Thema | Kulturation 2/2009 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Frank Thomas Koch | Zukunftspotentiale Ost für Gesamtdeutschland – Positionen und Diskurse
| (Beitrag zur Tagung der KulturInitiative'89 „Was lebt fort in der Kultur?“ am 17. Oktober 2009 in Berlin)
0. Programm
Mein Statement bezieht sich auf das Generalthema unserer Tagung
„Wenn es die DDR gegeben hat – was wirkt fort in der Kultur?“ in
spezifischer Weise: ich frage nämlich nicht so sehr nach dem was
fortwirkt, sondern danach, was als Zukunftspotential für
Gesamtdeutschland aus der Sicht verschiedener Akteure zu Buche schlägt
oder doch zu Buche schlagen könnte. Zwei Leitfragen sind es, die im Mittelpunkt stehen:
Was sind Zukunftspotentiale Ost
a) in Bezug worauf (Bewertungs- bzw. Zukunftshorizont)?
b) für wen (Akteurdimension)?
Und dies ist mein Programm:
1. Mein Hintergrund/meine Quellen
2. Wovon die Rede ist: Prämissen und Definitionen
3. Positive Bestimmungen von Zukunftspotentialen Ost in einer pluralistischen Gesellschaft
4. Zur Frage der Trägerschaft und Reproduktion von
Zukunftspotentialen Ost mit DDR-Bezug im Osten in der Abfolge der
Generationen
1. Mein Statement stützt sich auf drei Quellen
Zunächst auf die Beteiligung an zwei Projekten in diesem Jahr, in denen das Thema Zukunftspotentiale Ost relevant war.
Das erste Projekt stand unter dem Thema »Wahrnehmung und Bewertung
der deutschen Einheit« und erfolgte im Auftrag des
Tiefenseeministeriums (BMVBS). Generalauftragnehmer war der
Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung.
Im Rahmen dieses Projekts habe ich die Jahresberichte der
Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit sowie die Leitbilder
der Parteien CDU, SPD und Die Linke für Ostdeutschland als Ganzes aus
den Jahren 2008/2009 analysiert. Sowohl die Jahresberichte als auch die
Leitbilder der Parteien identifizieren jeweils Zukunftspotentiale Ost.
Zugleich war ich an einem zweiten Projekt beteiligt. Bei diesem
Projekt, »Ostdeutschland 2020 ein Leitbild«, ging es darum, im Auftrag
der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der Partei Die Linke in den
Landtagen und im Deutschen Bundestag ein Leitbild zu kreieren.
Auftragnehmer waren das Thünen-Institut und BISS.
Meine dritte Quelle sind Befunde der Umfrage und Meinungsforschung:
Leben in den neuen Bundsländern 2008. Ausgewählte Aspekte (SFZ), Sept.,
2008 sowie Emnid (2009).
2. Zu einigen Prämissen, Definitionen und analytischen Unterscheidungen, von denen ich mich leiten lasse
Was ist im Folgenden mit Zukunftspotentialen gemeint, was soll das sein?
Übersicht 1: Zukunftspotentiale
Zukunftspotentiale sind objektive und/oder subjektive
Gegebenheiten, die (aus der Sicht von bestimmten Akteuren) geeignet
sind, an eine wie auch immer definierte Zukunft heranzuführen;
Zukunftspotentiale sind zudem objektive und/oder subjektive
Gegebenheiten, die im Lichte aktueller und künftiger Herausforderungen
zukunftsfähig sind. Inhaltlich kann alles Mögliche als
Zukunftspotential von individuellen oder kollektiven Akteuren in den
Blick gerückt werden (Übersicht 2).
Übersicht 2: Zukunftspotentiale können sein
* Geographische Lagen
* Biodiversität
* Materiell-gegenständliche Realien wie Infrastrukturen, Anlagen, Wirtschaftszweige
* Sozialstrukturen; Eigenschaften individueller und kollektiver
Akteure; Akteurkonstellationen; Sozial- und Lebensformen; lebendige
Traditionen; Kompetenzen; internationale Verbindungen
* Institutionen
* Problemlagen, die Suchbewegungen auslösen
Wer von Zukunftspotentialen Ost redet, kann zunächst einmal weder
im Bundesgebiet West noch Ost damit rechnen, dass die Adressaten ohne
weiteres Osten und Zukunft in einem Zusammenhang sehen. Gleichwohl werden in den Berichten der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit Zukunftspotentiale Ost identifiziert und auch die
drei großen Parteien im Osten (SPD, CDU, Die Linke) haben Leitbilder
für Ostdeutschland vorgelegt, in denen jeweils auch solche Potentiale
benannt werden.
Positive Bestimmungen von Zukunftspotentialen, soviel vorab, zeigen zweierlei:
Was Zukunftspotentiale Ost sind und was nicht, steht nicht ein für
allemal fest. Sie werden vielmehr von Akteuren bestimmt, die sich von
unterscheidbaren Bewertungshorizonten und Bezugssystemen
(Zukunftspotentiale in Bezug worauf?) leiten lassen. Was aus einer
bestimmten Akteur-Perspektive als Zukunftspotential Ost erscheint, ist
aus anderer Perspektive kein Potential oder gar ein höchst
problematisches Phänomen (ich verweise auf Diskurse zur Rolle von
Angela Merkel als Kanzlerin oder über die praktisch-politische Relevanz
des „Gleichstellungsvorsprungs der Frauen Ost“ oder zur Rolle der
Linkspartei…). Daher ist die Frage nach den Bewertungshorizonten und
Bezugssystemen positiver Bestimmungen von Zukunftspotentialen im Osten
von zentraler Bedeutung. Dies zum einen.
Zum anderen lassen positive Bestimmungen verschiedener Akteure von
Zukunftspotentialen Ost – bei gleichem Raumbezug – verschiedene
Zeitbezüge erkennen.
Übersicht 3: Leitdifferenz: wo werden Zukunftspotentiale Ost zeitlich verortet?
* Eher in der Geschichte bis 1945?
Und/oder
* Eher in der Zeit der SBZ und der DDR?
Und/oder
* Eher ab 1990?
Platzeck legt in seinem Buch „Zukunft braucht Herkunft: Deutsche
Fragen, ostdeutsche Antworten“ z.B. den Akzent stärker auf die Zeit
nach 1990. Im Leitbild der CDU liegt der Akzent in der Geschichte vor
1945 und im Zeitraum seit 1990. Um die DDR-Periode kommt dennoch
niemand herum, auch die CDU nicht.
An der DDR scheiden sich freilich die Geister.
Quelle: Emnid im Auftrag des BMVBS 2009
Bei der Bewertung der DDR bestehen eklatante Unterschiede zwischen
West und Ost. Doch auch die Differenzen in der Ost-Ost- Dimension sind
beachtlich.
3. Positive Bestimmungen von Zukunftspotentialen Ost für Gesamtdeutschland in einer pluralistischen Gesellschaft
Wenn wir nach den Zukunftspotentialen Ost für Gesamtdeutschland
fragen, so lassen sich verschiedene Bewertungshorizonte unterscheiden,
die aneinander an- wie auch einander ausschließen. In der nachfolgenden
Übersicht 4 werden einige übergreifende Herausforderungen, die auch
oder primär-funktional vor der Bundesrepublik stehen, aufgeführt. Im
Anschluss an dieses Tableau werden Positionen skizziert, die nach dem
spezifischen Beitrag des Ostens fragen, die geeignet sind, die
jeweilige Herausforderung zu bewältigen.
Übersicht 4: Konkurrierende Bewertungshorizonte/Herausforderungen für die Identifikation von Zukunftspotentialen Ost (Auswahl)
Definierte Herausforderungen als Suchraster
I. Die Sicherung von Deutschlands Zukunft als Industrie- und Sozialstaat in demokratischer Verfassung
II. Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands: Modernisierung des Rheinischen Kapitalismus
III. Das Gewinnen der sozialen Einheit Deutschlands: für ein modernes und soziales Deutschland
IV. Herausforderungen moderner Gesellschaften: Schrumpfen; Balance von Gleichheit und Freiheit finden…
V. Klimawandel; Energiewende; Krise des Fordismus: sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft
VI. Auf Bereiche/Politikfelder bezogen wie politisches System, Bildung…
Die Übersicht 4 präsentiert 5 unterscheidbare Herausforderungen.
Das in der Übersicht unter VI. Aufgeführte ist auf einer etwas anderen
Ebene angesiedelt. Hier geht es um „Bereicherungen“, „Besetzung von
Leerstellen“, „produktive Lösungsansätze“ im Hinblick auf
politikfeldspezifische Herausforderungen.
3.1. Kein Beitrag des Ostens zur „Sicherung von
Deutschlands Zukunft als Industrie- und Sozialstaat in demokratischer
Verfassung“
Exemplarisch für den unter 3.1. skizzierten Zusammenhang von Osten
und Zukunft sind Autoren wie Arnulf Baring oder Maxim Biller. Die Lage
wird von Arnulf Baring so gesehen, dass die Zukunft Deutschlands
gefährdet sei, das Land über seine Verhältnisse lebe und die Gefahr des
Abstiegs drohe (Baring: Deutschland was nun? 1991; Baring: Scheitert
Deutschland? 1997). Der Beginn der befürchteten Abwärtsspirale wird von
Baring (anders als von Biller) in Weichenstellungen der
Alt-Bundesrepublik gesehen.
Um die Situation zu wenden, trage der 1990 beigetretene Osten nicht
nur nichts bei; er sei vielmehr eher Ballast und teils finanzielle,
teils psychologische Belastung.
Biller führt indes tatsächliche oder vermeintliche
Fehlentwicklungen des Landes großenteils auf den Osten und seine
Bewohner zurück. Beschworen wird die drohende Gefahr der „Verostung“
und „Ossifizierung“ der Bundesrepublik (Maxim Biller: Die Ossifizierung
des Westens. Deutsche Deprimierende Republik, FAZ vom 22.03.2009).
Wie in den 1930er Jahren sei, so Baring, bei einer drastischen
Reduzierung sozialer Leistungen erneut eine radikale Bewegung zu
befürchten, diesmal von Links. Für die Bewältigung der skizzierten Herausforderung lässt sich
aus der Sicht der zitierten Autoren kein Zukunftspotential Ost
erkennen.
3.2. Ostdeutschlands Beitrag zur „Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik“
Leitende Annahme der verschiedenen Träger (exemplarisch Kurt
Biedenkopf; Lothar Späth; Norbert Walther; Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft; Leitbild Ost der CDU) dieses Bewertungshorizontes ist
die Position, dass ohne eine Modernisierung des Rheinischen
Kapitalismus die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik
verloren gehe. Die angestrebte Modernisierung stoße indes auf massive
Widerstände, Besitzstände und organisierte Interessen.
Der Osten kommt im Rahmen dieses Zukunftshorizonts in zwei deutlich
unterscheidbaren Hinsichten ins Spiel. Er ist zum einen bloßes Terrain
von dem die Modernisierung des Rheinischen Kapitalismus ausgeht und
vorangetrieben wird; der Osten selbst trägt zur intendierten
internationalen Wettbewerbsfähigkeit nichts, jedenfalls nichts allzu
Wesentliches, Substantielles bei. Lothar Späths berühmt-berüchtigtes
Diktum vom Osten als Minenhund des Westens bei der Erprobung neuer
Wirtschafts- und Sozialformen beschreibt die zugedachte Rolle
Ostdeutschlands plastisch und treffend.
Zum anderen wird dem Osten bei der Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Landes selbst ein Beitrag zuerkannt.
Übersicht 5: Zukunftspotentiale Ost zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes
* Umstellungs- und Anpassungsbereitschaft der Menschen
* Geringer Widerstand gegen Reformen
* Weit vorangetriebene Flexibilisierung der Arbeitsmarktes
* (zeitweilig ein Vorteil) Niedriglohngebiet
* modernste Infrastrukturen Europas
* für den nunmehr angesagten Innovationskurs sei die (aus der
DDR-Zeit) überkommene und beibehaltene stärkere Pflege der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ein Trumpf und ein
positives Erbes, dass der „mitteldeutsche Raum“ bis in die
Vorkriegszeit „Heimat der Erfinder“ war
* vorbildliche Infrastruktur der frühkindlichen Bildung und Erziehung im Osten
* Resultate des Aufbau Ost wie international wettbewerbsfähige Produktions- und Forschungsstätten
Fazit: Zukunftspotentiale Ost liegen aus dieser Perspektive teils
darin, dass vom Osten der Rheinische Kapitalismus ausgehebelt werden
kann, teils in substantiellen Beiträgen des Ostens zur Sicherung der
internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
3.3. Zukunftspotentiale Ost auf dem Weg zu einem „modernen und sozialen Deutschland“
Das Leitbild der SPD für Ostdeutschland bietet einen exemplarischen
Beleg für diesen Bewertungshorizont. Leitend ist die Diagnose, dass sie
soziale Einheit noch nicht vollzogen wurde und ausstehe.
Übersicht 6: Zukunftspotentiale Ost auf dem Wege zu einem modernen und sozialen Deutschland
* Exponierte Problemlagen im Osten, die sich auch im Westen finden
(Arbeitslosigkeit, Armutsquoten, Niedriglohnbereiche…) als Triebkräfte
oder Auslöser von Suchbewegungen
* Ideengeber zum Umgang mit dem demographischen Wandel
* Höhere Erwerbsbeteiligung und Gleichstellungsvorsprung der Frauen
* Infrastruktur der frühkindlichen Bildung und Erziehung
* Bestimmte Lösungen und Ansätze im Bildungsbereich
* Resultate beim Aufbau Ost
3.4. Die „Ostdeutschen als (unfreiwillige) Avantgarde“ bei der
Bewältigung von Herausforderungen des Umbruchs modernen westlicher
Gesellschaften
Der vierte Zukunftshorizont wird exemplarisch von Wolfgang Engler,
aber in speziellen Spielarten auch von Kil, Volke aufgespannt. Die
westlichen Gesellschaften stehen in dieser Perspektive vor einer Fülle
von Herausforderungen. Dazu gehören Prozesse des Umbruchs, darunter des
Schrumpfens (der Bevölkerung wie der Arbeitsgelegenheiten), die Erosion
des Glaubens an eine immer währende Prosperität und damit in neuer
Weise die Erfahrung sozialen Scheiterns statt des sozialen Aufstiegs,
die Neujustierung des Verhältnisses der Geschlechter und Generationen…
Bei der Bewältigung dieser und anderer Umbrüche erscheinen die
Ostdeutschen als unfreiwillige Avantgarde der deutschen Gesellschaft.
Sie sind zur Suche neuer Sozial- und Lebensformen wie auch
institutionalisierter Lösungen jenseits des westdeutschen Vorbildes
geradezu durch ihre Lage, ihren Habitus und ihr kulturelles Gedächtnis
verdammt und so prädestiniert, neuartige Rekombinationen von
bundesdeutschen und DDR-Traditionen, von Transformations- und
Vereinigungserfahrungen zu erproben.
Übersicht 7: Engler über den „geschichtlichen Auftrag“ der Ostdeutschen, Freiheit und Gleichheit miteinander zu versöhnen
„Freiheit und Gleichheit sind gleichursprüngliche Forderungen der
Moderne und gleichgewichtige, und wenn es wahr ist, dass sich die
soziale Gleichheit unter dem Kommunismus auf Kosten der bürgerlichen
und politischen Freiheiten ausdehnte, so folgt daraus doch keineswegs,
dass sie sich dafür schämen und nun umgekehrt der Freiheit unterwerfen
müsste.
Sofern es einen geschichtlichen Auftrag gibt, den die Ostdeutschen
durch ihr Herkommen und ihre jetzige Stellung in der Welt als ihren
ureigenen begreifen können, dann den, Gleichheit und Freiheit
miteinander zu versöhnen“ (Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als
Avantgarde, Berlin 2002, S. 33).
3.5. Ostdeutschland als Vorreiter beim Einstieg in den
sozialökologischen Umbau der deutschen Gesellschaft und im Herangehen
an globale Umbrüche
Diese Perspektive wird exemplarisch von Rainer Land (Die globale
Energiewende…, in: Berliner Debatte Initial 20(2009)2, S. 62-67), dem
Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung sowie im Leitbild Ost der
Partei Die Linke „Ostdeutschland 2020“[1] vertreten.
Der unter 3.5 aufgeführte Bewertungs- oder Zukunftshorizont geht
davon aus, dass ein zu gestaltender Umbruchsprozess bevorsteht, der
nicht allein Ostsdeutschland oder die Bundesrepublik tangiert, sondern
als globaler Prozess zu verstehen ist. Gemeint ist der Umbruch zu einer
Gesellschafts- und Wirtschaftsweise, die den blockierten, auslaufenden
sozialökonomischen Entwicklungsmodus des „Fordismus“ ersetzt. Der
Fordismus geriet in den 1970er/80er Jahre in die Krise, an der die
sozialistischen Länder zerbrachen. Der Westen konnte Anpassungen
finden, aber noch nicht den Übergang zu einem neuen Entwicklungsmodus
bahnen.
Die Suche nach einem neuen und zukunftsfähigen Entwicklungsmodell
hat man sich als offenen Selektions- und Gestaltungsprozess
vorzustellen, der im Kern um zwei Pole kreist – um Ressourcen und
Energieeffizienz sowie um eine neue Form der sozialen Teilhabe. Im
Leitbild der Linken für Ostdeutschland wird das sozialökologischer
Umbau genannt und für verschiedene Bereiche durchbuchstabiert.
Demzufolge sind alle Ansätze, Ideen, Potenziale etc., die sich auf
Energieeffizienz plus neue Form der sozialen Teilhabe ausrichten, als
progressiv, nachhaltig und zukunftsfähig zu werten.
Das betrifft die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche
und Sektoren (von Wirtschaft bis zu Konsum oder Lebensweise),
Institutionen, Regeln und Verfahren, Akteure, Mentalitäten und
Dispositionen.
Warum aber könnte Ostdeutschland Vorreiter beim E i n s t i e g in
den sozialökologischen Umbau sein, der Aufbruch, was Deutschland
betrifft, von hier ausgehen?
o Weil die zwischen Oder und Werra vorfindlichen
Problemkonstellationen einen Pfadwechsel eher nahe legen um
Perspektiven zu gewinnen - als im Westen
o Weil es im Osten reale Ansatzpunkte für den sozialökologischen Umbau und für innovative Umsteuerungen gibt
o Weil es im Osten eine strukturelle Mehrheit linker Akteure und
Positionen gibt, darunter (aber nicht nur) eine starke Position der
Linkspartei.
Zukunftspotentiale Ost sind z.B. aus dieser Perspektive:
- die Weltmarktpotenziale der Wind- und Solarindustrie wie auch
dörfliche Selbstversorgung mit regenerativer Energie oder der
Lebensweisepionier in der Uckermark. Der Fokus schließt auch kleine
Lösungen/Ansätze ein wie den Lebensweisepionier. Doch müssen sie der
Leitperspektive verpflichtet sein – neues Entwicklungsmodell der
Teilhabe und Ressourceneffizienz als Kriterium –, ansonsten ist der
Stellenwert der einzelnen Entwicklung nicht zu erkennen.
- Gleichfalls in den Blick zu nehmen sind zukunftsfähige Ansätze,
die vielfach deshalb als Zukunftspotenziale zu sehen sind, weil sie
sich als Voraussetzungen für einen neuen Pfad verstehen lassen und an
diesen anschlussfähig sind. Beispiele sind etwa die Dominanz von KMU
und Clusterbildungen im Osten. - Die Betonung der enormen Defizite in der privatwirtschaftlichen
Industrieforschung ist richtig, blendet aber die Potenziale öffentlich
organisierter Industrieforschung und die von regional orientierten
Hoch- und Fachhochschulen aus.
Im Osten werden zukünftige Sozial-, Kultur- und Lebensformen
erprobt (es ist durchaus etwas dran: arm, aber sexy!). Ostdeutschland
präsentiert sich als Seismograph von Herausforderungen moderner
Gesellschaften: Hier werden Gestaltungskonzepte für Stadtumbau,
dörfliche Entwicklung in Angriff genommen und hier erfolgt
erzwungenermaßen die Auseinandersetzung mit Schrumpfungsprozessen.
Die Zukunft liegt offenbar in einer neuartigen Rekombination von
unterschiedlichen Vergangenheiten und Erfahrungsbeständen: Der Osten
hat institutionelle und Sozial-Formen sowie Traditionen und Präferenzen
aufzuweisen, die eher international anschlussfähig sind als an
Praktiken einer (in der Hinsicht vielfach verkrusteten) westdeutschen
Gesellschaft. International anschlussfähig sind beispielsweise
Traditionen und Präferenzen des Ostens für längeres gemeinsames Lernen
(Skandinavien); die Bevorzugung zentralstaatlicher Verantwortung für
das Bildungswesen gegenüber der in Deutschland zementierten
Kleinstaaterei (Frankreich); der Auf- und Ausbau und Erhalt des aus der
DDR überkommenen Systems der frühkindlichen Bildung und Erziehung
(Frankreich)…
3.6. Zukunftspotentiale Ost in Bezug auf einzelne Gesellschaftsbereiche wie etwa das politische System der Bundesrepublik
In dieser Hinsicht werden mindestens drei vom Osten ausgehende
Bereicherungen des politischen Systems der Bundesrepublik reflektiert
° die Besetzung einer funktionalen Leerstelle: der Osten mit der PDS als Katalysator einer bundesweiten Linkspartei
„In einer sozial gespaltenen Gesellschaft brauchen Sie eine
politische Vertretung der unteren Schichten“ (die anderen Parteien
erwähnen zwar das Problem der unteren Schichten, aber lassen es
eigentlich links liegen). Die Linkspartei hat dieses Angebot
entwickelt, gestützt auf den Organisationskern PDS und die ideologische
Erbschaft der PDS (Joachim Raschke 2009)
° mit einer „interessanten Kanzlerin“ aus dem Osten, deren
„unideologische Haltung“ dafür sorgt, dass sich die CDU von allzu
konservativen Positionen verabschiedet und zur Mitte hin öffnet
(Joachim Raschke 2009). Man kann ja zu der Kanzlerin stehen, wie man
will. Doch dass sie an der Öffnung einer großen deutschen Partei
arbeitet, wird man konzedieren müssen
° die vom Osten ausgehende teils direkte, teils indirekte
Thematisierung der „historisch-politischen Schieflage der Berliner
Republik“ , die sich bislang primär und einseitig auf die Erbschaft und
Tradition der alten Bundesrepublik bezieht. Das führt zu einem
„Legitimationsdefizit, auf das die Politik der Berliner Republik bis
jetzt keine Antwort gefunden hat“ (Michael Weigl; Lars C. Colschen
2001)
Auf Dauer wird der Osten mehr Gleichberechtigung in den
historisch-kulturellen und politischen Bezügen des vereinten
Deutschlands einfordern und auch durchsetzen.
4. Zur Frage der Trägerschaft und Reproduktion von
»Zukunftspotentialen Ost mit DDR-Bezug« im Osten in der Abfolge der
Generationen
Wenn der Osten gewisse zukunftsfähige Erfahrungen und
Lösungsansätze zu bieten hat, darunter solche, die aus der DDR kommen
oder hier erstmals in breiter Front praktiziert wurden, dann stellt
sich die Frage, wie steht eigentlich die ostdeutsche Bevölkerung heute
dazu? Ist das Wissen um solche Ansätze an bestimmte Altersgruppen
gebunden und verlischt mit ihnen oder wird es auf kommende Generationen
übertragen?
Die Übersicht 8 präsentiert einige Antworten
Übersicht 8: DDR-Lösungen, die bei der Reform des Sozialstaates
aufgegriffen werden sollten (NBL 2008 in Prozent; nur Antworten:
„unbedingt aufgreifen“)
(Präferenz für Lösung in Prozent der Befragten)
Verpflichtende Reihenuntersuchungen für Kinder: 96% Verpflichtende Reihenuntersuchungen für Erwachsene: 66% Impfpflicht: 93% Polikliniken: 83% Einheitliche Krankenversicherung: 80% 10-klassige Oberschule: 73% Einsatz von Gemeindeschwestern: 58% (Quelle: SFZ: Leben in den neuen Bundesländern 2008, Ausgew. Aspekte, S.31-33.)
Auf den ersten Blick scheint es so, dass Ostdeutsche bestimmte
Strukturformen, Organisationslösungen, die in der DDR praktiziert
wurden, mehrheitlich schätzen und für anschlussfähig an zeitgenössische
Reformbestrebungen auf dem Felde des Bildungswesens
(Gemeinschaftsschule), bei der Organisation (!) des Gesundheitswesens
und bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme (solidarische
Bürgerversicherung) halten. Davon weicht höchstens der Einsatz von
Gemeindeschwestern ab. Im ländlichen Raum wird aber der Einsatz von
Gemeindeschwestern von 2/3 befürwortet. Mit Blick auf die Frage dieser
Tagung „…was wirkt fort?“ lässt sich sagen:
Im Großen und Ganzen funktioniert der Transfer von Präferenzen in
dieser Hinsicht in der Abfolge der Generationen. Das ist umso
bemerkenswerter als im Mainstream-Diskurs zur DDR andere Akzente
gesetzt und die in den neuen Bundesländern vorfindbaren, praktizierten
Lösungen mehr oder weniger denen der Alt-Bundesrepublik gleichen. Es
sind unter den Bedingungen der unter 3.6 skizzierten
historisch-politischen Schieflage der Berliner Republik und ihrer
offiziellen Erinnerungskultur primär die Familien, die die Erinnerung
an positiv bewertete DDR-Lösungsansätze weitertragen.[2]
Es gibt indes eine folgenreiche Ausnahme. Sie betrifft die von
verschiedenen politischen und sozialen Kräften gewollte Einführung der
Gemeinschaftsschule: Jüngere messen der beabsichtigten, von mehreren
politischen und sozialen Akteuren politisch gewollten Einführung der
Gemeinschaftsschule eine geringere Bedeutung bei als Ältere. Das zeigen
altersspezifische Aussagen zur Einführung der Gemeinschaftsschule im
Rahmen der Reformen des Sozialstaates.
Alter und Haltung zur indizierten Einführung der Gemeinschaftsschule (NBL, 2008, in Prozent)
(Quelle: SFZ: Leben in den neuen Bundesländern 2008, Ausgew. Aspekte.)
„Was die DDR war, wissen wir. Was sie sein wird, wissen wir nicht“ (Gert Mattenklott). Der
zitierte Satz lädt zu Interpretationen ein. Natürlich könnte man sofort
einwenden, dass es einen informierte und informierende
Gesellschaftsgeschichte der DDR nicht gibt. In diesem Sinne lässt sich
bestreiten, dass wir wissen, was die DDR war.
Der voran stehende Abschnitt 4 bezieht sich indes auf das
Alltagsbewusstsein, im weiteren Sinne das kollektive Gedächtnis der
hier und heute lebenden Bürger der Bundesrepublik. Und hier kann man
mit Fug und Recht sagen, dass im Grunde jeder Bundesbürger zur DDR eine
entschiedene Meinung hat und jeweils zu wissen glaubt, was die DDR war.
Wir können ferner darauf bauen, dass sich mit den Interessen,
Sehnsüchten, Hoffnungen und Ängsten künftiger Generationen auch das
Bild der DDR wandelt. Was sie kommenden Generationen sein wird, wissen
wir indes nicht.
Anmerkungen
[1] „Ostdeutschland 2020“. Studie im Auftrag der
Fraktionsvorsitzendenkonferenz der Partei Die Linke in den Landtagen
und im deutschen Bundestag, Berlin 2009 oder unter
http://dokumente.linksfraktion.net/pdfdownloads/7788797028.pdf
[2] Wie das Beispiel ethnischer und konfessioneller Minderheiten
zeigt, können über die Familie über mehrere Jahrhunderte hinweg
alternative Erfahrungen, Geschichtsbilder tradiert werden. Von
ethnischen und/oder konfessionellen Minderheiten wurden indes auch die
Grenzen dieses, primär an die Familie gebundenen Reproduktions- und
Tradierungsmechanismus diskutiert und benannt (vgl. Jan Šolta: Abriss
der sorbischen Geschichte, Bautzen 1976; vgl. Michael A. Meyer (Hrsg.):
Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. III und IV, München
1997).
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