Thema | Kulturation 2011 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Gerlinde Irmscher | "Fremde im eigenen Land?" Ein Angebot zur Interpretation
| Am
24. November 2010 hat die Kulturwissenschaftlerin Gerlinde Irmscher im
Rahmen der "Kulturdebatte / Bausteine ostdeutscher Kulturgeschichte"
vorgeschlagen, die Interpretation der vorliegenden empirischen Befunde
zum Alltagsleben der Deutschen dadurch konzeptionell zu befördern, dass
die Ostdeutschen der "ersten Stunde" als Immigranten begriffen werden,
als Fremde in einem Land, dessen Staatsbürger sie sind. Um die
begonnene Debatte über mögliche konzeptionelle Ansätze für das
Verständnis der jüngsten Kulturgeschichte in Gang zu halten, wird ihr
Vortrag hier eingestellt.
In unserer Vortragsreihe wurde und wird aus den unterschiedlichsten
Perspektiven der Frage nachgegangen, was die DDR in kultureller
Hinsicht ausgemacht hat und was von ihr geblieben ist. Gibt es ihre
Kaufhäuser noch, was ist mit ihren Kunstwerken, welchen Platz haben
ihre Organisationen in der neuen Bundesrepublik gefunden oder auch
nicht? Am meisten interessiert aber wohl, was aus den Menschen geworden
ist. Sind sie noch die alten Gottlosen, wie halten sie es mit Sex und
Partnerschaft, wie denken sie über Gerechtigkeit, kurz, ist es heutigen
Erwachsenen noch anzumerken, dass sie aus dem Osten kommen, mögen sie
die DDR noch als Erwachsene erlebt haben (das wären die über
Vierzigjährigen) oder Kinder dieser Generationen sein. Wie nehmen sie
das neue Land war, in das sie gekommen sind, auch wenn sie ihren
Wohnort gar nicht gewechselt haben und welchen Veränderungen unterlagen
diese Wahrnehmungen in den letzten zwanzig Jahren. Sind sie angekommen,
wie es so schön heißt, oder fühlen sie sich, wie immer ihre politische
Haltung zur DDR war, wie groß oder klein ihr Anpassungswille war, fremd
im eigenen Land?
Im Folgenden sollen der Überfülle an Daten keine weiteren
empirischen Befunde hinzugefügt werden. Es ist vielleicht an der Zeit,
in diesem Wettlauf inne zu halten und nach einem theoretischen Konzept
Ausschau zu halten, dass gerade auch Kulturwissenschaftlern erstens
eine neue, ertragreiche Perspektive auf vorhandene Ergebnisse bieten
könnte. Zweitens könnten damit neue Untersuchungen zum Alltag der
Deutschen angeregt werden, die diesem besser gerecht werden, als das
bisher der Fall war. Das wiederum könnte drittens für praktische
politische Belange von Bedeutung sein. Es wird deshalb vorgeschlagen,
die Ostler der ersten Stunde als Immigranten anzusehen, als Fremde in
einem Land, dessen Staatsbürger sie sind.
Orientierung soll ein Vortrag bieten, den der österreichische
Sozialphilosoph und Vertreter einer phänomenologisch orientierten
Soziologie Alfred Schütz 1944 an der New School for Social Research in
New York gehalten hat. Er heißt schlicht "Der Fremde. Ein
sozialpsychologischer Versuch".[1] Untersucht werden solle, so der
Autor zu Beginn seiner Analyse, in welcher typischen Situation sich ein
Fremder befindet, der versucht, die "Kultur" einer sozialen Gruppe zu
bestimmen mit dem Ziel, sich in ihr dauerhaft zurechtzufinden. Schütz
will jedoch nicht die Prozesse der Assimilation behandeln, zu denen es
damals in den USA schon eine reichhaltige Forschungsliteratur gab,
sondern die Ausgangslage des Fremden ausloten, eben dessen "typische
Situation". Indem Schütz das Ziel der Beschäftigung des Fremden mit der
Kultur der Gruppe, in der er künftig leben will, so vage formuliert,
entwickelt er ein Konzept, dass einerseits nicht von den Erwartungen
der Einheimischen abhängig ist, andererseits aber auch offen lässt,
wozu dieses "Kennenlernen" dem Fremden dienen soll. Es kann somit nicht
"veralten" und passt auch noch in die heutige Zeit, in der zumindest
politisch nicht mehr Assimilation oder Integration erwartet wird,
sondern Spielarten von cross-culture Mode geworden sind.
In der gemeinten Weise ein Fremder zu sein, könne Menschen in
unterschiedlichsten Lebenslagen treffen - den Jungen vom Lande, der
studieren wolle, den Städter, der aufs Land ziehe, vor allen Dingen
aber den Immigranten. Aus dieser Perspektive sind, wenn man es genau
betrachtet, alle irgendwo und irgendwann Fremde, weshalb Ilja Srubar
festgestellt hat, "Fremdheit" gehöre "zu den ureigensten
lebensweltlichen Erfahrungen" und die Lebenswelt sei kein "harmloser,
heimischer Ort".[2]
Bemerkbar werde "Fremdheit" in einer und durch eine "Krisis". Das
heutige Wort "Kulturschock" trifft die Sache nicht, denn der hier
gemeinte (erwachsene) Fremde kommt per definitionem in ein Land, das er
eigentlich schon "kennt". Er hat es erstens vorher möglicherweise schon
besucht, er hat darüber hinaus zahlreiche Informationen verfügbar und
er geht drittens davon aus, dass dieses "neue" Land so ähnlich wie das
von ihm verlassene ist, weil es sich auf derselben "Zivilisationsstufe"
befindet. Schaut man sich seine Biografie an, beschreibt Schütz damit
die eigene Lage. Er hielt sich beruflich schon vor der Emigration in
den USA auf, hatte später dort eine Arbeit und sprach gut englisch.
Allerdings, so der Ausgangspunkt vorliegender Untersuchung, trifft
genau das auch auf die Ostdeutschen zu.
Wie kann es aber unter diesen Bedingungen überhaupt zur " Krisis"
kommen, scheinbar "weiß" der Immigrant soviel, dass Fremdheitsgefühle
eigentlich gar nicht zu erwarten sind. Es kann wohl angenommen werden,
dass auch Alfred Schütz zunächst überzeugt war, die besten
Voraussetzungen zu haben, um sich in der "Neuen Welt" zurechtzufinden.
Das Gefühl, ein Fremder zu sein, hat sich möglicherweise erst nach
einiger Zeit entwickelt und mag den Anlass für seine Überlegungen
geboten haben.
Bezogen auf die Ostdeutschen heißt das: Parallel zum Prozess des
Einlebens oder besser gesagt mit ihm verwoben ist ein gegenläufiger
Prozess der Entfremdung, der vor allem deshalb verwundert und
irritiert, weil damit nicht gerechnet wird. Fremdsein wird hier erst im
Handeln und durch das Handeln in der "neuen" Welt generiert und
keineswegs nur abgebaut. Das widerspricht der Erwartung der Immigranten
wie übrigens auch der "Eingeborenen", die meinen, sie verfügten
materiell und mental über die Bedingungen für ein erfolgreiches
Eingewöhnen , hätten "Rezepte" dafür parat.
Zurück zum weiteren Gang der Analyse von Schütz. Die Ebene, auf der
der Fremde seine "typische Situation" erlebt, ist der Alltag, genauer
gesagt, das Handeln in alltäglichen Situationen, das mit dem
Alltagsbewusstsein bewältigt wird. Welchen Rat würden wir dem Fremden
wohl geben, welche Strategien würden uns selbst einfallen, um uns
optimal auf die Situation der Immigration vorzubereiten? Sprachen
lernen, viele Bücher über "Land und Leute" lesen, bei Bekannten
anfragen, die im betreffenden Land gelebt haben oder dort sogar
heimisch sind? Das würde eben nicht viel helfen, meint Schütz. Als
"Handelnde in der sozialen Welt" erleben wir diese nach Maßgabe dessen,
was wir tun wollen und müssen. Wir organisieren sie nach unseren
Mitteln und Zwecken und auch unser Wissen (als Alltagswissen) gestaltet
sich entsprechend. Es ist nicht systematisch-wissenschaftlich, sondern
graduell. Wissen, das für unsere augenblicklichen oder auch
langfristigen Absichten unwichtig sind, bleibt diffus im Hintergrund,
während hochrelevantes soweit vertieft wird, wie es notwendig ist. Wer
telefoniert, will nicht wissen, wie das physikalisch vor sich geht. Wer
Medizin studieren möchte, blendet alle Informationsanmutungen aus, die
ein zukünftiger Bauer benötigt. Mit jeder neuen Situation, die wir zu
bewältigen haben, ergeben sich neue Zentren des Wissens "von etwas",
die von einem Hof des Wissens "über etwas" umgeben sind, während die
vorhergehenden Situationen natürlich nicht ganz vergessen sind. Über
einen längeren Zeitraum betrachtet erscheint unser Wissensvorrat wie
eine sich ständig verändernde Landkarte, genauer eine Landkarte im
Entstehen, mit übermäßig groß und genau eingezeichneten Orten, gemäß
unserer Vertrautheit mit ihnen und mit Orten, von denen wir nur eine
vage Vorstellung haben und die deshalb klein und diffus wiedergegeben
sind. Dazwischen ist nichts, terra incognita. Das entspricht im Übrigen
genau den Landkarten zur Zeit der Entdeckungsreisen. Diese
Erwerbssituation des alltäglichen Wissensvorrats und sein daraus
resultierender Charakter machen es unmöglich, sich im Voraus angemessen
vorzubereiten.
Die beschriebenen Prozesse des Erwerbs und der Anwendung von
Alltagswissen, auch common sense, erfolgen im und durch Zusammenleben
mit anderen und ermöglichen dieses zugleich. Mag dieses Wissen auch
noch so "inkohärent, inkonsisent und nur teilweise klar" sein, es gibt
jedermann eine "vernünftige Chance..., zu verstehen und selbst
verstanden zu werden. Jedes Mitglied, das in der Gruppe geboren oder
erzogen wurde, akzeptiert dieses fix-fertige standardisierte Schema
kultureller und zivilisatorischer Muster, das ihm seine Vorfahren,
Lehrer und Autoritäten als eine unbefragte und unbefragbare Anleitung
für alle Situationen übermittelt haben, die normalerweise in der
sozialen Welt vorkommen."[3] Diese Rezepte fungieren dabei sowohl als
Anweisungsschema zum Handeln wie als Auslegungsschema für die
Handlungen der anderen.
Grundlage für dieses "Denken und Handeln wie üblich" ist die im
Allgemeinen bestätigte Erwartung, man selbst und "die Welt" seien
morgen im Prinzip noch so wie heute. Jedoch auch das Wissen um mögliche
Probleme gehört zum Alltagswissen ebenso wie Algorithmen zu ihrer
Lösung. Ich möchte telefonieren, aber der Apparat ist tot. Nun kann ich
in die Gebrauchsanweisung schauen, ob ich den Fehler selbst finde, ich
kann meinen Bruder fragen, der mir schon einmal helfen konnte, ich kann
einen Fachmann holen. Eine Krisis, ein tiefe Erschütterung meiner
Erwartungen an das Funktionieren der Welt wird hier nicht stattfinden,
aber es wird schon klar, dass die Grenzen einer nicht mehr zu
bewältigenden Verunsicherung auch überschritten werden können. Viele
geistige Erkrankungen könnten als Herausfallen aus den Routinen der
alltäglichen Lebenswelt beschrieben werden. Wie leicht die Grenze
überschritten werden kann, merkt man an dem tiefen Schrecken, von dem
wohl jeder befallen wird, der aufwacht und nicht weiß, wo er sich
befindet. Marcel Proust hat das am Anfang des ersten Bandes seiner
"Suche nach der verlorenen Zeit" eindrucksvoll beschrieben.
Aus dem ständigen, uns aber gar nicht bewussten Abscannen unserer
räumlichen Situierung erwächst ebenso die lebensnotwendige
Weltgewissheit wie aus den Routinen zeitlicher und sozialer
Orientierung. Die Ängste Demenzkranker mag man sich nach solchen
Einsichten gar nicht vorstellen. Der Volksmund hat für solche
existentiellen Erfahrungen Metaphern gefunden wie: "Ich verstehe die
Welt nicht mehr".
Der Fremde ist nun in folgender Lage: Er hat sein
Alltagsbewusstsein in seiner Ausgangsgruppe auf unmerkliche Weise
erworben und wandert in eine Gruppe ein, die ebenfalls nach von ihren
Mitgliedern selbst nicht befragten und deshalb kaum erfragbaren
"Kultur- und Zivilisationsmustern" lebt. Mit "kaum erfragbar" ist
gemeint, dass nicht nur der Fragende grundsätzlich nicht in der Lage
ist zu formulieren, was er wissen will, sondern dass die Befragten auch
keine adäquate Antwort geben können. Praktisch sind wir zu solchen
Stellungnahmen und Fragen ständig gezwungen. Nationale Stereotype haben
hier ihre wichtigste Funktion, sie sind aber ebenso Rettungsanker der
Kommunikation wie Ursache von Krisen. Darüber gibt momentan eine kleine
Artikelserie im "Freitag" Auskunft, in der in Berlin lebende Ausländer
über Fremdheit und Vertrautheit mit den Gepflogenheiten in dieser Stadt
berichten. Typisch ist ebenfalls die Strategie, den Stereotypen dadurch
empirische Beweiskraft zu verleihen, dass sie an Beispielen, anhand von
selbst Erlebtem erläutert werden. Dadurch wird der Eindruck erzeugt,
sie wären Abstraktionen konkreter Erlebnisse - aus Schütz' Perspektive
ein fundamentaler Irrtum.
Der Immigrant kann sich aus den genannten Gründen nicht wirklich
vorbereiten, alle Gespräche und Bücher können sein grundsätzliches
Problem nicht lösen. Sein Status als Außenstehender ermöglicht ihm aber
Beobachtungen, die sowohl von denen, die er verlassen hat, wie von
denen, die er erreichen will, nicht zu leisten sind. In einer solchen
Situation hat Irene Böhme, zunächst Redakteurin beim Sonntag und
Dramaturgin an der Volksbühne dann 1980 von Ost- nach West-Berlin
übergesiedelt, ihr Buch "Die da drüben. Sieben Kapitel über die DDR"
geschrieben. Die Beobachtungen von Böhme illustrieren nicht nur die
bisher dargelegten theoretischen Grundannahmen, sondern nehmen vorweg,
was nach 1990 passiert ist und immer noch passiert. Menschen aus
unterschiedlichen Sinn-Welten treffen sich und reden aneinander vorbei
und bemerken es nicht einmal. Unter der Kapitelüberschrift "Das Eigene
und das Fremde" wird eine Gesprächssituation geschildert, in der
DDR-Bürger (als Gastgeber eines geselligen Beisammenseins) über ihre
Arbeit berichten - für den Westler ein ungewöhnliches Thema in einem
privaten Gespräch. "Der Westmensch ist auf Erfolg programmiert, er hat
unaufhörlich drahtig zu erscheinen, seine Schwachstellen zu verbergen.
Erlebt er nun, wie wollüstig ihm Schwierigkeiten eines Arbeitslebens
ausgebreitet werden, ist er betroffen und entsetzt. Einzige Erklärung
kann für ihn nur sein, daß der DDR-Staat seine Leute total kaputt
macht. Spricht er das aus, wandelt sich der Gastgeber zum glühenden
Staatsbürger. Er hatte über seine Befindlichkeit, seine Melancholie,
seine verinnerlichte Freude an Konflikten gesprochen, seinen Genuß am
Fatalistischen als optimistische Lebenshaltung vermitteln wollen, sein
kompliziertes Selbstverständnis bloßgelegt. Der andere muß nicht
zugehört haben, wenn er jetzt vom Staat redet, individuelles Gefühl in
eine politische Kategorie pressen will." Auch wenn nun das Thema
gewechselt wird: "Der Westdeutsche wird dennoch nicht vergessen können,
welchem gebrochenen Menschen er in die Seele schauen musste, wie abrupt
diese unterdrückte Kreatur den Staat verteidigte. Der Ostdeutsche wird
nicht vergessen können, dass er sich einem Ignoranten offenbarte, das
Gespräch über den Sinn des Lebens mit jemand suchte, der darüber nicht
nachdenken will."[4] Um überhaupt im Kontakt zu bleiben und die
Illusion einer gemeinsamen Kultur aufrecht zu erhalten, versuchten
beide Seiten, das Befremdliche zu ignorieren, statt es sich
einzugestehen. Dies mag für Familien gegolten haben, daneben förderte
die schon seit den deutschen Staatsgründungen installierte
Alltagsmeinung von der Überlegenheit des Westens und der Unterlegenheit
des Ostens zwar zunächst nur ein Gefühl von kulturellem Gefälle. Mit
der Zeit entwickelten sich aber Vorstellungen von kultureller Differenz
grundlegenderer Art.
Was hier im Gespräch geschieht, verweist ein weiteres Mal darauf,
dass die Routinen der Wahrnehmung und Deutung der Welt - eigentlich
sagt es schon der Begriff - vorbewusst sind, zum gesellschaftlich
Unbewussten gehören. Ein hoher Anteil unseres Alltagshandelns basiert
darauf, dass wir nicht nachdenken müssen, weil wir sonst tendenziell
ewig mit dem Auslegen der Situation beschäftigt wären, in der wir uns
gerade befinden und deshalb gar nicht mehr zum Handeln kämen. Jeder
Tourist erfährt, wie es ist, wenn solche Automatismen außer Kraft
gesetzt werden. Wie ist ein Kopfnicken in Bulgarien zu deuten, als
Bejahung oder Verneinung? Theoretisch, so steht es im Reiseführer, als
Verneinung. Nun aber wissen Bulgaren vielleicht, dass es bei den
Deutschen umgekehrt ist und weil sie freundlich sein wollen, meinen sie
"Ja". Und der deutsche Tourist rechnet wiederum damit, dass die
Bulgaren genauso handeln könnten. Doch, woher kann man wissen, nach
welchem Kodex sie sich gerade verhalten und kann man sich dauerhaft
darauf verlassen? Vielleicht vergessen sie das "Übersetzen" beim
zehnten oder zwanzigsten Nicken, weil sie wieder in "ihre" Welt
zurückgekehrt sind? Eine einfache Handlung wird also zu einem enormen
Auslegungsproblem, möglicherweise fragen wir als Tourist deshalb gar
nicht mehr nach.
Reisende sind Fremde auf Zeit. Ihre Bemühungen, sich in den
kulturellen Mustern der Bereisten zurechtzufinden, enden irgendwann,
zudem müssen sie nicht mit ihnen "leben". Zur Definition des Reisenden
oder Touristen gehört geradezu die Erwartung, er wolle den
Alltagsroutinen zu Hause entfliehen. Das geht allerdings aus der
Perspektive des hier diskutierten theoretischen Ansatzes nur partiell.
Jedoch finden sich in den Verhaltenszumutungen an die Touristen wie in
ihren Selbstbildern Elemente eines anderen Weltzugangs, eines
wissenschaftlichen, genauer ethnologischen. Wer einen alternativen
Reiseführer studiert, der etwa mit "Land und Leuten" bekannt machen
will, tut dies in der Erwartung, seine eigenen Alltagsroutinen auf der
Reise suspendieren zu müssen oder zu dürfen. Neues "Alltagswissen" soll
an seine Stelle treten, der Erwerb ist jedoch nicht "alltäglich",
sondern tendenziell wissenschaftlich-systematisch, selbst wenn der
Autor des Reiseführers Alltagssituationen behandelt. Letzteres, der
wissenschaftlich-systematische Wissenserwerb kann auch die ganze Reise
bestimmen - dann haben wir es mit einem berufsmäßigen Ethnologen zu
tun. Am anderen Ende des Motivations- und Verhaltensspektrums stehen
die viel gescholtenen Massentouristen, die angeblich alles so haben
wollen, wie sie es kennen. Reisepraxen stellen wohl immer eine
Gemengelage dar, die sich zwischen diesen beiden Polen bewegt. Alle
Abenteuer der Begegnung mit einer "anderen Kultur" geschehen dabei
jedoch unter dem Vorbehalt, zeitlich begrenzt und nicht
lebensbedrohlich zu sein.
Dieser Exkurs, der Vergleich des Fremden als Immigranten mit dem
Fremden als Touristen kann den Blick für die besondere Lage des
Einwanderers schärfen. Im Beispiel von Irene Böhme begegnen sich die
Deutschen noch als Reisende, sie können noch auseinander gehen. Nach
1990 konnten sich die meisten Westdeutschen selbst der von Böhme
beschriebenen Situation entziehen, wovon sie bis heute Gebrauch machen,
die Ostdeutschen jedoch nicht. Ihre Gesellschaft, in der sie ihre
alltagstauglichen Kulturmuster in alltäglichen Situationen erworben
hatten und in der diese mehr oder weniger gut funktionierten, ist
einfach nicht mehr vorhanden. Stattdessen gelten Strukturen,
Institutionen, Verhaltensanmutungen der anderen Seite.
Für diese Situation gilt: "Die Zivilisationsmuster fungieren nicht
mehr als System erprobter und vorhandener Rezepte; es zeigt sich, dass
ihre Anwendbarkeit auf eine spezifische historische Situation
beschränkt ist."[5] Damit ist die Krisis da, von der der Westen
verschont blieb. Dafür wurde einiges getan. Paradigmatisch erscheint
etwa die Kampagne zur Umstellung der Postleitzahlen. Es war tatsächlich
nahezu die einzige gesamtdeutsche, in Alltagsroutinen eingreifende
Veränderung. Darauf wurden die Westdeutschen weit über ein Jahr lang
vorbereitet. Im Ergebnis konnte Hannover seine "3", Hamburg seine "2"
behalten, die Ostdeutschen wurden völlig neu eingeteilt.
Wenn das Bewusstsein des "und so weiter" nachhaltig gestört ist,
sind die davon Betroffenen gezwungen, alles in Frage zu stellen. Welche
Strategien sie nun auch einschlagen, wenn sie weiterleben wollen - für
sie ist und bleibt problematisch, was ihrem Gegenüber fraglos
erscheint. Da der Fremde keine gemeinsame Vergangenheit mit der
Zielgruppe hat, nicht in sie hineingewachsen ist, kann er bestenfalls
versuchen, an ihrer Gegenwart und Zukunft teilzuhaben.
Zur Gestaltung dieser Teilhabe könne er, meint Schütz, aber nur das
Mitgebrachte anwenden, neben seinen eigenen Routinen etwa die
Vorstellungsmuster von der Zielgruppe, wie er sie in seiner Heimat
erworben hat. Jedoch seien diese grundsätzlich ungeeignet, in der
erwarteten Weise zu funktionieren. Der Immigrant war selbst früher nur
uninteressierter Beobachter seiner neuen Mitmenschen. Damals waren sie
die Menschen hinter dem "großen Teich" oder hinter der Mauer, nun soll
und muss er unter ihnen kompetent handeln. Sein Relevanzsystem
verschiebt sich, er springt sozusagen vom Parkett auf die Bühne - so
das von Schütz gewählte Bild.
Das früher erworbene Wissen, die mitgebrachten Vorurteile, die
fertigen Typologien resultieren aber eben nicht aus lebendigen
Interaktionen mit der Zielgruppe. Versucht der Fremde mit ihnen zu
operieren, lösen sie sogar Irritationen bei der fremden Gruppe aus, die
Gesprächspartner fühlen sich falsch eingeschätzt oder halten den
Ankömmling für ignorant. "Die Entdeckung, dass die Dinge in einer neuen
Umgebung ganz anders aussehen, als man dies sich noch zu Hause
vorgestellt hatte, ist häufig die erste Erschütterung des Vertrauens
des Fremden in die Gültigkeit seines habituellen
‚Denkens-wie-üblich'."[6]
Welche Möglichkeiten hat der Fremde, mit dieser Situation fertig zu
werden und geht das überhaupt? Tatsächlich ist das Scheitern
grundsätzlich in Betracht zu ziehen, als völliges oder partielles
Scheitern, denn es kann keine allgemeine Transformationsformel für
beide Zivilisationsmustersysteme geben. Das liegt nach Meinung von
Schütz zunächst daran, dass den Mitgliedern der fremden in-group ihre
Kultur- und Zivilisationsmuster nur deshalb so selbstverständlich als
Orientierungsschemata zur Hand sind, ihnen eigen sind, weil sie einen
definierten Status in ihrer sozialen Welt haben. Der oder besser ein
Platz im sozialen Raum ist folglich eine unhintergehbare Voraussetzung
für ein Denken und Leben des "und so weiter". Der Fremde stehe
möglicherweise aber sogar außerhalb des Gebietes, in dem sich die
Einheimischen selbstverständlich bewegen und das ihnen deshalb normal
erscheint. Der Immigrant ist also für sie kulturell und sozial gar
nicht greifbar.
Zudem dienen ihre Kulturmuster den Mitgliedern der in-group sowohl
dazu, sich selbst auszudrücken wie auch den anderen zu verstehen. Der
Fremde ist jedoch gezwungen, die Ausdrucksformen der fremden Muster
erst in die seiner Heimatgruppe zu übersetzen, vorausgesetzt, es
existiert dort überhaupt ein Äquivalent. Solche Übersetzungsleistungen
könnten in die Irre führen, es sei immer damit zu rechnen, dass die
Einheimischen die Dinge anders sehen, Situationen anders behandeln.
Prominentes Beispiel einer solchen, dem Immigranten zunächst
verschlossenen Einheit von Auslegungs- und Ausdrucksschema ist die
Sprache. Wir erinnern uns, der Fremde soll per definitionem schon die
Sprache der anderen sprechen, also im Fall der USA Englisch können. Es
ist bekannt, dass das bei vielen Flüchtlingen aus Europa nicht der Fall
war und das Exil für deutsche Künstler und Literaten häufig dadurch
gleichsam potenziert wurde. Doch auch, wer zu Hause in Wien ordentlich
Vokabeln gelernt und sie auf Geschäftsreisen gebraucht hat, kann sich
dem Übersetzungsdilemma nicht entziehen. "Um eine Sprache frei als
Ausdrucksschema zu beherrschen, muß man in ihr Liebesbriefe geschrieben
haben; man muß in ihr beten und fluchen...können."[7]
Die Schwierigkeiten mit der Sprache können aber genauso umgekehrt
genutzt werden, um Fremdheit überhaupt identifizieren zu können. Vom
anderen wird dann möglicherweise gar nicht erwartet, dass er so tickt,
wie man selbst. Nicht nur die oben erwähnten
Übersetzungsschwierigkeiten, sondern auch die Annahme, eine Übersetzung
sei gar nicht nötig, können in die Irre führen. Es erscheint deshalb
sinnvoll, in der gemeinsamen deutschen Sprache ein
Kommunikationshindernis zu sehen. Sie suggeriert Einverständnis, eine
ähnliche Sicht auf die Welt und kaschiert, wie Böhme zeigt, die
Fremdheit. Die gemeinsame Sprache hat vermutlich die Ostdeutschen in
ihrer Erwartung bestärkt, mit dem Westen so vertraut zu sein, dass eine
Fremdheit gar nicht aufkommen könne.
Das legen Äußerungen Ostberliner Studenten der Europäischen
Ethnologie nahe, die an einem Projekt mit Tübinger Studenten derselben
Fachrichtung unmittelbar nach 1990 beteiligt waren. Unter der
Überschrift: "Der Wessi - stellt so saublöde Fragen" sprechen sie über
ihre Partner West. Alex resümiert: "Aber ich glaube wirklich, das
Hauptproblem ist eigentlich, dass die einen die anderen kannten, die
Kultur kannten, die fremde, die angeblich fremde deutsche Kultur, also
die Ostler die westliche Kultur eben viel besser kannten und kennen als
umgekehrt. Das ist ein komisches Phänomen, also ich kann mir nicht
vorstellen, dass irgendwann 'ne Schar von Ostlern in Tübingen ankommt
und mit Euch durch Tübingen geht und fragt: ‚Na, sagt mal, wie backt
Ihr denn Eure Schrippen? Kommt da auch Mehl dran?' oder ‚Zeigen sie
Eure Filme auch in Farbe?' oder ‚Kommt da der Ton auch von
vorne?'...Ich glaube, Westleute werden dann eher nur noch gefragt, wie
man vielleicht die Steuer günstig absetzen kann oder wo man ein Auto
billiger kriegen kann oder so was."[8]
Vergleicht man diese selbstbewusste Einschätzung über das Wissen,
wie es im Westen zugehe mit den Äußerungen der Westler, ergibt sich
eine eigenartige Asymmetrie. Die Ostler gehen davon aus, der Alltag im
Westen sei in etwa so wie im Osten (man begräbt Tote und bäckt Brötchen
aus Mehl). An einigen Punkten gebe es aber Unterschiede, etwa bei den
Steuern. Durch gezielte Befragung der Westler könne dieser
Wissensrückstand aufgeholt werden. Die Westler erwarteten auf Grund
ihres Vorwissens, dass gerade die alltäglichsten Dinge im Osten ganz
anders gelaufen seien als im Westen. Wer an die anhaltende Wahrnehmung
denkt, Westbrötchen seien Luft, nur Ostbrötchen hätten nach etwas
geschmeckt, merkt, dass die Ostberliner Studierenden vielleicht zu
optimistisch waren. Potentiell jedes geschmacklose Westbrötchen, das
auf dem Frühstücksteller liegt, kann den Eindruck des Fremdseins
reproduzieren, denn die sinnlichen Erlebnisse machen bekanntlich den
Boden aller Erfahrung aus und sind in besonderem Maße habitualisiert.
Genau dieser scheinbar so bekannten Bundesrepublik wollte man sich
deshalb auch anschließen. Aus dem Blickwinkel der Lebenswelt des
Alltags und ihrer spezifischen Form von Rationalität haben sich deshalb
1991 alle CDU-Wähler, die "keine Experimente" wollten, absolut sinnvoll
verhalten.
Ein weiterer Aspekt der Argumentation von Schütz , der besonders
ertragreich und diskussionswürdig erscheint, beschäftigt sich mit der
Möglichkeit, dass das "Mitglied einer in-group mit einem einzigen Blick
die normalen ihm begegnenden Situationen übersieht und dass es sofort
das für die Lösung des Problems schon fertig vorliegende Rezept
erfasst.(...) Dies ist deshalb möglich, weil die Zivilisationsmuster
mit ihren Rezepten typische Lösungen für typische Probleme liefern, die
jedem typisch Handelnden zugänglich sind."[9] Die Rede ist hier von
Stereotypen und Vorurteilen, ihrem Sinn, ihrer Funktionsweise, ihrer
Aufgabe.
Kultur- und Zivilisationsmuster sind Anhäufungen von Typologien.
Gerade sie sind es, die den sie gebrauchenden Individuen
Verhaltenssicherheit liefern. Sie vergrößern, so nennt es Schütz, die
objektiven Chancen für die Wirksamkeit eines Rezepts vor allem dann,
wenn man sich an dieses hält, sich also typisch verhält. Im
Alltagsbewusstsein der Handelnden sind jene vorhin erwähnten Regionen
des Wissens "über etwas", der bloßen Bekanntheit, des eigentlich
Unvertrauten durch sie bestimmt. Die besondere Situation des Fremden
verwehrt es ihm, sich auf die mitgebrachten Typologien blind verlassen
zu können. "Für den Fremden haben die beobachteten Handelnden in der
Gruppe, welcher er sich nähert, nicht - wie für deren Mit-Handelnde -
eine spezielle vorausgesetzte Anonymität, nämlich Leistende typischer
Funktionen zu sein, sondern sie sind für ihn Individuen. Andererseits
neigt er dazu, rein individuelle Züge als typische anzusehen. Daher
konstruiert er eine soziale Welt der Pseudoanonymität, Pseudointimität
und Pseudotypizität."[10]
Darum sei der Fremde verunsichert, reagiere zögerlich und
misstrauisch, wo von ihm nichts als Routine erwartet werde. Diese
Haltung bringt Missverständnisse in der Selbst- und Fremdwahrnehmung
mit sich. Den Einheimischen mag es erscheinen, als zögere der Fremde
deshalb, weil er die neue Gruppe mit den Standards beurteilt, die er
von zu Hause mitbringt. Die Rede von der Ostalgie, um bei den
Ostdeutschen zu bleiben, unterstellt ja nicht nur Rückwärtsgewandtheit.
Das eigentliche Ärgernis entsteht aus der Befürchtung, das Mitgebrachte
werde nicht nur zur Auslegung genutzt, sondern die Neuankömmlinge
wollten das Vorgefundene nach Maßgabe ihrer vermeintlich kritischen
Einstellung verändern. Angesichts des Bildes, das die Einheimischen vom
Immigranten haben, also in unserem Fall des Bildes der Westdeutschen,
insbesondere der Eliten vom Ostler, entwickeln sich Ängste vor einer
Infizierung mit deren Habitus.
Der Fremde scheint also von zweifelhafter Loyalität zu sein - ein
für den Immigranten besonders schmerzhaftes Missverständnis. Es
entspringe "aus dem Erstaunen der Mitglieder der in-group, dass der
Fremde nicht die Gesamtheit von deren Kultur- und Zivilisationsmuster
als den natürlichen und angemessenen Lebensstil akzeptiert und als die
beste aller für jedes Problem möglichen Lösungen. Der Fremde wird
undankbar genannt, da er sich weigert anzuerkennen, dass die ihm
gebotenen Kultur- und Zivilisationsmuster ihm Obdach und Schutz
garantieren."[11]
Dabei sei zumindest in einem Übergangsstadium klar, dass diese
Muster dem Immigranten eher ein Labyrinth darstellen und darstellen
müssen, "in welchem er allen Sinn für seine Verhältnisse verloren
hat."[12] Wenn von den Ostdeutschen generell Dankbarkeit erwartet wird,
ist das also nicht nur Ausfluss eines Machtgefälles zwischen Ost und
West und der Tatsache geschuldet, dass der Westen als kulturell
überlegen gilt. Auch der den USA dankbare Schütz hat wohl (wie viele
andere Immigranten) die Erfahrung gemacht, dass sein Verhalten nicht in
diesem Sinne interpretiert wurde. Wie auch immer die konkreten
Konstellationen sind - dem Einheimischen muss der Fremde fremd
erscheinen. Im konkreten Fall wird dieser Eindruck noch dadurch
verstärkt, dass schon das westdeutsche Vorwissen die Ostler zu Fremden
machte und sich darin bestätigt sieht. Der Immigrant dagegen weiß und
fühlt sich als Fremder.
Es versteht sich und ist hoffentlich deutlich geworden, dass an der
Figur des Fremden in dem hier beschriebenen Sinn allgemeine
Verhältnisse von Fremdheit und Vertrautheit, von Eigenem und Fremden
beispielhaft behandelt wurden. Einige theoretische und möglicherweise
auch politische Schlussfolgerungen ergaben sich schon wie von selbst.
An zwei Punkten soll aber nachgehakt und vor allem das politische
Potential deutlicher herausgearbeitet werden.
Dazu wird die Perspektive erweitert. Erschien bisher der
Ostdeutsche als Sonderfall des Fremden, so soll er nun nur als
Sonderfall des zeitgenössischen Immigranten in Deutschland betrachtet
werden.
Am Ansatz von Schütz hat vor allem die Rolle des Typischen
interessiert, die im Verhältnis zum Fremden vor allem als Stereotype
und Vorurteile diskutiert werden. Nach gängiger, politisch-korrekter
Meinung müssten diese abgebaut werden, am besten durch Begegnungen mit
den Fremden. Wer Fremden niemals begegnet, so der Umkehrschluss, könne
seine Vorurteile auch nie korrigieren. Als Vorurteile gelten
ausschließlich negative Typisierungen, die den Fremden als feindlich,
schlecht, unterlegen erscheinen lassen. Hier soll zum ersten Mal
eingehalten werden. Auch Vorurteile positiven Inhalts sind potentiell
falsch, da sie aber scheinbar nicht stören, werden sie politisch nicht
nur nicht verurteilt, sondern manchmal sogar gefördert. Es sei an die
Figuren des "guten Amerikaners" im Westen und des "guten
Sowjetmenschen" im Osten erinnert. Mit Schütz hat sich eine solche
Dichotomie wissenschaftlich und politisch erledigt. Entscheidend ist
die Rolle von Typisierungen im Alltagsleben, die Handeln wie
Sinngebungen zum großen Teil organisieren. Funktionieren sie nicht, wie
eben beim Fremden und Einheimischen erläutert, ist das für beide Seiten
problematisch und zwar unabhängig von konkreten Inhalten.
Die Meinung, aus Begegnungen mit Fremden entstehe wie von selbst
Einverständnis, ist aus dieser Perspektive eher erstaunlich als nahe
liegend. In der Arbeit "Strukturen der Lebenswelt" wird in einer
Fußnote vermerkt, manche Studien stellten den geringen Einfluss
persönlicher Kontakte auf soziale Stereotypen mit etwas naiver
Verwunderung fest.[13]
Im Gegenteil, die Begegnung, die Notwendigkeit miteinander zu
kommunizieren, produziert per definitionem erst das Bewusstsein von
Fremdheit. Da, wie oben ausgeführt, das Herstellen von Vertrautheit
mühsam ist, kann die Reaktion auch im Rückzug in
"Parallelgesellschaften" bestehen. Wie lange kann man es, um ein
Beispiel zu nennen, in Alltagssituationen ertragen, mit einem Ausländer
zu kommunizieren, der viel langsamer spricht als man selbst, weil er
erst nach Worten suchen muss? Wann verliert man auf dem S-Bahnsteig, in
der Schule, im Seminar die Geduld, nach zwei Minuten oder nach dreißig?
Das mag sich nach dem Zeitbudget richten, dem Sinn des Zusammentreffens
oder nach der kulturellen Kompetenz der Beteiligten - interessant ist
aber eigentlich nur, dass in dieser Situation auch bei bestem Willen
Fremdheit ausgedrückt wird.
Bis zum heutigen Tag gelten die Ostdeutschen im Vergleich zu den
Westdeutschen als fremdenfeindlicher, vorurteilsbehafteter. Unmittelbar
nach 1990 schien das am geringeren Ausländeranteil und den mangelnden
Reisemöglichkeiten zu liegen, so die gängige Meinung. Auch hier findet
sich also die von Schütz als "etwas naiv" eingeschätzte Erwartung,
persönliche Begegnungen würden die Menschen eines besseren belehren. Es
liegt nahe, dass auch das Gegenteil eintreten kann und am Anderen nur
wahrgenommen wird, was das Vorurteil bestätigt.
Nimmt man den Ansatz von Schütz ernst, wäre es nur in einem
allerdings mehr oder weniger langfristigen Prozess konkreten
gemeinschaftlichen Handelns möglich, die Entfremdung abzubauen. Am
umgekehrten Fall wird vielleicht besser deutlich, was gemeint ist. Die
Herstellung des Eigenen im Prozess des Aufwachsens erfolgt zwar immer
auch in der Bestimmung dessen, was das Nicht-Eigene, das Andere ist.
Ziel ist jedoch, das Fremde auszusondern, draußen zu lassen und so
geschieht es auch. Das Eigene ist "nicht-fremd". Das Fremde zuzulassen,
ist aufwendig.
Den gesamten Alltag zu teilen, um Fremdheit abzubauen und ein
gemeinsames Eigenes aufzubauen wäre aus dieser Perspektive zwar die
beste, aber keine unproblematische Lösung mit Erfolgsgarantie. Hier
kann, muss aber nicht jene Vertrautheit entstehen, aus der es fast kein
Entweichen gibt. Allerdings generieren diese Gemeinschaften wiederum
Stereotype und Vorurteile vom Anderen. So antwortete der Komiker Ogün
Bastürk kürzlich in einem Interview auf die Frage: Sie treten eher
selten im Osten der Republik auf. Was ist Ihre Botschaft an die
Ostdeutschen: "Werdet Westdeutsch! Ja, weil so, weltoffen."14
Srubar empfiehlt angesichts solcher Schlussfolgerungen, die
bisherige wissenschaftliche wie praktische Strategie des Ausräumens und
Verhinderns von Vorurteilen zu verlassen. Stattdessen gelte es,
theoretisch wie empirisch die Genese von Vorurteilsstrukturen zu
untersuchen und deren Sinn zu erfassen.[15] Nur diese Perspektive trage
der Tatsache Rechnung, dass das alltägliche Leben überwiegend
vorbewusst verläuft. Selbst die überzeugendsten rationalen Argumente
können hier praktisch unwirksam bleiben und weil dies so ist, scheint
immer weitere "Aufklärung" vonnöten, die möglicherweise wieder
enttäuschend ins Leere läuft.
Eine zweite Schlussfolgerung bezieht sich auf die spezifische
Zeitlichkeit der hier diskutierten Prozesse. Fremdheit, so wurde vorhin
postuliert, könne gerade durch gemeinsame Erlebnisse mit den anderen
wachsen. Für Schütz resultiert dies zwingend aus der Lage des
Immigranten. Er wird entfremdet, weil er den common sense nicht teilen
kann und er muss sich entfremden, um genau diesen Zustand aufzuheben.
Fast scheint es so, als ob er dabei zum Ethnologen würde. Jedoch geht
es in erster Linie um die Bewältigung des Alltags, wo die mitgebrachten
Wahrnehmungs- und Auslegungsschemata angewandt werden, auch wenn sie
nicht passen. Der Immigrant hat zunächst keine anderen. Gerade die
Unangepasstheit zwingt ihn aber nicht nur in eine Beobachterposition
gegenüber der Zielkultur, sondern auch gegenüber dem Mitgebrachten.
Nicht zufällig ist es deshalb, dass Mitte der 1990er Jahre beobachtet
wurde, "wie erst jetzt die DDR entsteht". Es gab den bekannten Aufsatz
von Michael Rutschky im "Merkur".[16] Ein Sonderheft der Zeitschrift
"Der Alltag" erschien unter diesem Titel, eingeschlossen ein Interview
mit Horst Groschopp. Rutschky hatte Kulturelles im Sinn, eine
Ost-Provinz, eine neu entstehende Ethnie als "Erfahrungs- und
Erzählgemeinschaft", die es in der DDR so gar nicht habe geben können.
Sie grenze sich damit vom Westen ab, der sich von ihr abgrenze.
Groschopp meinte dagegen, die Ostler wollten sich angesichts der
Hegemonie des Westens endlich vergewissern, "wo sie herkommen und
vielleicht hinwollen".[17]
Wenn jeder Immigrant situationsbedingt auf die mitgebrachten und
bisher unbefragt funktionieren Kultur- und Zivilisationsmuster zu
reflektieren gezwungen ist, überschreitet er damit den Horizont der
alltäglichen Lebenswelt. Worüber bisher grundsätzlich nachzudenken
nicht nur nicht notwendig, sondern auch unmöglich war - nun ist es
unabdingbar, um die anstehenden Übersetzungsleistungen irgendwie zu
bewältigen. Hier mit Begriffen wie Erinnerung oder Sicherung von
kultureller Identität zu operieren, verbreitet mehr Optimismus als
vielleicht angebracht ist. Die Objektivierungen des bisher
Selbstverständlichen zerstören ja die Identität und machen schmerzhaft
deutlich, dass der Immigrant im Nirgendwo lebt, im Nicht-mehr und
Noch-nicht. Das Noch-nicht kann sich dabei als Generationenfrage
erweisen. Bekanntlich kommen erst die Enkel wieder im Reich des
Selbstverständlichen an.
Drittens und zum Abschluss. Schütz war gewissermaßen der ideale
Immigrant. Er brachte nicht nur praktisch die besten Voraussetzungen
zur Bewältigung dieser Situation mit, sondern war auch noch in der
Lage, sie theoretisch zu deuten. Praktisch hat das offensichtlich wenig
genutzt - er war und blieb ein Fremder, besser gesagt, sein Fremdsein
wandelte sich, ohne zu verschwinden. Das mag ihn bewogen haben, nicht
über Ankommen in der anderen "Kultur", sondern über jene Faktoren zu
sprechen, die sie be- und verhindern, die "typische Situation" eben. Es
ihm nachzutun kann theoretisch wie praktisch von einigem Nutzen sein.
Theoretisch wird begründet, dass alle Menschen Erfahrungen von
Fremdheit machen, Srubar schlägt dazu vor, zwischen "existentialer" und
"komparativer Fremdheit" zu unterscheiden.[18] Dies impliziert, weiter
gedacht, essentialistische Vorstellungen von Kultur zu verabschieden.
Sich die "typische Situation" des Fremden anzuschauen, könnte
helfen, politische Strategien realitätsnäher zu machen, in dem
analysiert wird, wovon diese letzten Endes ausgehen, ob sie diese
"typische Situation" in ihren Konsequenzen berücksichtigen. Gegenwärtig
wird sowohl unter kulturrelativistischer (wir brauchen ein muslimisches
Altersheim) wie kulturuniversalistischer (auch türkische Frauen haben
ein Recht auf Selbstbestimmung) Flagge gekämpft. Die entsprechenden
theoretischen Diskurse bilden nur ab, wie praktisch argumentiert und
gehandelt wird. Eines der stärksten kulturrelativistischen Argumente
behauptet, die hegemoniale Kultur sei weder willens noch in der Lage,
sich auf die anderen und deren kulturelles Selbst einzulassen. Im und
durch den Vergleich würden die "Anderen" von diesem "Anderen"
enteignet. Die Alternative sei, die eigene Kultur irgendwie zu
transzendieren und als für Erfahrungen offener teilnehmende Beobachter
am "Leben der Anderen" sich diesen anzuverwandeln (was nebenbei im
gleichnamigen Film geschieht). Wir kennen diese Diskussionen und wissen
um die praktischen Grenzen. Mit Schütz lassen sich auch die
theoretischen formulieren. Dafür hat dessen Konzept nach Meinung von
Srubar eine frohe Botschaft bereit: Alle Übersetzungsleistungen sind im
Bereich der alltäglichen Lebenswelt von vornherein "suboptimal". Sowohl
in inter- wie in intrakulturellen Verständigungssituationen werde
Reziprozität nicht erreicht.[19] An den Rändern der Gewissheiten lauert
immer das Befremden. Wir haben es also mit einer unendlichen Aufgabe zu
tun, die zwar besser oder schlechter, aber nicht grundsätzlich gelöst
werden kann. Im Fall des Immigranten wie übrigens auch der
"Eingeborenen" ist es zumindest eine lebenslange.
Anmerkungen
[1] Zitate aus diesem Text werden im Folgenden nur noch mit der
Seitenzahl ausgewiesen. Genutzt wurde folgende Ausgabe: Der Fremde. Ein
sozialpsychologischer Versuch, in: Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze
II. Studien zur soziologischen Theorie (hrsg. von Arvid Brodersen), Den
Haag 1972 [2] Ilja Srubar: Unterwegs zu einer vergleichenden
Lebensform-Forschung (2003), in: Ders.:Kultur und Semantik, Wiesbaden
2009, S. 101. Verwiesen sei auf meine entsprechende Rezension auf
"Kulturation".
[3] S.57
[4] Irene Böhme: Die da drüben. Sieben Kapitel über die DDR, Berlin 1988, S. 15/16
[5] S. 59
[6] S. 62
[7] S. 65
[8] Blick-Wechsel Ost-West. Beobachtungen zur Alltagskultur in Ost- und Westdeutschland, Tübingen 1992, S. 17
[9] S. 65
[10] S. 67
[11] S. 68/69
[12] S. 69
[13] Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 1, Frankfurt am Main 1979, S. 116
[14] Mikael Krogerus: "Ich bin der allergrößte Türke von allen, ich schwör", Freitag vom 2. Dezember 2010, S. 23
[15] Ilja Srubar: Strukturen des Übersetzens und interkultureller
Vergleich" (2002), in: Ders.: Kultur und Semantik, Wiesbaden 2009, S.
168
[16] Michael Rutschky: Wie die DDR erst jetzt entsteht. Vermischte Erzählungen, Merkur, Heft 9/10, Sept./Okt. 1995, S. 858
[17] Horst Groschopp: Die Einsamkeit des Kulturwissenschaftlers, Der Alltag, Heft 72, 1996, S. 39
[18] Ilja Srubar: Unterwegs zur vergleichenden Lebensform-Forschung (2003), ebd., S. 101
[19] Ilja Srubar: Strukturen des Übersetzens und interkultureller Vergleich (2002), ebd., S.
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