Thema | Kulturation 2/2004 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Lutz Haucke | Die ROM-Trilogie des Federico Fellini
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Der mediterrane Kulturkreis weist im Vergleich zu allen anderen
Kulturkreisen Europas in den 60er und 70er Jahren herausragende
Regisseure auf, die in Trilogien große Erzählungen
a) der nationalen Geschichte und darauf bezogener
Lebensgeschichten versuchten (der Spanier C. Saura: GARTEN DER LÜSTE,
1970; COUSINE ANGELICA, 1974; ZÜCHTE RABEN, 1975; die Italiener: F.
Fellinis Rom-Trilogie mit DOLCE VITA, 1960, SATYRICON, 1968 und ROMA,
1971; L. Viscontis Deutsche Trilogie; der katholische Ägypter Chahine
mit seiner Alexandria-Trilogie: ALEXANDRIEN, WARUM?/1978 (Berlinale
1979 Silberner Bär), ADIEU BONAPARTE ,1985, ALEXANDRIEN, NOCHMAL UND
IMMER WIEDER, 1990; der Grieche Th. Angelopoulos mit
WANDERSCHAUSPIELER, 1974, JÄGER, 1977, ALEXANDER DER GROSSE, 1980;
außerdem sei für diese Zeit auf den Georgier Tengis Abuladse mit MOLBA,
1968, BAUM DER WÜNSCHE, 1978, REUE, 1984) verwiesen.
b) die in stories über Entfremdungen im Geschlechterdiskurs
Psychogramme der middle class diagnostizierten (Antonionis These „von
der Krankheit der Gefühle“). Vgl. die Trilogie M. Antonionis DIE MIT
DER LIEBE SPIELEN, 1960; LA NOTTE, 1961; L’ECCLISE, 1962. Fellinis
ROM-Trilogie nimmt Bezug auf gewaltige historische Dimensionen und auf
die überlieferten Bilder von einem imperialen Weltzentrum.
Der Legende nach wurde Rom am 21. 4. 753 v. u. Z. gegründet, d.h.
drei Jahrtausende türmen sich übereinander. Und Fellinis Biographie
tangierte de facto vier Päpste: 1939-1958 PIUS XXII., 1958-1963:
Johannes XXIII. (Enzykla Pacem in terris), 1963-1978 Paul VI., seit
1978: Johann Paul II.), d.h. indirekt ist auch in der ROM-Trilogie
Fellinis, des römischen Katholiken, die Macht und die
Ausstrahlungskraft der herrschenden katholischen Kirche zu entdecken,
einschließlich ihrer barocken Baukunst – aber in einer freien und
widersprüchlichen Autorensicht.
Übersicht der Darstellung
I. Dramaturgische Aspekte der Romtrilogie Fellinis - Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Trilogie
1. Mediterrane Symbolisierung des Körpers und fellineske Maskeraden
2. Differenzierungen der epischen Dramaturgie
3. Der Chronotopos der Wanderschaft und des Unterwegsseins
4. Fellinis ROMA - eine Konstruktion der Sinne
5. Fellinis Frauentypagen und ihre Modifikationen in der ROM-Trilogie
II. Filmhistorische Bezugspunkte der ROM-Trilogie Fellinis
1. Entwürfe von Rom-Bildern in den 60er Jahren in Italien - Anlass für Skandale
2. M. Antonionis Trilogie (1960-62) - ein Gegenpol zu Fellini?
3. Warum Umgang mit der Historie? P. P. Pasolini im Vergleich zu F. Fellini und F. Rosi
I. Dramaturgische Aspekte der Romtrilogie Fellinis - Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Trilogie
In den Mittelmeerkulturen lebt und bebt die Macht der Natur des
Individuums, seine Naturgebundenheit und deren ständige Zügelung durch
Macht und Herrschaft in Jahrhunderten: die griechischen Stadtstaaten,
Alexander des Großen Feldzüge bis Kleinasien, die Ptolemäer, die
römischen Imperatoren, die Herrschaft der Päpste, Napoleons Feldzüge in
Italien und Ägypten, faschistische Diktaturen in Spanien und Italien,
zeitweise in Griechenland u. a.
Der Widerspruch von Macht und Natur, von institutioneller
Herrschaft in der Kultur und gewalttätiger Macht des Mannes in den
Geschlechterbeziehungen wird bei Fellini nicht in ein Leiden, nicht in
Tragödien aufgelöst. Die ROM-Trilogie besteht aus Sittenbildern, aus
Gesellschaftspanoramen- aber immer und immer wieder entdecken wir
Fellini als einen Filmregisseur, der konsequent wie kein anderer ein
Theatralitätskonzept geltend gemacht hat. Rom als Schauspiel und die
Römer als Akteure- und Fellinis Suche nach dem „Theater des Lebens“ und
dem „Schauspiel Rom“.
Diskussion mit dem konservativen Advokaten /1/
„Aber soll das denn noch Rom sein? Wo alle verrückt spielen! Wo
alle rennen! Wo`s allen pressiert...Wo die Leute ganz verdorben sind !
Weil eben die wirklichen Römer verschwunden sind!
Du meinst, das stimmt nicht? Schau dich doch um!“/2/
Diskussion mit den Studenten /3/
1. Student: Wir wollten Sie sprechen, wenn das geht...Sie fragen,
ob in diesem Film, in diesem Porträt, das Sie von Rom machen wollen, ob
Sie da einen objektiven Standpunkt einnehmen, der sich auf die ewig
ungelösten Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft bezieht..
Ein 2. Student..
Selbstverständlich beziehen wir uns nicht auf die Probleme der Schule..
Der 1. Student fährt fort
..die Arbeitsprobleme zum Beispiel, und die Probleme in den Fabriken, in den Vorstadtsiedlungen...
Die Studenten stehen im Kreis um Fellini. Eine Studentin fällt ein:
1. Studentin:..Wir möchten nicht hoffen, dass dabei wieder das
übliche platte, wohlleibige, unordentliche und mütterliche Rombild
herauskommt.
Fellini(lacht)..Ja, ich hab kapiert, aber..
2. Studentin: ..also die abgeschmackte Allerweltsansicht von Rom..
1. Student.... denn schließlich ist ja Rom nicht nur das..
Fellini verteidigt sich amüsiert und ein wenig verlegen:
Fellini: Was ich sagen möchte, ragazzi, jeder soll nur das erzählen, was er weiß..
Die Mitglieder der Filmtruppe setzen sich....
2. Studentin(off): ..So ein Rom, das geht uns nämlich einen Dreck an!
2. Student (off) Man muss endlich die revolutionäre Rolle der
Arbeiterklasse unterstreichen... und vor allem des städtischen
Proletariats...
...Fellini(als Sprecher):
Das Teatrino della Barafonda… es lag nahe dem Bahnhof. Das ist’s
,worauf ich die Kamera richten will…,das ist’s , was ich erzählen
möchte, nämlich wie es vor 30 Jahren war, das Theaterchen
Barafonda...das Schauspiel...“/4/ Aus: Villa Borghese-Episode in ROMA(1971)
Für die Dramaturgie der ROM-Trilogie lassen sich erst einmal diese Feststellungen treffen:
(1) Mediterrane Symbolisierung des Körpers und fellineske Maskeraden
Nicht die politische Geschichte ist das Feld der Kunst und nicht
die soziale Analyse wie in den Frühwerken des italienischen
Neorealismus (nach 1945/47). Fellini knüpft nicht an die
rationalistische Tradition der europäischen Kultur mit ihrer
Unterwerfung der Gefühle und Sinne unter das Diktat der
Überschaubarkeit, die Fortschritt sichert, an, sondern er knüpft an die
der Übermacht des Abenteuers der Gefühle, der Triebe, der Körper an.
Deshalb entdecken wir auch in der ROM-Trilogie:
die mediterrane Symbolisierung des Körpers (mit den
plebejisch-römischen Mentalitäten: Essen, Trinken, Sexualität ;vgl.
SATYRICON das Gastmahl des Trimalchios, vgl. die essenden Römer im
Stadtteil Travestere in ROMA; vgl. Projektionen der Männer auf die
Frauen/den weiblichen Körper(und auch in SATYRICON auf den männlichen
Körper): Sylvia im Trevi-Brunnen in DOLCE VITA , die Bordellszenen in
ROMA),aber bedenkenswert auch die kulturelle Spannweite: so in der
Modenschau-Episode in ROMA , in der am Beispiel der historischen
Kostüme dies belegbar wird (der Fürst in der Tracht der spanischen
Gegenreformation aus dem 16. Jh. mit dem Verzicht auf eine persönliche
Note und dem Ausstellen des Beherrschens von Leidenschaften, der
Gemessenheit und Unterwerfung unter die kirchlich-dogmatische
Autorität);
Interessant an Fellinis ROM-Trilogie ist, dass er intertextuell
Hochkunst und mass culture, höfische Kunst und
plebejisch-demokratische/bukolische Ästhetik mischt. Fellini hat auf
seine Weise eine zunehmende Theatralisierung in seinem Schaffen
entwickelt und dies gilt auch für die ROM-Trilogie.
Ausgangspunkte sind die erstarrten Interaktionsmuster in der Gegenwart:
„Wenn man aus einem gewissen Abstand die Beziehungen der Menschen
untereinander bei Zeremonien- allein schon hier bei der Biennale in
Venedig-beobachtet, so nimmt die uns umgebende Menschheit sofort das
groteske Aussehen einer unverständlichen Maskerade an. Wir wissen
nicht, was alle diese Leute wollen. Die Verabredungen, der offizielle
Prunk, die Leidenschaften, die Beschlüsse, die Wünsche sind ebenso
seltsam wie die Bewegungen und Handlungen der Personen in SATYRICON.
Es handelt sich dabei also nicht um einen Film über die römische
Welt, sondern über das Altertum, und unter Altertum verstehe ich etwas
vollkommen Unbekanntes, das sich tief in unserem Innern verbirgt.“ /5/
Nicht die Rekonstruktion der römischen Geschichte ist Fellinis
Anliegen, sondern er erzählt von Rom als einem großartigen Schauspiel
des Lebens und des Weltendes:
„Weil Rom verschiedene Dimensionen hat, weil Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sich vermischen, ist es ein angenehmer Ort, um
dem Schauspiel des Lebens zuzusehen. Und auch dem großen Schauspiel des
Weltendes. Ich glaube, dass man das Ende der Welt in Rom würdigen und
ihm applaudieren wird. Danach kann man weiterfahren oder vielmehr
wiedergeboren werden.“ /6/
Fellinis Konzept von Rom als Schauspiel des Weltendes schließt die
ästhetische Aufmerksamkeit für Maskeraden ein (z. B. die Modenschau in
ROMA, aber auch in ACHTEINHALB die Spaltungen Marcellos u. a.). Während
bei Bergman die protestantische Tradition der Scham des Individuums zu
entdecken ist, ist bei Fellini Maskierung die Kennzeichnung der
gegenwärtigen Dekadenz.
In der ROM-Trilogie entdecken wir Fellinis Phänomenologie der
Maskeraden wieder, d.h. die Maskeraden sind Gruppen- und
Massenarrangements fellinesker Typagen, die metaphorisch und
zivilisationskritisch verwendet werden (wie z.B. die Wunderepisode in
DOLCE VITA als Verkehrung christlicher Gläubigkeit oder die päpstliche
Modenschau in ROMA und die Vision der Adligen und des Klerus von der
Wiederkehr des konservativen Pius).
Als Phänomene fellinesker Maskeraden können in der ROM-Trilogie unterschieden werden:
- Festaufzüge als Maskeraden
Partygesellschaft im Finale von DOLCE VITA, Motorradfahrersequenz im Finale von ROMA
Tafelfeste
als Anknüpfungen an die mediterranen Festkulturen (Gastmahl des Trimalchio,
die Essgelage in Travestere in ROMA)
- Demonstrationen der Macht als Festzeremonien, aber auch als Parodien der Herrschaft
Der Triumphzug des Heeres in SATYRICON lässt den Zuschauer die
Faszination, die Ästhetik des Krieges ahnen. Die Modenschau in ROMA
wird als römische Parodie von Fellini inszeniert. Die Macht Jesus
Christus’ wird in DOLCE VITA parodiert (vgl. den Flug mit der
Christus-Statue zu den Arbeitern, die Wunder-Episode). Als überlieferte
römische Tradition der Parodien der Macht wären z. B. die Verkehrungen
der Triumphzüge von einer die Einheit von Magistrat und Heerführer
demonstrierenden Angelegenheit zu Schauspielen der Selbstherrlichkeit
von Imperatoren zu nennen. /7/Z. B.: Neros Parodie des
Feldherren-Triumphzug-Rituals als er vom Dichterwettstreit aus
Griechenland zurückkehrte und Stadttore für seine Quadriga zwischen
Neapel und Rom einreißen ließ und den Lorbeerkranz nicht - wie
vorgeschrieben für Triumphzüge- in den Schoß des Jupiters gab, sondern
in seinem Schlafzimmer aufhängte; weiterhin: Caligulas Imitation der
Via Appia am Golf von Puteoli (Pozzuoli) ,so dass er auf der 3,5 km
langen Brücke einmal als Dichter und ein andermal als Heerführer
entlang fuhr.
(2) Differenzierungen der epischen Dramaturgie
Die Besonderheiten der Fellinischen Dramaturgie sind auch in der
ROM-Trilogie zu finden - in Unterschieden, die sich aus der Entwicklung
zwischen DOLCE VITA (1960) und ROMA (1971) ergeben:
Die epische Dramaturgie von Fellini entwirft nicht sich
entwickelnde dramatische Charaktere. Sie stellt Lebensstil der Figuren
aus, römische Mentalitäten. Sie muss deshalb mit selbständigen
Episoden, die relativ abgeschlossene stories erzählen, arbeiten.
Einige Zitate sollen das belegen:
Fellini über Marcello in DOLCE VITA (1958): „Die Gestalten meiner
Filme sind unbeweglich, denn die Gesellschaft, in der sie leben, unsere
Gesellschaft, ist stehen geblieben und wartet ab. Sie sind unbeweglich,
selbst in ihrer frenetischen Sarabande. Es sind Leute, die von
versunkenen Mythen leben. Die Suche nach der Wahrheit ist Sache des
Reporters geworden, Sache eines gläsernen Apparates, der sie mit
gläsernem Auge erfasst...“ /8/
Fellini über den ungewöhnlichen erzählerischen Aufbau von ROMA:
„Er hat keine Charaktere, keine spannende Handlung, es geht
lediglich um die Empfindung einer Stadt, eine Entdeckungsreise..“ /9/
In ROMA wird ein Übergang zu einer Multiperspektivität des Erzählers vollzogen:
„Der Film weist drei Perspektiven auf: die erste, die sich auf
meine Vergangenheit, auf meine Kindheit bezieht, ist eine
humoristische, groteske Einleitung, eine Kollage aus den Klischees der
Epoche. Sie wissen ja, diese Werbeplakate für Hochzeitsreisen, diese
Deformierungen durch die Schule und all diese Phrasen, die ungestalten,
primitiven Dinge, die der Pabst gut heißt.
Die zweite ist die Perspektive der Erinnerung: ein Heranwachsender
geht nach Rom, entdeckt die Römer, die Kirche, die Frauen, das Music
Hall. Die Sequenz über das Music Hall ist die politischste: ich zeige
mit einem Gefühl von Mitleid und Scham, das Klima der Ignoranz, des
Aberglaubens, des Obskurantismus und der Sentimentalität, in welchem so
viele Römer während des Krieges lebten, unter dem Faschismus und
während der Bombardierung Roms.
Die dritte Perspektive ist die des Filmautors, der dem Publikum die
Freude macht, ihn betrachten und ihm beim Filmen zusehen zu dürfen. Und
dieser Filmautor äußert sich über den Verkehr, die Untergrundbahn, die
kirchliche Parade und das große symbolische nächtliche Finale mit den
Motorradfahrern, die durch die Stadt rasen.“ /10/
An die Stelle der Entwicklung des Charakters im sozialen Milieu
(des Individuums, der Gesellschaft) tritt bei Fellini der Lebensstil
von Menschen (und Menschengruppen), nicht dramatische Wandlungen, nicht
Entscheidungsdramaturgien sondern epische Episodendramaturgien arbeiten
auf Reifen, Zu-Sich-Finden - und sei es nur die totale Erkenntnis der
Krise wie die des Marcellos wenn er im Finale zu DOLCE VITA der Krake
ins blinde Auge schaut. D.h. Entwicklung ist einzig eine moralische
Kategorie geworden nicht ein sozialer Sachverhalt. Dafür steht auch die
ROM-Trilogie. Den Grenzfall bildet ROMA (1971), die Thematisierung
autobiographischer Erfahrungen und einer Dokumentarfilmproduktion über
Rom.
ROMA (1971) wird zum Grenzfall der episodischen Dramaturgie:
Die Grenzüberschreitung seines Konzeptes der episierenden
Dramaturgie ist in der Thematisierung der Dokumentarfilmproduktion
begründet. Aber Fellini begibt sich nicht auf die Ebene der
Dokumentarfilmdramaturgie wie das in der europäischen
Spielfilmdramaturgie in der Anlehnung an cinema direct und cinema
verité in den 60er Jahren sich entwickelte.
Ironisiert also Fellini Argumente der Römer über die Geschichte
ihrer Stadt, über ihre Gegenwart und Zukunft oder folgt er einer
zentralen dramaturgischen Frage des Dokumentarfilms in einer Zeit, da
cinema direct und cinéma verité nahezu ein Jahrzehnt alt sind ? Fellini
zeigt in den einzelnen Episode nicht verschiedene Entwicklungen von
Figuren sondern Verhaltensweisen werden in Vorgängen deutlich und er
macht eine Argumentationsdramaturgie geltend.
Die Rückblendendramaturgie der Nouvelle Vague bzw. des Rive gouche
sucht man bei Fellini vergeblich. Aber Träume werden inszeniert, um
Sittenbilder zu entwerfen, die ein Gesellschaftspanorama und nicht
einen individuellen Charakter ausstellen. Fellini: „Rom ist die Heimat
des Pomps, des Ornaments, der Schminke, des Barocks. Ich habe mir eine
Sequenz ausgedacht über die schwarze Aristokratie, die sich nach einer
politisch aktiven Kirche und einem nepotistischen (d.h. Verwandte bei
der Verteilung bevorzugenden - L. H.), ihre Privilegien schützenden
Papst zurücksehnt ... eine römische Prinzessin träumt von dieser
Parade. Sie beginnt als Parodie, als Satire, erhält aber bald eine
sehnsüchtig rückwärts gewandte Dimension und endet mit der Erscheinung
Pius’ XII., des vielgeliebten Papstes, dem man zuruft: „Komm zurück,
komm zurück!“ /11/
Fellini, der von sich ironisch sagt, er sei ein Lügner, kehrt das
Dokumentarprinzip um, das er im italienischen neorealismo selbst
vertreten hatte (PAISÁ: die Franziskanerepisode, 1947; DIE ERDE BEBT;
Visconti, 1948) und das für die Spielfilmregie der 60er Jahre viele
neue Impulse vermittelt hatte. Endgültig nach 1965 ist die Abkehr vom
Dokumentarischen ein Gestaltungsprinzip: alles wird im Studio als
Imitation der Realität nachgebaut und die Studiowirklichkeit erscheint
als der schöne Schein der Realität. Nicht das bloß reale Abbild,
sondern die Konstruktion der Realität begleitet Fellinis Ironie.
Deshalb dann in SATYRICON erstmals (und fortgesetzt in ROMA) die
Zusammenarbeit mit Donati: „Er ist bei Viscontis großen
Operninszenierungen und Dappoportos und Walter Chiaris volkstümlichen
Revuen als Kostümbildner tätig gewesen, hat den Schlagerwettbewerb
Canzonissimia im Fernsehen ausgestattet und mit Pasolini IL VANGELO
SECONDO MATTEO (DAS 1. EVANGELIUM MATTHÄUS) gemacht. Und demnächst
sollte er in Hollywood einen Oscar erhalten, und zwar für die Kostüme
von Zefirellis ROMEO E GUILETTA. Federico kann kaum fassen, dass er
einen so raffiniert-anspruchsvollen und hochgebildeten Director
gefunden hat, der zugleich auch ein Meister des Sich-Arrangierens ist.
Mit dem Regisseur teilt der neue Freund die Lust an der Herausforderung
des letzten Augenblicks, das maliziöse Vergnügen einen alten
Stofffetzen in ein Stück Brokat zu verwandeln, und die Gewohnheit, im
Hintergrund rasch und effektiv zu arbeiten, ohne sich in Diskussionen
zu verzetteln. Bei SATYRICON ist Donati nicht nur für die Kostüme,
sondern auch für das Dekor (nach Skizzen Fellinis) verantwortlich, das
in bestem Einklang mit dem nicht architektonischen, rein
kinematographischen, hauptsächlich auf Lichteffekten beruhenden Stil
der Szenographie steht.“ /12/
(3) Der Chronotopos der Wanderschaft und des Unterwegsseins
Es fällt auf, dass in der ROM-Trilogie und in einigen Werken die
Wanderschaft, die Reise, das Unterwegssein - und sei es nur das
Umherfahren - tragend ist (VARIETÉ, LA STRADA, DOLCE VITA, SATYRICON,
ROMA/ eine Modifikation ist das Schiffsmotiv als Motiv der
geschlossenen Gesellschaft in SCHIFF DER TRÄUME);
Die Zeit-Dimension wird aus dem Durcheilen von Stationen gewonnen
und dadurch wird Lebenszeit, Schichtung von Gegenwart und
Vergangenheit, Geschichte und Wahrnehmungszeit verknüpfbar, d. h. eine
vielschichtige Zeitkonstruktion des Erzählens in Episoden wird möglich.
Und: Historie wird nicht rekonstruiert sondern Fellini operiert mit
den zyklischen Zeitdimensionen des Lebens: mit Anfang und Ende eines
Lebens, mit Geburt, Kindheit, Jugend bis Tod (als Episode in DOLCE
VITA: der Selbstmord Steiners; in SATYRICON der Endpunkt: das Ende von
Encolpius; in ROMA Kindheit und Jugend als Ausgangspunkte der
Erzählung).
(4) Fellinis ROM - eine Konstruktion der Sinne
Eine Dramaturgie der szenographischen Räume bestimmt die Rombilder
Fellinis - dies aber als Konstruktion der Sinne. Er nimmt Bezug mit
seinem panoramatischen Kamerakonzept auf jene Funktionalisierung der
Sinne, wie sie in der Architekturgeschichte Roms mit Übergang zum
Barock prägend war( z.B. Sixtus V. und die Piazza del Popolo). Und
Fellini favorisiert bestimmte Wahrnehmungsweisen:
a) die Relationen zwischen Ohr-Auge in den Dimensionen nah-fern / oben-unten.
Oben und unten sind beim Hören viel relativer als beim Blicken (ein
Schrei auf der oberen Reihe des Colosseums wäre ein künstlicher
„Knall“, denn alles wird bestimmt durch den Lärm „unten“).
b) Greenaway stilisierte die Vertikalen-Horizontalen in BAUCH DES
ARCHITEKTEN (1986), aber Fellini verwendet Dolly-Fahrten (Erde/Höhe),
um Spannungen zu bauen, Panoramafahrten, d. h. er dynamisiert die
Räume, verändert Koordinaten (z. B. DOLCE VITA, 1960: das
Wunderereignis in seiner simultanen Auflösung).
c) Fellini arbeitet mit Bildern und optischen Vorstellungen, die an
Männlichkeitsvorstellungen gebunden sind („An Optisches ist auch die
Vorstellung von Männlichkeit gebunden. An Körpergröße, Stärke, Breite,
an Phallus. An Eigentum und Familiengründung. An Autos und Straßen.
Symbole der Sichtbarkeit.“ /13/
Exkurs:
Das Finale von ROMA (1971)
(1) Die Symbolfunktion der Motorradfahrer im Finale
Fellini:
„Es steht den Zuschauern, den Kritikern zu, dieses Finale zu
interpretieren. Für mich ist es doppeldeutig: ich habe sie ‘Kentauren’
genannt; aber diese Typen können Barbaren sein oder Befreier - oder
einfach Motorradfahrer, die in einer Stadt herumfahren, die keinerlei
Ähnlichkeit mit einer Hochglanzpostkarte hat.“ /14/
Die Motorradfahrer haben eine symbolische Dimension. Ihre
Geschlossenheit, ihre Unnahbarkeit, ihr Vorbeiziehen an den Bauten der
historischen Größe Roms, lässt eine irrationale Macht ahnen - ohne
konkrete Zuordnung. Die Assoziationsreihe führt über wehrlose Hippies,
Polizeieinsatz, Menge und Boxkampfrausch und Magnanis Statement über
Ruhe, Schlafengehen hin zu einem die Vorstellungskraft überschreitenden
Machtsymbol - der Barbarei oder auch der Freiheit. Fellini lässt dies
offen. Was er aber im Schlussbild mittransportiert wird ist die
Gewissheit eines Generationskonfliktes.
(2) Welche dramaturgischen Funktionen kann ein Finale haben? Und welche sind für die ROM-Trilogie kennzeichnend?
a) Das Finale kann sein ein synthesierender Schlusskommentar (A.
Tarkowski RUBLJOW, 1969, in dem das Finale eine Auflösung der message
und zugleich ein episierender Kommentar zur Zentralfigur ist).
b) Das Finale kann sein die dramatische Zuspitzung: die
Katastrophe (Pasolini: ACCATONE, 1960 /Penn: BONNY AND CLYDE, 1967;
Hopper EASY RIDER,1968; W. Schukschin: KALINA KRASNAJA, 1976).
c) Das Finale kann sein ein black out, die Verfremdung eines happy
ends (Chahine: ALEXANDRIEN, WARUM, 1978, aber: Huston: MALTESER FALKE,
1941, die Verfremdung mittels der Bleifigur und ihrer Metapherbedeutung
für Träume).
In DOLCE VITA (1960) endet das Finale mit Marcellos Konfrontation
mit der Krake und in weiter Entfernung taucht das Bild der Paola auf,
d.h. in diesem Film entdecken wir ein Finale, das auf
Bildverallgemeinerungen zur Zentralfigur hinarbeitet - ein Finale der
allegorischen Verdichtungen. In SATYRICON ist ein Erzählerfinale zu
entdecken, d.h. der Erzähler berichtet zu gemalten Bildern, die sich
auf Steinen einer Insel befinden, vom Lebensende des Encolpio auf einer
Insel fern von Rom. In ROMA besteht das Finale aus mehreren Episoden,
unter denen die Ausfahrt der jungen Motorradfahrer aus Rom über die Via
Cristofo Colombus den letztlich machtvollen Schlusspunkt setzt. Davor
entdecken wir Interviews über Rom bzw. Kommentare zu Rom. So das des
Amerikaners über Rom als ein Schauspiel, die Befragung der Anna
Magnani. Und die Trastevere-Milieubilder als da sind: der Quästor, der
mit der Polizei den Platz räumen lässt und sich abfällig über die
Hippies - auch über ihre Feigheit – äußert /15/, der Boxkampf und die
Menge. Ein dramaturgisches Schema ist nicht erkennbar. Aber alle Filme
der Rom-Trilogie enden mit einer Aussage über Rom und die Jugend:
Paola, das Bauernmädchen, im Kontrast zu Marcellos Rom der Dekadenz
DOLCE VITA), Encolpio, der in die Welt auszog, um außerhalb des
Sündenbabels Rom sein Glück zu machen (SATYRICON) und die jugendlichen
Motorradfahrer, die die Stadt verlassen, für die das ewige statische
Baukunstwerk Rom sich verliert in ihren Geschwindigkeiten (ROMA).
(3) Fahrtmotiv , Blickrichtungen und Perspektiven - Fellinis barocker Manierismus im Finale
Die Schlussbilder werden eingeleitet von den
Trastevere-Milieubilder mit dem Quästor, der mit Polizei den Platz
räumen lässt, dann dem Boxkampf und der Menge. Aber beeindruckend wird
die endlose Fahrt einer Motorradkolonne, die zum Finale wird. Sie führt
durch die bedeutenden architektonischen Straßen und Plätze des antiken
und des barocken Roms und mutet dann an wie ein Auszug der Jugend,
symbolisiert durch die Motorradkolonne, aus diesem historisch
überlasteten Rom in eine unbestimmte Freiheit. Diese Motorradkolonne
symbolisiert eine ästhetische Macht in Bewegung und die Fahrt, die
Blickrichtungen und die Perspektiven gipfeln in Manierismen.
Fellinis Manierismus der Kamerafahrten trifft zusammen mit dem
Manierismus der barocken Stadtordnung (auch der perspektivischen
Ordnung durch die Bauten der Spätrenaissance) und er nutzte die
städtebaulichen Perspektiven für sein Fest der Sinne. Die Fahrt führt
über Tiberufer, Garibaldibrücke, Engelsburg, Corso Rinascimento,
barocke Kirche S. Andrea dell Valle, Piazza Navona, Kuppel von S.
Angese del Borromini, Brunnen des Bernini, Spanische Treppe mit S.
Trinità dei Monti, Via Condotti, Piazza di Spagna, Barcaccia Brunnen,
Via del Babuino, Piazza del Popolo (Brunnen und Obelisk). Hier gilt es
zu beachten, dass das Konzept der barocken Stadterneuerung von Sixtus
V. und seinem Architekten Domenico Fontana die Piazza del Popolo und
den Obelisken und zwei gleiche Kirchen mit der mittleren Achse der Via
del Corso verband. Die Via Babuino verbindet die Piazza del Popolo mit
dem Fuß der Spanischen Treppe (was ursprünglich als Achse nach S. Maria
Maggiore geplant war) und schließlich die Via Panisperna, die als
Perspektivpunkt die Trajanssäule hat. D. h. die Kameraführung der
Motorradkolonne kann die barocken Perspektiven der Stadtbilder
transformieren und steigern. Weiter passiert die Motorradkolonne die
Straße von Muro Torto, Porto Pinciana, Piazza del Quirinale und die
Dioskuren (Zeussöhne), Palazzo della Consulta, Capitol, Kirche Ara
Coeli, Statue des Marc Aurelio, Capitolsplatz und die Paläste des
Michelangelo, den Janusbogen, den Tempel der Vesta, dann der Blick vom
Capitolgrund zum Forum Romanum mit den Säulen des antiken
Saturntempels, die Via dei Fori Imperiali und das Colosseum, die Porta
Ardeatina und die Via Cristoforo Colombo.
Richard Sennett macht in „CIVITAS. Die Großstadt und die Kultur des
Unterschieds“ (1989) auf zwei Konzepte des Umgangs mit der
städtebaulichen Perspektive aufmerksam:
- die besitzergreifende Perspektive (der Standpunkt des Ich organisiert den Raum)
und
- die der Entdeckung dienende Perspektive, die Sixtus V. und sein
Architekt Domenico Fontana geltend machten in Rom - realisiert an der
Piazza del Popolo, die nicht auf einen besten Punkt der Übersicht
festgelegt wurde.
R. Sennett schreibt: „… bildeten die Straßen der Spätrenaissance
die Grundlage für ein Straßenleben, bei dem die Menschen sich umsehen,
bei dem sie auf der Straße nach Entdeckungen Ausschau halten, die man
mit dem Auge machen kann. Aber es vollzieht sich auf diesen Straßen
mehr als ein bloßer individueller Wahrnehmungsakt. Die
Renaissancearchitekten, die diese Art von Perspektive im Sinn hatten,
erhoben für die von ihnen geschaffenen Räume einen sehr viel höheren
Anspruch; diese Erfinder erahnten in und mit ihren Entwürfen, gerade
weil sich in ihnen die Grenzen menschlicher Herrschaft offenbarten,
tragische Räume.“ /16/
Auch für den Vergleich mit Greenaways BAUCH DES ARCHITEKTEN und
seiner Sicht auf römische Architektur wird ein Zitat von Heinrich
Wölfflin wichtig, das Sennett verwendet: „Der Barock... will packen mit
der Gewalt des Affects, unmittelbar, überwältigend. Was er gibt, ist
nicht gleichmäßige Belebung, sondern Aufregung, Ekstase, Berauschung.
Er geht aus auf einen Eindruck des Augenblicks, während die Renaissance
langsamer und leiser, aber desto nachhaltiger wirkt. Man möchte ewig in
ihrem Bezirk weilen.“/17/
Die architektonische Stadtkulisse wird bei Fellini und seiner Kameraführung zu einer Inszenierung des visuellen Sinnes.
(5) Fellinis Frauentypagen und ihre Modifikationen in der ROM-Trilogie
Wir entdecken in DOLCE VITA(1960) in Paola dem Mythos der Gnade und
der Unschuld und in Sylvia, dem Star, der Göttlichen. Maddalena scheint
zwischen dem Typus der Ehefrau und den Geliebten in den Fellini-Filmen
zu stehen. Es ließe sich differenzieren zwischen:
Sylvia, der Diva - Urtypus fellinesker Weiblichkeit (Anita Ekberg)
Maddalena, die reiche Erbin und die Geliebte - (Anouk Aimée)
Emma, die ihn liebende Frau - (Yvonne Furneaux)
Paola - die Unschuld (Valeria Ciangittini)
In SATYRICON (1968) entdecken wir den Sarghina-Typus, den Typus des
gewalttätigen kraftvollen Urweibes als die Hexe. In ROMA (1971) sind
nicht die sonst in Fellini-Filmen konstatierbaren Mythologien der Frau
auszumachen. Eine Ursache kann darin bestehen, dass das Panorama, das
der Dokumentarfilmregisseur in Rom sucht und auch seine Erinnerungen
viel konsequenter in den einzelnen Episoden auf ein bestimmtes soziales
Milieu und davon bestimmte römische Mentalitäten ausgerichtet sind.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einige Typagen Fellinis zu unterscheiden:
A. DIE FRAU ALS MYTHOS DER GNADE UND ALS OPFER DES MANNES
In den ersten Filmen (DER WEISE SCHEICH, LA STRADA, NÄCHTE DER
CABIRIA) wird nicht eine körperlich-sexuelle Weiblichkeit der Frau
inszeniert sondern eine Stilisierung von Kunstfiguren, mit der die
Kleinheit, die körperliche Uneigentlichkeit eine Sublimierung des
weiblichen Staunens, des weiblichen Wunderns symbolisch zu besetzen
gestattet. Die Frauengestalten der G. Masina sind konfrontiert und
ausgeliefert an Männer der brutalen oder heuchlerischen Aktionen.
Fellini deutet den Gegensatz der Geschlechter in solchen Konstruktionen
an wie Güte, Heuchelei, Leiden, Brutalität, wobei die Frauen, die
Opfer, die moralischen Siegerinnen sind.
In der ROM-Trilogie taucht dieser Typus nicht mehr auf.
B. DER SARAGHINA-TYP
Dies ist das URWEIB: die Symbolik des weiblichen Körper (Busen,
Hüften, backside, Mund, Augen) als übermächtige (auch brutal) sinnliche
Konfrontation des Jungen/Mannes mit dem anderen Geschlecht, mit dem
Weib als anderem (fremden) Körper. Die Monumentalität und
Triebhaftigkeit des „großen Weibes“ als projizierter Wunsch des
Mannes/Jungen, das (noch)fremde Geschlecht zu erleben und gleichzeitig
die Trennung von den Mutterorientierungen ausleben zu können (ohne sie
überwinden zu können).
Beispiele: Saraghina in 8 1/2; Tabakverkäuferin in AMARCORD; die
Heizerin in STADT DER FRAUEN. In der ROM-Trilogie stoßen wir in
SATYRICON auf diesen Typus in einer abgewandelten Erscheinung: es ist
die Zauberin Oenothea, die dem Encolpius seine Manneskraft zurückgibt.
/18/ In den Bordellepisoden von ROMA ließe sich auch der Sarghina-Typus
entdecken.
C. DIE MUTTER
Erscheint in den Fellini-Filmen als institutionelle Verkörperung des Familienzusammenhalts:
a) als sorgende, den Zusammenhalt der Familie verfolgende Beschützerin und Bewacherin des Vaters (AMARCORD) und
b) als Autorität der Erziehung zur dem Manne und der Familie in Schönheit verpflichteten Ehefrau (JULIA UND DIE GEISTER).
Die Mutterrolle wird in Gegensätze aufgespaltet:
- autoritär / dienend
- asexuell / erotisch.
In der Rom-Trilogie ist sie nicht zu finden.
D. DIE EHEFRAU
Die fellineske Ehefrau ist - außer im WEISSEN SCHEICH (1952) -
niemals jung. Sie erscheint als Fortführung des in Mittelmeerkulturen
bestimmten (asexuellen) Status der Mutter-Rolle für den Sohn. Sie
vermittelt dem Mann Nähe (Luisa in 8 1/2), versucht Verständnis und ist
doch von der Akzeptanz der Herrschaft des Mannes geprägt (JULIA UND DIE
GEISTER).
Beispiele:
ACHTEINHALB; JULIA UND DIE GEISTER; AMARCHORD; SCHIFF DER TRÄUME,
1983. In der ROM-Trilogie wird dieser Frauentyp in Gegensätzen
entwickelt. In DOLCE VITA ist die Emma mehr der leidende Typus, aber in
SATYRICON wird mit der Erzählung der Geschichte der Witwe von Ephesus
auf dem Gastmahl des Trimalchio die Umkehrung der Werte der Gattentreue
im Angesicht des Todes spöttisch-lästerlich vorgetragen.
E. DIE GELIEBTE – Sexgöttin/ Verführerin/ Sex-Objekt
Frauengestalt, die die Projektionen der Männerwelt, resultierend
aus ihren institutionellen Bindungen (Ehe/soziale Ordnung der
Geschlechterbeziehungen in der Stadt u. a.), durch ihre
erotisch-sexuelle Aura auf sich ziehen kann. D. h. die Geliebte als
Bezugsebene eines (oder kollektiven) männlichen ICHs Fellinischer
Prägung erscheint als symbolische Besetzung einer Gegenwelt des Helden.
Dramaturgische Konsequenzen können deshalb bei Fellini sein: Auflösung
des Gegenweltbezuges in der Traumebene, ironisch-komische Distanzen.
Beispiele: die Gradisca in AMARCORD; Susy/Fanny in JULIA UND DIE
GEISTER. Anita Ekberg in DOLCE VITA ist in gewisser Hinsicht eine
Synthese zwischen dem Sarghina-Typus und der Sexgöttin, aber auch
Maddalena in DOLCE VITA.
F. DIE FETISCHISIERUNG DER FRAU – die Puppe/Marionette, die Emanzipierte/die Feministin/die Terroristin, die Eromanin
In CASANOVA und in STADT DER FRAUEN erscheint erstmals im Finale
eine zur Puppe/Marionette gewordene Idealfrau. In STADT DER FRAUEN
ähnelt die Montgolfiere der Schaufensterpuppe aus Hans Richters DREAMS
THAT MONEY CAN BUY (1944). Die Puppe wird zum Symbol von
Männerphantasien, die den Besitz der Frau als Objekt auf eine
unlebendige gegenständliche Bildlichkeit reduzieren und die
gleichzeitig in ihrem Narzissmus nicht Liebe erfahren können. Die Liebe
zur fellinesken Puppe/Marionette setzt Zeichen für Narzissmus oder/und
Gefangenheit des Mannes - ist Zeichen der Krise des Mannes. Insofern
wäre auch die zwerghafte Nonne in AMARCORD (die den nach einer Frau
rufenden verrückten Onkel Theo vom Baum holt) als Sonderfall
diskutierbar. Der Gegenpol wäre mit Donatella aus STADT DER FRAUEN zu
bezeichnen, die als Mamma, Verführerin, Feministin, Terroristin das
Frauenbild des narzistischen Mannes synthetisiert und sein Ideal der
Frau letztlich zerstört.
Übergänge dieser Typagen finden wir im SCHIFF DER TRÄUME
(die ästhetisierten Eromanin: die blinde Schwester des Erzherzogs
als Typus u.a.). In der ROM-Trilogie ist dieser Frauen-Typus noch nicht
zu finden. Es sei denn man bedenkt die im Drehbuch zu SATYRICON
enthaltene Episode der Nymphomanin. /20/
G. DIE IDEALFRAU – das Prinzip der Gnade und Hoffnung
Diese Idealfrau fellinesker Prägung ist einerseits geprägt durch
den Gegensatz Wollust-Tugend in der antiken Tradition, Eva-Maria in der
christlichen Tradition, aber sie ist eine Figur des alter ego des
Mannes. Die Fellinischen Männer sind in der Lebenskrise und die
Idealfrau erscheint als Gegenpol und Hoffnung - meist mit dem Mythos
der Jugendlichkeit und der Gnadensymbolik (Güte, Liebe, Wohlwollen). In
DOLCE VITA ist dies: Paola, die den Mythos der Unschuld und deshalb der
Hoffnung verkörpert - als Gegenpol zu Marcellos dekadenter Welt.
II. Filmhistorische Bezugspunkte der ROM-Trilogie Fellinis
Warum Rom als Metropole in Vergangenheit und Gegenwart von Fellini in den 60er Jahren thematisiert wurde
(1) Entwürfe von Rombildern in den 60ern in Italien- Anlass für Skandale
DOLCE VITA- der Skandal an der Schwelle der 60er Jahre
Nicht umsonst hieß es deshalb in einer deutschen Rezension, dass „
in Italien sich der Zusammenstoß zwischen Atomzeitalter und der
patriarchalischen Welt, die auch noch in die Ewige Stadt hineinragt"
gegenwärtig zuspitze. /21/ Dementsprechend war die konservative Kritik auf diesen Fellini Film:
- Proteste bei der Uraufführung in Mailand
- Protest der Pfarrer von Rom beim Minister für Theater, Sport,
Fremdenverkehr (Kritik vom Osservatore Romano obwohl der Pabst und
einige Kardinäle dem Drehbuch prinzipiell zugestimmt hatten. /22/ )
- Parlamentsdebatte (Regierungsanfrage von 3
christlich-demokratischen Abgeordneten mit dem Vorwurf: Verleumdung der
Hauptstadt, der Einwohner Roms und des Katholizismus
- öffentliche Debatte mit 2000 Zuschauern unter Vorsitz von Alberto Moravia.
Wie wandelt sich von DOLCE VITA(1958) über SATYRICON(1968) bis ROMA(1971) das städtische Bezugsfeld der ROM-Bilder?
1958
a) Sinnkrise der Gegenwart- die Via Venuto als Zentrum eines
Lebensstils der Bohéme von Rom, aber beachte: Fellini verbindet mit ihr
seine Biografie, story-Findungen, das Café de Paris, einen alten
Friseursalon, dessen Angestellte prinzipiell nur schwiegen;
Brunnenmotiv mit Anita Ekberg als Manierismus und Sinnenrausch -
das Weibmotiv und seine Verknüpfung mit dem Rom-Motiv bei Fellini- die
Lebenskraft des Weibes als Bekräftigung des Verlustes der Militanz des
männlichen Besitzes der Stadt (und Inbesitznahme in der Antike: eine
Umkehrung der Triumphzüge der Feldherren?)
b) die authentische Stadt in der Realität und im Studio (Fellini
ließ von Gherardi, einem Architekten und Bühnenbildner, die Via Venuto
im Studio nachbauen)
1968 SATYRICON
a) Verzicht auf das überlieferte Rom, aber Parodie und Luxus in
Anlehnung an Petronius ist für Fellini bestimmend. Es entstehen Fragen:
Worin besteht die Parodie des Petronius (sie zielt auf auf Neros
Zeitalter und den damaligen Sittenverfall) und worin besteht die
Parodie des Fellini? Offensichtlich geht es ihm um Spiegelungen des
gegenwärtigen Roms in den antiken Bildern und um eine Attacke gegen
Rombilder, die die Sittengeschichte zugunsten einer imperialen Macht
verschweigen. Es geht ihm auch um Spiegelungen der Auswüchse der
Konsumwelt der sechziger Jahre.
b) Die Wanderschaft und die verschiedenen Abenteuer des Helden
stehen im Mittelpunkt und diese führen von Rom weg. Im Finale wird von
dem Wandel mit einer neuen Generation fern von Rom berichtet. D.h. die
Distanz zum antiken Rom ist die der Selbstfindung in einer neuen
Freiheit (übrigens weist das Finale von ROMA auf dasselbe: die
Motorradkolonne der jungen Generation fährt aus dem antiken Rom in eine
nicht weiter definierte neue Freiheit).
1971 ROMA
a) der radikale konsumistische Versuch, Rom um seine Brutalität, um
seine Funktion als Herschaftszentrum eines Weltreiches zu bringen. Rom
als Wohnstadt-Trastevere als der Schlusspunkt und der Auszug der
Motorradkavalkade. Genuss (die verzehrende Stadt: Menschen, Autos,
Wein, Essen, Historie, U-Bahnbau, Bordelle) als Gegenkraft zu Krieg,
Kampf der Mächtigen um Herrschaft? Eine Fellinische Formel.
b) die Thematisierung von Entdeckung der Stadt (ein Regisseur und
eine Reporterin machen einen Dokumentarfilm über Rom) und von
Erinnerung (der Regisseur erinnert sich an „sein“ Rom, das der
Vorkriegszeit in den dreißiger Jahren, der Kriegszeit, der
Nachkriegszeit). Dies zum einen als Gegenüberstellung bzw. Fellinische
Phantasieakte von Realität und Fiktion. Aber diese Gegenüberstellung
ist bei Fellini bereits eine Ironie im Umgang mit
Realitätsvorstellungen überhaupt. Alles wurde im Atelier gebaut. Die
Sequenz „Fahrt nach Rom“ ist eine geniale Parodie auf die
Ausschließlichkeitsansprüche der Authentisten der dokumentaren Methode.
Zum anderen ist es die Ironie im Ausspielen von Objektivität der
dokumentaren Methode und der Subjektivität des Erinnerns des
Individuums. Subjektivität als Kontermöglichkeit historischer Normative
im Umgange von Generationen mit dem Rombild (vgl. die Interviews/ die
Diskussion mit den jungen Leuten, die Fellinis Rom-Bild kritisieren
siehe Eingangszitat zu diesem Text oben).Die Subjektivität als
Einkreisen von Erfahrungen, individuellen Beobachtungen - als Ablehnung
von stereotypen Urteilen.)
Innerhalb der ROM-Trilogie bestehen beträchtliche Unterschiede -
stilistisch, aber insbesondere im Umgang mit dem „ewigen Schauspiel“
Rom, mit den Zeitebenen und dramaturgisch insbesondere Unterschiede in
den fellinesken stories:
- die exzessive Marcello-Figur, Fellinis Antwort auf Antonionis These von der Krankheit der Gefühle
- die Wanderschaft des Encolpius (und seines Freundes) und seine
innere und äußere Befreiung (nach Romanfragmenten von
Petronius),(SATYRICON,1969)
- das thematisierte Filmprojekt über Rom und Jugend in Rom und Leben in der Gegenwart (ROMA,1971)
Eine These wäre, ob nicht der Generationskonflikt in ROMA ausgetragen wird.
Entstehungsgeschichtlich wäre bedenkenswert, dass im Oktober 1970 Fellini drei Projekte ankündigte:
1. ein TV-Special solle Alighiero Noschese (1932-1979) gewidmet
sein. Noschese war neapolitanischer Imitator und Verwandlungskünstler.
2. ein früheres Exposé von Zapponi UNA DONNA SCONOSCIUTA, story
über die Metamorphose eines Industriellen, der sich in seine Frau, die
ihn verlassen hat, verwandelt.
3. ROMA.
(März-April 1971: Aufnahmen der kirchlichen Parade; danach: Bau von
500 Metern des Autobahnringes in Cinécitta : 40 Straßenlampen, 50
Hinweisschilder, 15 Reklametafeln, 4 Fahrspuren mit Leitplanken./23/
(2) M. ANTONIONIs TRILOGIE (1960-62) - ein Gegenpol zu Fellini?
Italo Calvino schrieb in seinem „Offenen Brief“ zu Antonionis LA
AMICHE über die „...elementare Grausamkeit, die oberflächliche
Sinnlichkeit, die anhaltende Feigheit gegenüber schwersten seelischen
Krisen.“ Es sei das Verdienst von Antonioni, dem entgegen getreten zu
sein. /24/
a) Antonionis Entwicklung -Bezugspunkte zu Fellini?
1942 Mitarbeit bei Rosselini, ab 1943: Dokumentarfilmproduktionen:
Gente del Po, 1943-47, RÖMISCHE STRASSENFEGER,1948 mit
Jazzkompositionen von Fusco und Bach-Präludium; Darsteller von
Bildromanen, ihr Leben und das Genre und das Publikum- also
Comicauseinandersetzung. Sein Film LA VILLA DEI MOSTRIO widmete sich
Monsterskulpturen der Villa Orsini in Bomarzo bei Viterbo. Eine
Konsequenz der Dokumentarfilmarbeit Antonionis sind sehr lange
Kamerafahrten und Schwenks, die dem Schauspielert ununterbrochen folgen
(vgl. die diesbezüglich klassische Lösung im Finale von LA NOTTE,
1961).
b) Linien in den 50er Jahren
I. Gewalt in den Beziehungen der Geschlechter
These : Antonioni habe ein „neues Matriarchat“ mit seiner Analyse des Bürgertums begründet. /25/
II. Motiv der „verlorenen Jugend“
1952: Episodenfilm I VINTI(DIE BESIEGTEN) über Jugendverbrechen in der Nachkriegszeit
1. englische Episode: junger Mann begeht aus Ruhmsucht ein Jugendverbrechen
2.Italien: junger Mann schließt sich Schmugglerbande an und wird schließlich von der Polizei gejagt und erschossen
3.Frankreich: bei einem Ausflug töten Jugendliche einen ihrer Gruppe (Aufführungsverbot in Frankreich)
c) Durchbruch in den 60er Jahren mit der Trilogie
LA AVENTURA/DIE MIT DERE LIEBE SPIELEN(1960)
Story: Während einer Yachtfahrt verschwindet Sandros Freundin. Er
und Claudia setzen die Suche fort. Sie verlieben sich. Er verbringt
zufällig eine hässliche Nacht mit einer Prostituierten. Er und Claudia
müssen sich mit dem Vertrauensbruch auseinandersetzen (beachte eine
ähnliche Konstellation in Episoden von DOLCE VITA: Yachtfahrt am Meer
,Party von Maddalenas Vater und der Besuch der Dolores durch Marcello).
LA NOTTE /DIE NACHT (1961)
Story: Lidia und Giovanni innerhalb von nahezu 24 Stunden: Besuch
eines Freundes im Krankenhaus. Tagsüber trennen sich die Wege. Lidia
besucht eine Ausstellungseröffnung (oder Buchpremiere?), wandert
ziellos durch die Stadt; am Abend eine Party bei einem Industriellen.
Giovannis nähert sich der Tochter. Lidia wird von einem Partygast zu
einer Autotour eingeladen. Giovanni bekommt vom Industriellen eine
Stelle in einem PR-Apparat angeboten. Lidia erfährt am Telefon, dass
der gemeinsame Freund Tommasio verstorben ist. Am Morgen auf dem Weg
über Wiesen eine Diskussion über die Leere des Lebens und ein
Aneinander-klammern.
L’ECCLISE/LIEBE (1962)
Story: Im Morgengrauen trennen sich Riccardo(Francisco Rabal) und
Vittorio(Monica Vitti).Sie beginnt mit Piero (Alain Delon) eine
Beziehung, der sie heiraten will, aber sie lehnt ab.
Finale: 58 Kameraeinstellungen, die die Beziehungen der beiden charakterisieren.
Warum fand diese Trilogie internationale Anerkennung?
(1) Bei Antonioni wird das Thema der Entfremdung der Menschen
verfolgt, indem eine strikte Besinnung auf subtile Verhaltensweisen und
die Innenwelten von Charakteren wichtig wird. Stilistisch unterscheidet
sich dieses Vorgehen:
a) von Fellinis Bilderwelten durch das figurative Komponieren im
Sinne der Abstraktion von Aktionen durch die Kameraeinstellungen. Die
Fragmentarisierung der Kontiniutät und Zeit wird erzählt mit dem
Stillstand, mit dem Blick, mit einer übersteigerten Mimesis der
Realität (klassisches Beispiel: die Kameraeinstellungen der Uhr im
Hausflur in LA NOTTE), die Semiosis verfolgt. b) Es unterscheidet sich von Viscontis dramatischer
Aktionsdramaturgie, indem die Fragmentarisierung der
zwischenmenschlichen Inhalte in den Beziehungen der Menschen mit einer
stilistischen Schreibweise beantwortet wird, die vor allem
Bilder(Kameraeinstellungsfolgen) gegen Dramatik setzt.
(2) Dedramatisierung wird durch die Kameraerzählung erzielt, d. h.
die von der Duras und Resnais in Frankreich entwickelte Literarisierung
der Spielfilmdramaturgie wird gegen die Situations- und gegen die
Chronik- und Reportagedramaturgie gesetzt. Das Dokumentarprinzip wird
assoziativ aufgebrochen und es wird die Stilisierung des modernen
Großstadtdekors betont. Es wird nun die filmästhetische Reflexion von
Realität und Abbild wichtig. Deshalb ist die Nähe zu Proust, Joyce, zu
C. Paveses DIE FREUNDINNEN, zu Flaubert wichtig.
(3) Die Literarisierung hat auch zur Folge, dass die Erzählzeit -
nicht die Handlungszeit- durch Kameraeinstellungen und Montage
entscheidend wird, was eine Relativierung der Dialoge einschließt.
Aber: wichtig ist, dass nicht dies über die neuen Dramaturgien der
Rückblenden - wie bei den Franzosen oder bei Saura - entwickelt wird
sondern bei Antonioni wird der innere Monolog über die Kameraerzählung
ausformuliert.
(4) Antonioni hat eine neue Generation von Stars der subtilen
Charakterzeichnung profiliert - also Jeanne Moreau, die Monica Vitti
und er bot Mastroianni und Alain Delon Entwicklungsmöglichkeiten.
(5) Die Exklusivität der Filmmusik - Antonioni studierte auch Musik
(Violine)-und sie wurde mit dem Komponisten Giovanni Fusco möglich,
denn er reduzierte rigoros den Orchesterapparat (CHRONIK EINER LIEBE: 1
Saxophon; I VINTI/DIE BESIEGTEN, 1952: 1 Klavier; HIROSHIMA MON AMOUR
nur 9 Musikinstrumente).
(3) Warum Umgang mit der Historie? P. P. Pasolini im Vergleich zu F. Fellini und F. Rosi
THESE 1
Die Jahre zwischen 1959 und 1963 sind für Italien Jahre des
überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums (Autoindustrie,
Chemieindustrie/Ölindustrie, Wachstum der Industriestädte im Norden wie
Mailand, Turin u. a. - vgl. auch die Reaktion der Kinoindustrie mit F.
Rosis Filmen gegen die Korruption wie beispielsweise HÄNDE ÜBER DER
STADT, 1963 Goldener Löwe Venedig) und sie sind -kulminierend im Sommer
1960 - Jahre der Kollision der Massen mit den Konservativen und der
erneuerten neofaschistischen Sozialbewegung. Und: in diesen Jahren wird
der soziale und kulturelle Gegensatz zwischen dem Süden und dem Norden
auch durch Kino-Stories öffentlich ausgetragen (L. Visconti ROCCO UND
SEINE BRÜDER, 1960, Spezialpreis Venedig). In den international
gewürdigten Regieleistungen der Italiener (F. Fellini, 1960, 1963; F.
Rosi WER ERSCHOSS SALVATORE G.? 1962; L. Visconti,1960, und die
Zuwendung zur Geschichte mit Lampedusas Roman DER LEOPARD, Cannes 1962;
P. P. Pasolinis Zuwendung zu historischen Stoffen: Jesus, 1963 und
Ödipus-Verfilmung 1967) wird erkennbar, dass in dieser Periode eine
weitgefächerte Entdeckung von Geschichte - biblischer Geschichte,
antiker Dramenwelt, Nachkriegsgeschichte Siziliens, Italien Mitte des
19. Jh. und auch des "ewigen Roms" (antikes und christliches und
modernes Rom) bei Fellini, Antonioni, Pasolini - im Kino stattfindet.
THESE 2
Dieser Umgang mit Geschichte in Fellinis Filmen der 60er Jahre (und
seinen Zeitgenossen) kennt keine utopische Dimension von Geschichte und
Zukunft. Eher wäre - so bei F. Rosi mit SALVATORE GUILIANO, 1962- die
Erinnerung an die Geschichte als Impuls für Demokratiebewusstsein aus
der Perspektive der Unterdrückten, Ausgebeuteten auffallend. Bei
Fellini in der ROM-Trilogie ist es das Sittenbild der selbst
zerstörerischen Römer - sei es in der modernen Konsumwelt ohne Werte
oder im Gastmahl des Trimalchio nach Petronius - und Fellini liefert
Gegenentwürfe zum imperialen Rom-Bild so in der Geschichtskunde-Episode
in ROMA - autobiographische Erinnerungen und den Blick für den
plebejischen Lebensgenuss der Römer.
Ein solcher Umgang mit Historie ist in den frühen 60er Jahren in
Frankreich nicht zu entdecken, aber die Italiener wirken auf die
"historische Wende" im ungarischen Spielfilm in den 60ern (M. Janscó,
I. Szabó u. a.), die allerdings nationalgeschichtliche Identitäten
erfragt. Erst an der Schwelle der 70er Jahre findet in verschiedenen
Kinematographien - so in Griechenland (Theo Angelopoulos, in den 60er
Jahren die Trilogie antiker Dramen von Michael Cacoyannis ELEKTRA,
1962, TROERINNEN, 1971, IPHIGENIE, 1977) eine die Antike einbeziehende
Näherung an die Historie statt. Offen bleibt vorerst die Frage nach den
unterschiedlichen Zuwendungen zur Historie - in Italien eine Weite von
der Antike bis zur Moderne - aber in Ungarn die Nationalgeschichte des
19. Jh. / 20. Jh., d. .h., es gibt ganz unterschiedliche
"Gebrauchsweisen" der Historie im Rahmen der einzelnen nationalen
Kinematographien.
THESE 3
Die Aneignung der antiken und frühchristlichen Historie weist in
Italien- wenn man Fellini mit Pasolini vergleicht- prinzipielle
Unterschiede auf.
Fellini wählt zwischen 1950/63 Dokumente der Kulturgeschichte als
da sind Bauwerke, Strassen- das antike und das moderne Rom, d.h. die
Stadt Rom insbesondere in DOLCE VITA (1960) und dann 1972 in ROMA
erneut. Man entdeckt zwar in ACCATONE von P. P. Pasolini einzelne
Baudenkmäler aber es dominiert eine Spannung zwischen
Alltagsdokumentarismus und Bildmotiven der Kunstgeschichte (der
italienischen Renaissancemalerei). Wichtiger ist im Vergleich zu
Fellini, dass Pasolini in DAS ERSTE EVANGELIUM-MATTHÄUS (1963) und in
EDIPO RE (1967) von schriftlichen Textüberlieferungen ausgeht (Bibel,
antiker Dramentext).
Exkurs:
Matthäus ist der widersprüchlichste Jünger des Jesus, er sei bei
den Hebräern Prediger gewesen und dann in Äthiopien oder in Persien und
Parthien; wird von der griechischen und römischen Kirche verehrt als
Märtyrer, soll aber kein Märtyrer gewesen sein; wurde identifiziert als
Zöllner Levi aus Kapernaum (Mk 2,14;Lk. 5,27-32).
Fellini, der mediterrane Katholik, zielt auf die Steigerung von
Lebensgenuss, bezieht sich auf europäische Kulturdokumente. P. P.
Pasolini entdeckt im Gegensatz zur Industrie- und Konsumgesellschaft
archaische Landschaften, d.h. während Fellini die ständige Nähe zur
kulturellen europäischen Tradition ästhetisiert, schafft Pasolini eine
ästhetisierende Distanz zur europäischen Tradition (deshalb auch seine
Dokumentarfilme über Palästina im Vorfeld des Jesus-Films). Pasolini
ästhetisiert das Fremde, gibt ihm eine kulturelle Aura - während
Fellini das Eigene der antiken und abendländischen Kultur manieristisch
ausstellt.
Fellini operiert mit der Ewigkeit der römischen Historie und der
relativierten Biographie - nicht mit Entwicklung sondern mit Reifen
seiner Helden - so in ACHTEINHALB, 1963 und dann in SATYRICON, 1968. In
EDIPO RE (1964) von Pasolini wird die Dopplung, die Parallele von
antikem Schicksal und 20. Jahrhundert zu einer Allmacht von Sexualität,
Gewalt, Blindheit geführt - aber dem Römer Fellini steht Pasolini
gegenüber, der sich dem antiken Griechenland zuwandte (auch mit
MEDEA,1969).
Fellini entwickelt die wuchernden Episoden. Pasolini erzählt
zielstrebig eine chronologische story, d. h. er wandelt unter dem
Aspekt der Ereignislogik die Zeitstruktur des Dramas während Fellini
außerhalb seiner ROM-Trilogie eine vielschichtige Struktur
verschiedener Zeitebenen schafft (Rückblenden, Traumebenen -
insbesondere 1963). Bei Fellini (81/2) erzählt die Episode immer nur
von Zuständen, bei Pasolini ist Ödipus immer in Bewegung, auf
Wanderschaft (erst durch das Land, dann durch seine Seele), das gilt
auch für die Pasolini Darstellung des Christus. Das wichtigste, was die
beiden Werke von Pasolini erkennen lassen, scheint zu sein, dass
Historie nicht als statische Ewigkeit erzählt wird. Historie ist für
Pasolini nur als absolute Gegenwart, d.h. in der Ruhelosigkeit des
vorwärtsschreitenden Individuums denkbar.
Die Episodendramaturgie des Fellini 1960/63 operiert mit Allegorien
(DOLCE VITA: die Via Venuto als kulturelle Chiffre, die
Trevi-Brunnen-Episode mit der Ekberg; das Finale am Meer; 8 1/2:
Flug-Sturz zu Beginn als Ikarus-Metapher und außerdem der reitende
Bote/ das theatrale clowneske Spektakel als Auflösung und Bezeichnung
einer Ankunft von Guido; in ROMA: die Sequenz der Fahrt nach Rom zum
Collosseum; im Finale: die Motorradkolonne der Jugendlichen, die aus
der Stadt fahren), aber bei Pasolini wird das Wunder mit den Mittel der
kargen, kreatürlichen Dokumentation zelebriert (Jesus-Film und die
Wunder - beachte auch die Umdeutung so der Episode von Johannes, dem
Täufer und dem Tanz der Salome vor dem Stiefvater Herodes).
THESE 4
An der Schwelle der 70er Jahre entsteht (nach 1968) erneut eine
politisch zugespitzte Situation in Italien, was Fellinis Aufmerksamkeit
für Rom als Stadt des Genusses und für die Provinz im Faschismus
(AMARCORD, 1974) erklärt:
Zwischen 1967 (Beginn der Studentenunruhen an der Sapienza in Pisa)
und der Universitätsreform (Gesetzentwurf) des Parlaments 1968 und dem
Streikherbst 1969 (FIAT) und dem Beginn einer neuen Etappe des
Terrorismus in Italien (neofaschistisches Attentat in der Mailänder Via
Fontana) zeichnet sich in Italien eine andere politische Konstellation
ab als in anderen westeuropäischen Ländern (Frankreich, BRD). Die
erstarkte neofaschistische Bewegung wirkt in Italien stärker nach 1968
an der Schwelle der 70er Jahre als in jedem anderen westeuropäischen
Land (außer Spanien, Griechenland- die bereits faschistische Regimes
hatten).Als Fakten seien benannt: 1970 versuchter Staatstreich
Borghese-Mideli (7./8. 12.) und neofaschistische Revolten in Reggio
Calabria (14. 7. 1970/ 17. 9. 1970). Am 28. 5. 1974 Terroranschlag der
Ordine Nero auf eine antifaschistische Kundgebung in Brescia und am 4.
08. 1974 auf den Italicus-Express bei Bologna.
Vor diesem politischen Hintergrund könnten Konturen gewonnen werden für:
a) die ROM-Trilogie Fellinis (von DOLCE ... zu SATYRICON, 1969 zu ROMA, 1971)
b) die autobiographische Entdeckung der Provinz im Faschismus in AMARCORD.
THESE 5
Man kann für die 60er Jahre generell sagen:
es findet bei Fellini ein Übergang von der sozialkritischen Sicht
des Neorealismus zur moralischen Sinnbestimmung in einer Welt der
Täuschungen und Illusionierungen, des Werteverlustes und der
Hyperhektik statt. Die ROM-Trilogie, die 1960 mit DOLCE VITA einsetzt,
zielt auf ein Gesellschaftspanorama und auf die Kritik des
Kulturzerfalls.
Bedenkenswert könnte sein:
a) das Reportermotiv in DOLCE VITA als kulturelle Chiffre der
modernen Hektik des Sensationsjournalismus und einer Moralkritik (wie
sie in den 60er Jahren noch im Kino von den Intellektuellen angesichts
zerbrechender Wertsysteme - vgl. auch Bergman oder in Osteuropa die
Tschechische Neuen Welle- ausgetragen wurde).
Man könnte auch für die 80er Jahre darauf verweisen, dass eine
neue Sicht Fellinis auf das Reportermotiv (im Vergleich zu DOLCE VITA)
entdeckbar wird: der Reporter als der Chronist, der eine ironische
Haltung einnimmt, tritt an die Stelle des Sensationsreporters, den
Fellini einer moralischen Kritik unterzieht. Man könnte auch Fellinis
Kritik an der Überinformiertheit der Gesellschaft oder seine Polemik
mit dem Fernsehen (GINGER UND FRED, 1986) und mit dem Journalismus
(INTERVISTA, 1987) geltend machen für die postmoderne Ironie der 80er
Jahre.
b) Die Wertung der Jugend in den Finali der ROM-Trilogie
Wir entdecken in der ROM-Trilogie - in unterschiedlichem Grade- in den Finali eine besondere Wertung der Jugend:
Paola, das schlichte Bauernmädchen, als Zeichen der Unschuld in
DOLCE VITA - unerreichbarer Gegenpol für Guido (die moralische
Kontrastierung: Reinheit im Sinne franziskanischer Werte und Guidos
Amoralität)
der Bericht vom gereiften und gewandelten Encolpius, der von Rom
weg wandert und auf einer Insel glücklich geworden sein soll in
SATYRICON
der Auszug der Jugendlichen(Motorradfahrer) aus Rom in ROMA
THESE 6
Vergleicht man die ROM-Trilogie Fellinis mit Fellinis Filmen der
endsiebziger und 80er Jahre dann lässt sich eine wichtige Differenz
ausmachen, die auf den Wertewandel zwischen dem Modernisierungsschub
der 60er Jahre und der Postmoderne im Westen in den 80er Jahren
schließen lässt.
Sowohl DOLCE VITA (1960) als auch SATYRICON (1968) und auch ROMA
(1972) entwerfen epochale Gesellschaftspanoramen des antiken und
modernen Roms und diese Sittenbilder leben von einer Kritik des
Verlustes oder der Überholtheit moralischer Werte in der Moderne (vgl.
z.B.: die Steiner-Episode in DOLCE VITA; vgl. das Gastmahl des
Trimalchio in SATYRICON; vgl. die päpstliche Modenschau in ROMA). Die
These wäre also die, dass in den 60er Jahren strikter Kulturkritik mit
Moralauffassungen verknüpft war als dies für die 70er/80er noch
bedenkenswert wäre.
Von der kulturkritischen Vehemenz verlagert sich das Schwergewicht
in den 70er/80er Jahren auf die Frage: Wie wird eine Kunst- und
Kulturepoche verabschiedet? Z.B.: INTERVISTA, 1987; SCHIFF DER TRÄUME,
1983; aber: GINGER UND FRED (1986): Wie wird ein Abschnitt des Lebens
verabschiedet?
Unsere These wäre, dass an der Schwelle der 80er Jahre in Europa
die Warnbilder vor der Zukunft und die Abschiedsmotive auftauchen (im
Ostblock: SU: Klimow: ABSCHIED VON MATJORA, 1984/ Loposchanskij
AUFZEICHNUNGEN EINES TOTEN MANNES (1986); die Kluge-Filme 1983, 1985).
Fellinis Manierismus wird dagegen zunehmend von einer postmodernen
Ironie getragen, wie sie in der ROM-Trilogie (1960-1971) noch nicht
auszumachen ist.
(überarbeitetes Vorlesungsmanuskript)
Anmerkungen:
1 F. Fellini: Roma. Zürich 1972, S. 66-68.
2 Ebd., S. 66.
3 Ebd., S. 69-70.
4 Ebd.
5 F. Fellini: Satyricon. Zürich 1983, S. 240.
6 Interview vom 18. 5. 1972. In: F. Fellini: Roma. Zürich 1972, S. 224.
7 Vgl. Ernst Künzl: Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom. München 1988, S. 106/07
8 Fellini über Fellini. In: F. Fellini: Filmszenarien, Bd. 1. Berlin(O) 1983, S. 734.
9 F. Fellini: Der Film. Interview in Le Monde 18. 5. 1972. In: F. Fellini: Roma. Zürich 1972, S. 224.
10 F. Fellini: Roma. Zürich 1972, S. 221.
11 Ebd., S. 220.
12 Tullio Kezich: Fellini. Eine Biographie. Zürich 1989, S. 570.
13 Vgl. Gisela von Wisocky: Fremde Bühnen. Hamburg 1995, S. 123.
14 F. Fellini: Roma. Zürich 1972, S. 221.
15 Vgl. Ebd., S.194/95.
16 Richard Sennett: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Ffm 1991, S. 205
17 Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Zit. Bei R. Sennett a. a.O. ,S. 205.
18 Vgl. F. Fellini: Satyricon. Zürich 1983, S. 164/65.
19 Vgl. Ebd., S. 100 f.
20 Vgl. Ebd.,S. 138/39.
21 Josef Schmitz van Vorst in: Frankfurter Allgemeine. Ausgabe D, 15. 2. 1960.
22 Vgl. F. Fellini: Ein Skandal-moralisch unannehmbar. In:
L’Express vom 10. 3. 1960. In: F. Fellini: Das süße Leben. Zürich 1974,
S. 192.
23 Vgl. Tullio Kezich: Fellini. Eine Biographie. Zürich 1989, S. 601/02.
24 Vgl. zit. In: Pierre Leprohon: M. Antonioni. Ffm/Hamburg 1964, S. 132.
25 Vgl. ebd., S. 214f.
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