Thema | Kulturation 1/2003 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dietrich Mühlberg | Eine Diskussion über "die Kultur der Deutschen" - Zur Einleitung der Tagung
| Diese
kulturwissenschaftliche Arbeitstagung schließt eine Vortragsreihe ab,
die der Arbeitskreis Wissenschaft der KulturInitiative'89 über zwei
Jahre hin betrieben hat. Einleitend sollen einige der Erfahrungen
mitgeteilt werden, die die Veranstalter dabei gemacht haben. Da etliche
der treuen Mitwirkenden anwesend sind, wird mein Versuch eines Resümees
sicher korrigiert und ergänzt werden.
1. Kurze Erläuterung der Absichten
Der Titel unserer Tagung - "Kulturen der deutschen Gesellschaft am
Beginn des 21. Jahrhunderts" - mutet vielleicht altmodisch und zugleich
leicht größenwahnsinnig an. Für marxistisch-antiquiert könnte diese
Überschrift gehalten werden, weil sie Kultur offensichtlich als eine
Art Zubehör und Ergebnis von Gesellschaft versteht und nicht, der Mode
folgend, Kultur als den wissenschaftlichen Leitbegriff in die Mitte
rückt, weil erst über diese Zentralkategorie alles andere erschließbar
wird. Tatsächlich ist es etwas schlicht, "Gesellschaft" als den
grundsätzlichen Strukturzusammenhang all derer zu verstehen, die heute
in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland leben. Denn
selbstverständlich ist diese Bezugseinheit in sich gegliedert - nach
Teilgesellschaften, Makrogruppen, Milieus, nach Geschlechtern und
Generationen, nach Ethnien, Regionen und Landschaften. Dennoch: es gibt
sie, die deutsche Gesellschaft und der kulturwissenschaftliche Blick
aufs Detail berücksichtigt das.
Zugleich ist der Titel unseres Unternehmens unangemessen anspruchsvoll,
denn auf einer kleinen Arbeitstagung kann ja kein Jahrhundertpanorama
vom Zusammenspiel der vielfältigen Kulturen präsentiert werden, die von
all jenen Menschen gelebt und hervorgebracht werden, die heute in die
deutsche Gesellschaft strukturell eingebunden sind. Es sollte damit
allein die Überzeugung ausgedrückt werden, dass "die Kultur" der
"deutschen Gesellschaft" - beide haben sich als sinnvolle Begriffe
erwiesen - nur als Summe und Wechselspiel verschiedener Kulturen
verstanden werden kann. Gesagt werden sollte auch, daß dieser
kulturelle Zustand der Deutschen im nun begonnenen Jahrhundert wohl
anders organisiert sein dürfte, als er es in der zurückliegenden Epoche
gewesen ist. Allem Anschein nach verfügen wir jedoch über kein Modell
für dieses Wechselspiel und keinen überzeugenden Vorschlag, worin denn
"die Summe" oder "das Ganze" bestehen könnte. Den so stark belasteten
Begriff der Nation möchten viele dafür nicht auf neue Weise
mobilisieren, selbst vor dem Wort "deutsch" zucken wir eher zurück und
so behelfen wir uns mit der politischen Vokabel vom "Bund", um einen
Geltungsbereich abzustecken. Statt deutsch und national sagen wir
lieber "bundesweit" und enthalten uns damit jeder anderen Festlegung
als der topografischen. Was "bundesweite Kultur" sein könnte, mögen
Kulturwissenschaftler nicht auf einen zusammenfassenden Begriff
bringen. Sie blättern lieber in den Unterverzeichnissen und verbleiben
- so sie das überhaupt für sinnvoll halten - in der Phase beobachtender
Bestandsaufnahme.
Dennoch: worin denn das für die deutsche Gesellschaft spezifische
Resultat der Wechselwirkungen ihrer inneren kultureller Kräfte bestehen
könnte, scheint eine der dauerhaften Streitfragen zu sein, die uns seit
der vor einem Jahrzehnt eingetretenen neuen Weltlage und nach dem
Anschluß der DDR an die Bundesrepublik beschäftigt haben: was stellt
dieses "Deutschland" in Europa und in der Welt kulturell dar, was ist
es für die verschiedenen Gruppen seiner Bürger und für jeden einzelnen,
der hier lebt?
2. Drei Jahre Debatten über deutsche Kulturen
Diese Nachfrage wach zu halten und bei der Betrachtung vieler einzelner
Felder zu erwägen, war die Absicht einer Reihe von
kulturwissenschaftlicher Debatten, die seit dem Herbst 1999 läuft.
Ihren Anlass und ihr Motiv hatte dieses nun dreijährige Projekt in
einer keineswegs lokalen Misere. Seit Anfang der 90er Jahre war die
KulturInitiative '89 (eine Vereinigung vornehmlich von
Kulturwissenschaftlern, Kulturpolitikern und Kulturarbeitern)
unermüdlich dabei, kulturpolitische Debatten anzuzetteln. Schließlich
füllte sie - neben den "Ostdeutschen Kulturtagen" - mehrmals im Jahr
den Saal der Stadtbibliothek. Aber dann ließ nach Mitte der 90er das
Interesse daran merklich nach. Die glanzlose berlinische Stadtpolitik
hatte sich mit dem gegebenen Zustand abgefunden und der Streit um
kulturpolitische Konzepte lief wegen schrumpfender Handlungsspielräume
immer offensichtlicher ins Leere und wurde so unergiebig, wie er es bis
heute ist. Inzwischen zwingt die Haushaltslage alle dazu, sich auf
Abwehrstrategien zu konzentrieren. Gleichzeitig blockiert die
gesellschaftspolitische Dauerkontroverse "Neoliberalismus versus
Sozialstaatskonservatismus" allenthalben konstruktives Denken - ein
zukunftsfähiges Gesellschaftsbild steht hinter keiner der Positionen
und wird auch anderswo nicht sichtbar. Vielleicht eine falsche
Erwartung? Könnte der mitunter schwer zu entschlüsselnde
"Verbalakrobat" Sloterdijk den Punkt getroffen haben, als er sich zu
der einfachen und klaren Aussage entschloß, es gäbe jenseits des
Gegebenen gar keine anderen Möglichkeiten? "Man ist endgültig aus dem
Zeitalter der großen Alternativillusionen herausgetreten und muß sie
durch ein kühles Sachfragenbewußtsein ersetzen ..."[1]
Das wußten wir vor fünf Jahren noch nicht so genau und die Reaktion
unseres Kulturvereins auf die einsetzende kulturpolitische Starre
bestand in dem Versuch, in kleiner Runde und für sich eine
Verständigung über den kulturellen Zustand der deutschen Gesellschaft
in Gang zu halten. Damit ging die Federführung vom Arbeitskreis
Kulturpolitik an den Arbeitskreis Wissenschaft. Der sollte kein
akademisches Oberseminar organisieren, sondern kluge und teils auch
prominente Leute aus verschiedenen Disziplinen und Szenen einladen und
sich dabei bemühen, auch mögliche politische Implikationen der
einschlägigen Befunde sichtbar werden zu lassen und Politik, soweit sie
uns denn wahrnahm, auch anzuregen.
Das Spektrum der Themen war breit. Unter anderem diskutierten wir
Modelle deutscher Kulturgeschichte nach 1945 und die Perspektiven von
Kulturwissenschaft, beschäftigten uns mit politisch-kultureller
Hegemonie in Ostdeutschland und fragten, inwiefern kulturelle Vielfalt
eine Ressource sein könnte. Wir verglichen Soziokultur in West und Ost,
beleuchteten die Schwierigkeiten der Ostdeutschen mit ihrer Geschichte
und fragten nach den Kulturen in Ostdeutschland. In verschiedenen
Anläufen wurde Europa kulturell definiert. Wir griffen die Frage in
Bausingers Buchtitel - "Wie deutsch sind die Deutschen?" - auf und
bestimmten das Lokale als eine totale Erfahrung. Perspektiven des
Kulturföderalismus beschäftigten uns ebenso, wie die Frage, inwiefern
die Systemwechselprozesse in Ostdeutschland und Osteuropa vergleichbar
sind. Verglichen wurden alltagskulturelle Phänomene in Deutschland und
den USA, die wissenschaftlichen Eliten Ost und West wie die Reaktionen
auf Huntingtons Buch. Wolfgang Engler erläuterte seine Thesen zur
Auflösung der arbeiterlichen Gesellschaft im Osten, Detlef Pollack die
deutschen Konfessionsgrenzen und Wolfgang Ruppert die Dauerhaftigkeit
des Künstlerhabitus. Fast alle Beiträge (und meist noch mehr zum Thema)
waren auf unserer Homepage nachzulesen, die wir inzwischen in ein
Online-Journal verwandelt haben, das Sie von der nächsten Woche an
unter der Adresse www.kulturation.de finden können. Die Beiträge dieser
Tagung werden dort nachzulesen sein.
3. Ein Westen als Maßstab?
Den Auftakt unserer Debatten im November vor drei Jahren bildete eine
heftige Kontroverse (zwischen zwei ausgewiesenen Kennern der
ostdeutschen Spezies), die uns dazu anregte, unsere Vorstellungen "vom
Westen" zu überprüfen. Wolfgang Engler hatte mit seinen Thesen
„Deutschland vor der Wahl: die Vereinigten Staaten oder Europa?“ eine
Alternative aufgemacht. Die Deutschen stünden - wie alle Europäer - vor
der Entscheidung, sich kulturell den USA anzuschließen oder sich zum
positiven Kern europäischer Zivilisation zu bekennen. Die tendiere, im
Alltagsleben tief verwurzelt, zu einer Verantwortungs- und
Pflichtgesellschaft mit sozial ausgleichenden Institutionen, wohinter
allemal die Utopie materieller Gleichheit aufscheine. Darum könne es
auch nicht verwundern, daß - bei allen Unterschieden - der kulturelle
Kanon der Ost- und Westdeutschen sich als grundsätzlich gleich erweise.
Dies werde aber erst jetzt, in der aktuellen Konfrontation mit dem
US?amerikanischen Gesellschaftsmodell bewußt.
Als er dann noch die meisten der in Europa bestimmenden Politiker als
Statthalter des Neoliberalismus in der eigenen Gesellschaft
identifizierte, mußte Albrecht Göschel grundsätzlich dagegen halten.
Von Ostdeutschen werde mit solchen Vorstellungen das Ergebnis der
Westbindung der alten Bundesrepublik in Frage gestellt und ein
vormoderner etatistischer Paternalismus als Ideal für einen Kampf gegen
die angelsächsische Demokratie beschworen. Dies sei nicht hinzunehmen,
es könne aber erklärt werden, was solche Ahnungslosigkeit und zugleich
gefährliche Demokratiefeindschaft bei Ostdeutschen verursacht habe.
Ausgebliebener Wertewandel habe sie beim Typus des missionierenden
Gemeinschaftsmenschen verharren lassen, unfähig zu distinktivem
Selbstverständnis, das das Andersein nicht nur toleriere, sondern als
unerläßliches Agens der Selbstbestimmung brauche. Fliehe der eine darum
den Gemeinschaftsmief pflichtbewußter Kollektivmenschen, wolle der
konfliktscheue Ostmensch nach wie vor mit seiner Pflichtethik
gemeinschaftlich die Welt irgendwie in Ordnung bringen. Das führe ihn
in eine Frontstellung gegen den Liberalismus, den er als Angriff auf
vermeintliche Sicherheiten missverstehe. Wer dabei war erinnert sich
sicher, welche Bewegung im Saal war und es so gut wie jeden der
Anwesenden drängte, dazu seinen Kommentar abzugeben.
Offenbar wurde schon vor drei Jahren gespürt, was uns bald immer
intensiver beschäftigen sollte: ob Ostdeutschland denn eine Chance
habe, "dem Westen" kulturell anzugehören und welcher Westen denn da
gemeint ist. Sollte "Westen" der gesuchte kulturelle Oberbegriff sein -
das einigende Band eines gesellschaftlichen und kulturellen
Großzusammenhangs, der uns vom "Osten" abgrenzt und verhindert, wieder
in die alte Position der Mitte zu geraten? Während Göschel jenen Westen
meinte, in den die Westdeutschen - aus dem alten Deutschland der Mitte
kommend - unter Mühen übergetreten sind, hatte Engler da zweierlei
Westen ausgemacht und die Verwandtschaft der Ostdeutschen mit dem
"alten Westen" herausgekehrt. Inzwischen kommt der ganze europäische
Osten in den Westen, was den den schon zitierten Peter Sloterdijk
unlängst) dazu veranlaßt hat , zwischen einem ersten, zweiten und
dritten Westen zu unterscheiden. Er nun sieht den "alten", quasi
unmodernen Westen in den USA, und (eben noch Realismus anmahnend),
äußerte er sich nun programmatisch: Auf unserem Kontinent müsse die
"Absage an die Menschenverachtung, die allen Imperialismen innewohnt,
politische Gestalt annehmen". Die Unterscheidung vom "ersten Westen"
jenseits des Atlantik sei nicht antiamerikanisch, sondern kennzeichne
nur eine von Europa geschichtlich erworbene heilsame Furcht vor sich
selbst, einen neuen europäischen Typ von Westlichkeit". Ähnlich wie in
unserer von zwei Monaten angelaufenen neuen Vortragsserie, die die
kulturellen Beziehungen in Ostmitteleuropa thematisiert - sieht er
einen "dritten Westen" in jenen Ländern Ost- und Südeuropas, "die nach
unserem Vorbild das Zugleich von politischer Demokratie,
kapitalistischer Wirtschaftsweise und konsumistischer Lebensform
versuchen".[2]
4. Deutsche Ost-West-Spannungen
Die hier angedeutete Anfangskontroverse zeigte uns gleich fast alle
Dimensionen des "innerdeutschen" Kultur-Problems, dessen Spannungsbogen
von der zwiespältigen atlantischen Wertegemeinschaft bis zur
vormodernen Mentalität des ahnungslosen Ostdeutschen reicht. Das
Bewusstsein dieser Weite bestimmte den Horizont fast aller folgenden
Debatten, immer wieder ist wenigstens versucht worden, die Beziehungen
zwischen den beobachteten mikrokulturellen Zuständen und Abläufen
einerseits und den verschiedenen Schichten kultureller Makroprozessen
und Großstrukturen aufzuweisen, an denen sie möglicherweise ihr Maß
finden.
Selbstverständlich kann eine Vortragsreihe mit immer wieder neu
ansetzender Debatte das Thema nicht schlüssig behandeln, sondern
bestenfalls das Problembewusstsein schärfen oder wenigstens Erstaunen
hervorrufen. Man denke nur an den Tumult, den der Kultursoziologe
Jürgen Gerhards mit seinem Dreiervergleich (zwischen USA, West- und
Ostdeutschland) auslöste, der die unterschiedlichen Lebensziele und
familiären Wertvorstellungen gegenüberstellte, wie sie Mitte der 90er
Jahre in weltweiten soziologischen Untersuchungen ermittelt worden
sind. Da erwiesen sich die Ostdeutschen in Erziehungsstil und
Sexualverständnis als die Liberalsten, teilten aber - obwohl
mehrheitlich atheistisch - mit den religös-autoritären US-Amerikanern
ein irrationales Arbeitsethos. Als diese hohe Bewertung der Arbeit
durch einen kleinen Präsentationsfehler des Soziologen für einen Moment
fälschlich der westdeutschen Population zugeschrieben wurde,
protestierten die anwesenden Ostdeutschen nicht nur, sondern erklärten
die Ergebnisse der zugrundliegenden UNESCO-Studien schnell zur
Fälschung und verdächtigten den vortragenden westdeutschen(!)
Kultursoziologen sogar einer gewissen Mittäterschaft.
Diese Episode ist aus drei Gründen erwähnenswert. Zunächst zeigt sie -
wie andere Ost-West-Mißverständnisse auch - wie anregend das
Zusammentreffen zweier deutscher Kulturen sein kann. Jürgen Gerhards
war jedenfalls erstaunt und erfreut zugleich, über den heftigen
interpretatorischen Streit, den seine Zahlenkolonnen in der
deutsch-deutschen Debatte auszulösen vermochten.
Detlef Pollack hat jüngst in seinem Essay über die Vorteile
ostdeutscher Fremdheit gegenüber der westdeutschen Realität und Kultur
geschriebenund dabei Alfred Schütz bemüht: "Lange bevor sich der
Einheimische durch die Symptome sozialer Veränderungsprozesse irritiert
fühle, spüre der Fremde das Knistern des sozialen Wandels und
registriere er 'mit schmerzlicher Klarsichtigkeit' das Heraufkommen
einer Krise, die die Gültigkeit des Gewohnten bedroht." [3] Allerdings
widmet sich Detlef Pollack nicht dieser Klarsicht, sondern fragt nach
den vielfältigen Ursachen dafür, warum dann von Ostdeutschland kaum
geistige Impulse für Gesamtdeutschland ausgehen. Vielleicht wird uns
dieses Ost-West-Problem bewegen, wenn wir heute und morgen über Berlin
reden, das ja als einmaliges Ballungszentrum ganz unterschiedlicher
"Fremder mit der Anlage zur Klarsicht" gelten kann.
Doch noch einmal zurück zum einhelligen Protest der Ostdeutschen gegen
die Unterstellung, ausgerechnet sie würden die Freizeit höher als die
Arbeit schätzen. Dies scheint mir gegen Wolfgang Englers These zu
sprechen, sie wären jene Avantgardisten, denen ein Leben ohne Arbeit
eher möglich sei, als denen im ersten und zweiten Westen. Aber
vielleicht gilt mein Einwand nur für den innerdeutschen Kulturvergleich
und es sähe schon anders aus, wenn diese spezielle kulturelle
Verwandtschaft von Ostdeutschen und US-Amerikanern näher untersucht
würde. Übrigens auch eine Lehre unserer unvermeidlich immer wieder
aufflackernden Ost-West-Debatten: der Ost-West-Vergleich ist - wie Karl
Schlögel auf den ganzen "dritten Westen" verallgemeinernd ausdehnt -
eine "defiziente Form der Erkenntnis". Und dies, weil er dem "dritten
Westen" keine originäre Entwicklung zugesteht, weil er unvermeidlich
den ersten und zweiten Westen zur Norm macht. Hinzuzufügen bliebe: wie
es auch die paradigmatischen Begriffe "Transformation" und
"Übergangsgesellschaft" tun. [4]
Dies sollte sich als entscheidender Punkt erweisen. Auch an diesem
kleinen interpretatorischen Streit wurde nicht nur sichtbar, auf welch
verschiedenen Ebenen und Schichten sich kulturelle Differenzen,
Unterschiede, Analogien, Ähnlichkeiten und Konkordanzen ausmachen
lassen, sondern auch, daß die "westlichen" Großtheorien darüber
hinweggehen und das soziologisch-gesellschaftstheoretische Paradigma,
das da Individualisierung und Globalisierung als die zwei
zusammenhängenden Entwicklungsmodi aller modernen Gesellschaften sieht,
kaum allein dazu geeignet wäre, das Wechselspiel von Kultur und
Gesellschaft aufzuklären. Daran orientierte kulturwissenschaftliche
Konzepte verfallen schnell der Tendenz, die Makroprozesse als eine Art
allgemeinen Rahmen sachlich auszublenden oder eher noch als eine
äußerliche Gefährdung zu verstehen. In dieser Perspektive erscheint die
Globalisierung als Ursache für ein Gegeneinander der Kulturkreise,
lässt neue gefährlich militärische Allianzen entstehen und dereguliert
die wirtschaftlichen Prozesse mit partiell oder weltweit katastrophalen
Folgen. Bekanntlich wird das augenscheinlich außer Kontrolle geratende
Gesellschaftsganze inzwischen als Risikogesellschaft interpretiert,
weil aus dem kollektivistischen sozialen Handlungsantrieb der
materiellen Not, der Gerechtigkeit einfordert, die lähmende Angst aller
geworden sei, die vor den Gefahren gleich sind.
5. Der Hang zum Kleinteiligen: Region und Raum
Wer kulturwissenschaftlich auf dieser Abstraktionsebene noch mitreden
will, muß ein starkes ethisches Sendungsbewußtsein haben und sich
entschließen, auf die eigentlichen Freuden phänomenologischen
Entdeckens, sinnlichen Forschens, auf die Überraschungen des
kulturellen Alltags zu verzichten. Die Neigung dazu ist weder bei den
empirisch Forschenden noch bei den Kulturhistorikern sonderlich groß
und so konzentriert sich deren Aufmerksamkeit meist auf die leichter zu
fassenden mikrokulturellen Phänomene der "zweiten Moderne". Auch wir
konnten diesem Trend nicht widerstehen und haben uns mit der
thematischen Einschränkung der Tagung auf Stadt und Region der Mode
angeschlossen, den Raum kulturwissenschaftlich neu zu entdecken.
Auch diese Hinwendung zum Raum scheinen wir der neuen deutschen
Situation zu verdanken. Denn während in den USA und in Frankreich die
Beschäftigung mit den Räumen der Gesellschaft schon länger Konjunktur
hatte und sich dort eine neue soziale Geographie ausbildete, die bald
auch die Cultural Studies beeinflußte, werden bei uns die räumlichen
Kategorien erst langsam wieder gesellschaftsfähig.
Aus bekannten Gründen war "deutsche Geographie" nach 1945 "echt
verboten", die Erdkunde beschäftigte sich besser mit physikalischen als
mit politisch-sozialen Phänomenen. Denn der Geographieprofessor
Albrecht Haushofer hatte seinem Privatschüler Adolf Hitler den
Zusammenhang von Volk und Raum zu eindringlich erklärt. Die
Zurückhaltung gegenüber der Geographie änderte sich in Westdeutschland
erst unter dem Einfluß der in den USA auflebenden Strömung der
"kritischen Geographen". Im Osten war das kein solches Problem, hier
wurde selbst die Geographie von der Partei zu einer marxistischen
Orientierung gezwungen. Als Philosophiestudent habe ich Mitte der 50er
ein Semester mit Kritik der Geopolitik und der Widerlegung von Ratzel,
Haushofer und Konsorten verbracht. Damals erfuhr ich auch, daß es Karl
Marx wohl von Heinrich Heine wußte, daß Räume sozial konstruiert
werden. Später war die "kulturelle Topographie" der DDR ein Dauerthema
und es wurde als sinnvoll angesehen, Kulturwissenschaft zusammen mit
dem Fach Geographie zu studieren. Dies auch, weil wir in den 70ern die
raumordnerischen Konzepte der sozialdemokratisch geprägten
Regionalplanung im Westen beobachteten, die im Zuge der "Neuen
Kulturpolitik" eindrucksvolle Modelle praktisch umzusetzen vermochte.
Für die nach historischen Landschaften organisierten Volkskundler der
DDR war der heimatliche Raum ohnehin konstitutiv, sie waren selbst bei
sich zu Hause zugleich immer "im Felde". Erst nach 1989 haben wir recht
begriffen, wie weit "die Raumfrage" eine Machtfrage ist.
Zu einer Art "räumlichen Wende" in vielen Disziplinen kam es, als
allenthalben die Globalisierung diskutiert worden ist. Während die
Nation, nationalstaatlich als Raum mit bewachten Grenzen definiert - an
Gewicht verlor, lebte das um 1989 beinahe endgültig erloschene
Interesse an der Region plötzlich wieder auf. Nicht etwa Nationen,
sondern die Regionen waren nun die "Knoten im globalen Netzwerk " -
"nodes in global network")[5].
Häußermann und Siebel beobachteten die "Kulturalisierung der
Regionalpolitik"[6] und identifizierten dabei das "regionale Milieu"
als den entscheidenden regionalen Entwicklungsfaktor. Sie definierten
es auf eine Weise, die für sozial orientierte Kulturwissenschaft
sympathisch und brauchbar ist. Karl Schlögel und andere dagegen
beobachten, daß Europa in bestimmten "Korridoren" zusammenwachse,
jenseits derer Ödnis drohe. Die Kategorien dieser neuen Geographie
klingen alle irgendwie kulturell. So wird unvermeidlich auf Kultur
verwiesen, wenn da von Lebensräumen regionaler Gemeinschaften oder von
lokalen Akteuren und "Identifikationsräumen" die Rede ist. Ästhetisch
konnotierte Wörter, wie Nähe und Ferne, bezeichnen heute soziale
Chancen, Peripherie und Zentralität konstituieren jetzt kulturelle
Topographien.
Als Karl Schlögel neulich den versammelten Literaturwissenschaftlern
des ZfL beinahe zehn Minuten lang aus Berliner Branchenverzeichnissen
vorlas, entgegnete er ihrem anschwellenden Unmut: dies ist "eine Übung,
um die räumliche Dimension der Geschichtewiederzugewinnen" und nur auf
diese Weise könne verstanden werden, welchen Verlust dieser städtische
Raum zwischen 1932 und 1947 erlitten habe. Zur Bekräftigung der
"räumlichen Wende" erklärte die Direktorin des Hauses (Sigrid Weigel):
"Der Raum ist der Freund der Kulturwissenschaft"[7]. Vielleicht gilt
auch die Umkehrung und die Kulturwissenschaft erweist sich hier als
Freundin des Raums. Jedenfalls wollen wir uns den kulturellen Räumen
mit dieser Tagung freundlich zuwenden - allerdings noch ohne einen
kulturwissenschaftlichen Raumbegriff voraussetzen zu können.
Im ersten Teil der Tagung wird es um Regionen und Teilkulturen gehen.
Einleitend wird auf die Beziehung eingegangen, in der der "Netzknoten"
Region zu anderen Raumordnungen, nämlich denen der Nation und ihrer
bündischen Ländertopographie steht. Danach werden Aspekte möglicher
Regionenbildung - reale Bildungen oder durch Zuschreibung entstandene -
behandelt. Der Situation entsprechend werden auch dabei wieder
kulturelle Eigenheiten der beiden deutschen "Großregionen" eine Rolle
spielen. Der Zweite Teil der Tagung ist dem städtischen Raum und seiner
Kultur gewidmet. Hier geht es zunächst um den geschichtlichen Wandel
von Stadtkultur auf den heutigen problematischen Zustand hin, der dann
spezieller an der deutschen Hauptstadt betrachtet werden soll.
6. "Das Deutsche" bleibt die offene Frage
Wie mein Rückblick vielleicht schon anzudeuten vermochte, ist mit der
Beschränkung auf kleinere Räume die Perspektive auf das Große und Ganze
nicht völlig ausgeblendet. Doch tritt die Frage deutlich zurück, wie
denn "das Deutsche" topographisch zu fassen wäre, was Deutschland heute
ist und was es werden könnte. Darauf möchte ich abschließend aber noch
kurz zurückkommen. In unserer dreijährigen Debatte haben wir die
Erfahrung gemacht, daß die in der jüngsten Geschichte einzig
wahrnehmbare und alle Deutschen, wie auch alle Seiten ihrer Kultur
erfassende Veränderung durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik
ausgelöst worden ist. Dieser Anschluß der Ostdeutschen war
selbstverständlich Moment einer globalen Veränderung der politischen
und wirtschaftlichen Machtstrukturen. Beides zusammen, der äußere und
der innere Umbruch, hat das neu konstituierte Deutschland in eine
andere Position gebracht. Dadurch erst wurde die schon vergessene oder
eher ethnologisch behandelte Frage wieder aufgeworfen, wer wir, die
Deutschen, eigentlich sind, wie es um Deutschland bestellt ist und in
welche Richtung sich die deutsche Gesellschaft wohl bewegen werde.
Es ist eigentümlich und beunruhigend, wie gering die Neigung ist, sich
dem zu stellen. Nur am rechten Rande regt es sich, stumpfsinnig bis
intellektuell-zündelnd. Auch von hier aus, in Sichtweite des
Reichstagsgebäudes, kann ich keinen Ort erkennen, an dem das
grundsätzlich verhandelt würde. Spielen da nennenswerte
gesellschaftliche Kräfte mit verdeckten Karten und verschweigen ihre
strategischen Optionen klug? Auch an den Reaktionen auf die
folgenreichen Ereignisse, die über Deutschland durch seine
Verflechtungen mit Europa und der Welt kommen, waren Grundtendenzen
noch nicht abzulesen. Erst langsam zeigt sich, welche Positionen da
möglich sind. Auch wissen wir inzwischen (und erfahren es mit jedem
Walser und Möllemann immer wieder neu), wie abhängig das von der
Beurteilung und Bewertung durch nahe und ferne Nachbarn ist, vom Bild,
das andere Völker und Kulturen von den Deutschen haben.
Nun ist ein Kanzler von den Deutschen augenscheinlich noch einmal
gewählt worden, weil er standhaft deutsches Mitwirken am amerikanischen
Krieg verweigerte. Darin könnte die bislang wichtigste "Interpretation"
der neuen deutschen Situation gesehen werden. Sie läßt hoffen, daß die
"erworbene heilsame Furcht vor sich selbst" in eine neue deutsche
Selbstdefinition eingeht.
Es gehört vielleicht nicht hier her, weil wir ja über Region und Stadt
uns austauschen wollen. Weil wir aber die erfolgreiche Diskussionsreihe
heute abschließen, möchte ich noch einmal kurz auf den Streit
zurückkommen, mit dem wir sie begonnen haben. Albrecht Göschel
befürchtete damals, daß die ostdeutsche Distanz zu den USA die
fundamentale demokratische Wende der (West)Deutschen nicht verstehe
oder gar zurückzunehmen drohe, mit der sie sich endgültig gegen
autoritäre Herrschaft und Gefolgschaft immunisiert haben. Ein innerer
Wandel, der über die Jahrzehnte freilich noch nicht bewirken konnte,
daß "die Deutschen" von außen nicht mehr das symbolische Volk der Täter
gesehen werden. Zu einzigartig und suggestiv waren die Gewalt- und
Schreckenstaten der Nationalsozialisten, die uns Deutsche ausdrücklich
zu weltweiten Symbolen der modernen Grausamkeit machen sollten und auch
gemacht haben. Man mag über die Motive des Kanzlers streiten, dem Druck
der amerikanischen Machtelite zu widerstehen. Doch nach innen wie nach
außen kann diese Verweigerung ein neues Selbstverständnis der Deutschen
signalisieren.
Das dürfte zwar den wohl eingeborenen Generalverdacht unserer näheren
und ferneren Nachbarn nicht tilgen, aber doch dem Ensemble der übrigen
kulturhistorisch entstandenen Stereotype einen neuen Akzent geben,
durch deren Brille "wir" von "den anderen" gesehen werden. Sie sind ja
deutlich kleingewichtiger als die großen Worte von historischer Schuld
und Sühne. Darum werden sie von den Historikern und Politikern auch den
Ethnologen und Kulturwissenschaftlern überlassen. Georg Bausinger hat
sie uns mit der nötigen ironischen Distanz alle vorgestellt und damit
umrissen, wie "das Deutsche" jenseits nachbarlicher Ängste gesehen
wird. Und das führt zum Thema der Tagung zurück: Die Deutschen haben
eine eigene Topographie, sie sind Meister im Abstecken eigenen Raumes
und haben es darin gern eng und angefüllt. Nur so ist es ihnen
gemütlich. Doch zugleich muß alles sauber, ordentlich und gesund sein.
Auf Humor und Eleganz verzichten sie gern. Alles Außenbeschreibungen,
die das aktuelle populäre Bewußtsein der Nachbarn im Begriff "deutscher
Fußball" zusammengefaßt hat.
Aber auch in höheren Sphären müssen wir damit leben, daß uns Unvermögen
unterstellt wird. Trotz seines inflationären Gebrauchs kennen wir ja
keinen heiligeren Begriff als den der Kultur. Und ausgerechnet den
sollen wir Deutschen völlig mißverstehen, weil wir Kultur mit Arbeit
und Kultiviertheit mit Wohlstand verwechseln. Wie wir in unseren
Debatten erleben konnten, reagieren Deutsche in Ost und West
verschieden auf solch üble Nachrede. Auf dieser Tagung sollten wir
gemeinsam gegen das Vorurteil der gepflegten Plumpheit angehen, indem
wir versuchen, unsere Befunde und Interpretationen mit Charme und Witz
vorzutragen um sie dann in aller uns gegebenen freundlichen Eleganz zu
diskutieren.
Anmerkungen
[1] "Kohls Erbe wirkt bis heute nach". Interview mit Peter Sloterdijk in: Profil Online (39), Wien 2002.
[2] Peter Sloterdijk, Schröders Differenz oder Die Stimme Europas. Frankfurter Rundschau vom 27.09.2002.
"Ohne die Fakten zu überanstrengen, darf man dies als einen Hinweis
darauf lesen, dass sich unter dem Wesensnamen "der Westen" ein größeres
Maß an Diversität verbirgt als die inklusiven Sprachspiele der
Mobilisateure sichtbar werden lassen. Der Westen - um dessen
Selbstbehauptung es zu gehen scheint - zerfällt für heute und alle
Zukunft unweigerlich zumindest in den Ersten Westen jenseits des
Atlantiks, von dem die imperialen Akzente der Gegenwart ausgehen, und
den Zweiten Westen, den wir Europäer bilden und der weiter nach einer
politischen Form sucht, die seinem ökonomischen Schwergewicht
entspräche, (um für den Augenblick von dem Dritten Westen nicht zu
sprechen, zu welchem all die Länder des Ostens und Südens rechnen, die
nach unserem Vorbild das Zugleich von politischer Demokratie,
kapitalistischer Wirtschaftsweise und konsumistischer Lebensform
versuchen)."
[3] Detlef Pollack,
Wer fremd ist, sieht besser. Die Ostdeutschen passen immer noch nicht
ganz in den Westen. Das ist ihr Vorteil, in: DIE ZEIT Nr. 42, 10. 10.
2002.
[4] alles zitiert nach: Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München 2002.
"[5] Ash Amin, Nigel Trift, Globalization, Institutions and Regional Development in Europe. Oxford 1994.
[6] Hartmut Häußermann, Walter Siebel, Die Kulturalisierung der Regionalpolitik. In: Geographische Rundschau 45 (1993), H. 4, S. 218-223.
[7] Mein Freund, der Raum.
Kulturwissenschaftler versuchen, Orte der Geschichte zum Sprechen zu
bringen, Bericht von Amory Burchard, in: Der Tagesspiegel vom 01. 11.
2002.
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