Thema | Kulturation 2/2006 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Lutz Haucke | Novi film – Filmkunst des „demokratischen Sozialismus“?
Bemerkungen zum jugoslawischen Film 1961-1971
| Vorbemerkung
Während in der US-amerikanischen filmgeschichtlichen Literatur die
Geschichte des jugoslawischen Novi film sehr differenziert
aufgearbeitet worden ist (Mira Liehm / Antonín J. Liehm, 1979; Daniel
J. Goulding, 1985), sind die vereinzelten deutschen Untersuchungen
einfache Überblicksdarstellungen geblieben (U. Gregor, 1978). Hinzu
kommt, dass in den deutschen Filmarchiven nahezu keine Spielfilme des
Novi film verfügbar sind. Die vorliegende Studie konzentriert sich
angesichts dieser Materialsituation auf eine kulturwissenschaftliche
Sichtweise, die nicht die Filmanalyse und Werkinterpretation, auch
nicht die Rezeptionsanalyse sondern die historische Kontextanalyse
verbindet mit Informationen über Regisseure und einige Filme. Anliegen
der Studie ist es, den Zusammenhang zwischen dem jugoslawischen
Sozialismusmodell und dem Novi film zu diskutieren.
In Westeuropa wurde der Novi film als Kunst des demokratischen
Sozialismus gefeiert. Dabei hatte man nur das öffentliche
Kritikpotential (und den artifiziellen Charakter) dieser Filme im Auge
und übersah, dass es sich um eine oppositionelle Intellektuellenkultur
handelte, die im Widerspruch zu den Wirtschaftsreformern und zu Titos
„Apparaten“ die Unstimmigkeiten in Ideologie und Praxis des
„Sozialismus der Arbeiter-Selbstverwaltung“ aufdeckte, aber von der
Masse der jugoslawischen Kinobesucher ignoriert wurde. Es handelt sich
beim Novi film um das interessante Phänomen einer herrschaftskritischen
Intellektuellenkultur im Ostblock, die nicht von einem politischen
Demokratieaufschwung der Bevölkerung im Lande getragen wurde (das
Gegenteil zeichnete beispielsweise die Tschechische Neue Welle
1963-1968 aus). Es sind oftmals antioptimistische Manifeste von
sarkastischer und grotesker Ironie und Bitternis über eine desolate
Realität des Sozialismus. Dies erklärt auch, weshalb die Filme des Novi
film in der DDR weitgehend totgeschwiegen wurden (das Staatliche
Filmarchiv der DDR veranstaltete mit der Kinoteka Beograd drei
Retrospektiven, auf denen 1964 und 1974 nur historische Filme gezeigt
wurden und 1980 waren D. Makavejev mit seinem Debütfilm DER MENSCH IST
KEIN VOGEL, 1965 und B. Hladnik mit TANZ IM REGEN,1961 vertreten).
Was war der Novi film?
Novi film – das war eine Welle des Autorenfilms, die im Zuge der 2.
jugoslawischen Revolution in den sechziger Jahren möglich wurde. Sie
ist zu Recht als „art of democratic socialism“ von den Liehms
bezeichnet worden. /1/ Gegen diese wurde 1971 – nach der
Niederschlagung des “Kroatischen Frühlings” – eine politische
Gegenoffensive eingeleitet, die Berufsverbote und Emigration für
Regisseure zur Folge hatte.
Als wichtige Voraussetzungen des Neuen Films können nach D.J. Goulding (1985) angesehen werden:
(1) Dezentralisierung des Filmwesens von der Ebene der Föderation
auf die der 6 Republiken und 2 autonomen regionalen Zentren (letztere
waren: 1966 Neoplanta in Novi Sad, Hauptstadt der Vojvodina; 1970
Kosovafilm in Priština, Hauptstadt des Kosovo)
(2) Es entstanden nationale Schulen in Serbien, Kroatien, Slovenien und auch in Bosnien-Herzogowina, Montenegro und Mazedonien
(3) Wie in anderen Ostblockländern führten auch in Jugoslawien die
nationalen Literaturtraditionen zu ausgeprägter nationaler Identität
(1967: „Deklaration über den Namen und Status der kroatischen
Schriftsprache“; Erklärung Beograder Schriftsteller „Vorschlag zur
Überlegung“, beide Pamphlete werden vom ZK des BdK Kroatiens und
Serbiens als nationalistische Exzesse verurteilt) /2/ Diese
Entwicklung, die auch in der Filmkunst partiell stattfindet, ist ein
Kennzeichen oppositioneller stabiler Intellektuellenkulturen. (4) Hohe Filmproduktionsraten in den 60er Jahren, die nach 1972 infolge der Publikumsverluste an die TV-Programme, zurückgehen:
1967: 31 eigene Spielfilme/ 4 Koproduktionen
1968: 32 ´´ / 7 Koproduktionen
1969: 29 ´´ / 10 Koproduktionen
aber Tief 1963: 16 eigene Spielfilme /3/
In den 60er Jahren wurde von der 2. Revolution Jugoslawiens
gesprochen und man meinte, dass mit der heftig diskutierten Einführung
neuer Formen der Selbstverwaltung ein sozialer, ökonomischer und
kultureller Wandel verbunden sei. Die Wirtschaftsreformer orientierten
auf ökonomische Erfolge und die Zukunft und verfolgten kritische
Ansichten zur realen Widersprüchlichkeit der Entwicklung mit
Misstrauen. Der Liberalisierungsprozess gestaltete sich sehr
widersprüchlich in der Öffentlichkeit.
Dieser Prozess, der anfangs mehr Freiheit auch für die
Intellektuellen brachte, führte zu einer neuen Programmatik der
Filmschaffenden.
(1) Man forderte nun einen neuen individuellen und kollektiven künstlerischen Ausdruck und die Freiheit von dogmatischer Zensur.
(2) Gefordert wurde die Befürwortung des stilistischen Experiments
mit der Filmsprache und in diesem Zusammenhang die Anerkennung der
Einflüsse der Nouvelle Vague und des italienischen Films sowie der
Neuen Wellen in Osteuropa (Polen, Tschechoslowakei)
(3) Gefordert wurde das Aufgreifen gegenwärtiger Themen
(„savremene teme“) und das Recht der Filmemacher auf die Kritik der
problematischen Seiten der menschlichen, sozialen und politischen
Existenz im Sozialismus und auf die ironische Sicht auf die
Verhältnisse.
(4) Die Filmemacher forderten, dies alles im Rahmen der Gesetze
des sozialistischen Staates als Bestandteile der Evolution Jugoslawiens
und der dabei notwendigen Diskussionen zu erlauben im Sinne einer
pluralen Meinungsvielfalt. In diesem Sinne formulierte Dušan
Stojanoviæ: „transforming a single collective mythology into a
multitude of private mythologies.” /4/
Diese Auseinandersetzungen vollzogen sich in verschiedenen Etappen:
(1) In den frühen 60er Jahren provozieren modernistische
thematische Sichtweisen – verbunden mit stilistischen Innovationen –
erste Kritik in der Öffentlichkeit und durch die politische
Führungselite der „Apparate“ Titos.
In Jugoslawien wurde die Verfassung von 1946 1963 durch eine neue
Verfassung ersetzt, die die Befugnisse der dezentralisierten
Staatsorgane wesentlich erweiterte. Die Dezentralisierung ermöglichte
auch mehr Vielfalt der Filmproduktion. Im gleichen Jahr versuchte die
KP-Führung, das Bündnis mit den Filmschaffenden im Rahmen einer
Beratung zu suchen.
Einflüsse der französischen Nouvelle Vague forcierten diesen
Prozess (z.B. bei den slowenischen Regisseuren Boštan Hladnik und
Matjaž Klopèic). Statt vordergründiger Stories legte man nun Wert auf
poetische Formen und Vielschichtigkeit (Štiglic’s existentialistische
Story BALADA O TROBENTI IN OBLAKU / BALLADE VON EINER TROMPETE UND
EINER WOLKE, 1961). Gegen die gewohnten Schemata des populären
Partisanenfilms setzte der Serbe Puriša Djordjeviæ nun Lyrismus
(Trilogie DEVOJKA / MÄDCHEN, 1965; SAN/ TRAUM, 1966; JUTRO/ MORGEN,
1967). Die Kritik an Parteiführern und der Korruption wurde angemeldet
(der Kroate Bauer mit LICEM U LICE / VON GESICHT ZU GESICHT, 1963).
(2) in der Mitte und in den späten 60er Jahren setzte sich der
entscheidende Einfluss der Liberalisierung auf die Filmproduktion
durch. Statt patriotischer Idealisierung brach sich die Kritik der
Verhältnisse durch den Novi film Bahn. Die Demythologisierung der
Arbeiterklasse, die Kritik der Mängel des Sozialstaates
(Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit u. ä.), die Kritik an Bürokratie und
Korruption wurden nun Gegenstand einer „Schwarzen Welle“ (etwa 20-30
Filme von Bata Èengiæ/Bosnien-Herzogovina, Dušan Makavejev/ Serbien,
Živojin Pavloviæ/Serbien, Aleksandar Petroviæ/ Slowenien, Želimir
Žilnik /Serbien). /5/
Obwohl 1968 39 Spielfilme (davon 5 Koproduktionen) in Jugoslawien
hergestellt wurden, reduzierte sich die Zahl der Kinobesucher auf 100
Millionen, von denen nur 8,7% die einheimischen Filme sahen, das waren
nur 80 700 Zuschauer. /6 /
(3) Ende der 60er und in den frühen 70er Jahren setzte die Gegenoffensive ein, die vor allem vom „schwarzen Film“ spricht. /7/
In Kroatien streikten 1971 35 000 Studenten. Tito begann nach dem
„Kroatischen Frühling“ mit der Ausgliederung des liberalen Flügels in
der kroatischen Führung und mit der „Säuberung“ der jugoslawischen
Partei- und Regierungsapparate. Die Entwicklung des Novi film wurde mit
Berufs- und Aufführungsverboten gestoppt.
(1)
Die Programmatik der herrschaftskritischen Intellektuellenkultur
Kennzeichnend für diese sich von der staatstragenden
Intellektuellenkultur in Jugoslawien durch Opposition und
Herrschaftskritik unterscheidende Intellektuellenkultur war, dass
insbesondere die durch die Kroatische Philosophische Gesellschaft in
Zagreb herausgegebene Zeitschrift PRAXIS zu einem geistigen Zentrum
wurde, das auch für die Filmschaffenden orientierend war (beachte: D.
Makavejev, A. Petroviæ hatten Philosophie studiert; außerdem die
Ausstrahlung der jährlichen Sommerschule auf Korèula).
Bezeichnenderweise hatten viele Mitglieder des Redaktionsbeirates in
der Befreiungsbewegung Jugoslawiens vor 1945 gearbeitet und einer der
Chefredakteure, Rudi Supek, hatte in der französischen Résistance
gekämpft, war im KZ-Buchenwald inhaftiert und stand nach 1945 in engem
Kontakt mit französischen Philosophie-Diskursen. Die Mitglieder des
Redaktionsbeirates waren eng verbunden mit den Studentenunruhen in
Jugoslawien in den Jahren 1968, 1969, 1971. Die Zeitschrift wurde 1975
verboten.
Programmatisch wurde in dem Redaktionsartikel „Am Beginn eines
neuen Jahrgangs“ (1967) als primäre Aufgabe der jugoslawischen
Marxisten bezeichnet, den jugoslawischen Sozialismus zu diskutieren.
/8/ Und das bedeutete:
- Kampf gegen den dogmatischen Marxismus
- Kampf gegen den „konservativen Sozialismus“
- Kampf gegen den Bürokratismus und Etatismus /9/
Als Ziel wurde außerdem formuliert „konsequente Entwicklung der
gesellschaftlichen Selbstverwaltung, des humanen Sozialismus und des
schöpferischen Marxismus“. /10/
In dem Redaktionsartikel „Zur jüngsten Kritik an der
‚Praxis’“(1968) wurden als negative, dem Gemeinwohl schadende Folgen
der in Jugoslawien existierenden Marktwirtschaft wie folgt benannt:
- Kommerzialisierung
- kleinbürgerlicher Egoismus
- Drang nach Bereicherung
- Korruption
- Betrug
- wirtschaftliche Schwindelei. /11/
Als Programmatik dieser Intellektuellenkultur kann man diese Ziele
ansehen: „Der Kampf um die Macht ist unsere Angelegenheit nicht …Wir
wollen in niemandes Namen herrschen, denn wir wollen überhaupt nicht
herrschen. Wir wünschen (und kämpfen auch dafür), dass die Wahrheit
regiert, das menschlich Vertrauen und das Vertrauen in den Menschen,
die Vernunft, die Toleranz, die Aufrichtigkeit und der menschliche
Verstand, wir wollen, dass uns das menschliche Bedürfnis und die
Offenheit für eine wahrhaft humane Zukunft leiten, hier und jetzt. Wir
kämpfen für das Schöpferische im Menschen und seine Freiheit…“ /12/
Nicht die Harmonisierung der Gesellschaft ist die eigentliche
Aufgabe der Intellektuellen, wie das für die staatstragende
Intellektuellenkultur im Sozialismus kennzeichnend sei, sondern das
„freie kritische Denken“ sei gerade angesichts der neuen
Wirtschaftsreformen geltend zu machen. /13/ Die Kritikfähigkeit der
Intellektuellen sei unerlässlich, denn „ die Wurzeln des menschlichen
Schöpfertums sind nicht in den bestehenden Institutionen und
Organisationen zu suchen, sondern in der kritischen Einstellung der
Menschen diesen Institutionen gegenüber.“ /14/
Dies waren Werte der „herrschaftskritischen Intellektuellenkultur“
in Jugoslawien in den sechziger Jahren, zu der Philosophen,
Filmemacher, Schriftsteller, Wissenschaftler, Studenten gehörten. Sie
befanden sich damit im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung, die –
auch massenpsychologisch bedingt – die Harmonisierung der Verhältnisse
wünschten. So weisen Autoren immer wieder daraufhin, dass die
Popularität der Mythen schaffenden abenteuerlichen „Partisanenfilme“
durch den Novi film nicht erreicht wurde.
So stellte Irena Hendrichs fest: „In den Jahren 1960 bis 1970 …
sinkt sowohl die Zahl der Vorführungen (um 37,6%) als auch der Besucher
jugoslawischer Filme (um 53%), während die Vorführungen insgesamt um
2,9% steigen…Die jugoslawischen Spielfilme, die wegen ihres
künstlerischen Gehalts im westlichen Ausland Zuspruch fanden, sind in
Jugoslawien dem breiten Publikum nahezu unbekannt. Ein Grund für die
niedrigen Vorführzahlen guter jugoslawischer Produktionen mag ihr
teilweise sehr kritischer Inhalt sein. Filme hingegen, die den
Volksbefreiungskampf behandeln, erfreuen sich großer Publizität in der
Presse (Boulevardblätter).“ /15/
(2)
Nationalitätenpolitik und die Dezentralisierung des Filmwesens
Die Nationalitätenpolitik in Jugoslawien war auf eine
Dezentralisierung und eine damit verbundene Kulturautonomie der sechs
Teilrepubliken gerichtet. Hinzukam, dass dieser südosteuropäische Staat
nicht nur aus verschiedenen Nationalitäten bestand, sondern hier
verliefen Grenzlinien zwischen den christlich-katholischen und den
muslimischen Kulturkreisen, es gab jahrhundertealte Einflüsse
Österreich-Ungarns auf Kroatien und Slowenien, Veneziens auf Dalmatien
und des ehemaligen Osmanischen Reiches auf Serbien und Bosnien.
Die dezentralisierte jugoslawische Filmproduktion bestand in den
60er Jahren aus sozialistischen und kapitalistischen
Organisationsformen in den 6 Bundesländern.
Filmfirmen bestanden
in Serbien:
Beograd: Avala film, Dunav film, Filmska radna zajednica (FRZ)
Novi Sad: Neoplanta
in Kroatien:
Zagreb: Jadran film
in Slowenien:
Ljubljana: Triglav film, Vibafilm
in Bosnien-Herzogwina:
Sarajewo: Bosnafilm, Studiofilm
in Montenegro:
Titograd: Filmski Studio “Titograd”
in Makedonien:
Skopje: Vardor film
/16/
Diese Firmen hatten meist keine eigenen Studios und eine geringe
Spielfilmjahresproduktion (ca. 2); Import- und Exportfirmen waren
Jugoslavija-Film Beograd, Globusfilm Zagreb.
1961 gab es 1500 fest angestellte Filmschaffende und 500 Freiberufliche der künstlerischen Berufe.
Der nationale Filmförderungsfond wurde 1962 aufgelöst und es wurden
in den Republiken autonome Filmförderungsanstalten geschaffen.
Die Subventionierung des Filmschaffens erfolgte nach folgenden Prinzipien:
1. Der Fond entstand durch 20 v. H. aller Kinoeinnahmen der in- und ausländischen Filme
2. Regisseure wählten ein 5köpfiges Gremium, das zwei Arten der Förderung vergab:
a) Drehbuch als Grundlage einer Förderung (360.000 Dinare bei ca. 600.000 Dinare SW-Filmproduktion);
b) Produzenten, die Überschüsse im Ausland erzielten, erhielten diese Summe in Dinare umgerechnet aus dem Fond.
/17/
(3)
Nationalitäten und Schulen
Die neue Regiegeneration bewirkte 1961 bis 1971 einen Aufbruch, der
auf dem Nationalen Festival in Pula (Spielfilme) und in Beograd
(Animationsfilme) von der jugoslawischen Filmkritik förderlich
begleitet wurde. Staatliche Verbote förderten die Aufmerksamkeit und
sorgten für Skandale (z.B.: D. Makajew W.R. MYSTERIJE ORGANIZMA, 1971,
der auf internationalen Festivals wie Cannes, Moskau, Venedig, Karlovy
Vary beachtet worden war; weiterhin: Bahrudin-Bato Èengiæ MALI VOJNICI
/ KLEINE SOLDATEN, Hauptprogramm in Cannes 1968, ein Antikriegsdrama,
das nach Cannes in Jugoslawien verboten wurde).
Diese Regiegeneration prägte in den verschiedenen Bundesländern
nationale Schulen aus, einige hatten internationale
Ausbildungserfahrungen (Paris IDHEC, Centro Sperimentale Rom, £odz,
Barrandov). Die von der Pariser Nouvelle Vague und personell von Bogdan
Hladnik beeinflusste Entwicklung in Ljubljana (Slowenien) bildete
1961/62 den Anfang. Aber: bis 1964 blieb die Entwicklung des
Autorenfilms peripher. Hladnik ging z.B. in die BRD.
Außerdem gab es seit 1960 die drei Akademien für Theater,
Rundfunk, Film, Fernsehen (Beograd, Zagreb, Ljubljana), die auf die
Entwicklung nationaler Schulen prägend wirkten.
Unter den 1961 produzierten 31 Spielfilmen bezeichnet D. J.
Goulding die ersten Filme von Petroviæ und von Hladnik als die Geburt
des Neuen Films. /18/ Als antioptimistische Manifeste zu bezeichnen
seien:
A. Petroviæ: DVOJE / ZWEI (1961)
B. Hladnik: PLES V DEŽJU / TANZ IM REGEN (1961).
Dies setzte sich fort mit Hladnik: PEŠENI GRAD / SANDBURG (1962),
einer psychologischen Studie über drei junge Menschen, von denen einer
im KZ im Krieg geboren worden war, und die aus den Realitäten des
Alltagslebens flüchten in eine Welt der Illusionen und Spiele.
Slowenien: Boštan Hladnik , Matjaž Klopèic
Die Vertreter der slowenischen Schule knüpften unmittelbar an die
französische Nouvelle Vague und Konzepte des Autorenfilms. Sie
entwickelten sich in Opposition zu den jugoslawischen Absolventen der
Prager FAMU.
Hladnik, Boštjan
Studium an der Akademie für Dramatische Kunst Ljubljana(Slowenien)
1957- 60 Studium IDHEC, Paris, Assistenz bei Chabrol, de Broca, Duvivier
Spielfilme:
PLES W DEŽJU / TANZ IM REGEN, 1961
PEŠŽENI GRAD / DAS SANDSCHLOSS, 1963
Klopèic, Matjaž
Architekturstudium in Ljubljana (Universität), Fortsetzung des
Studiums in Paris IDHEC, Kontakte zu J.-L.Godard, später Dozent an der
Filmhochschule in Ljubljana, beeinflusst von der französischen Nouvelle
Vague
Spielfilme:
Debütfilm: ZGODBA, KI JE NI / NICHT EXISTIERENDE STORY, 1967
NA PAPIRNATIH AVIONIH/ PAPIERFLUGZEUGE,1967
SEDMINA/ GRÜSSE VON MARIA, 1969
Bereits bei Hladnik entdecken wir in TANZ IM REGEN (1961) die bei
Makavejev später (1967) weiterentwickelte Konstruktion von
Dreiecksgeschichten mit einer auf Resnais verweisenden komplizierten
Zeitstruktur, die aber - aufgrund der Verwobenheit mit der
jugoslawischen Alltagswelt - über Resnais in mehrfacher Hinsicht
hinausgeht:
- die Chronologie zielt bei Hladnik auf ein Finale, das mit einer
Katastrophe endet: die Frau hat sich das Leben genommen, der Mann
bleibt allein zurück. Aber: die Frau wird als Tote von Petr entdeckt
(Rolle 9) um darauf in ihr Zimmer zurückzukehren(Rolle 10) und wird
schließlich an Petr vorbei aus der Wohnung getragen (Rolle 11). Bei dem
Serben Makavejew erhält die Zeit die Form der Ellipse in der Story, d.
h. anstelle von Entwicklung wird ein Ist-Zustand der Zerstörung geltend
gemacht.
- Bei Hladnik ist noch das „memoir“ im Sinne Resnais (und der
Duras) für Rückblenden geltend gemacht worden - aber es sind bereits
Differenzierungen zu unterscheiden:
a) Träume zwischen Wünschen (Eingangsepisode: er schläft und
träumt vom Besuch einer Prostituierten) und Alpträumen (er sieht sich
auf der nächtlichen Straße zwischen lauter Särgen und rennt davon)
b) Erinnerungen (das Mädchen in der Schulklasse als eine Erinnerungsebene).
Aber bei Makavejew wird die philosophische Aussage - Zeit als
Dimension der Gefangenschaft durch Verstrickung und nicht einlösbare
Glücksansprüche - die Bindung an die Rückblendendramaturgie aufheben.
In LJUBAVNI SLUÈAJ ILI TRAGEDIJA SLUŽBENICE PTT/ EIN LIEBESFALL ODER
DIE TRAGÖDIE EINER TELEFONISTIN (1967) werden in den ersten 24 Minuten
- also im ersten Drittel - der Ausgangspunkt und das tragische Ende der
love - story parallel montiert. D.h. an die Stelle der Erinnerungen der
Figuren tritt der philosophisch ambitionierte Umgang des Autors mit der
Zeit seiner Figuren.
Bei Hladnik 1961 entdeckt man weitere Besonderheiten, die auch aus
seiner Pariser Hochschulzeit und der Regieassistenz bei Chabrol
verständlich sind:
- die krassen Gegensätze von Licht und Dunkelheit, die Dominanz der Dunkelheit;
- die front-off Konfrontation der Figuren mit dem Zuschauer in den
Arrangements, d. h. ein scheinbares Heraustreten der Figur aus dem
abgeschlossenen Raum des Leinwandbildes, das auf eine Anrede des
Zuschauers zielt (eine Technik, die bei Godard zu entdecken war und die
in den 60er Jahren auch als eine Auseinandersetzung mit den
Interkommunikationsmodellen der TV-Sendungen seitens der Dramaturgie
des Spielfilms aufgegriffen wurde).
- Tanz im Regen - das thematische Motiv ist als szenisches
Geschehen zu entdecken: Petr tanzt mit einer Frau im Regen und auch im
Finale wird es angestimmt: Sie ist tot und er trifft auf ein Paar, das
im Regen davon tanzt.
Kroatien: Branko Bauer; Zagreber Animationsfilmschule
Bauers erfolgreichster Film war LICEM U LICE/VON GESICHT ZU GESICHT
(1963), eine Story von der Zerstörung der Selbstverwaltung durch
regionale Vetternwirtschaft und Korruption.
Bauer spielte bei der jungen Filmkritik in den 70er Jahren die
Rolle, die in der französischen Debatte des „politique des auteurs“ in
Frankreich einst Hitchcock und Hawks gespielt hatten. Er war in
Jugoslawien bereits in den 50er Jahren als Autorenfilmer gestartet, der
sich dem Genre des Psychothrillers zugewandt hatte (NE OKREÆI SE, SINE/
DON’T TURN BACK, SON, 1956).
- Die Kontinuität der Themen der Zagreber Schule des Animationsfilms
Auffallend ist, dass in den Ostblockländern seit den 50er Jahren
leistungsstarke und künstlerisch international beachtete
Trickfilmstudios aufgebaut wurden (der bereits 1947 in Venedig
ausgezeichnete Puppenfilmregisseur Trnka und der
Zeichentrickfilmregisseur K. Zeman in der CSSR; der Rumäne Ion
Popescu–Gopo; D. Vukotiæ, der Begründer des Zagreber Animationsfilms um
1951, wurde international anerkannt nach 1956 und auch seine
Mitarbeiter Aleksandar Marks und Boris Kolar wurden bekannt. Spätere
Spielfilmregisseure wie Vlado Kristl (Animationsfilm: DON KIHOT / DON
QUIJOTE, 1961) und Vatroslav Mimica (Animationsfilm mit Aleksandar
Marks: MALA KRONIKA, 1962) gingen aus der Zagreber
Zeichentrickfilmschule hervor. Besonderheiten der Filme der Zagreber Animationsfilmschule waren:
- thematisch: der Aggressionstrieb des Menschen (Dušan Vukotiæ
PICCOLO, 1959)/ das Umbrechen von Idylle, Friedfertigkeit, Neugier in
Zerstörungen/ Rezeptionsstrategien: Metamorphosen des Gewissens
- in den 60er Jahren die Kombination von Realszenen und
Zeichentrick im Animationsfilm (IGRA / DAS SPIEL, 1962; Oscar 1962 für
Trickfilm ERSATZ; DER FLECK, 1967; aber auch die Kombination der
Landschaftsaufnahmen mit Landschaftsbildern naiver Maler in GUBESZIANA,
1974, einer Geschichte über einen legendären Bauernführer aus dem Jahre
1573)
- das Prinzip der „reduzierten Animation“, d. h. im Gegensatz zu
US-Hollywood - Effektstandards eine strikte Konzentration auf
Bedeutungsträger (Zeichen), reduzierte Aktionen und reduzierte Sprache
(letzteres wurde insbesondere durch die Simulation von Sprache durch
Tonmontagen verfolgt).
Nach 1974 wandte sich Vukotiæ im Spielfilm dem Genre des
Partisanenfilms zu (ein Genre, das in Jugoslawien als Action-Kinogenre
seit dem 2.Weltkrieg sehr populär war): AKTION STADION (1977).
- Mimica, Vatroslav
Von der Zagreber Zeichentrickfilmschule kommend, aber Spielfilme bereits seit 1952:
PROMETEJ SA OTOKA VIŠEVICA/ PROMETHEUS AUF DER INSEL VIŠEVICA, 1965
PONEDELJAK ILI UTORAK/ MONTAG ODER DIENSTAG, 1966 als wichtiges
Beispiel für die Flashback-Dramaturgie im Novi film: „ In die
Beschreibung eines gewöhnlichen Arbeitstages im Leben eines
Journalisten – er lebt von seiner Frau getrennt, seine Freundin
erwartet ein Kind – sind eingeschnitten verbildlichte Gedanken, Träume,
Wunschvisionen. Wirklichkeitsnahe Aufnahmen wechseln mit stark
allegorischen, Schwarzweißbilder mit farbigen, auch von Stehkadern wird
Gebrauch gemacht. Das Ziel ist wiederum – ähnlich wie in Mimicas
Zeichenfilmen – die Beschwörung eines Zustandes der Isolierung und der
Angst, in dem ein Individuum seiner Umwelt entgegentritt. In den auf
die Kindheit des Helden zurückweisenden Erinnerungsbildern findet der
Film zuweilen den entrückten Ton der Hinterglasmalerei der
jugoslawischen Naiven“, schrieb Enno Patalos. /19/
Serbien: Beograder Schule
Es seien im Folgenden einige bekannte Regisseure mit ihren Filmen benannt:
Makavejev, Dušan
Studium der Philosophie an der Universität Beograd, Studium an der
Beograder Akademie für Filmtechnik, 1952-58 Amateurfilmer im Beograder
Cine Club; satirischer Dokumentarfilm DIE PARADE, 1962
Debüt: ÈLOVEK NIJE TICA / DER MENSCH IST KEIN VOGEL, 1965
LJUBAVNI SLUÈAJ ILI TRAGEDIJA SLUŽBENICE PTT / EIN LIEBESFALL ODER „DIE TRAGÖDIE EINER TELEFONISTIN“, 1967
NEVINOST BEZ ZAŠTITE / UNSCHULD OHNE SCHUTZ, 1968
Djordjeviæ, Puriša
Altmeister, der vom Dokumentarfilm zum Spielfilm wechselte
Kriegstrilogie: 1965-67
DEVOJKA / DAS MÄDCHEN, 1965
SAN / DER TRAUM, 1966
PODNE / EIN SERBISCHER MORGEN, 1967 (Spielfilm über eine Partisaneneinheit in den ersten Tagen des Friedens 1945)
Pavloviæ, Živojin
Start als Amateur 1960
POVRATAK / HEIMKEHR, 1964
SOVRAŽNIK / DER FEIND, 1965
BUDJENJE PACOVA / DIE RATTEN ERWACHEN, 1967
KAD BUDEM MRTAV I BEO / WENN ICH TOT UND BLEICH BIN, 1968
ZASEDA / DER HINTERHALT, 1969 (Demystifikation der Partisanenverbände durch ihr Verhalten nach dem Sieg von 1945)
Petroviæ, Aleksandar (1929-1994)
Unter dem Einfluss der Nouvelle Vague:
Debüt: DVOJE / DAS PAAR, 1961
DANI / TAGE, 1963 (Ähnlichkeiten mit M. Antonionis LA NOTTE)
Episodenfilm im Genre des Widerstandsfilms, aber mit kritischer Sicht auf den bisher propagierten Heroismus:
TRI / DREI, 1966
Romantisierung in Anlehnung an den französischen Regisseur Claude Lelouch:
SKUPLJAÈPERJA / ICH TRAF SOGAR GLÜCKLICHE ZIGEUNER, 1967
Spezialpreis von Cannes
I DODJE PROPAST SVETA / ES REGNET AUF MEIN DORF, 1969
Während der Start des Slowenen Hladnik in Ljubljana 1961 mehr auf
eine psychologische Logik in einem Dreierkonflikt, einer verfehlten
Liebe zielte und deshalb auch eine symbolisierende - lyrisierende
Lichtgestaltung aufwies, zeichnet sich die Beograder Schule durch
dokumentaren Realismus und eine Neigung zum Grotesken bis Absurden aus.
Die Beobachtung der Realität bedingt eine Nähe zum cinéma verité, aber
die besonderen jugoslawischen Verhältnisse (Industrialisierung, kaum
Kollektivierung, hohe Arbeitslosigkeit, Vielvölkerstaat) führen zu
einer Vorliebe für paradoxe Situationen, auch für eine Ästhetisierung
des Hässlichen (vgl. Ž. Pavloviæ: WENN ICH TOT UND BLEICH SEIN WERDE,
Großer Preis von Pula 1966 nach einem Borchertgedicht). Das erklärt
auch die folgend genannten Themenbereiche wie
- den der Männerherrschaft (z.B. D. Makavejev DER MENSCH IST KEIN
VOGEL, 1965; K. Papiæ LISICE / HANDSCHELLEN, 1969), ein Motiv, das
oftmals einhergeht mit dem tragischen Tod der Frauen. Selbst in den
Filmen, in denen sich Frauen selbstbewusst – meist städtische Frauen –
bewegen (z.B. Ž. Žilnik RANI RADOVI/ FRÜHE ARBEITEN, 1969), wird ihr
Scheitern durch Männer ausgestellt. - Psychologische Sichtung der Legenden der Partisanenkämpfe
(insbesondere Puriša Djordjeviæ, der selbst in seiner Jugend als
Partisan kämpfte, mit seiner kritischen Trilogie DAS MÄDCHEN/ DEVOJKA,
1965; SAN/ TRAUM, 1966; JUTRO/ MORGEN, 1967, und PODNE/ MITTAG, 1968),
aber auch A. Petroviæ mit TRI, 1966).
- Kritische Sicht auf die „Manager“ der sozialistischen
Gesellschaft (vom Bürgermeister bis zum Fabrikdirektor; vgl. das
Karrieristenthema bei Vladan Slijepèeviæ STIÈENIK, 1966).
Die neue Generation in Sarajewo/Bosnien
Eine Rezeption des französischen Nouvelle Vague ist auch in Sarajewo in den 60er Jahren nachweisbar.
Es entwickelt sich eine Kunst-Öffentlichkeit, aus der Autorenfilmer
hervorgehen (Kinoklub Sarajewo, Filmklub Worte der Jugend, Akademischer
Foto-Kinoklub).
- Vertreter des Autorenfilms sind:
Boro Draskovic:
HOROSKOP
Nikola Stojanoviæ:
DRAGA IRENA / LIEBE IRENE
Mirza Idrzoviè:
RAM ZA SLIKU MOJE DRAGE/ RAHMEN FÜR DAS BILD MEINER LIEBEN
MIRIS DUNJA / DUFT DER QUITTEN
Ivica Matiæ:
ZENA SA KRAJOLIKUM/ EINE FRAU MIT LANDSCHAFT
Bato Èengiæ:
MALI VOJNICI / KLEINE SOLDATEN, 1968.
Dieser Antikriegsfilm war de facto auch eine Abgrenzung vom
Partisanenkriegsfilmgenre. Kriegswaisen bringen in einem Heim einen
Mitzögling um, nachdem sie erfahren haben, dass das Kind deutscher
Abstammung sei und einen SS-Offizier als Vater hatte.
Bato Èengiæ ist ein Extremfall der Zensur. Er durfte von 1972 bis 1989 keine Spielfilme mehr produzieren.
ULOGA MOJE PORODICE U SVETSOJ REVOLUCIJI / DIE ROLLE MEINER FAMILIE IN DER WELTREVOLUTION, 1971
SLIKE IZ ZIVOTA UDARNIKA / BILDER AUS DEM LEBEN EINES AUSGEZEICHNETEN ARBEITERS, 1972
(4)
Kritische Sozialismusbilder – Beispiele
BEISPIEL 1
Die Dokumentar- und Spielfilme Želimir Žilniks
NEZAPOSLENI LJUDI (DIE ARBEITSLOSEN,1968)/ Dokumentarfilm
LIPANJSKA GIBANIA (STUDENTEN-STREIK, 1969)/ Dokumentarfilm
RANI RADOVI (FRÜHE WERKE,1969)/ Spielfilm
CRNI FILM (DER SCHWARZE FILM, 1971)/ Dokumentarfilm
DAS KAPITAL, 1971, verboten
Žilnik unternahm 1971 ein soziales Experiment mit der Kamera, das
in mehrfacher Hinsicht für sein Verständnis von den Aufgaben des
Intellektuellen und Filmemachers aufschlussreich ist. Er sammelte eines
Nachts in den Strassen von Novi Sad zehn Obdachlose auf und nahm sie
trotz ihrer Verschmutzung und Verlausung für zwei Tage und zwei Nächte
in der Zweizimmerwohnung seiner Familie auf. Er lässt sie von ihrer
Ausgrenzung aus dem System der sozialen Wohlfahrt vor der Kamera
erzählen. Tagsüber sucht er verschiedene soziale Dienste auf, befragt
Bürger auf der Straße und sucht auch einen Polizeioffizier auf. Er geht
mit der Kamera zu einem Kohlenkeller, in dem sich gewöhnlich Obdachlose
verstecken, um zu übernachten. Die Fragen, die er an die Interviewten
richtet, zielen auf Meinungen und auf konkrete Hilfe für Obdachlose im
sozialistischen Serbien. In erschreckender Weise wird die Abschottung
der Bürger und auch der sozialen Dienste von den Obdachlosen
freigelegt. Sie verschließen die Augen vor dem Problem. Žilnik zeigt,
wie weit die sozialen Distanzen zwischen dem „normalen“ Bürger und den
Obdachlosen fortgeschritten sind. Das Problem der Obdachlosigkeit ist,
so der Befund des Dokumentaristen, im sozialistischen Jugoslawien weder
subjektiv-menschlich noch objektiv lösbar. Es herrscht das Prinzip der
rücksichtslosen Ausgrenzung. Der propagierte Humanismus im
jugoslawischen Sozialismus erweist sich als abstrakt. Mit
Schrifteinblendungen zu den Bildern von den Interviews mit den
Obdachlosen in seiner Wohnung macht er aber auch einen Diskurs über die
Stellung des Intellektuellen in solchen widersprüchlichen sozialen
Verhältnissen auf. Er betont krass seine objektive Distanz als
Intellektueller zu den Obdachlosen. Er macht keine Mitleidshaltung
geltend sondern betont seine Freiheit als Intellektueller und seine
sarkastische Ironie (er schreibt: er nutze das Unglück der Obdachlosen
als Filmemacher aus!). Aber: diese sarkastische Ironie speist sich
nicht aus dem Elend der Obdachlosen, sondern aus dem Bewusstsein der
objektiv bestehenden sozialen Widersprüche in der jugoslawischen
Gesellschaft. Die Freiheit des Intellektuellen und seine
Kritikfähigkeit werden in diesen Zusammenhängen als Werte einer
Intellektuellenkultur benannt.
Seine Kritik am jugoslawischen Sozialismus und dessen
humanistischen Mythen ist zutiefst düster und von sarkastischer Haltung
getragen. Der Titel des Dokumentarfilms CRNI FILM / DER SCHWARZE FILM
trifft sich mit der Identität dieses 1943 geborenen Regisseurs, zu der
Welle des „schwarzen Films“ in der Strömung des Novi films der
sechziger Jahre zu gehören.
In ähnlicher Weise hatte Žilnik in seinem Dokumentarfilm
NEZAPOSLENI LJUDI / DIE ARBEITSLOSEN (1968) auf soziologische
Informationen und Statistiken verzichtet. Er skizzierte mit seinen
Interviews in einer trostlosen Barackenunterkunft von Arbeitslosen ihre
aussichtslose soziale Situation, scheut sich nicht, sie in einem
lächerlichen Marschblock paradieren zu lassen. Die Bilder lassen
vermuten, dass er damit gängige Bilder von den Marschblöcken der
Arbeiter auf Demonstrationen ironisch-sarkastisch unterlaufen wollte.
In LIPANJSKA GIBANIA / STUDENTEN-STREIK (1969) verfolgte er, wie
die Belgrader Studentendemonstrationen sich formierten, mit welchen
Losungen und Reden unter Berufung auf Marx sie gegen die soziale
Demagogie der „Roten Bourgeoisie“ aufbegehrten. Der Enthusiasmus der
Studenten und Professoren wurde zum Gegenmodell für den unter Tito
herrschenden falschen Avantgardismus.
Seine folgenden Spielfilme scheinen diesem Duktus des
Studentenstreikfilms zu folgen. Der Titel RANI RADOVI / FRÜHE ARBEITEN,
ebenfalls 1969 entstanden, bezieht sich auf die Frühschriften von Karl
Marx, in denen er Ideologiekritik und Entfremdungskritik miteinander
verflochten hatte.
Jugoslavia, eine junge Frau vom Dorf, zieht mit drei jungen Männern
durch die Lande, um revolutionäre Ideale zur Veränderung der
Verhältnisse zu verkünden und so den in den Dörfern hart arbeitenden
Menschen das Glück zu verheißen. Aber die Dörfler nehmen die Marxsche
Ideologie nicht an. Jugoslavia scheitert überdies an der
Männergesellschaft. Sie wird schließlich von ihren Mitstreitern
erschossen.
Was also Žilnik bei den Beograder Studenten 1968/69 entdeckt hatte,
die linke Kritik am Verlust revolutionärer Ideale, das beantwortete er
in seinem Spielfilm im gleichen Jahr mit einer pessimistischen
Groteske. Für sein Kritikverständnis ist nicht nur kennzeichnend die
Kritik am abstrakten Humanismus, sondern auch die an der „linken
Fraktion“ und am Parteien-Avantgardismus Tito’scher Prägung. Das ist
keine Kritik von „rechts“. Er zeigt vielmehr in seinem Film auf, wie
unvereinbar Marxsche Ideologie und praktische Realität in
jugoslawischen Landen beim realen Entwicklungsstand der
gesellschaftlichen Verhältnisse waren.
Man beachte: Während fast alle sozialistischen Länder nach 1957 die
Kollektivierung abgeschlossen hatten, waren 1960 in Polen nur 12,6% und
in Jugoslawien nur 10,4% dieser Entwicklung gefolgt. Über die Hälfte
der Bevölkerung waren in Jugoslawien (57,7%), in Rumänien (56,7%) noch
in der Land- und Forstwirtschaft im Jahre 1965 beschäftigt. /20/ Zu
Ende der sechziger Jahre hatte Jugoslawien von allen sozialistischen
Ländern die geringste Verstädterung.
Bei Žilnik liegt der interessante Fall vor, dass der Intellektuelle
und Filmemacher ein Sozialismusbild Jugoslawiens entwickelt, das von
Unterentwicklung geprägt ist. Herrschaftskritik ist so nicht nur Kritik
an den Herrschenden sondern vielmehr Kritik an der herrschenden
Ideologie (und ihren sozialistischen und patriotischen Mythen).
Interessanterweise plante er 1971 ein Filmprojekt DAS KAPITAL, das aber
verboten wurde.
BEISPIEL 2
D. Makavejev: LJUBAVNI SLUÈAJ ILI TRAGEDIJA SLUŽBENICE P.TT / EIN LIEBESFALL ODER DIE TRAGÖDIE EINER TELEFONISTIN
Es scheint wie im Neorealismus zu sein, was die Stoffwahl betrifft.
Ausgangspunkt des Stoffes war eine Meldung in der Boulevardpresse:
in einem alten Brunnen der Belgrader Türkenburg Kalemegdan wurde
die Leiche einer Frau gefunden und die Polizei konnte den Fall
aufklären: ein Mord aus Eifersucht.
Erzählt wird von Makavejev eine Alltagsgeschichte, eine
Dreiecksgeschichte. Izabella (Eva Ras), die moderne und selbständige
Ungarin, trifft Achmed (Slobodan Aligrudiæ), den moslemischen Türken,
der den Formeln der sozialistischen Propaganda verpflichtet ist, nach
Arbeitsschluss. Sie lieben sich und leben bald zusammen - entweder in
ihrer Efeu umrankten Wohnung oder in seinem idyllischen Holzturm. Als
Achmed einige Zeit dienstlich unterwegs ist, macht sich Miæa (Miodrag
Andriæ), der Kollege im Telefonamt, an sie heran und kriegt sie im
Nachtdienst „rum“. Sie wird schwanger und ist verzweifelt. Als Achmed
den ärztlichen Untersuchungsbericht liest, ist er außer sich vor Freude
und will sie heiraten, aber Izabella sieht in einer solchen Heirat eine
Versklavung. Sie will ihm nicht einen Sohn gebären, wie er es fordert,
weil sie meint, sie müsse dann seine Dienerin sein. Achmed, der stramme
Parteisoldat und Hygieneinspektor der Rattenvertilgung, der nie zum
Alkohol griff, ist zutiefst beleidigt und rennt in eine Kneipe und
betrinkt sich. Sie versucht, ihn heimzuholen, rennt hinter dem
Betrunkenen her und beide irren durch die Gänge der Beograder
Türkenburg Kalemegdan. Durch eine dumme Bewegung seinerseits stürzt sie
in einen Brunnenschacht und ist tot. Im Blumen-Wiesen-Stück im Hof
seines Wohnhauses schläft er seinen Suff aus und wird von der Polizei
verhaftet. Es könnte wie eine Geschichte des Neorealismus klingen. Aber
die Dramaturgie durchbricht diesen Milieurealismus. Dazu sind mehrere
Besonderheiten des thematischen und dramaturgischen Aufbaus zu nennen:
(1) Makavejev beginnt nicht mit einer linearen Story - Erzählung
sondern führt anfangs eine achronologische Zeitkonstruktion ein: Anfang
der Handlung und das Ende werden in Parallele geschnitten.
- Zu jenem Zeitpunkt, da Achmed und Izabelle sich kennenlernen, ist sie der Montage nach bereits tot:
8.’: die Leiche wird geborgen; 12.’ Der Kriminologe Dr. Aleksis
erklärt in einem Vortrag die kriminellen Energien und die Psychologie
von Mördern / sie sitzen im Café und 22.’-24.’ - nachdem sie in ihrer
Wohnung sich näher gekommen sind – sehen wir in Parallele die Obduktion
der Frauenleiche (als die imaginative Fortsetzung des Finales). - Makavejev macht nicht kenntlich, dass es einen Zusammenhang
zwischen diesen Sequenzen geben könnte. Traditionelle Rückblenden sind
nicht auszumachen. Es wird eine alltägliche Liebesgeschichte erzählt,
die bereits mit ihrem Anfang ihr tragisches Ende ahnen lässt. D.h. der
Dramaturgie bleibt nur übrig, das Warum auf der Handlungsebene später
zu enthüllen.
(2) Die Chronologie der Story wird nicht nur durch Zeitensprünge
sondern auch durch Einschübe aufgebrochen. So stehen der irrationalen
tragischen Liebesgeschichte gegenüber die wissenschaftlichen Vorträge
des Beograder Sexualwissenschaftlers Dr. Aleksandar Konstiæ über die
Phallusverehrung in frühen Kulturen und die Natur des Koitus und die
des Kriminologen Dr.Živojin Aleksiæ über die Psychologie von Mördern.
Makavejev arbeitet des weiteren mit Collagen - so wenn er für
Izabells Verführung sogenannte tableaux vivants im Stil der Belle
Epoque anstelle der realen Szene einfügt. Aber auch in der Episode der
Rattenvernichtung stilisiert Makavejev Bilder der Heldenpose und
Massenvernichtung, die als tableaux gewertet werden können.
(3) Für Makavejev wird die Storykonstruktion von einem philosophischen Anliegen getragen:
- Die Diskontinuität im Erzählen basiert auf einem Philosophieren
über sich ausschließende Gegensätze (individueller Glücksanspruch und
propagandistische Gemeinschaftlichkeit im Staat; Gespaltensein von
kleinbürgerlicher Liebesidylle und andererseits Massenpropaganda auf
den Straßen; die Nähe von Sexualität und tragischem Unglück; von Leben
und Sterben).
- Er verfolgt durchweg eine philosophische Konzeption der Destruktion von Illusionen und Wahrheitskonventionen:
„Unser Kino muss zugleich didaktisch und destruktiv sein ... nur
durch Destruktion können wir die Menschen erziehen, durch Destruktion
aller Illusionen, aller demagogischen Slogans ..., d.h. wir müssen die
Slogans nicht so sehr zerstören, als ihren menschlichen Gehalt
aufdecken.“ /21/
M. Kundera hatte diese Programmatik in seinem von J. Jireš verfilmten Roman DER SCHERZ (1968) ebenfalls zum Programm erhoben.
„‚Glauben Sie, dass Destruktionen schön sein können?’ fragte
Kostka, und ich lächelte in meinem Innern. Ich mochte ihn, fand ihn
zugleich aber etwas lächerlich, und in diesem Sinne gab ich ihm zur
Antwort: ´Ich weiß, Sie sind ein stiller Arbeiter an Gottes ewigem Bau
und hören nicht gerne von Destruktionen, aber was soll ich tun: ich bin
kein Maurer Gottes. Würden Gottes Maurer hier übrigens Werke aus
wirklichen Mauern bauen, könnten unsere Destruktionen ihnen kaum etwas
anhaben. Mir scheint aber, ich sehe statt Mauern überall nur Kulissen.
Und die Destruktion von Kulissen ist eine durchaus gerechte Sache.“
/22/
Der Unterschied zwischen der Tschechischen Neuen Welle und
Makavejev besteht aber in der bei den Jugoslawen betonten
philosophischen Ironie und Groteske, die bis zur Absurdität getrieben
wird.
- Makavejev verweist auf die Maskeraden des Sozialismus, die mit
der Allmacht der propagandistischen Symbole und Formeln das
„außengeleitete Individuum“ in seinen Werten und Wahrnehmungsweisen zu
betonierten. So walten seltsame Brüche zwischen den Wohnungsidyllen und
den kontrastierenden propagandistischen Bildern (Mao Tse Tung, Lenin,
Spruchbänder, Militärparade, Maiparade), den Dokumentarfilm- und
proletarischen Marschliedzitaten z. B. Zitate aus D. Wertows
DONBASS-SYMPHONIE (1930) vom Schleifen der Kirchen oder es erklingt
Hanns Eislers Marsch „Vorwärts die Zeit“ und es fallen die Sätze „Ich
will einen Sohn von dir“(er) und sie „Ich will nicht deine Dienerin
sein“. Solche disparaten Ton-Bildmontagen legen einen tieferen Grund
frei:
Die euphorischen Formeln des Sozialismus geben eine Maskerade für
das ganz private, das individuelle Leben ab. In diesem Sinne rechnet
Makavejev sarkastisch mit dem von Ernst Busch gesungenen und von Hanns
Eisler komponierten (1957/58) Lied „Marsch der Zeit“ ab und setzt
dagegen ein von Izabella gesungenes ungarisches Liebeslied, das ganz
individuelle Töne erklingen lässt.
Achmed, der die „Fortschrittsformeln“ des Staates mit seinen
Schallplattenaufführungen vertritt, wird zu einer Destruktionsfigur
dieser „Prinzipien“. Er ist zu Beginn Hygieneinspektor, der vor den
getöteten Ratten in Heldenpose auftritt und Volksaufklärer sein will.
Er hat die Formeln verinnerlicht und scheitert daran, dass er - außer
der sexuellen Liebe - keine persönlichen, auf ihre Lebenssituation
zugeschnittenen Werte entwickeln kann. Er ist de facto ein
„außengeleiteter Mensch“. Die Sexualität wird so zu einer Macht, die
sie zusammentreibt und die die Tragödie letztlich bedingt. Interessant
ist aber auch, dass die „Ideologie“ des Achmed die Ideologie einer
traditionalistischen Männergesellschaft ist, gegen die Izabell trotz
allen Selbstbewusstseins und ihrer gesunden Emotionalität verliert.
Makavejev will mit der erzählten individuellen Liebestragödie auch
eine Destruktion der ausschließlich auf das Massenschicksal
ausgerichteten ideologischen Fortschrittsgewissheit bzw. der
rhetorischen Ideologisierung der Zukunftsgewissheit im sozialistischen
Staat demonstrieren. Die ironische Polemik von Makavejev gegen den fast
militärischen Optimismus bei Ernst Busch / Eisler / Majakowskis
Massenlied VORWÄRTS DIE ZEIT / MARSCH DER ZEIT /23/ trifft sich de
facto mit der existentialistischen Kritik von Jean-Paul Sartre am
Marxismus der fünfziger Jahre, wonach der Marxismus im Ostblock „a
priori Menschen und Dinge den Ideen“ unterwarf und „Der Marxismus
musste als philosophische Interpretation des Menschen und der
Geschichte notwendig die planwirtschaftlichen Maßnahmen widerspiegeln:
dieses unveränderlich starre Bild des Idealismus und der Gewalt übte
über die Tatsachen eine idealistische Willkürherrschaft aus.“ /24/
(5)
Der Partisanenfilm - populäres Genre und Neuansätze
Partisanenfilme waren sehr populär, insofern sie den heroischen
Befreiungskrieg gegen die deutschen Okkupanten glorifizierten. Eine
Definition des jugoslawischen Partisanenfilms verdeutlicht die Gründe:
„Jugoslawisches Genre, das im Aktionsfilm den II. Weltkrieg
thematisiert … Die Anziehungskraft der ersten Nachkriegsfilmen in
Jugoslawien wurde von Triumphalismus und einer einfachen Narration
bestimmt …
Das Schema war einfach: jede große Schlacht in der reichen
Geschichte von Jugoslawien im 2.Weltkrieg war ein Monument und ein
Film. Veljko Bulajiæ’s KOZARA (1962) und BITKA NA NERETVI / SCHLACHT AN
DER NERETVA (1969) sind zwei Beispiele für historische Schlachten als
Prätexte einer Konfrontation von schlechten Nazis und guten Partisanen
in Aktion. Das Genre war extrem populär…“ /25/
Dies war aber eine einseitige Entwicklung, die Gründe in der Art
und Weise der Aufarbeitung der Geschichte von 1941-1945 hatte. 1960/61
gab es in Jugoslawien eine kurzzeitige Aufarbeitung der Opfer des
Zweiten Weltkrieges. Man bedenke: die Interalliierte
Reparationskonferenz 1946-1948 hatte von 1,7 Millionen Toten (11% der
jugoslawischen Bevölkerung), von 425 000 Kriegsversehrten und 525.000
Waisenkindern gesprochen. In Ustaša-Lagern sollen Hunderttausende
ermordet worden sein (z.B. im Lager Jasenovaæ sollen es 500.000 bis
600.000 Tote gewesen sein)./26/ 1960 wurde der Kommandant von
Jasenovaæ, Dinko Šakiæ, als Kriegsverbrecher von Argentinien nach
Zagreb ausgeliefert, was die Auseinandersetzungen in Jugoslawien über
die nationale Tragödie kurzzeitig beförderte. 1961 gab es eine
serbische Volksbewegung zur Errichtung von Gedenkstätten an ehemaligen
Konzentrationslagern. Aber die Aufarbeitung der Opfer im Zweiten
Weltkrieg dauerte nur kurze Zeit an und insbesondere Kroatien pflegte
eine Zurückhaltung gegenüber der nationalen Tragödie. Tito orientierte
generell auf den Befreiungs- und Verteidigungskrieg gegen die deutschen
Okkupanten. Der gleichzeitig stattgefundene „Bruderkrieg“, d.h. der
Krieg der Nationalitäten gegeneinander und der Krieg von Kommunisten
und Nichtkommunisten, die mit den deutschen Truppen verbundenen
faschistischen Kroaten, die slowenischen Soldaten, die Èetniks, die
Ustaša-Leute wurde tabuisiert.
Diese Trennlinie überschritten Regisseure des Novi film, indem sie
statt des heroischen Befreiungskampfes der Partisanen den Blick auf die
nationalen Tragödien richteten. Auf einmal erschienen Filme, die
Geschichten aus den Konzentrationslagern erzählten. Auf einmal wurden
Geschichten erzählt, in denen die glorifizierten Partisanenverbände als
bedenkenlose Mörder der eigenen Leute auftraten. Es wurden Geschichten
erzählt wie die einen sich Karrieren bauten und andere untergingen.
Aleksandar Petroviæ, in Paris 1929 geboren, Studium der Philosophie
und Kunstgeschichte in Beograd und der Filmtechnik an der FAMU in Prag
und Praktikum bei René Clair in Paris, ist in dieser Hinsicht neben
Djodjeviæ und Pavloviæ führender Vertreter der Beograder Schule. Sein
dritter Film TRI/DREI (1966) erhielt auf dem Nationalen Festival in
Pula den Großen Preis und markiert den Übergang der Beograder Schule zu
einem spezifischen jugoslawischen Realismus.
Enno Patalos benannte die Story so: „In seinem dritten Film TRI
wird die Betroffenheit durch die Beobachtung von Dingen und Vorgängen
zum Hauptthema. Drei Episoden aus den Kriegserlebnissen eines
Partisanen - er beobachtet die willkürliche Hinrichtung eines
vermeintlichen deutschen Spions, die Tötung eines Kameraden durch die
Deutschen und die Einlieferung von Gefangenen und Kollaborateuren, die
füsiliert werden sollen - formulieren den schmerzlichen Abstand
zwischen dem zum tatenlosen Zuschauen Verurteilten und einem empörenden
Geschehen, das zum Eingreifen herausfordert.“ /27/
(6)
Filmkunst des demokratischen Sozialismus? Was war Jugoslawiens demokratischer Sozialismus der sechziger Jahre?
Die seit 1950 das jugoslawische Wirtschaftssystem kennzeichnende
Arbeiter-Selbstverwaltung ist von entscheidender Bedeutung, um die
Spezifik des demokratischen Sozialismus und die kritischen Funktionen
des Novi film in Jugoslawien verstehen zu können. Es handelte sich
hierbei um eine als Dritten Weg bezeichnete sozialistische
Marktwirtschaft. In dieser bestand aber kein Kapitalmarkt, so dass es
an Investoren fehlte.
In der jugoslawischen Verfassung Artikel 10 hieß es: „Die
sozialistische gesellschaftlich-wirtschaftliche Ordnung der
Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien beruht auf frei
vereinter Arbeit mit den in gesellschaftlichem Eigentum befindlichen
Produktionsmitteln, auf der Selbstverwaltung der Arbeiter in der
Produktion und auf der Verteilung des Gesellschaftsproduktes in
Grundorganisationen und anderen Organisationen assoziierter Arbeit und
auf der gesellschaftlichen Reproduktion als Gesamtheit.“
Und im Artikel 155 wurde festgelegt: „Unantastbar und
unveräußerlich ist das Recht des Werktätigen und Bürgers auf
Selbstverwaltung…“ /28/
Werner Gumpel nennt folgende für die Entwicklung bis 1965 und die Reform von 1965 charakteristischen Besonderheiten:
„1. Produktionsmittel und Konsumgüter müssen frei erwerbbar sein. Sie müssen also auf einem freien Markt gehandelt werden.
2. Die Arbeiter (als Unternehmer) erhalten die Möglichkeit, sich
ein möglichst hohes Einkommen zu sichern, also nach Gewinnmaximierung
zu streben.
3. Neben dem Warenmarkt gibt es einen Arbeitsmarkt. Für die
Arbeitnehmer ergibt sich allerdings gegenüber den ‚kapitalistischen’
Staaten insofern ein Unterschied, als sie mit dem Eintritt in einen
Betrieb auch das Recht zur Verwaltung desselben erhalten…
4. Die Produzenten können ihre Produktionspolitik frei von
staatlicher Bevormundung gestalten. Das bedeutet, dass sie selbständig
über den Umfang der Produktion sowie über Sortiment und Qualität der
Waren entscheiden…“ /29/
Diese Wirtschaftsform brachte eine Vielzahl von sozialen Problemen hervor, die von den Filmemachern aufgegriffen wurden.
Dies waren:
- entstandene Disproportionen in der Wirtschaft, zwischen Stadt und
Land; wenn durch das verbesserte Bildungssystem der sozialistischen
Gesellschaft auch die Analphabeten abnahmen, gab es doch für höher
Qualifizierte nicht genügend Arbeitsplätze
- es entstand ein Arbeitsmarkt mit dem sozialen Phänomen der Arbeitslosigkeit; die Obdachlosigkeit kam hinzu
- diese Art der Marktwirtschaft brachte Korruption hervor
- es entstanden Mittelschichten, die in Konflikt mit der sozialistischen Ideologie gerieten und eigene Ideologien entwickelten
- zwischen überzogenen sozialistischen Revolutionsidealen der
Städter - insbesondere der studentischen Jugend - und dem Denken und
Fühlen der Landbevölkerung tat sich eine Kluft auf; studentischer
Missionarismus scheiterte an der Realität des Sozialismus.
Insbesondere die Etappe des „schwarzen Films“ – beispielsweise die
Dokumentar- und Spielfilme von Žilnik – bezieht ihren Antioptimismus
aus solchen sozialen Problemen. Das betrifft auch die bis zum Zynismus
reichende sarkastische Ironie in den Filmen von Dušan Makavejev u. a.
Kennzeichen dieser Filme waren:
- die Auseinandersetzung mit der Praxis der jugoslawischen Selbstverwaltung in der Wirtschaft
- Kritik der Bürokratie und Korruption
- Kritische Bilder der jugoslawischen Arbeiterklasse und Demaskierung ihrer sozialistischen Mythologisierung
- Aufzeigen von Grenzbereichen zwischen „Normalität“ und „Ausgrenzung“ (Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit)
- Dekonstruktion von Helden
- groteske Ironie
- Spannweite zwischen Dokumentarprinzip und Surrealismus.
Im Westen, wo der Novi film als Kunst des demokratischen
Sozialismus gefeiert wurde, wurde die Meinungsvielfalt und der
kritische Gestus dieser Filme gefeiert, aber der Demokratie-Begriff,
der hierbei verwendet wurde, beschrieb zwar die Freiheit der
Meinungsäußerung und den Zusammenhang von Kunst und Öffentlichkeit in
einem kommunistischen Einparteiensystem, nicht aber wurde der soziale
Background dieses Sozialismus hinterfragt. Insofern ist dieser
demokratische Sozialismus ein höchst widersprüchliches Phänomen
gewesen.
Bezeichnenderweise haben im Lande die Regisseure des Novi film bei
der Masse des Kinopublikums keine durchgreifende Resonanz gehabt und
haben auch keine politische Entwicklung in demokratischer Richtung, im
Sinne des Aufbrechens von Titos Einparteienherrschaft im Lande
ausgelöst.
Friedrich Jäger hat den Titoismus als einen „schlampigen
Stalinismus“ bezeichnet und damit die Grenzen dieses „demokratischen
Sozialismus“ in krassem Urteil benannt: „Die regelmäßig berufene
‚Demokratisierung’ führte nicht zu wirklicher Demokratie, sondern bloß
zu einer milderen, um nicht zu sagen schlampigeren Form des
Stalinismus, allerdings mit einem vergleichsweise höheren
Lebensstandard.“ /30/
Dies stand völlig im Gegensatz zur Tschechischen Neuen Welle in den
sechziger Jahren, die von einem Aufbruch der Demokratie im Sinne der
Anerkennung der Pluralität der Interessengruppen in der Gesellschaft
getragen war.
Der Novi film war Ausdruck einer herrschaftskritischen
Intellektuellenkultur, die gegen den gewollten Optimismus der
Wirtschaftsreformer den Anti-Optimismus der Intellektuellen, ihre
Zweifel angesichts der Widersprüche, des Patriotismus und der
Mythologie in der Gesellschaft geltend machten. Die Massen in
Jugoslawien und die politischen Eliten suchten bei diesen Widersprüchen
im Kino mehr die spektakuläre Verklärung der vermeintlichen Richtigkeit
des Weges und die Harmonisierung der gegebenen Ordnung - und das gaben
die heroisierenden Partisanenfilme her, die zum populärsten Genre in
dieser Zeit wurden.
Heutzutage ist der Novi film ein filmgeschichtliches Feld von
Festivalretrospektiven geworden, die den Kunstwert betonen und das mit
dem Novi film verbundene jugoslawische Sozialismusmodell und seine
Besonderheiten im Ostblock weitgehend vernachlässigen (Viennale ’93,
53. Berlinale 2002). /31/ Für eine kultur- und filmgeschichtliche
Komparatistik der Neuen Wellen in Ost- und in Südosteuropa der
sechziger Jahre wird aber die Beachtung der verschiedenen
Sozialismusmodelle, auf die sich diese Regisseure einst bezogen,
unerlässlich sein.
Anmerkungen
1 Mira Liehm/ Antonín J. Liehm: The most important art. Eastern
European Film After 1945, University of California Press Berkeley, Los
Angeles, London 1979, p.429.
2 Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd.1: Jugoslawien, Göttingen 1975, S.479.
3 Vgl. Daniel J. Goulding: Liberated Cinema. The Yugoslav Experience. Bloomington: Indiana University Press 1985, p.64).
4 nach Daniel J. Goulding: Liberated Cinema. The Yugoslav
Experience. Bloomington: Indiana University Press 1985, p.66 ; Goulding
zitiert: Dušan Stojanoviæ: Velika avantura filma, Belgrade 1969, p.170.
5 Vgl. Encyclopedia of European Cinema ed. By Ginette Vineendean, BFI: London 1995, p.457-459.
6 Abschied von Jugoslawien. Schatten und Licht tanzen Tod. Filme
aus den Jahren 1946 - 1992. Retrospektive der Viennale ’93, Wien 1993,
S. 26.
7 KP-Zeitung BORBA bringt Artikel „Die schwarze Welle in unseren Filmen“ vgl. Mira Liehm / Antonín Liehm , a.a.O., p.425.
8 Vgl. Gajo Petroviæ: Revolutionäre Praxis. Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, Freiburg: Rombach 1969, S.258.
9 Ebd., S.259.
10 Ebd.
11 Ebd., S.269.
12 Ebd., S.271.
13 Gajo Petroviæ: Sinn und Möglichkeit des Schöpfertum, ebd., S. 181.
14 Ebd., S.172.
15 Irena Hendrichs: Presse, Rundfunk, Film. In: Klaus - Detlev
Grothusen (Hrsg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd.I: Jugoslawien, Göttingen
1975, S.451.
16 Nina Hibbin: Eastern Europe: an illustrated Guide, London/NY: Zwemmer, 1969, p.171.
17 Vgl. Wilhelm Roth: Jugoslawien-Sozialismus ohne Zwang. In: Filmkritik 9/69, S.542.
18 Vgl. Daniel J. Goulding…., a. A .O., S.69.
19 Enno Patalos: Jugoslawiens eigener Weg zum Film. In: Filmkritik 3/1967, S.135.
20 Vgl. Edgar Hösch: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1993, S.260.
21 Dušan Makavejev in: Filmkritik, Nr.2/68, München/Februar 1968, S.93.
22 Milan Kundera: Der Scherz. Suhrkamp: Ffm 1989, S.12/13.
23 Beachte: dieses Lied wurde von Eisler in der Übersetzung nach
Hugo Huppert zusammen mit den Liedern LINKER MARSCH, LIED VOM SUBBOTNIK
für die Inszenierung des Schauspiels STURM von Wladimir
Bill-Belozerkowski im Deutschen Theater (Berlin) 1957 und DAS
SCHWITZBAD von W. Majakowski ebenda 1958 komponiert.
24 Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik (Paris 1960), Reinbek bei Hamburg 1964, S.22.
25 Encyclopedia of European Cinema ed. By Ginette Vineensdean, BFI: London 1995, p.457.
26 Vgl. Friedrich Jäger: Bosniaken, Kroaten, Serben. Ein Leitfaden ihrer Geschichte. Peter Lang: Ffm 2001, S.366.
27 Enno Patalos: Jugoslawiens eigener Weg zum Film. In: Filmkritik 3/67, S.135.
28 zitiert nach: Werner Gumpel: Das Wirtschaftssystem. In: Klaus -
Detlev Grothusen (Hrsg.): Südosteuropa Handbuch, Bd. 1: Jugoslawien,
Göttingen 1975, S.209.
29 Ebd., S.208/09.
30 Friedrich Jäger: Bosniaken, Kroaten, Serben. Ein Leitfaden ihrer Geschichte. Peter Lang: Ffm. 2001, S.376.
31 Vgl. Abschied von Jugoslawien. Schatten und Licht tanzen Tod.
Filme aus den Jahren 1946-1992. Retrospektive der Viennale ’93, Wien
1993. Während im Programm der Retrospektive der 52. Berlinale eine
repräsentative Übersicht über den jugoslawischen Spielfilm der
sechziger Jahre geboten wurde, ging man im Katalog der Retrospektive
nahezu überhaupt nicht auf die jugoslawischen Filme ein vgl. Rolf
Aurich, Wolfgang Jacobson (Hrsg.): European 60s. Revolte, Phantasie
& Utopie. Berlin 2002, was auf die allgemeine Unkenntnis dieser
Strömung im Kontext der ost- und südosteuropäischen Neuen Wellen der
sechziger Jahre verweist.
Ergänzende Literaturhinweise
Klaus-Detlev Grothusen (Hg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd.1 Jugoslawien, Göttingen 1975.
Banac, Ivo: The National Question in Yugoslavia. Ithaca: Cornell University Press, 1984.
Barton, Alan H.; Denitsch, Bogdan; and Kadushin, Charles: Opinion
Making Elites in Yugoslavia. New York: Praeger Special Series, 1973.
Petroviæ, Aleksandar: Novi film. Belgrade: Institut za film, 1971.
Supek, Rudi: Humanistièka inteligencija i politika. Zagreb: Razlog, 1971.
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