrzehnte bewährt.
Das zweite Experiment bestand darin, eine so strukturierte
Volkswirtschaft quasi über Nacht zu reprivatisieren und mit einem
Währungstrick in die globale Weltwirtschaft zu katapultieren. Das
Ergebnis ist bekannt und treffend als "größte deutsche
Wirtschaftskatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden. Bekannt
ist auch, was das für die Menschen bedeutete. Dennoch wird immer noch
erstaunt gefragt, wo denn der Frust der Ostdeutschen herkomme.
Neben den genannten Generaldirektoren kommen auch Vertreter der
staatlichen Planungs- und Preisbehörden sowie Wissenschaftler zu Wort,
darunter der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler. Roesler erinnert eingangs an die Koordinaten, in denen sich die
ostdeutsche Wirtschaft zu bewegen hatte: Kriegszerstörungen,
Spaltungsdisproportionen, umfangreiche Demontagen und weitergehende
drückende Reparationsleistungen im Gesamtumfang von 54 Milliarden
RM/DM, Kalter Krieg samt über 40 Jahren Westembargo, Mangel an
Rohstoffen und Arbeitskräften usw.
All diese Widrigkeiten sind allgemein bekannt. Sie ins Gedächtnis
zu rufen, scheint aber nötig, weil sie nur teilweise durch eine
gezielte Strukturpolitik behoben werden konnten. Im Grunde haben viele
dieser Ausgangsbedingungen bis zuletzt das wirtschaftliche
Vorwärtskommen des Landes erschwert und das Agieren der
Kombinatsdirektoren bestimmt.
Interessant ist, dass Roesler Akzente setzt, die nicht jedem im
Bewusstsein sein dürften, etwa im Zusammenhang mit dem Marshallplan.
Westeuropäischen Ländern – eingeschlossen die deutschen Westzonen -,
die vom Marshallplan profitierten, wurde der Handel mit dem
"kommunistischen Osteuropa" weitgehend untersagt. Der Entzug dieses
Marktes dürfte ein hoher Preis gewesen sein für die Gegenleistung –
Hilfsgelder als Darlehen in Höhe von 14 Milliarden US-Dollar, wovon
Westdeutschland 10 % (1,4 Mrd.) erhielt mit der Auflage, dafür
vorrangig US-amerikanische Waren zu kaufen. Auf diese Weise sollte die
Überproduktion in den USA abgebaut werden.
Die Vorstellung, der Marshallplan habe das westdeutsche
"Wirtschaftswunder" bewirkt, ist schon vor Jahrzehnten stark
relativiert worden. Lediglich 0,5 Prozent jährliche Steigerung des
Bruttoinlandsprodukts werden diesen Finanzspritzen zugeschrieben.
Entscheidend für den westdeutschen Nachkriegsboom seien andere Faktoren
gewesen, etwa die Liberalisierung des Handels zwischen den westlichen
Staaten.
Speziell für Westdeutschland sei noch ein anderer Umstand
bedeutend gewesen: Von 1949 bis 1961 kamen 2,7 Millionen "Zuwanderer"
aus der DDR, darunter besonders viele mit Hochschulabschluss
(Ingenieure, Ärzte usw.) und andere Fachkräfte. Übrigens seien nur 14 %
von ihnen als politische Flüchtlinge anerkannt worden. Auf diese Weise
sparte die Bundesrepublik über 30 Milliarden DM an Bildungs- und
Ausbildungskosten, konnte diese während der gesamten 50er Jahre auf dem
Niveau der Weimarer Republik belassen, ohne die Wachstumschancen der
Wirtschaft zu verringern. Roesler zitiert in diesem Zusammenhang den Bielefelder
Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser: "Der Ost-West-Transfer von
Humankapital in Höhe von jährlich 2,6 Mrd. DM – im Durchschnitt von 12
Jahren – übertraf das Ausmaß der Marshallplanhilfe für die
Bundesrepublik bei Weitem." (Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der
Bundesrepublik Deutschland 1945-1980. Frankfurt/Main 1983, S. 96) (Nur
nebenbei: Nach 1989 hatten die Abwanderung von Ost nach West und die
Arbeit von Hunderttausenden ostdeutschen Pendlern einen ähnlichen
Effekt.)
Etliche Kombinatsdirektoren werden aus eigener Erfahrung
bestätigen, was Werner Bahmann von der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik
Marzahn 2008 in seiner Autobiografie über seine Studienzeit berichtete:
Nach Ende des Studiums setzte sich in technischen Fachrichtungen
mitunter ein halber Absolventenjahrgang in Richtung Westen ab. 1958
bildete die DDR doppelt so viele Ingenieure aus wie die Bundesrepublik.
Doch der Ingenieuranteil lag in der Bundesrepublik mehr als drei Mal so
hoch wie in der DDR. Sollte das kleinere, ärmere Deutschland dem
größeren, reicheren Entwicklungshilfe geleistet haben, sollte es weit
mehr als der gelobte Marshallplan zum westdeutschen "Wirtschaftswunder"
beigetragen haben?
Die Generaldirektoren, die in den beiden Sammelbänden zu Wort
kommen, erzählen sachlich und gelassen von ihrer Arbeit. Es geht ihnen
nicht darum, sich zu rechtfertigen oder die eigene Leistung ins rechte
Licht zu rücken. Die ließe sich ohnehin nur ermessen, wenn die
vorgegebenen Aufgaben und die Mittel bzw. Möglichkeiten, diese zu
bewältigen in Rechnung gestellt und ins Verhältnis gesetzt würden. Ihr
Ausgangspunkt sind vielmehr die Werte und Ziele der Gesellschaft sowie
die volkswirtschaftliche Gesamtkonstellation. In diesem Rahmen haben
sie sich verortet. Davon haben sie ihre betriebswirtschaftlichen
Erwägungen und Entscheidungen abgeleitet. Die DDR ist Geschichte. Als
Versager fühlen sich ihre einstigen Wirtschaftslenker dennoch nicht.
Die beiden Bände sind keine Wirtschaftsgeschichte der DDR, sondern
erzählen Geschichten aus der DDR-Wirtschaft so, dass sie Interesse
erwecken können. Sie wollen zeigen, dass die Beschäftigung mit der
DDR-Wirtschaft voller Überraschungen und ein Abenteuer ist, das sich
vorschnellen Bewertungen entzieht. Die Bände sind ein Mosaik
verschiedener Miniaturen, die aber doch Schlaglichter auf das Ganze
werfen. Da geht es nicht nur um nüchterne Berichterstattung, sondern
auch um ganz verrückte Geschichten. So ist etwa von "Erichs Krönung",
dem berüchtigten Kaffee Mix die Rede, davon, was salzige Zahnpasta mit
sowjetischen Erdöllieferungen zu tun hatte, von einem Teenager-Ansturm
aufs Berliner Centrum-Warenhaus, vom landesweit üblichen
Fenster-Aufreißen als Ersatz für regulierbare Heizungen, von den
Abenteuern des Bierbrauens, von Salamander-Schuhen, Nivea-Creme und
VW-Motoren (alle Made in GDR), vom ersten 1-MB-Speicherchip und von
vielem anderen mehr.
Thomas Edison, der Erfinder der Glühlampe, erklärte nach
unzähligen missglückten Versuchen: "Ich bin nicht gescheitert. Ich habe
10.000 Wege gefunden, wie es nicht funktioniert." Die
Kombinatsdirektoren haben etwas mit ihm gemeinsam. Sie haben bei der
"Erfindung" und Erprobung eines neuen Wirtschaftsmodells viele
Nackenschläge einstecken, unlösbare Konflikte durchstehen müssen, über
die sie freimütig Auskunft geben,
So zum Beispiel Generaldirektor Joachim Lezoch, der die
Schuhindustrie automatisierte, wie es seinerzeit kein Westunternehmen
vermocht hätte. Sein Kombinat hatte u.a. Kinderschuhe im Programm.
Lezoch konnte die Produktion noch so rationell gestalten, mit
jedem zusätzlichen Paar hat er nur den volkswirtschaftlichen Schaden
vergrößert, weil der Staat jedes Mal 35 Mark drauflegen musste. Denn
Kinder- und Arbeitsschuhe gehörten wie zahllose andere Artikel, wie
Tarife und Mieten zum hochsubventionierten Grundbedarf. Es machte ihm
am meisten zu schaffen, so teilt Lezoch mit, dass er die Planerfüllung
auch noch als Erfolg zu feiern hatte, obwohl sie ein weiterer Sargnagel
war.
Solche Wege, "wie es nicht funktioniert", aufgezeigt zu haben,
gehört zu den Verdiensten der beiden Sammelbände. Linken und grünen
Politikern, die heute darüber fabulieren, wie wünschenswert eine
kostenlose Energieversorgung, ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr,
kostenlose Schulspeisung, kostenlose Nutzung von Bädern, Museen usw.
wäre, sei besonders die Lektüre des zweiten Bandes dringend empfohlen.
Sie können dort erfahren, weshalb solche Ankündigungen oder
Versprechungen nicht zu halten sind, selbst bei gesellschaftlichem
Eigentum nicht.
Nicht nur Politikern, auch Großeltern sei das Buch ans Herz
gelegt. Wenn sie ihren Enkeln von der goldenen DDR-Zeit erzählen, in
der die Schrippe einen Sechser, zwei Wochen Ferienspiele mit
Mittagessen eine Mark und eine Kinokarte für die Kindervorstellung 25
Pfennige kosteten, könnten sie ein fragwürdiges Bild entstehen lassen. Das Kapitel über die Preispolitik in der DDR von Manfred Domagk, Wilfried Maier und Walter Siegert
mag manch einem Leser zunächst verwirrend oder geradezu exotisch
erscheinen. Hinter die Geheimnisse des "sozialistischen Planpreises" zu
steigen, ist kein leichtes Unterfangen. Der Laie staunt, welch
ausgetüfteltes System erdacht werden musste, um halbwegs die Balance zu
halten.
In ihrer Gesamtheit haben die vielen subventionierten Wohltaten
wohl eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für jedermann bedeutet,
das in seinem Geldwert (etwa 43 Prozent des realen Gesamteinkommens)
aber gar nicht mehr wahrgenommen und gewürdigt wurde. Im Gegenteil – es
hat verheerend gewirkt, sowohl auf das Verhalten der Verbraucher, als
auch auf die Investitionskraft der Wirtschaft. (Nach der Wende zeigte
sich ein weiterer Nachteil dieser "zweiten Lohntüte". Da sie in keiner
Lohn- oder Gehaltsbescheinigung vermerkt war, konnte sie nicht in die
Rentenberechnung einfließen.)
Obwohl beinahe jedem klar war: "Wir versaufen unserer Oma ihr
klein Häuschen", löste der geringste Versuch, bestimmte
Verbraucherpreise zu erhöhen, Proteststürme aus. Preise waren in der
DDR Festpreise, nach einem SMAD-Befehl bei Waren und Leistungen
eingefroren auf dem Stand von 1944, bei Mieten auf dem Niveau von 1936.
Um des sozialen Friedens bzw. der Machterhaltung willen wurde daran bis
zuletzt nicht gerüttelt – wider alle Vernunft. Der Reformunfähigkeit
der politischen Führung entsprach die Reformunwilligkeit der
Bevölkerung.
Fachleute mögen das anders sehen, aber vielleicht zeigt sich an
dieser Stelle eine Kinderkrankheit linker Politik: Wirtschafts- und
Finanzexperten sind in diesem Milieu rar. Und wo es sie gibt, kümmern
sie sich nach wie vor mehr um die "gerechte" Verteilung von Reichtum,
als um dessen Produktion.
Dabei hielt es Marx schon vor 140 Jahren in der "Kritik des
Gothaer Programms" für "fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu
machen und den Hauptakzent auf sie zu legen" (MEW, Bd. 19, S. 21).
Priorität habe die Sicherung der Produktion, d.h. der Ersatz
verbrauchter Produktionsmittel, die Ausdehnung und Vervollkommnung der
Produktion und ein Reservefond für Ausfälle und Störungen durch
Naturereignisse. All dies seien ökonomische Erfordernisse, die nichts
mit Gerechtigkeit zu tun hätten. Ehe es zur individuellen Verteilung
komme, seien ferner abzuziehen die Mittel für die Verwaltung der
Produktion, für soziale Einrichtungen wie Schulen und
Gesundheitsvorrichtungen sowie für einen Fond für Arbeitsunfähige. Erst
dann könne man sich über den Rest verständigen, der dem Einzelnen zum
persönlichen Verbrauch zuerkannt werde. Jedem Wirtschaftslenker in der
DDR war dies vertraut. Doch im Widerstreit mit politischen und sozialen
Zielen zog die Ökonomie oft den Kürzeren. Als Lehre aus der verfehlten
Preispolitik stellen die ehemaligen Mitarbeiter der Finanzbehörden der
DDR fest: "… die Subvention darf nicht am Produkt, sondern muss gezielt
an der bedürftigen Person ansetzen".
Die beiden Sammelbände zeigen aber nicht nur, "wie es nicht
funktioniert", obwohl dies allein schon den Erfahrungsschatz deutscher
Wirtschaftsgeschichte bereichern würde. Sie führen auch vor Augen, wie
mitunter aus Not und Mangel geborene Lösungen sich am Ende doch als die
überlegenen erwiesen und international durchsetzten.
Wenn etwa Bierbrauer in aller Welt heute auf in der DDR
entwickelte Verfahren zurückgreifen, worauf der stellvertretende
Generaldirektor Peter Lietz aufmerksam macht, ist dies nur ein Beispiel
dafür. Die heimische Schuhindustrie, einst aus Kostengründen ins
billigere Ausland verlagert – kehrt inzwischen zurück als
vollautomatisierte Produktion. Freilich auf anderer technologischer
Grundlage als zu Lezochs Zeiten, aber er war der Vorreiter der
Automation. Die strengen Energiesparauflagen der DDR – seinerzeit als
Zumutung und mitunter als Willkür empfunden, waren kein Armutszeugnis,
sondern ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Dass sie durch
Verschwendung auf der anderen Seite konterkariert wurden, steht auf
einem anderen Blatt, wird aber von den Kombinatsdirektoren in den
wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang gestellt. Armut war tatsächlich
zugleich der beste Umweltschützer wie der schlimmste Umweltzerstörer –
einer der vielen Widersprüche, mit denen es die Industriekapitäne zu
tun hatten.
Mehr noch, inzwischen hat sich gezeigt, dass man heute auf manches
zurückkommt, das in der DDR schon allgemein praktiziert wurde.
Frauenerwerbstätigkeit und Kitabetreuung – einst verrufen als
kommunistische Zwangsmaßnahmen – gehören mittlerweile zu solchen
Selbstverständlichkeiten, dass sie mitunter sogar gerichtlich
eingeklagt werden können. Auch in der Berufsausbildung, im Schul- und
Gesundheitswesen, in der Sozial- und Rentenversicherung, im
Wohnungsbau, im Transport- und Verkehrswesen wird an neuen Konzepten
gestrickt.
Kaum wird sich dabei jemand auf DDR-Modelle berufen, versteht
sich. Diese wären heute – unter veränderten Bedingungen – in ihrer
damaligen Form auch untauglich. Dennoch haben Ostdeutsche immer öfter
das Gefühl, auf Altbekanntes zu stoßen. Offenbar drängen viele Probleme
in eine Richtung, die so gar nicht den bisherigen Lösungen des
Finanzmarkt-Kapitalismus entspricht.
In einem Punkt wird es aber mit Sicherheit kein Déjà-vu-Erlebnis
geben – in der Gewissheit "Mir kann keiner", die sich auf soziale
Gleichheit, ökonomische Unabhängigkeit und existentielle Sicherheit
gründete. Eine Gewissheit, die jeder in sich trug, gleich welcher
Bildungs-, Berufs- und Einkommensschicht er angehörte, die nun aber
wohl endgültig dahin ist.
Zweite Autobiografie
Karl Nendel: General der Mikroelektronik. Autobiographie. edition berolina 2017.
Die zweite Autobiografie innerhalb des Generaldirektoren-Projekts
erschien im Mai 2017. Ihr Protagonist Karl Nendel, von 1967 bis 1989
Staatssekretär im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik der DDR
und ab 1977 Regierungsbeauftragter für die Entwicklung der
Mikroelektronik, war von ganz anderem Kaliber als die Generaldirektoren
aus der Stahlbranche und auch als die, die sich in den beiden
Sammelbänden vorgestellt hatten. Liest man seine Autobiografie, so
gewinnt man den Eindruck, dass er den Spitznamen Revolver-Karl
völlig zu Recht trug. Nendels Credo: "Obwohl ich nie beim Militär
gedient habe, war und bin ich der Meinung, dass man die Wirtschaft
militärisch führen muss". Wie manch anderer auch, hatte er sich da wohl
an einem sowjetischen Führungsmodell orientiert. In seiner Biografie
war das eigentlich nicht angelegt. Geboren 1933 als Sohn eines
Schlossers, Berufsausbildung zum Elektriker, Fachschulstudium mit dem
Abschluss Elektroingenieur, in diesem Beruf sechs Jahre Arbeit bei der
Erschließung von Braunkohlentagebauen – Stationen eines Werdegangs, wie
er für viele sogenannte Nomenklaturkader charakteristisch war. Mit dem
Eintritt in den Staatsapparat muss sich in Nendels Selbstverständnis
grundsätzlich etwas geändert haben. Er war nun nicht mehr nur ein
Macher, sondern ein ausgeprägter Machtmensch, worüber er in seiner
Autobiografie freimütig Auskunft gibt. Wenn die Vorstellung Katrin Rohnstocks von einem Wirtschaftskrimi
Planwirtschaft auf ein Buch zutrifft, dann ist es dieses. Hier kommen
ganz andere Milieus in den Blick als in den sonstigen Titeln. Das hängt
mit Nendels Arbeitsfeld zusammen. Die Mikroelektronik war wohl die
umstrittenste Branche der ostdeutschen Industrie. Die Annahme, trotz
US-amerikanischen High-Tech Embargos und trotz sowjetischen
Widerstands, sich an dem Projekt zu beteiligen, quasi aus eigener Kraft
zur internationalen Entwicklung aufzuschließen, mag heute abenteuerlich
anmuten. Seinerzeit verband sich aber damit die Erwartung, auf diese
Weise einen gordischen Knoten zu durchschlagen. Mit einem einzigen
technologischen Sprung wollte man sich aus der Rohstoffabhängigkeit von
der Sowjetunion lösen und zum Monopolanbieter im RGW werden. Damals ging die Devise um, die DDR müsse zum "Japan des RGW"
werden. Dafür seien alle Mittel und Kräfte zu konzentrieren, es gehe
auf diesem Gebiet um "Sieg oder Niederlage", man müsse sich einfach "in
die Mikroelektronik hineinquälen", wie Günter Mittag meinte. In einer
der Salon-Veranstaltungen bei Rohnstock Biografien hatte ein Teilnehmer
berichtet, wie das in seinem Verantwortungsbereich lief. Da sei eine
hochmoderne Produktionslinie aus Japan importiert worden. Aus Mangel an
geeigneten Arbeitskräften habe man dann auch gelernte Bäcker und
Friseure an die Taktstraße stellen müssen. Das habe natürlich nicht
funktioniert, weil solche Leute relativ selbstbestimmtes Arbeiten
gewohnt waren und sich nicht so einfach "eintakten" ließen. Selbst
eingesetzte Industriearbeiter bedeuteten nicht unbedingt die Lösung.
Das waren überwiegend Facharbeiter, also "gelernte" Leute, ein
Arbeitertyp, der in Japan so überhaupt nicht existierte, weil eine
systematische und breite Berufsausbildung nach hiesigem Verständnis
dort unbekannt war. Dazu kam: Ostdeutsche Industriearbeiter fühlten
sich in gewisser Weise als "Herren der Fabrik". Sie hatten ihre
angestammten Freiräume, die sie verteidigten, notfalls auch gegen
"unmenschliche" japanische Arbeitsmethoden. Auf diese Weise ist viel
Geld verbrannt worden. Trotz solcher und anderer Fehleinschätzungen
sind aber auch beachtliche Erfolge erreicht worden. Dennoch hinkte die DDR dem internationalen Standard um etwa acht
Jahre hinterher, wie eine Analyse der Akademie der Wissenschaften der
DDR im Mai 1989 ergab. Vor allem die enormen Investitions- und
Gestehungskosten waren schwer zu tragen. Was die absolute Sensation
werden und die Wirtschaftswelt aufhorchen lassen sollte, wurde zur
Belastung. Allein 1988 sollen die Erzeugnisse der Mikroelektronik mit
einer halben Milliarde Mark subventioniert worden sein - sonst hätten
sie gar nicht abgesetzt werden können. Karl Nendel und andere Insider
nennen keine Zahlen und wollen sich nicht an den weitverbreiteten
Spekulationen darüber beteiligen. Allerdings: bei diesen
Größenordnungen ließ sich nicht mehr von einem "Groschengrab" sprechen.
Karl Nendel hat seinem Biografen Ralf Pasch erzählt, wie er durch
einen japanischen Supermarkt schlenderte und dort all das sah, was zu
Hause in der DDR als Spitzenleistung galt, in Japan aber quasi unter
den Billigartikeln rangierte. Erstaunlich ist, dass er dennoch
unverdrossen weitermachte. Er erzählt, wie Parteiapparat, Staatliche
Plankommission, Industrieministerien, Staatssicherheit, KoKo und
Kombinate miteinander und gegeneinander arbeiteten, wie er in dieser
Schlangengrube oft mit aller Härte durchgreifen musste. So ist kolportiert worden, Günter Mittags Schwiegersohn Wolfgang
Biermann habe sich das prestigeträchtige und milliardenschwere
Megabit-Programm nur auf Grund persönlicher Beziehungen unter den Nagel
reißen können. In Wahrheit hätte er glaubhaft zusagen (und auch
einhalten) können, dass er den Megabit-Chip schneller liefern kann als
Mikroelektronik-Generaldirektor Heinz Wedler. Solche und ähnliche
Auseinandersetzungen ließen sich vielleicht tatsächlich nur per Order
beenden. Ob man aber Führungskräfte zusammenstauchen oder entlassen
musste, wenn bestimmte Produktionslinien nicht liefen (die, wie sich
später herausstellte: nicht laufen konnten), steht auf einem anderen
Blatt. Zumindest Karl Döring hat bewiesen, dass es da erfolgreichere
Wege gibt.
Als rechte Hand von Schalck-Golodkowski war Nendel nicht nur mit
der Planwirtschaft, sondern auch mit der Marktwirtschaft bestens
vertraut, also mit allen Wassern gewaschen. Wenn der Embargohandel
florierte, so auch deshalb, weil Nendel alle Schleichwege und
Hintertreppen kannte.
Liebhabern von Schmonzetten sei noch das Kapitel über die
Bagdadbahn empfohlen. Die DDR hatte den Zuschlag bekommen, im Irak eine
Bahnlinie fertigzustellen, deren Weiterbau seit Jahren stagnierte. Als
windiger Abenteurer ist Nendel eigentlich nicht hervorgetreten. Aber
für dieses Auslandsprojekt engagierte er sich, weil es Deviseneinnahmen
versprach. Es gelang Nendel zwar, die Sache wieder in Gang und zu einem
halbwegs vernünftigen Abschluss zu bringen – jedoch zu einem horrenden
Preis. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Kommandomethoden bei
den einheimischen Arbeitern auf taube Ohren stoßen würden. Mit
"militärischer Führung" war in diesem Kulturkreis nichts zu erreichen.
Das Abenteuer Bagdadbahn endete als Devisen-Desaster.
Die Buchvorstellungen der Autobiografie von Karl Nendel sind immer
gut besucht. Denn Tausende und Abertausende Menschen waren in den 80er
Jahren in die kräftezehrende Aufholjagd auf dem Gebiet der
Mikroelektronik verwickelt, die einen als Akteure, die anderen als
Leidtragende, weil in ihrem Arbeitsfeld dringend notwendige
Investitionen ausbleiben mussten.
Das Medienecho
Sebastian Bertram, der Pressesprecher von Rohnstock Biografien,
konstatiert für das Generaldirektoren-Projekt eine zunehmende Resonanz
in den Medien. Ein Echo fanden vor allem die Bucherscheinungen, aber
auch die Veranstaltungen. Es sei gelungen, das Thema DDR-Wirtschaft auf
neue Weise in die Öffentlichkeit zu bringen. Ein besonderer Erfolg wird
darin gesehen, dass die Wirtschaftslenker, diejenigen, die in
verantwortlichen Positionen Gestalter dieser Geschichte waren, endlich
eine Plattform erhielten, sich öffentlich mitzuteilen. Wo vor sechs
Jahren noch eine Mauer des Schweigens war, ist inzwischen eine große
Bereitschaft zu beobachten, Auskünfte zu geben und eigene Erfahrungen
mitzuteilen. Davon machen die Medien reichlich Gebrauch. Für ein kleines Unternehmen wie Rohnstock Biografien, das neben
dem – weitgehend unfinanzierten - Generaldirektoren-Projekt die Mittel
für seine Betriebsausgaben selbst aufbringen muss, ist es nicht
einfach, alle Anfragen und Anliegen von Journalisten und Lesern zu
beantworten und auch Kontakte zu Protagonisten zu vermitteln –
kostenfrei versteht sich. Schließlich ist es nicht der Nutznießer
solcher Dienstleistungen, wird in der Regel in den daraus
hervorgehenden Artikeln nicht einmal erwähnt. Es sieht sich aber in der
Verantwortung, den einstigen Wirtschaftsführern auch in diesem Punkt
zur Seite zu stehen und ihnen die Wege in die Öffentlichkeit zu ebnen.
Markus Röder von Rohnstock Biografien hat in einem Reader die
Presseartikel zusammengestellt, die von 2012 bis 2017 über die
einschlägigen Veranstaltungen und Publikationen erschienen sind. Diese
Sammlung lohnte eine gesonderte Auswertung, was aber hier nicht zu
leisten ist. Enthalten sind 175 Beiträge von insgesamt 27 verschiedenen
Presseorganen. Dazu gehören überregionale Zeitungen wie Neues
Deutschland, Junge Welt, Tagesspiegel, TAZ, Die Welt, Die Zeit, Der
Standard, der Freitag, SUPERillu, aber auch viele regionale Blätter wie
die Märkische Oderzeitung, die Leipziger Volkszeitung, die Stuttgarter
Zeitung oder die Thüringer Allgemeine. Längst nicht alle Artikel lassen
Sympathie für das Vorhaben von Rohnstock Biografien erkennen oder
teilen gar die von den Generaldirektoren geäußerten Positionen. Aber
alle zeugen von Interesse und von Aufmerksamkeit für Lebenswege, die
bislang weitgehend unbekannt waren, und natürlich für ein Projekt, das
diese ans Licht bringt.
Was wurde bisher erreicht?
Gemessen an den vier vorab formulierten Zielen kann in einer ersten Zwischenbilanz festgehalten werden:
Erstens ist es gelungen, zeithistorische biografische
Erinnerungen in großer Zahl abzurufen und zu sichern. So gesehen liegt
inzwischen ein wahrer Schatz in Gestalt von Text-, Bild- und
Tondokumenten am Senefelder Platz in Berlin, dem Firmensitz von
Rohnstock Biografien.
Zweitens wurden bei einem weiteren Ziel große Fortschritte
erreicht. Es konnte die innere Verständigung von DDR-Wirtschaftsführern
gefördert werden. Über zwei Jahrzehnte waren sie ins Abseits gedrängt
worden und hatten auch untereinander kaum Kontakt. Jetzt schweigen sie
nicht mehr. Sie sprechen mit ihren einstigen Mitstreitern und treten
selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf.
Drittens konnten prominente ostdeutsche Wirtschaftsakteure
angeregt werden, ihre Autobiografie zu schreiben oder zu Protokoll zu
geben. Wenn im Rahmen des Projekts statt der angestrebten 20 Bücher
bisher nur drei Sammelbände und zwei Autobiografien erschienen sind, so
hat das vor allem finanzielle Gründe. Es kommt noch ein weiterer
Umstand hinzu. Auch die berühmten Lebensgeschichten deutscher
Unternehmer des 19. und 20. Jahrhundert wie Werner von Siemens, August
Thyssen oder Robert Bosch, sind nicht von diesen selbst verfasst
worden. Sie alle sind mit Unterstützung von Fachleuten geschrieben,
herausgegeben oder zumindest redigiert worden. An Universitäten tätige,
renommierte Technik- und Wirtschaftshistoriker sowie Fachpublizisten
waren auf diesem Gebiet tätig. Solche Experten der ostdeutschen
Wirtschaft gibt es heute gar nicht mehr, jedenfalls keine im
arbeitsfähigen Alter. Und wenn es sie gäbe, könnte sie keiner der
Generaldirektoren bezahlen. "Normale" Ghostwriter müssen an der Aufgabe
verzweifeln, weil sie gar nicht über das Handwerkszeug verfügen können,
die (inzwischen tote) politische und wirtschaftliche Fachsprache eines
untergegangenen Systems in heute allgemein verständliche Worte zu
kleiden. Umso erstaunlicher ist es, dass Rohnstock Biografien den
Beweis erbracht hat: Doch, es geht, wenn auch mit erheblichem Aufwand
und hier und da mit Abstrichen. Hervorzuheben ist, dass es den durch
Rohnstock-Biografien ausgebildeten Autobiografikern häufig gelungen
ist, die erzählten Erfahrungen in eine lesbare Geschichte zu
verwandeln.
Das vierte Ziel des Projekts bestand darin, diese Seite der
ostdeutschen Geschichte auf neue Weise ins öffentliche Gespräch
zubringen. Inzwischen wächst die zweite Generation heran, die von der
ostdeutschen Industrie – abgesehen von einigen "Leuchttürmen" -
eigentlich nur die Fabrikruinen kennt. Was sich einst hinter den
Werksmauern abspielte, ist völlig unbekannt. Die Zeit ist für viele so
fern, wie der Dreißigjährige Krieg oder wie Napoleon. Ein einziges
kleines Projekt, wie das hier zur Debatte stehende, wird daran nichts
ändern können. Aber hier und da hat es doch Bewegung erzeugt, Fragen
ausgelöst. Immerhin gibt es ein Presseecho, und es ist nicht
ausgeschlossen, dass die DDR eines Tages in den Geschichtsbüchern
wiederentdeckt wird als die moderne Industrieregion, die sie einmal
war, eine Region mit arbeitsamen, findigen Menschen, wovon die
Autobiografien ihrer Wirtschaftsführer erzählen.
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