Thema | Kulturation 2/2004 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Diethart Kerbs | Songfestivals in Deutschland - Burg Waldeck und die Folgen Vierzig Jahre Songfestival Burg Waldeck | Ich
habe beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen und mich selbst
als Beispiel einer westdeutschen Generation und ihrer historischen
Erfahrungen vorzuführen. Ich hoffe, daß ich damit wenigstens diejenigen
unter Ihnen nicht langweile, die in einem anderen Land und/oder einer
anderen Generation aufgewachsen sind. Ich bin im August 1937 geboren,
Evakuierung nach Pommern, Flucht, Vertreibung, Rückkehr nach Berlin.
Aufgewachsen in Berlin-Heiligensee, im französischen Sektor, zwar in
der Großstadt, aber trotzdem hinterm Wald, nämlich in der grünen
Nordwestecke von Westberlin. Beim Spielen auf der Straße fragte mich
ein Klassenkamerad, ob ich mit zu den Pfadfindern kommen wollte, die
würden im Wald am Lagerfeuer Kartoffeln rösten, und das wäre viel
lustiger als Fußballspielen. Die Pfadfinder waren wie beim Militär
organisiert, d.h., über den Jugendgruppen erhob sich eine ganze
Hierarchie von Führern, in der man aufsteigen, Ämter und Abzeichen
erwerben konnte. Mit 15 war ich schon Stammesführer und durfte dreißig
Westberliner Jungen durch die Fränkische Schweiz führen. Nachdem wir
gemerkt hatten, daß es fast ausschließlich ehemalige HJ-Führer waren,
die nur in anderen Uniformen ihr Spiel von vor 1945 fortsetzten,
kündigten wir diesen die Gefolgschaft und brachten die ganze schöne
Führerpyramide über uns zum Einsturz. Das war meine erste
antiautoritäre Rebellion. Wir gründeten eine »Autonome Jungenschaft«
nach dem Vorbild der dj 1.11. Das war der ästhetisch und politisch
radikalste Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung zwischen 1929 und
1933 gewesen. In diesen Jungenschaftsgruppen wurde anders gesungen,
mehr gelesen und diskutiert als woanders in der bündischen Jugend.
Hatten wir bei den Pfadfindern eher Soldaten- und Landsknechtslieder
gesungen, so sangen wir nun Negro Spirituals, russische, bulgarische
und griechische Volkslieder, meistens, ohne deren Texte zu verstehen.
Dazu kamen die Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg sowie Songs von
Brecht und Eisler, die wir uns von den im Ostsektor erhältlichen
Platten von Ernst Busch abgelauscht und beigebracht hatten. Wenn wir
auf unseren Fahrten ausnahmsweise einmal mit dem Zug unterwegs waren,
dann machten wir zum Entsetzen der Mitreisenden die »Rote Kiste« auf,
d.h. wir sangen das halbe Repertoire von Ernst Busch herunter. Das war
in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, also mitten in der Zeit des
Kalten Krieges. Aber es geschah weniger aus politischer Überzeugung als
aus Lust an der Provokation.
Immerhin haben wir aus demselben Widerspruchsgeist heraus im Verein mit
dem »Ring deutscher Fahrtenbünde« – da waren die kleinen Gruppen
organisiert, die nicht zu den Großorganisationen der Jugend in
Westdeutschland gehörten – eigenmächtig Kontakt zur FDJ aufgenommen,
nachdem der Bundesjugendring beschlossen hatte, alle Beziehungen zur
Staatsjugend der DDR abzubrechen. Wir fuhren in die DDR und trafen uns
in Leipzig und im Thüringer Wald mit FDJ-Kadern. Als wir uns aber nach
dem offiziellen Teil mit einigen FDJ-Führern privat getroffen und mit
ihnen diskutiert hatten, erklärte uns die DDR-Reiseleitung‚ wir hätten
die Gastfreundschaft mißbraucht und brach das Besuchsprogramm ab. Wir
mußten vorzeitig abreisen.
Da wir 1953 in Berlin den 17. Juni miterlebt hatten und uns in den
folgenden Wochen freiwillig zur Betreuung junger Flüchtlinge aus der
DDR gemeldet hatten, die in einer Sporthalle untergebracht waren, ließ
uns der Ungarnaufstand im November 1956 nicht kalt. Auch dieser zweite
Volksaufstand gegen eine sowjetische Besatzung kam unserem
widerständigen Denken entgegen, seine Niederschlagung haben wir als
Tragödie empfunden. Da wir nun mehrheitlich das Abitur hatten,
gründeten wir in Berlin und an anderen Hochschulorten studentische
Arbeitskreise, um uns ein gemeinsames Verständnis der Geschehnisse zu
erarbeiten. Durch den Ungarnaufstand waren wir mit Denkern wie Georg
Lukács bekannt geworden, von dem es hieß, daß er einen freiheitlichen
Marxismus vertrat, der sich an Rosa Luxemburg orientierte. Das
faszinierte uns, weil es die Möglichkeit einer dritten Position
jenseits von Stalinismus und vom westlichen affirmativen Denken
eröffnete. Als die Zeitungen 1961 berichteten, Ernst Bloch sei in den
Westen gegangen‚ verabredete ich mich mit zwei Freunden zum Studium in
Tübingen. Bloch war immerhin schon 76, aber er blühte angesichts der
Studenten, die ihm begeistert zuhörten, noch einmal auf. Das Auditorium
maximum der Tübinger Universität war überfüllt, Blochs Vorlesungen
mußten durch Lautsprecher in zwei angrenzende Hörsäle übertragen werden.
Das Jahr 1962 war mit der Spiegel-Affäre das eigentliche Wendejahr in
der Geschichte der Bundesrepublik, in dem alles, was 1967/68
kulminierte, begann. Es brachte die erste massive Auflehnung einer
kritischen Öffentlichkeit gegen die Regierung Adenauer und ihren
Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Wir Ehemaligen aus den
bündischen Gruppen studierten damals in Berlin, Erlangen, Tübingen und
Freiburg. In Hamburg entstand aus einem studentischen Biafra-Komitee im
Laufe der sechziger Jahre die »Gesellschaft für bedrohte Völker«, die
sich seither zu einer der einflußreichsten
Nicht-Regierungsorganisationen der Bundesrepublik entwickelt hat. Die
studentischen Arbeitskreise trafen sich in den Ferien auf der Burg
Waldeck, wo die schwäbische Jungenschaft sich einen ehemaligen Kuhstall
ausgebaut hatte.
Die Burg Waldeck, das muß wohl erklärt werden, ist gar keine Burg,
sondern ein Ruinengelände mit den Resten einer mittelalterlichen
Burg und eines barocken Jagdschlosses, ziemlich gut versteckt im
Hunsrück gelegen, drei Kilometer von jeder nächsten menschlichen
Ansiedlung entfernt. Sie war nach dem Ersten Weltkrieg von Wandervögeln
entdeckt worden. Die hatten dort in den zwanziger Jahren ein Haus für
ihre Treffen erbaut. Einige von ihnen hatten das Haus nach 1945
renoviert und es den neu entstandenen bündischen Gruppen als Treffpunkt
zur Verfügung gestellt. So waren wir Ende der fünfziger, Anfang der
sechziger Jahre auch dorthin gelangt, Jungenschaftler aus Schwaben,
Berlin‚ Wiesbaden und Hannover. Wir machten dort unsere
selbstorganisierten Seminare, z.B. über Polen, Marxismus und
Christentum.
Zu diesem Freundeskreis gehörte auch Peter Rohland, der eigentlich in
Berlin Jura studieren sollte, aber gegen den Willen seines Vaters
Gesangsunterricht nahm. Er hatte eine wunderbare Stimme und konnte im
Laufe der Zeit auch hervorragend Gitarre spielen. Um von den
elterlichen Zuwendungen unabhängig zu werden, begann er in Kneipen
aufzutreten, nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris, wo er zum
Beispiel im Café de la Contrescarpe jiddische Lieder sang. Französische
Chansons, insbesondere die Lieder von Jacques Prévert, Boris Vian und
Georges Brassens, waren uns schon geläufig. Wir bedauerten es, daß es
so etwas in Deutschland nicht gab. Dann lasen wir, daß sich in den USA,
vor allem an kalifornischen Universitäten wie Berkeley, ein
»Free-Speech-Movement« und in enger Verbindung damit eine Songbewegung
entwickelt hatte, daß es einen Pete Seeger, eine Joan Baez, einen Bob
Dylan, einen Phil Ochs gab. Angeblich reichte es aus, daß eine Gruppe
Studenten sich mit zwei Gitarren auf einer Wiese niederließ, um einen
Polizeieinsatz zu provozieren. Das kannten wir. Dergleichen hatte es
auch in Deutschland schon gegeben, z.B. in München im Sommer 1962. Das
alles hatten wir im Kopf, als wir uns im Jahre 1963 über unsere
künftigen Aktivitäten Gedanken machten. Ich schrieb dann im November
1963 einen dreiseitigen Brief an einen engeren Freundeskreis, in dem
ich das Konzept des Festivals entwarf und dem Verwaltungsrat der
Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) vorstellte. Die Idee zündete und
wurde – statt wie von mir vorgeschlagen 1965 – schon zu Pfingsten 1964
realisiert. Es bildete sich ein Dreierteam mit Peter Rohland, Jürgen
Kahle und meiner Wenigkeit. Peter Rohland sprach die Sänger und
Musikanten an, Jürgen Kahle schaffte mit wenigen Helfern in einem
halben Jahr das, wofür in meinem Entwurf ein ganzer Ausschuß und
anderthalb Jahre Bautätigkeit vorgesehen waren, nämlich die gesamten
technischen Voraussetzungen, und ich war für Konzeption, Organisation
und Presse zuständig.
Als das erste Festival zu Pfingsten 1964 tatsächlich über die
improvisierte Bühne ging, kamen noch viele andere hinzu, die uns
halfen, vor allem Rolf Gekeler, der sich im Laufe der verschiedenen
Festivals zu einem fabelhaften »Maitre de plaisir« entwickelte, der die
Künstler betreute und durch das Programm führte. Wir vier haben
praktisch alles ohne Geld organisiert. Die Sänger erhielten keine
Honorare, sondern nur freie Unterkunft und Verpflegung. Peter Rohland
und Rolf Gekeler sind inzwischen gestorben, es bleiben Jürgen Kahle und
ich. Wir haben uns bald nach dem Ende der sechs Festivals anderen
Aufgaben zugewandt, Jürgen Kahle wurde Lehrer an der Odenwaldschule,
ich Dozent in Berlin.
Aber zunächst galt es natürlich, erstmal diese sechs Festivals zu
überstehen. Wir hatten auf der Waldeck mit zwei Gegenkräften zu
rechnen. Einmal mit den älteren Bündischen aus dem
Vorkriegswandervogel, die jetzt den Verwaltungsrat der ABW bildeten.
Deren Sorgen und Bedenken mußten jedes Mal neu ausgeräumt und durch
Erfolge überwunden werden. Zum anderen die Kameraden vom Nerother
Wandervogel, einem stark nach rechts tendierenden Jungenbund, die auch
auf diesem Ruinengelände ansässig waren und die die langhaarigen
Studenten und mehr noch die vielen jungen Frauen störten, die durch uns
auf die Waldeck gelockt wurden. Unsere Altvorderen haben wir immer
wieder gewinnen und überzeugen können, die Nerother Wandervögel haben
uns dagegen ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, bis hin zu
lebensgefährlichen Sabotageakten. Ein dritter Gegner, der uns aber
gottlob nur bei einem der sechs Festivals wirklich zum Problem wurde,
war das Wetter.
Kurz vor dem ersten Festival zu Pfingsten 1964 entdeckten wir die
soeben erschienene Platte eines unbekannten Liedermachers mit dem Namen
Franz Josef Degenhardt. Ich besorgte mir seine Adresse und fuhr ins
Saarland, wo er damals seine Referendarzeit als Jurist absolvierte. Er
war noch nie öffentlich aufgetreten und mußte mühsam überzeugt werden,
sich der begrenzten Öffentlichkeit dieses Waldeck-Workshops zu stellen.
Das war er nun, in unseren Augen, der deutsche Chansonnier, auf den wir
gewartet hatten. In Ostberlin war aber inzwischen eine zweite Größe am
Firmament aufgestiegen. Wolf Biermann war hier durch seine Tonbänder
und im Westen durch seine Bücher berühmt geworden. Wir luden ihn zu
unserem zweiten Festival ein, aber er durfte nicht ausreisen. Ich
besuchte ihn in der Chausseestraße, wo er mir ein ganzes Tonband
besang, das ich dann auf dem Festival vorstellte. Die DDR-Regierung,
die sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte, schickte uns erst im
folgenden Jahr den Staatsbariton Hermann Hähnel, der, am Klavier
begleitet von Inge Kochan, Friedensschnulzen sang. Die beiden waren
darauf gefaßt, in ein halbfaschistisches, revanchistisches Land zu
kommen und waren vollkommen perplex, als sie merkten, daß sie nicht von
rechts, sondern von links kritisiert wurden.
Das engagierte Lied hatte sich mittlerweile auch in der Bundesrepublik
gemausert. Der Liedermacher, der seine eigenen Lieder sang, wurde zur
Leitfigur. Dieter Süverkrüp war mit Hilfe von Gerd Semmer vom
grandiosen Jazzgitarristen zum Politsänger geworden. Auch manche aus
dem bündischen Humus entwickelten sich musikalisch und inhaltlich
weiter, wie die Pontocs aus Neuß und Hein und Oss Kröher aus Pirmasens.
Hannes Wader trug seinen ersten fünf Lieder vor und bekam einen solchen
Applaus, daß er es selbst nicht faßte. Reinhard Mey wurde mehrheitlich
als zu süßlich empfunden und ausgebuht. Die große Entdeckung des
zweiten Festivals aber war Walter Moßmann, in dem viele den kommenden
politischen Liedermacher der Bundesrepublik sahen. Er hat dann in den
siebziger Jahren eine führende Rolle beim Kampf gegen das geplante
Atomkraftwerk in Wyhl im Oberrheintal bei Freiburg gespielt. Seinem
Wirken und Singen ist der erste große Sieg einer Bürgerbewegung gegen
das Bündnis von Atomindustrie, CDU und Polizei maßgeblich mit zu
verdanken.
Mittlerweile war seit 1964 der Vietnamkrieg eskaliert, der erst 1975
mit dem Fall von Saigon beendet wurde. Es kam der 2. Juni 1967, als in
Berlin anläßlich einer Demonstration gegen den Schah von Persien ein
Polizist den Studenten Benno Ohnesorg erschoß. Dann der Pariser Mai
1968 und im August der Überfall der Truppen des Warschauer Paktes auf
die Tschechoslowakei. Das Waldeck-Festival blieb von diesen politischen
Entwicklungen natürlich nicht unberührt. Nach den Schüssen auf Rudi
Dutschke und den weiteren Entwicklungen des Jahres 1968 drängten die
aufgebrachten Studenten auf jede sich bietende Bühne‚ auch auf die der
Waldeck. Die beiden letzten Festivals waren für sie ein ideales
Übungsfeld, auf dem sie die intellektuelle Arglosigkeit und die
politische Toleranz der Gastgeber leicht überspielen konnten.
Das Festival war in den Medien bekannt geworden, sogar bis nach Paris
und New York. Aus Paris kam ein leibhaftiger Chanson-Impressario mit
einer Gruppe von Sängern und Schauspielerinnen, aus USA wurden Odetta,
Phil Ochs und Guy Caravan eingeflogen. Die Sinti-Band von Schnuckenack
Reinhard spielte mitreißenden Jazz, es traten aber auch diverse
Rockbands auf. Die Zahl der Besucher stieg von 350 auf dem ersten
Festival bis auf über 6000 beim letzten an. Was ursprünglich nur als
Liedermacherwerkstatt geplant gewesen war‚ wurde immer mehr zu einem
großen Festival, das nun von zwei Seiten her in die Zange genommen
wurde. Mancher ehemalige Bündische, der noch wenige Jahre zuvor nach
Lappland getrampt war, verstand sich nun plötzlich als Speerspitze der
politischen Bewegung und versuchte das Festival zu einem großen
Teach-in umzufunktionieren. Andere entdeckten persönliche
Karrierechancen, aber auch Möglichkeiten des Geldverdienens, auf die
aus dem engeren Kreis der Festivalmacher noch keiner gekommen war. Vor
die Wahl gestellt, das Festival entschlossen zu kommerzialisieren oder
es – wenigstens auf der Waldeck und in seiner bisherigen Form – zu
beenden, wählten wir die letztere. Wir fühlten uns ohnehin von der
politischen Bewegung in den Städten überholt. Es hatte sich überdies
gezeigt, daß die Infrastruktur der Waldeck dem Ansturm von mehr als
sechstausend Besuchern nicht gewachsen war. Jeder mehrstündige Regen
hätte ein Chaos produziert.
Rückschau auf die Jahre 1964 bis 69:
Folgendes möchte ich zusammenfassen:
1. Die Waldeck-Festivals waren nicht das einzige, aber das sichtbarste
Bindeglied zwischen der bündischen Jugend der westdeutschen
Nachkriegszeit und der Studentenbewegung.
2. Für viele, die damals zwischen 16 und 20 waren, waren diese
Festivals der »Durchlauferhitzer« zur Studentenbewegung, freilich eher
zu ihren hedonistischen und undogmatischen Flügeln, nicht zu den
studentischen Kaderparteien mit ihren selbsternannten Politbüros.
3. Die Festivals waren ein Vorlauf zu den politischen und sozialen
Bewegungen der siebziger Jahre auf der Ebene der Gesellungsformen, der
Verhaltensweisen und Mentalitäten. Sie waren nur möglich durch die
Bereitschaft zu Improvisation, Spontaneität und Toleranz, und sie
entwickelten bei denen, die mitmachten, auch die entsprechenden
Fähigkeiten: Weltoffenheit, Experimentierfreude, politische und soziale
Kreativität, Medienkompetenz. Sie waren nicht der intellektuelle
Vorlauf; der fand woanders statt, in Frankfurt, Heidelberg und Berlin,
beim SDS oder im Argument-Club.
4. Vielen Sängerinnen und Sängern bot die Waldeck die erste Bühne, das
Karrieresprungbrett. Musikalisch und literarisch spielte die Waldeck
freilich in der zweiten Liga: Da traten kein Bob Dylan und kein Pete
Seeger auf, kein Yves Montand und kein Theodorakis, kein Georges
Brassens oder Wladimir Wysozki, sondern eben Degenhardt und Süverkrüp,
Hannes Wader und Walter Moßmann, aber auch der altdeutsche Barde
Wolfram mit der Drehleier und der selbsternannte Pseudorusse Ivan
Rebroff. Den Gipfel der Intellektualität bildete Rolf Schwendter mit
seiner Theorie der Subkultur.
Musikalisch gesehen brachten diese Jahre:
1. Die Wiederentdeckung deutscher Volkslieder demokratischen
Charakters, die in der DDR schon vorher von Professor Steinitz
erforscht worden waren, aber in Westdeutschland dann erst allmählich
bekannt wurden, insbesondere der Lieder aus den Zeiten des Vormärz und
der Revolution von 1848, einschließlich der vergessenen
kriegskritischen Soldatenlieder,
2. eine beginnende Renaissance der jiddischen Volksmusik und die
Entdeckung des großartigen Liederdichters Mordechai Gebirtig aus Krakau,
3. eine kurze Blütezeit des politischen Liedes in Westdeutschland, von
etwa 1965 bis 1975, die sogar die Rundfunk- und Fernsehsender erfaßte,
dann aber bald wieder abgewürgt wurde. Seit den achtziger Jahren
dominiert in den westdeutschen Musikmedien wieder der
angloamerikanische Rock-Pop-Einheitsbrei. Kabarett und kritische Lieder
kommen heutzutage höchstens noch ausnahmsweise und frühestens ab 21:05
Uhr in den Programmen unserer Radiosender vor.
4. Am Rande wirken manche Impulse bis heute nach. So gibt es
gegenwärtig eine neue Welle der Bellmann-Begeisterung und sogar eine
kleine Fritz-Graßhoff-Renaissance.
Zum Schluß möchte ich fragen: Was wollten wir? Was haben wir erreicht?
Wir wollten der Kulturlosigkeit dieser westdeutschen
Wirtschaftswundergesellschaft eine selbstgemachte Basiskultur
gegenüberstellen.
Wir wollten das Individuum, dargestellt durch den Liedermacher mit der
Gitarre, gegen die Massengesellschaft und ihre Medienapparate stärken.
Wir wollten die Verbundenheit mit den dumpf-deutschen Vätern
aufkündigen, die in diesem Jahrhundert zweimal ihre Nachbarvölker
überfallen hatten und dagegen eine »Internationale der Jugend«
proklamieren, in der es keinen Rassismus und Kolonialismus mehr geben
sollte. Dieser antiimperialistische Affekt richtete sich ebenso gegen
die USA – Stichwort Vietnam – wie gegen die Sowjetunion – 17. Juni,
Ungarnaufstand, Prager Frühling. Die Hinwendung zu den Sinti und Roma
sowie das Stichwort »Folklore« im Festivaltitel waren immer auch
politisch grundiert gewesen. Im Gegensatz zu seinen mißbräuchlichen
Verwendungen im 20. Jahrhundert bezeichnet das Wort »Volk« ursprünglich
soviel wie Bevölkerung im Unterschied zur »Herrschaft« und nicht die
Abgrenzung einer ethnischen Einheit gegen eine andere. Wir wollten uns
historisch mit den Opfern der deutschen Geschichte der letzten fünfzig
Jahre solidarisieren, die Verdrängungen der Nachkriegszeit abschütteln
und an verschüttete demokratische Traditionen anknüpfen. Das wollten
wir. Natürlich haben wir alles das nicht nachhaltig erreicht. Unsere
Wünsche an diese Gesellschaft sind noch immer nicht erfüllt. Oder wie
Rolf Schwendter die Beatles übersetzte: »Ich bin noch immer
unbefrie-hi-digt!« Es war also kein Zufall, daß man in den vergangenen
Jahren auf den Friedensdemonstrationen gegen den Krieg im Irak auch
manchen Graubartachtundsechziger sah. Hatten wir noch vor kurzem die
letzten Überlebenden des antifaschistischen Widerstands befragt, so
finden wir uns nun plötzlich selber in der Zeitzeugenrolle wieder. Sehr
komisch.
Auf der Waldeck war es nach 1969 erstmal eine Weile still geworden.
Andere Festivals in Mainz, Ingelheim und Tübingen, größere und kleinere
Woodstocks auf deutschem Boden, Rockkonzerte »umsonst und draußen«
zogen die jugendlichen Massen und die Aufmerksamkeit der Medien auf
sich. Ich bin dann rund zwanzig Jahre lang nicht mehr auf der Waldeck
gewesen, weil ich es mit Bertolt Brecht halte, der einmal gesagt hat,
es sei ihm lieber, an den Kochherd als an den gedeckten Tisch gerufen
zu werden.
Die Waldeck-Festivals sind inzwischen Geschichte. Aber die Waldeck gibt
es noch, und dort finden auch immer noch wieder größere und kleinere
Treffen statt. Eine alte Erfahrung sagt, daß man mindestens dreißig
Jahre Abstand braucht, um eine Epoche beurteilen zu können. Die sind
längst verstrichen. Die ersten Freunde unserer Indianerspiele von
damals sind schon in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Historiker,
haltet Euch ran!
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