Thema | Kulturation 1/2003 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Horst Groschopp | Weltanschauungsregionen Über
die „Konfession der Konfessionsfreien“ („dritte Konfession“) in
Deutschland mit Anmerkungen zu Übergangsritualen in Ost und West | Gliederung
- Weltanschauungsregion
- Ost-West-Unterschiede bei Konfessionsfreien
- Die „dritte Konfession“ als mehrheitliche in Ostdeutschland
- Von der Ritualabstinenz zu Ritualisierungen
- „Weltanschauungsregion“ als Kulturmerkmal von Ritualisierungen in der Postmoderne
- Anmerkungen und Literatur
Weltanschauungsregion
Die Überschrift dieses Beitrages bedarf der Erklärung, nicht nur, weil
„Region“ ziemlich unökonomisch definiert ist. [1] Der Begriff der
„Weltanschauungsregion“ ist ungewöhnlich. Vielleicht wäre es sinnvoller
von „Regionen der Weltanschauung“ zu sprechen, wenn da nicht sofort die
Irreführung „höhere Regionen“ mitklingen würde. Der Begriff der
„Weltanschauungsregion“ geht in diesem Text von der konfessionellen
Dreiteilung Deutschlands in 26,8 Katholiken (besonders in
Südwestdeutschland), 26,6 Millionen Protestanten (besonders in Mittel-
und Norddeutschland) und 21,4 Millionen Konfessionsfreie (bzw.
Konfessionslose; mit einer sehr prägnanten Häufigkeit in
Ostdeutschland) aus und bezeichnet die letztere Gruppe hinsichtlich
ihrer Regionalität.
Der Begriff der „Weltanschauungsregion“ (ich verzichte auf eine
kritische Analyse des Begriffs „Weltanschauung“ [2]) soll in diesem
Beitrag quasi als Gegenwort zu religiösem Wertdenken und Wertverhalten
säkulare Kulturauffassungen zusammenfassen, ganz entsprechend der
gegenwärtigen politischen und v.a. juristischen Sprache in Deutschland
[3], die fein säuberlich Weltanschauung von Religion unterscheidet bis
hin zu Klagen vor hohen Gerichten, beide Überzeugungen gleichberechtigt
zu behandeln (etwa wenn es um den Religions- bzw.
Weltanschauungsunterricht an Schulen geht). Das entspricht auch seiner
kirchlichen Verwendung, worauf ich am Schluss eingehe.
Weltanschauungsregionen sind im folgenden Verständnis territoriale
Bekenntnis- und kulturelle Verhaltensräume innerhalb Deutschlands, wohl
wissend, dass
erstens alle drei großen Gruppenantworten auf letzte Fragen jeweils ihre Diaspora haben,
zweitens die 1,2 Millionen orthodoxen Christen den Rang einer dritten (christlichen) Konfession beanspruchen [4];
drittens das heutige Deutschland auch religiös gesehen ein
multikulturelles Land ist, denn von derzeit 82,4 Millionen Einwohnern
sind 3,2 Millionen Moslems, 87.000 Juden und etwa gleich viele
Buddhisten; daneben gibt es viele andere Religionen und
Weltanschauungen und ihre jeweiligen Gemeinschaften.[5]
Der Begriff der Weltanschauungsregion wird um so problematischer, je
mehr nach religiösen Einstellungen, v.a. nach Selbstverortungen im
Detail gefragt wird. Die Kirchenzeitung Das Sonntagsblatt
veröffentlichte 1997 (KNA 17.6.97) die Ergebnisse einer Umfrage von Emnid mit dem Titel Was glauben die Deutschen?
Mehr als ein Viertel der evangelischen und fast ein Fünftel der
katholischen Christen gaben an, nicht an einen Gott zu glauben.
Der katholische Soziologe Theo Hipp fand kürzlich heraus (in seiner Studie Männer im Aufbruch),
dass sich nur noch 44 % der Deutschen für religiös, aber bereits 9 %
für bewusst atheistisch halten. Frappierend war, dass sich immerhin
lediglich 64 % der Katholiken und 47 % der Protestanten für religiös
erklärten (aber immerhin 8 % der Konfessionslosen). [6]
Frauen sind nach den Befunden von Hipp religiöser als Männer (53 % zu
37 %) und Ältere eher religiös erzogen als Jüngere. Wenn nur noch fünf
5 % der unter 20jährigen angeben, religiös erzogen worden zu sein, und
die meisten Kirchenaustritte bei den unter 40jährigen erfolgen [7], so
spricht dies erstens deutlich für eine abnehmende Glaubenstradierung in
den Familien und zugleich zweitens für einen sinkenden Rang des
religiösen Moments in der Erziehung generell.
Heiner Meulemann wies 1995 als einer der ersten Soziologen darauf hin,
dass die östliche Region Deutschlands „von der Religion weiter
abgerückt [ist] als der Westen; er ist stärker säkularisiert“. Es sei
dies „der massivste Unterschied zwischen den Landesteilen.“ [8] Eine Gegend ohne Gott – so titelte vier Jahre später der Berliner Tagesspiegel. [9]
Meulemann hat diese Nicht-Akzeptanz weiter verfolgt und stellt in einer
neueren Studie fest, dass man im Osten nach wie vor nicht von einer
selbstverständlichen Hinnahme kirchlich-religiöser Institutionen
sprechen könne. „Zwischen 1990 und 2000 bleiben die Anteile aller
Vorgaben zur religiösen Selbsteinstufung im Westen ungefähr gleich; im
Osten geht der Anteil der religiösen Menschen zugunsten der nicht
religiösen zurück, der Anteil der überzeugten Atheisten bleibt
konstant.“ Daraus folgert er, dass sich „nach der Wiedervereinigung ...
die beiden Landesteile nach ihrer Religiosität nicht wieder an[nähern],
sondern ... in konstanter Distanz“ bleiben. [10]
Ost-West-Unterschiede bei Konfessionsfreien
Weil diese Befunde in ihren Folgen wenig bis gar nicht öffentlich zur
Kenntnis genommen werden – geschweige denn politische Entscheidungen
sich darauf explizit beziehen – wird im Folgenden (dabei Studien v.a.
von Detlev Pollack, Martin Sterr und Eberhard Tiefensee auswertend
[11]) nach der Befindlichkeit der Konfessionsfreien in ihrer Verbindung
zu den zwei christlichen Groß-Konfessionen (katholisch, evangelisch)
gefragt und zwar unter dem Aspekt einer möglichen kulturprägenden Kraft
der „dritten (religionslosen) Konfession“ – und dies sowohl in deren
ostdeutscher als auch (davon unterschieden) ihrer westdeutschen
Variante.[12]
Diese Spezifik soll dann am Ende des Beitrages durch kurze Hinweise auf
Übergangsrituale angedeutet werden, wieder wohl wissend, dass gerade
die Gruppe der Religionslosen den meisten herkömmlichen religiösen
(christlichen) Ritualen entfremdet ist und dass das, was sie
ritualähnlich tun, in der Regel ohne diesen Begriff erklärbar ist und
ohne das auskommt, was Rituale inhaltlich konstituiert, nämlich die
„religio“ als transzendierendes Moment während der
Gemeinschaftsbildung. – Aber vielleicht gibt es eine „säkulare religio“
und man hat nur noch nicht richtig danach gefragt.[13]
Politisch problematisch ist die Einteilung in Weltanschauungsregionen,
weil auch im Westen Deutschlands die Konfessionsfreien an Zahl stetig
zunehmen, sie aber nur im Osten in größerem Stil zu milieuartigen
Strukturen und akzeptierten Kulturformen gefunden haben, ihre
Religionsabstinenz leben und auszudrücken. Das ist wesentlich auf die
Politik der SED und des DDR-Staates zurückzuführen. In der DDR gab es –
im Gegensatz zu den anderen Ländern des Ostblocks, einschließlich der
Sowjetunion – eine Art „zwangsverstaatlichter Freidenkerkultur“ mit
einer Kulturpolitik, die den Kirchen nicht nur repressiv und geistig
begegnete, sondern Institutionen einer eigenen Lebensweise und
Feierkultur schuf, mit Kulturhäusern als den dafür vorgesehenen und
genutzten Orten, einer Fachschulausbildung für Kulturarbeiter als
Gegenentwurf zu Pfarrern usw. [14]
Wesentliches Ergebnis dieses Kulturbildungsprozesses, der auch lange
regionale Traditionen freigeistigen Lebens aufgriff, ist: Während im
Westen 70 % der Menschen einer Kirche wenigstens formal angehören, sind
es in den neuen Bundesländern nur noch 24 %. Während im Westen etwa 15
% der Bevölkerung wöchentlich in die Kirche geht, sind es im Osten
etwas über 3 %. Pollack verweist darauf, dass eine der wesentlichsten
Folgen der Wiedervereinigung darin besteht, dass die
„Konfessionslosigkeit nicht mehr tabuisiert“ ist, weil ein nahezu ein
ganzer Landesteil hier zuzurechnen ist. Das hat die gesellschaftliche
Situation der Konfessionsfreien im Westen verbessert. Hinzu kommen – so
ist Pollack hier zu ergänzen – etwa eine Millionen Personen Zuzüge aus
dem Osten in den Westen seit 1990, meist jüngere konfessionsfreie
Menschen.
Die 12-15 % Konfessionsfreien Westdeutschlands [15] unterscheiden sich von denen in Ostdeutschland erstens
durch ihre regionale Verteilung, die sie zu unsichtbaren Minderheiten
macht und die aus politischen Interessenlagen heraus mehr zu
vernachlässigen sind als die Angehörigen des Islam, die in
Ballungszentren ihre eigenen Milieus pflegen. Konfessionsfreie West
leben zu fast 60 % in Großstädten, in Dörfern und Kleinstädten unter
5000 Einwohnern dagegen nur zu 7 %; im Osten: 32 % in Großstädten und
29 % in Dörfern und Kleinstädten. [16]
Ein zweiter
Unterschied ist die weitgehende Unorganisiertheit. [17] Die älteren wie
auch die neuen Konfessionsfreien (etwa 8,2 Millionen seit 1968;
jährlich ca. 120.000 ehemalige Katholiken und 200.000 ehemalige
Protestanten [18]) sind den Kirchen aus diversen Gründen abtrünnig
geworden. Sie treten nur in verschwindenden Minoritäten den
traditionellen Weltanschauungsgemeinschaften bei, die zudem (außer in
Nürnberg) ihre Distanz zu säkularen Dienstleistungen aufrecht erhalten.
Zwar trifft die Aussage über die Organisiertheit auch auf den Osten zu
(außer Berlin-Brandenburg), doch bieten hier verschiedene Vereine
ausdrücklich säkulare Dienstleistungen an, die mit denen der Kirchen
vergleichbar sind (Jugendweihen, Lebenskundeunterricht, Kita’s,
Sozialarbeit usw.). Außerdem gibt es die rein östliche Volkssolidarität, die, wie auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Arbeiterwohlfahrt, im Osten eher konfessionsfrei agieren. Die Arbeiterwohlfahrt
bietet sogar Jugendweihen an. Auch setzt im Osten der Staat bestimmte
weltliche Angebote fort (z.B. feierliche Trauung auf dem Standesamt;
Kita’s), die es so im Westen nicht gibt, auch nicht im ehemaligen
Westberlin.
Der Staat und kommunale Einrichtungen sind im Osten sogar dazu
gezwungen, weil hier die Kirchen im Osten immer weniger eine pastorale
Grundversorgung garantieren können.[19] Es war im Osten keine Sensation
und bekam keine überregionalen Schlagzeilen, dass in der 1999 fertig
restaurierten, inzwischen kommunal gewordenen ältesten Pfarrkirche
Magdeburgs im Frühjahr 2002 eine Jugendweihe (eine Jugendfeier des
Humanistischen Verbandes) stattfand.[20]
Die genannten Unterschiede sind auf zweifache Weise Ergebnisse der
unterschiedlichen Mentalität der Konfessionsfreien in West- und
Ostdeutschland. Folgt man sowohl der wissenschaftlichen Literatur als
auch den meist negativen Erfahrungen – z.B. einer versuchten
Übertragung ostdeutscher nichtreligiöser Feierkultur auf den Westen,
einschließlich Westberlin (z.B. Jugendweihen) –, so handelt es sich
erstens im Westen meist um Kirchen- und Religionsflüchtlinge.
Für die Konfessionsfreien West – mehr Männer als Frauen; mehr Ledige
als Verheiratete – ist der Bruch mit der Kirche v.a. ein
Abnabelungsprozess von tradierten familiären Bindungen, während im
Osten ganze Familien bereits in der dritten Generation konfessionsfrei
sind (Frauenanteil West: 40 %; Ost: 53% [21]). Während nur 20 % der
Konfessionsfreien West in einem konfessionslosen Milieu leben, sind es
im Osten 70 %. [22]
Diese Konfessionsfreien West beziehen sich in ihrer Mehrheit positiv
auf den westlichen Religionspluralismus und sehen sich eher agnostisch
als atheistisch: jeder darf alles glauben; keine neue Kirche; Religion
ist Privatsache usw. Nur eine Minderheit lässt sich nach ihrer
Loslösung von der Kirche auf einen fortgesetzten religionskritischen
Aktivismus ein, der wiederum im Osten weitgehend fremd ist.
Konfessionslose Ost stehen zudem esoterischen, fernöstlichen u.a.
postmodernen Religiositäten relativ fremd gegenüber, während viele, die
im Westen aus der Kirche austreten, sich nach neuen Befriedigungen
ihres Bedürfnisses nach Spiritualität umsehen.
Mit dem ostdeutschen Milieu eines selbstverständlichen Atheismus – in
dem nach Martin Buber „Gottesfinsternis“ herrscht – ist diese Haltung
zweitens auch deshalb wenig vergleichbar, weil die westdeutsche
Entkirchlichung sich dezidiert emanzipatorisch versteht: man befreit
sich.[23] Dieser Vorgang ist insgesamt intellektuell angelegt, auch
vorrangig kognitiv (hohe Bildung haben im Westen 35 %, im Osten 18 %;
mittlere Bildung im Westen 35 %, im Osten 51 % [24]). Dabei spielt im
individuellen Übergangsprozess die wachsende Distanz zu Gott eine große
Rolle.
Im Osten stellt sich die Frage gar nicht. 1998 haben im Westen etwa 40
% der Konfessionsfreien nie an Gott geglaubt, im Osten 76 %.[25] Auch
wenn die Konfessionsfreien Ost zweifellos keinen sozial und politisch
homogenen „Block“ bilden, sie sind anders, weil – wie der Berliner
Theologe Krötke vermutete – die Menschen im Osten „vergessen [haben],
dass sie Gott vergessen haben“, sie also gar nicht annehmen, dass es
einen Gott geben könnte – warum sollen sie darüber Gespräche führen?
Dies führt in der Regel dazu, dass den Konfessionsfreien Ost die Frage
nach Gott für ihren praktischen Umgang mit Christen ziemlich egal ist.
Fragen nach Religion und Kirche bekommen im Zusammenleben erst eine
Bedeutung, wenn sie sich mit Hilfe des Staates in ihr konfessionsfreies
Leben drängeln (Religionsunterricht; kirchliche Sozialeinrichtungen;
Entdeckung der Kirchensteuerpflichtigkeit; versuchte Erzwingung der
Kirchenmitgliedschaft bei Arbeitsverhältnissen in Diakonie und Caritas
usw.).
Solche Übergriffe versuchen sie dann mit Hilfe des gleichen Staates
zurückzuweisen. Da hier zunehmend öfter die Kirchen gewinnen
(LER-Streit in Brandenburg; Militärseelsorge; öffentliche Gedenkkultur)
hat das zur Folge, dass die Kirche immer mehr ihr Image verliert,
staats- und gesellschaftskritisch zu sein.[26] Die Einrichtungen der
Diakonie und der Caritas gelten zudem als Westbetriebe, wie die gesamte
Kirchenstruktur Ost nach der Wiedervereinigung nach dem Muster der
Kirchen West gestaltet wurde.[27] Dies wirkt in der Tendenz gegen die
Kirchen, weil sich nun herausstellt, dass auch die Oppositionellen zur
DDR-Zeit, die die Kirchen nutzten, eher an Gesellschafts- als an
Heilsfragen interessiert waren.
Auch im Westen wird übrigens die Kirche immer mehr als Sozial- und
weniger als Heilskirche erlebt, was dazu führt, Antworten auf
Wertfragen, die das Soziale betreffen (Schwangerenberatung, Abtreibung,
Apparatemedizin, Familien- und Seniorenarbeit, Sterbehilfe, aber auch
Fragen des Menschseins im Gesundheitswesen generell), gleich außerhalb
der Kirchen zu suchen.[28]
Die „dritte Konfession“ als mehrheitliche in Ostdeutschland
Von Kirchenseite wird für den Osten inzwischen eine ambivalente Situation festgestellt. Zum einen erleben Gläubige, dass sich ortsbekannte Atheisten z.B. für den Erhalt von Kirchengebäuden einsetzen.[29] Zum anderen
wird festgestellt, die konfessionsfreien Ostmenschen seien religions-
und missionsresistent. Religion komme in ihrem Alltag nicht mehr vor.
Der jetzt als Soziologe tätige Theologe Ehrhart Neubert sprach deshalb
in der Anhörung des Bundestages zum Enquete-Bericht Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland darauf bezogen von einem „Super-Gau der Kirche“.
Tiefensee benennt in seiner Analyse der ostdeutschen
Weltanschauungsregion erstens den dortigen „Verlust der religiösen
Sprache“; zweitens komme hier die Variante „Religion ja, Kirche nein“
praktisch nicht vor; drittens
stehe Ostdeutschland damit, dass die „Unreligiösen eine satte Mehrheit
von über 65 % stellen“, einmalig in Europa und wohl auch in der Welt
da; und viertens habe man es mit einem „Volksatheismus als einer
dritten ’Konfession’“ zu tun (die vierte wäre der Islam).
Ich zitiere die in Leipzig herausgegebene katholische Zeitung Tag des Herrn,
die erst drei Jahre nach Tiefensees Rede schreibt: „’Ostdeutschland ist
so areligiös, wie Bayern, Polen oder Spanien katholisch ist’, sagt
Tiefensee. Entgegen der Behauptung, dass der Mensch unheilbar religiös
sei, mache er auch zwölf Jahre nach der Wende die ostdeutsche
Beobachtung, ’dass das gesellschaftliche Leben ohne Religion
funktioniert’ und dass der einzelne Mensch in religiöser Hinsicht auch
kein Defizit bemerke. Selbst Grenzsituationen bildeten keinen Anlass zu
religiöser Ein- und Umkehr. ... Tiefensee [warnte] vor der ’Abwertung
der anderen Seite: Die These, dass mit schwindender Religiosität auch
ein Werteverfall einhergehe, ist bisher nicht bestätigt.’“[30] Im
Originaltext formuliert Tiefensee eindeutig: ein Sinn-Vakuum sei in
Ostdeutschland nicht feststellbar.
Tiefensee hat bisher die weitreichendsten Thesen zur weltanschaulichen
Situation in Ostdeutschland aufgestellt und einige kirchliche Ansichten
aus der Wende-Zeit deutlich relativiert. Besonders die Erklärung der
Situation allein aus der Diktatur greife zu kurz. Tiefensee stellt
lapidar fest: Der Kampf zwischen den Kirchen und den DDR-Institutionen
um jeden Pioniernachmittag habe auf beiden Seiten zur
Festungsmentalität und zu einer doppelten Niederlage geführt: „Die
’strammen’ Marxisten ... blieben ebenso eine Minderheit wie die
’strengen’ Katholiken oder Protestanten.“
Tiefensee schließt daraus, dass man nach langfristigen
Erklärungsmustern zu suchen habe. Er selbst verweist auf die Aufhebung
der Gutsherrschaften nach 1945, die das Ende des Summepiskopats von
1918 sozusagen auf Dorfebene fortsetzten. Pollack benennt als Ursachen
der Entkirchlichung Ostdeutschlands den Verlust des Bildungsbürgertums
bis zum Mauerbau sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft und die
Genossenschaften des Handwerks. Beide Autoren unterscheiden die
politische von der Alltagsebene.
War der Diskurs über Entkirchlichung und Konfessionslosigkeit noch in
den späten Neunzigern durch seine Fokussierung auf Ostdeutschland
eingeschränkt, bekam er durch die 13. Shell-Jugendstudie [31] erstmals eine gesamtdeutsche Dimension. Die Befunde zwangen dazu.
Waren unter den analysierten Jugendlichen 1981 nur 5% ohne Konfession,
1989 nur 7%, so ergab die Studie 1999 immerhin bereits ein Viertel,
davon 80 % in den neuen und bereits 13% in den alten Bundesländern
(plus 6% islamisch). Ein Drittel der Jugendlichen in Deutschland war
demzufolge nicht mehr christlich orientiert, was sich auch in deren
Rückgang der Kirchlichkeit manifestiert – nur noch 28 % im Westen geben
an, dass sie beten; nur 16 % besuchen Gottesdienste.
Im Falle von evangelischer und katholischer Konfession waren bei den
Jugendlichen keine Merkmalsunterschiede oder spezifische Profile mehr
aufspürbar. Auch zu den konfessionslosen Jugendlichen wurden in
wichtigen Wert- und Verhaltensdispositionen keine markanten
Ungleichheiten festgestellt. Ein religiöses Milieu, das bestimmte
Verhaltensdifferenzen konstituieren würde, konnte nicht mehr
festgestellt werden. Außergewöhnliche spirituelle oder gar okkulte
Praktiken unter Jugendlichen konnten nur in minimalem Ausmaß
registriert werden. Private Glaubensüberzeugungen (von einem waltenden
Schicksal oder einer höheren Macht) spielen (vorwiegend im Westen) eine
weitaus größere Rolle als dogmatische Glaubenssätze und kirchliche
Lehren.
Zugleich wurde erstmals eine neue „Konfessionsgrenze“ festgestellt
zwischen jungen Christen und Muslimen, wobei es nur auf islamischer
Seite zu einer gewissen Milieubildung kommt. Konfessionslose
Jugendliche begegnen diesen Abgrenzungen in der Regel mit
Unverständnis.
Hatten die Analysten noch Anfang der Neunziger einen wichtigen
Unterschied zwischen jungen Gläubigen Ost und West ausgemacht, nämlich
dass die jungen Christen im Osten emanzipatorischer, selbstbestimmter
und bildungshungriger erschienen als ihre eher konservativeren
Altersgenossen im Westen, wurde nun deutlich, dass konfessionslose
Jugendliche insgesamt modernere Wertorientierungen ausbildeten als ihre
glaubenden Gleichaltrigen.
Sie sind stärker gesellschafts-, weniger milieu- oder
gemeinschaftsorientiert; eher mobilitätsbereit; mehr
technikinteressiert; mehr „sektenabstinent“; sehr genussorientiert;
vorbehaltloser gegenüber vorehelichem Geschlechtsverkehr; eher bereit,
einen gläubigen Partner [ eine gläubige Partnerin zu heiraten als
umgekehrt und sie möchten ihre Kinder anders erziehen, als sie selbst
erzogen wurden. Dabei spielt eine Rolle, dass v.a. ostdeutsche
Jugendliche als konfessionsfreie überwiegen. Doch bilden sie solche
Eigenschaften vielleicht weniger aus, weil sie konfessionsfrei sind,
sondern weil die schlechtere Arbeitsmarktsituation eine solche Haltung
zwingender bedingt – gerade bei einer geplanten Übersiedlung in den
Westen.
Die Autoren der Shell-Studie
folgern zwar, dass man eine Entwicklung beobachte, die den
(christlichen) Kirchen wenig Chancen belässt, unter den derzeitigen
Bedingungen und in den bisherigen Formen Einfluss auf die junge
Generation zu gewinnen, doch gilt dies – was sie wegen der
statistischen Marginalität nicht untersucht haben – in noch stärkerem
Maße für die Weltanschauungsverbände. Diese haben – von einigen
regionalen Ausnahmen abgesehen – gerade in denjenigen Bereichen keine
Massen anziehende Offerten, in denen die Kirchen noch immer gefragt und
anerkannt sind – in den Fest- und Feierangeboten, die den Lebenslauf
begleiten.
Von der Ritualabstinenz zu Ritualisierungen
Die Konfessionsfreien zeichnen sich sogar durch ihre Ritualabstinenz
aus, die aber auch als Ritualunsicherheit gesehen werden kann. Man
gewinnt den Eindruck, die Konfessionsfreien seien hier auch gar nicht
Suchende. Sie kommen in der Regel mit Versatzstücken aus, mit
Ritualisierungen, mit Zitaten, die mehr oder minder bewusst eingesetzt
werden. In religiösen Kulten ist dagegen den Teilnehmern der rituelle
Handlungsablauf bekannt und damit notwendigerweise vorgeschrieben. –
Bevor darauf eingegangen wird, zu vier diesbezüglichen Befunden, ohne
das Thema „Übergangsrituale“ ausdrücklich zu thematisieren.[32]
Erstens stellt Detlev Pollack fest, dass von der Kirche erwartet
wird, Menschen bei individuellen Lebenswenden und familiären Festen zu
begleiten (Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Trauerfeier). Es gibt eine
große Nachfrage nach lebens- wie jahreszyklischen Ritualen. Dies ist
den Gläubigen wichtiger als die Teilnahme am sonstigen kirchlichen
Geschehen. Daraus ergibt sich die Frage, ob hier auch im Westen
Tendenzen erkennbar sind, diese Form der Kirchenbindung auf- oder gar
abzulösen, z.B. durch weltlich-kommerzielle Angebote?
Zweitens betont Eberhard Tiefensee für die ostdeutsche Situation
der Konfessionsfreien, dass sich hier um Geburten und Geburtstage,
Weihnachten und Ostern, Schulaufnahme und Jugendweihe, standesamtliche
Hochzeit und nichtkirchliches Begräbnis über Jahrzehnte hinweg eine
eigenständige Feierkultur ausgebildet hat. „Warum diese areligiöse
Feierkultur durch eine kirchliche ausgetauscht werden soll, dürfte
Ostdeutschen schwer einsichtig zu machen sein.“ Eine Frage ist hier, ob
bestimmte Praxen im Westen deshalb nicht angenommen werden, weil sie zu
„ostig“ sind oder weil die Kultur der westdeutschen Konfessionsfreien
generell eine andere Feierkultur bzw. eine Feierabstinenz produziert?
Drittens fand Martin Sterr heraus, dass sich (im Westen)
besonders die kirchlichen Bestattungsriten nach wie vor einer hohen
Wertschätzung erfreuen. 1989 wollten 97 % der katholischen und 93 % der
evangelischen Gläubigen kirchlich bestattet werden. Schon anders sah es
bei den Eheschließungen aus. Wurden 1979 (im Westen) noch 65 % der
Hochzeiten kirchlich gefeiert, so 1989 nur noch 57,6 %. Lediglich 55,5
% der katholischen Paare (beide Partner katholisch) ließen sich 1998
auch katholisch trauen (immerhin noch 69.000); 2000 nur 17 % der
evangelischen (ca. 70.000). Es stellt sich die Frage nach den
Feierformen, die diejenigen gewählt haben, die noch Mitglieder ihrer
Kirche sind.
Dabei wird sich – so steht zu vermuten – auch für den Westen
Deutschlands zeigen, dass die Menschen den überkommenen (christlichen)
Feiern einen eigenen Sinn und Verlauf geben und zunehmend ohne
religiöse Begründungen und Rituale auskommen. Immer weniger Christen
können heute erklären, was eigentlich Pfingsten stattfindet. Sie feiern
eben. Wenn die neue Festkultur – aber nicht nur sie – aus theologischem
Interesse „neureligiös“ genannt wird, so ist dies ein Zeichen des
schwierigen Verarbeitens säkularer Zumutungen innerhalb kirchlicher
Begriffe und Strukturen, nicht von Analyse der neuen Umstände.[33]
Viertens sind Firmung und Konfirmation längst nicht mehr das, was als
„höheres“ Gegenbild zu den „niederen“ Jugendweihen gelten kann.
Kritiker aus den eigenen Reihen werfen ihren Kirchen vor, „dass unsere
Konfirmation der gescholtenen Jugendweihe leider oft recht nahe kommt.
Sie ist zum Familienfest verkümmert und bedeutet häufig genug den
Abschied der Jugendlichen von ihrer Kirche.“[34]
Religionswissenschaftler stellen fest: „Heute ist davon [von der
Festigung im Glauben durch Firmung und Konfirmation, HG] nur noch der
Pubertätsritus geblieben, der von den Jugendlichen nicht zuletzt
aufgrund seiner angenehmen Begleitumstände (v.a. Geschenke) akzeptiert
wird.“[35]
Auch die statistischen Daten zeichnen selbst für katholische Regionen
deutliche Zeichen der Entkirchlichung: Die Zahl der an der
Erstkommunion teilnehmenden Kinder (2000: 296.600 im Alter von ca. neun
Jahren) entspricht noch ziemlich genau derjenigen der Taufen. Zwischen
der Erstkommunion und der Firmung (im Alter von ca. 13[14 Jahren) liegt
der Verlust von ca. einem Viertel der Jugendlichen, die oder deren
Eltern auf die religiöse Zeremonie verzichten.[36]
Gerade die heutigen Jugendweihen und -feiern zeigen die Verlagerung des
gesellschaftlichen Erfahrungs- und Wunschhorizonts von religiösen –
streng ritualisierten – zu säkularen – zwar ebenfalls ritualisierten,
aber offenen und zwangfreien – Festen und damit auch von
eindimensionaler Sinnbestimmung hin zur pluralen, vom dogmatischen Kult
zur Kultproduktion, wie er in der modernen Mediengesellschaft üblich
ist – mit einer wichtigen Ergänzung: Der Jugendliche ist selbst der
„Star“ und kann sich sogar anschließend im Video bewundern
(lassen).[37]
Die Jugendkulturen sind im Wandel. Ein Hereinholen von Rockmusik in die
Kirchen brachte bislang wenig Erfolg, im Gegenteil. Einige Kirchen
versuchten, sich dem Medienmarkt und der „Erlebnisgesellschaft“
anzupassen. Es gab Techno-Gottesdienste. Sie unterschieden sich von
anderen Happenings lediglich durch den Versuch, daran eine christliche
Botschaft zu knüpfen. Moderne „Kreuzritter“ bauten bewusst auf die
begeisternde Wirkung der Popmusik.[38] Doch die Mehrzahl der
Kirchenbesucher sind Senioren. Sie wollen nicht verschreckt werden.
Dennoch war dies ein achtbarer Versuch, denn der generelle Vorwurf, die
moderne Jugend wolle keine Rituale, ist nicht haltbar. Rituale in der
Jugendkultur werden im Gegenteil akzeptiert und verinnerlicht und gegen
„alte Zöpfe“ gesetzt.[39] Vielleicht kommen eines Tages VIVA, BRAVO,
NIKE, COCA COLA oder andere auf die Idee, mit eigenen Jugendfeiern ihre
Produktpalette günstig zu erweitern und per Merchandising gute
Geschäfte zu machen bei den Eltern künftiger Kunden. Doch ist für diese
Variante der Osten einfach zu arm, für den Westen wäre sie denkbar.
Aktuelle Probleme der weltlichen Bestattungskultur und Tendenzen ihrer
Lösung – v.a. in der Feuerbestattung, aber nicht nur – zeigen, wohin
sich die Feierkultur (bezogen auf Übergangsrituale) entwickeln und sich
weiter entkirchlichen könnte.[40] In Deutschland werden z.Z. 40 % der
(etwa 850.000) Gestorbenen verbrannt (1950 in Westdeutschland: 7,5 %).
Es gibt hier ein deutliches Nord-Süd- u. Ost-West-Gefälle (prozentual
mehr Kremationen: Nordosten; einige ostdeutsche Großstädte bei 90 %)
sowie häufiger bei Konfessionsfreien als bei Katholiken (erst seit 1963
erlaubt).
Besonders die „Industrialisierung“ des Bestattungswesens (Serialität,
Baukastenprinzip, Konkurrenz und Monopolbildungen zwischen Fließband,
Kleingewerbe und Familienbetrieb) haben die Entkirchlichung befördert.
Derzeit gibt es um die 4.000 Bestattungsunternehmen, aber bereits 10 %
aller Bestattungen liegen in den Händen des einen Großen (AHORN
Grieneisen), der den Gang an die Börse erwägt.
Gleich welcher Konfession: den Regeln der neuen Bestattungskultur kann
sich niemand so leicht, jedenfalls nicht ohne höheren finanziellen
Einsatz, entziehen. Bestattungen werden förmlich „im Set“ gekauft. Die
Feiern finden im 25min-Rhythmus statt. Um den Verlauf der andren Feiern
nicht zu stören, gilt meist das Verbot einer Rede am Grab. Auch sind
der Grabgestaltung strenge Regeln auferlegt. Jede Religion und
Weltanschauung ist „käuflich“ und der Ankauf anderer Sinngebungen als
der christlichen auf dem Markt der Bestattungsredner normal geworden.
Von einer Privatisierung der Friedhöfe ist schon die Rede. Das neue
Bestattungsgesetz in NRW sieht die Möglichkeit der Verbringung der Urne
mit der Asche nach Hause vor – eine Lösung, die anderswo schon üblich
ist, bis zur „Versandhausbehandlung“ des ganzen Vorgangs.
Hinzu kommen, wie das schon bei der Einführung der Feuerbestattung der
Fall war, technische Zwänge, die neue Wege in der Bestattungskultur
nötig machen. Die zunehmende Leibesfülle der Verstorbenen, besonders
deren Fettgehalt, führt in Verbindung mit der Austrocknung der
Friedhofsböden im Zuge verbesserten Umweltschutzes zu einer enormen
Verlängerung der Verwesungszeit und damit zur Verlängerung der
Liegedauer, deren Verkürzung eigentlich ökonomisch und städtebaulich
angezeigt ist. Wie die Fachtagung Neue Friedhofsysteme
am 11. November 2002 in Stuttgart zeigte, werden für die 650.000
Erdbegräbnisse auf den 33.000 deutschen Friedhöfen neue Lösungen
vorgeschlagen, besonders weil die katholische Kultur
Südwestdeutschlands sich mit der Feuerbestattung nicht anfreunden
kann.[41]
Schon diese kurzen Einblicke deuten an, dass sich die Unterschiede
zwischen den (christlichen) Religions- und den Weltanschauungsregionen
in einem wesentlichen Kennzeichen zu verwischen beginnen:
Industrialisierung, Umweltschutz, Kommerzialisierung, Mobilität und
Individualisierung beenden schon relativ kurzfristig die
Monopolstellung des traditionellen christlichen Begräbnisses – ein
Vorgang, der genauer zu untersuchen wäre.
„Weltanschauungsregion“ als Kulturmerkmal von Ritualisierungen in der Postmoderne
Diese Aussage führt abschließend noch einmal hin zur Überschrift und
zum Begriff der Weltanschauungsregion. Es ist in diesem Beitrag
angedeutet worden, dass die Konfessionsfreien – besonders deren
männlicher und jüngerer Teil – einen eigenen Lebensstil pflegen. Dieser
wird in seiner Grundhaltung von vielen Kirchenvertretern kritisiert.
So führt Domkapitular Monsignore Wolfgang Sauer, Abteilungsleiter Weltkirche im Erzbistum Freiburg, im Juni 1999 in Köln in einem Referat über die Anforderungen an einen kirchlichen Personaldienst für Internationale Zusammenarbeit
aus, dass man in der Dritten Welt wieder erfahre, Kirche als
„Gemeinschaft der Gläubigen“ zu verstehen. Dies müssten „gerade jene
Menschen ... neu lernen, die aus den Weltanschauungsregionen der
Autonomie und des Individualismus kommen und Gefahr laufen, mit ihrer
deprimierenden Tendenz zur Isolation auch die anzustecken, deren
’Entwicklungshelfer’ sie doch sein wollen.“
Tatsächlich ist es gerade dieser Lebenseinstellungs-Virus der Autonomie
und des Individualismus, der in allen drei großen
Weltanschauungsregionen Deutschlands zu Angleichungen auch in den
Übergangsritualen gerade bei Jugendlichen führt und deren fröhliche
Eventkultur des fließenden Übergangs auf eine Weise befördert, die den
Erziehungswissenschaftler Hartmut M. Griese folgern lässt, „dass aber
die komplexe, säkularisierte und pluralisierte Gesellschaft keine
eindeutigen Regeln, Biographiestrukturen oder Initiationsriten anbieten
kann, um Heranwachsenden eindeutige Orientierungen im Handeln und
Sicherheit hinsichtlich der eigenen Identität zu gewährleisten.“[42]
Für Griese sind Rituale „festgelegte Handlungs- und Reaktionsabfolgen
mit symbolischer Signalwirkung“.[43] Soeffner zitierend (Rituale seien
„Orientierungsvorgaben in unsicherem Gelände“[44]), ist für Griese
Jugend generell „ein extrem verlängerter Initiationsritus“.[45] Wenn
dies tatsächlich so ist, so stehen die Anbieter traditioneller
Übergangsrituale (z.B. Konfirmationen, Jugendweihen, Firmungen) vor dem
Problem, wie sie auf diesen Werte- und Verhaltenswandel reagieren. Die
traditionellen Formen werden sicher zunächst weiter angenommen und
gepflegt – schon weil im Fall der Verabschiedungsfeiern aus der
Kindheit noch die Eltern, speziell die Mütter, wesentlich mitreden. Ob
und wie rasch sich aber der „Lebenseinstellungs-Virus der Autonomie und
des Individualismus“ im Westen weiter verbreitet und auch im Osten
zunehmend Adressaten findet, wird zu beobachten sein und der Analyse
bedürfen.
Anmerkungen und Literatur
1 Vgl. Einhard Schmidt-Kallert u. Petra Stremplat-Platte: Die
Wiederentdeckung der Region. Neue Herausforderungen für die Entwicklung
und Zusammenarbeit. In: E+Z – Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 3,
März 2002, S.79f.
2 Hierzu sowie zur Situation und Geschichte säkularer Organisationen
vgl. Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in
Deutschland. Berlin 1997.
3 In Artikel 137 (7) Weimarer Reichsverfassung, der Bestandteil des
Grundgesetzes der Bundesrepublik ist, heißt es: „Den
Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die
sich die Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“
4 Vgl. www.religio.de: „In Deutschland bestehen elf Orthodoxe Kirchen.
Die griechisch-orthodoxe Metropolie hat 400.000 Mitglieder. Die
Rumänisch-Orthodoxe Kirche 300.000, die Serbisch-Orthodoxe Kirche
200.000. Es folgen Bulgarisch-Orthodoxe Kirche mit 60.000,
Russisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) mit 50.000,
Syrisch-Orthodoxe Kirche mit 38.500, Armenisch-Orthodoxe Kirche mit
35.000 und die sogenannte Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland mit
28.500 Mitgliedern.“
5 Vgl. REMID. Religionswissenschaftlicher Medien- und
Informationsdienst: Religionen in Deutschland: Mitgliederzahlen
(www.uni-leipzig.de[~religion[remid_info_zahlen.htm).
6 Vgl. miteinander. Newsletter deutsch-sprachiger katholischer Gemeinden im Ausland. Ausgabe 3[1999.
7 Vgl. Michael N. Ebertz: Erosion der Gnadenanstalt? Frankfurt a.M. 1998, S.90.
8 Heiner Meulemann: Aufholtendenzen und Systemeffekte. Eine Übersicht
über Wertunterschiede West- und Ostdeutschland. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. 40[41, Bonn
1995, S.28[29, 29.
9 Vgl. Beatrice von Weizsäcker: Eine Gegend ohne Gott. Der
Tagesspiegel, Berlin 29.11.1999, S.2. – Es war dies ein Bericht über
eine Tagung der katholischen Kirche in Schmochtitz, auf der Eberhard
Tiefensee das weiter unten zitierte Referat hielt.
10 Heiner Meulemann: Werte und Wertewandel im vereinten Deutschland.
In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das
Parlament Nr. 37[38, Bonn 2002, S.21.
11 Detlev Pollack: Die religiös-kirchliche Situation in Deutschland –
eine Bestandsaufnahme (Vortragstext einer gemeinsamen Veranstaltung der
KulturInitiative 89, der Humanistischen Akademie, von Helle Panke und
Stiftung Denkmalpflege in Berlin am 8. Mai 2001). – Ders.: Religiöser
und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989-1999. Opladen 2000. –
Martin Sterr: Deutschland Ost – Deutschland West. Der Kirchturm
bröckelt – hüben wie drüben. Zur Situation von Kirchen und Religion
zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung. In: Der Bürger im Staat,
Stuttgart 2000, H. 2. – Eberhard Tiefensee: „Religiös unmusikalisch“? –
Ostdeutsche Mentalität zwischen Agnostizismus und flottierender
Religiosität. In: Wiedervereinigte Seelsorge – Die Herausforderung der
katholischen Kirche in Deutschland. Hg. von Joachim Wanke. Leipzig
2000, S.24-53.
12 Meine eigenen Thesen zur „humanistischen Konfession“ bleiben hier
unerörtert. Vgl. Horst Groschopp: Humanismus-Theorie. Der Humanistische
Verband und sein Selbstverständnis. In: humanismus heute, Berlin
2(1998)2, S.21.
13 In dem Begriff „Religio“ fasst Axel Michaels (In: Rituale heute,
Theorien – Kontroversen – Entwürfe, hg. von Corina Caduff u. Joanna
Pfaff-Czarnecka, Berlin 1999) – letztlich Mircea Eliades Definition
säkularisierend, das Ritual sei die „Brücke zum Heiligen (Mirca Eliade:
Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen.Frankfurt a.M. u.
Leipzig 1998) – die Aura des Geschehens, die Erhabenheit, den Ernst der
Handlung und die Überhöhung des Vorgangs. „Religio“ bezeichnet
dasjenige, was raumzeitlich zwischen Andacht und Heiligung das
Spirituelle ausmacht. Ein säkulares Ritual ist Michaels demzufolge ein
Ding der Unmöglichkeit, es sei denn, man unterlege ihm einen
theistischen Religionsbegriff.
14 Vgl. Horst Groschopp: Kulturhäuser in der DDR. Vorläufer, Konzepte,
Gebrauch. Versuch einer historischen Rekonstruktion. In: Kulturhäuser
in Brandenburg. Eine Bestandsaufnahme. Hg. von Thomas Ruben und Bernd
Wagner. Potsdam 1994, S.97-178. – Ders.: Zwischen Klub- und
Kulturwissenschaft. Aus- und Fortbildung für Kulturberufe in der DDR.
In: Aus- und Fortbildung für kulturelle Praxisfelder. Dokumentation der
Forschungsprojekte ... Hg. von Christiane Liebald und Bernd Wagner.
Hagen 1993, S.159-177.
15 Die Zahlen differieren; Pollack nennt 15 %, Sterr 12 %.
16 Nach einer Tabelle von Pollack auf der Basis von ALLBUS 1998.
17 Eine aktuelle und kenntnisreiche Analyse aktueller säkularer
Bewegungen in Deutschland aus evangelischer Sicht vgl. Andreas Fincke:
Freidenker – Freigeister – Freireligiöse. Kirchenkritische
Organisationen in Deutschland seit 1989. Berlin 2002 (EZW [Evangelische
Zentralstelle für Weltanschauungsfragen]-Texte 2002, Nr. 162).
18 Nach den Tabellen von Gerhard Rampp, Augsburg.
19 Vgl. Helmut Frank: Kreuz des Ostens. Die Volkskirche wurde nach
westlichen Vorstellungen restauriert, aber das Volk im Osten kam nicht
zurück. In: Die Zeit, Nr. 26, Hamburg 20.06.97, S.9: „Von 680
Pfarrstellen in Thüringen sollen nur 550 erhalten werden, in der
Kirchenprovinz Sachsen soll gar jede dritte Pfarrstelle gestrichen
werden.“
20 Vgl. Hans-Jörg Beyerling: In Magdeburg findet die JugendFEIER in
einer Kirche statt. In: diesseits, Nr. 60, Berlin 16(2002)3, S.5
21 Nach einer Tabelle von Pollack auf der Basis von ALLBUS 1998.
22 Nach einer Tabelle von Pollack auf der Basis der Spiegel-Umfrage
„Glauben 92“. – Vgl. www.ekd.de[EKD-Texte: Glauben entdecken.
Konfirmandenarbeit im Wandel 1998: „Im Osten liegt die
’Übertragungswahrscheinlichkeit’ bei konfessionslosen Eltern bei über
85 Prozent und die bei Konfessionsangehörigen nur zwischen 50 und 60
Prozent. Im Westen ist es umgekehrt: Hier ist viel wahrscheinlicher,
daß christliche Eltern ihre konfessionelle Bindung an ihre Kinder
weitergeben, und weniger wahrscheinlich, daß auch die Kinder der
Konfessionslosen ihrerseits konfessionslos sind.“
23 Vgl. Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über
Kirchenmitgliedschaft. Hg. von Klaus Engelhardt, Hermann von Loewenich
u. Peter Steinacker. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1997, S. 356,
320: „Die Heimat [Kirche, HG] ist inzwischen vielen fremd geworden. Das
ist ein biographischer Ablösungsprozeß. ... Der Bestand an religiösem
Grundwissen und Brauchtum dünnt von Generation zu Generation weiter
aus.“
24 Nach einer Tabelle von Pollack auf der Basis von ISSP 1998.
25 Nach einer Tabelle von Pollack auf der Basis von ALLBUS 1998.
26 Der katholische Erfurter Bischof Joachim Wanke wird wie folgt
zitiert: „Der Atheismus in Ostdeutschland sei auch durch ’eine
oberflächliche kirchliche Verkündigung’ verursacht. Die Kirchen müssten
... die Angst vieler Ostdeutscher vor Vereinnahmung berücksichtigen“.
Vgl. Martin Gehlen: Bald überall „ostdeutsche Verhältnisse“?
Katholische Kirche rechnet auch in den alten Bundesländern mit weitrem
Rückgang der Religiosität. In: Der Tagesspiegel, Berlin 30.03.2000,
S.5.
27 Vgl. Frank: Kreuz des Ostens: „Das ständige Wiederkäuen der
Vergangenheit hat die Kräfte der Kirche zerrieben. Neben der
Stasi-Debatte wurden der Kirche Themen aufgezwungen, die ausschließlich
mit dem Verhältnis von Staat und Kirche zu tun haben: ob der Staat für
die Kirche die Steuer einziehen soll, ob Pfarrer staatlich
sanktionierte Militärseelsorge betreiben sollen oder ob die Kirche
Religionslehrer an die staatlichen Schulen schicken soll. ... Auf
Drängen der Brüder und Schwestern im Westen übernahmen die Ostkirchen
auch ein starres, an den Beamtenbezügen orientiertes Besoldungssystem
...“.
28 Vgl. Martin Gehlen in: Der Tagesspiegel, Berlin 13.09.1999, S.4:
„’Wo Kirche draufsteht, muss auch Kirche drin sein’, forderte Ulrich
Ruh, Chefredakteur der ’Herder Korrespondenz’. Kirche sei weder eine
Agentur für religiöse Dienstleistungen noch eine gefällige Sinnfabrik.“
29 Vgl. Wolfgang Büscher: Kein Gott, nirgends. In: Der Tagesspiegel,
Berlin 26.06.1998, S.3: Rolf Wischnat, Generalsuperintendentin Cottbus:
„Im Dorf verrottet die Kirche. ’Und dann kommen lauter Atheisten, denen
es ein Herzensanliegen ist, sie zu retten, zu restaurieren. Das haben
wir oft.’“
30 Die Schlagzeile des Berichts in Tag des Herrn (Leipzig 52[2002!]15
verdreht die Frage völlig: „Doch nicht unheilbar religiös?“ – Das Blatt
zitiert Tiefensee zu den Folgen für die pastorale Arbeit: „Nötig sei
... eine Neubesinnung auf die Funktion von Religion in der modernen
Gesellschaft: Die Kirche sei ’nicht dazu da, die Volksmoral zu heben’.
... Tiefensee warnte zugleich vor Globalprojekten wie der ’oft
beschworenen Neuevangelisierung Europas’. Sie lägen außerhalb der
Kräfte. Besser sei stattdessen, es auch im Umgang mit der Konfession
der Konfessionslosen mit einer Art Ökumene zu versuchen.“ (In seinem
Originaltext setzt Tiefensee allerdings relativierende
Anführungsstriche sowohl bei „Konfession“ wie bei „Ökumene“.)
31 Vgl. Jugend 2000. Die 13. Shell Jugendstudie. Herausgeber:
Jugendwerk der Deutschen Shell. Konzeption: Arthur Fischer, Yvonne
Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchemeier. 2 Bde, Opladen
2000.
32 Vgl. hierzu Horst Groschopp: Humanismus und Rituale. In: humanismus
aktuell, Zeitschrift für Kultur und Weltanschauung, Berlin 6(2002)11.
33 Vgl. Hermann Vierling: Wie religiös ist das Säkulare? Hindernisse
auf dem Weg, eine säkulare Religion zu erkennen. In: EZW
Materialdienst, Berlin 63(2000)9, S. 315ff.
34 Andreas Fincke: Konfirmation, Jugendweihe, christliche Jugendfeier.
In: Dialog und Unterscheidung. Religionen und neue religiöse Bewegungen
im Gespräch. Festschrift für Reinhart Hummel. Hg. von Reinhard
Hempelmann und Ulrich Dehn. Berlin 2000, S. 181, 180. – In
Ostdeutschland bekommen ca. 35.000 Kinder jährlich Firmung oder
Konfirmation, aber etwa 100.000 Jugendweihen bzw. -feiern; etwa 100.000
entscheiden sich für ein „Weder-noch“. – www.ekd.de[EKD-Texte: Glauben
entdecken“: In Westdeutschland beklagen zwar „Pfarrerinnen und Pfarrer
... das ’Wegbleiben nach der Konfirmation’, das heißt, das Ziel
’Integration in die Gemeinde[Gemeindeaufbau’ wird nur bei wenigen
erreicht. Allerdings haben in Westdeutschland 25 % der
Kirchenmitglieder ’manchmal’, 9 % ’häufig’ nach der Konfirmation
kirchliche Angebote für Jugendliche wahrgenommen. In den ostdeutschen
Landeskirchen liegt die Beteiligung prozentual gesehen deutlich höher.“
35 Michael Vogt: Entstehung und Entwicklung des Christentums. In: Religionen feiern, S.30.
36 Im Jahre 2000 wurden ca. 260.000 Kinder konfirmiert. In welchem
Verhältnis diese Zahl zu den evangelisch Getauften steht, wäre zu
klären.
37 Genaueres dazu vgl. Horst Groschopp: Jugendweihe und Festkultur. Zum
öffentlichen Disput über Jugendfeiern. In: humanismus aktuell,. Berlin
4(2000)7,S.35-49.
38 Vgl. Techno-Gottesdienste in katholischer Dorfkirche. In: Tsp
14.10.1995, S.24. - Techno-Mütter machen mit. „Crusade“-Riesenparty in
Hamburger Kirche. In: Tsp 18.2.1996, S.26. - Lauter als ein Flugzeug
durch das Gotteshaus. Techno-Party in der Schöneberger Luther-Kirche
heftig umstritten. In: Tsp 29.2.1996, S.11. - Gegen Technoparty in
Schöneberger Kirche. Kirchenleitung kontra Gemeinde. In: Tsp 4.3.1996,
S.10. - Cay Dobberke: Die Gemeinde singt zum Wummern der Bässe. Toben
für Christus: Drei Tage Rave 4 Christ in Berliner Kirchen. In: Tsp
3.6.1996, S.9.
39 Vgl. Zwischen Rausch und Ritual. Hg. von Konstanze Kriese. Berlin 1994.
40 Vgl. Norbert Fischer: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt 2001.
41 Nach einer Meldung von AFP „Die Toten bleiben ewig“ in: Der Tagesspiegel, Berlin 13.11.02, S.32.
42 Vgl. Hartmut M. Griese: Einleitung: Zur Renaissance von Ritualen und
Ritualtheorie. In: Ritualtheorie, Initiationsriten und empirische
Jugendweiheforschung, hg. von Stephan Eschler u. Hartmut M. Griese,
Stuttgart 2002, S.5.
43 Griese: Einleitung, S.7, 5.
44 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Die Ordnung der Rituale. Frankfurt a.M. 1995.
45 Griese: Einleitung, S.4f.
© Horst Groschopp (November 2002)
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