KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum 


ThemaKulturation 1/2003
Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft
Frank Thomas Koch
Das Weiterbildungsbewusstsein der deutschen Gesellschaft in vergleichender Perspektive
Konferenzbeitrag. Ein Ost-West-Vergleich einer repräsentativen Studie zu Bildungskompetenzen und -einstellungen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Empirische Basis und Fokus des Statements
Das BISS (Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien) war 2001/02 beteiligt an der ersten Repräsentativerhebung in Deutschland (alte und neue Bundesländer) zum Weiterbildungsbewusstsein und –verhalten der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (19-64 Jahre).

Andere Repräsentativerhebungen (wie z.B. das Berichtsystem Weiterbildung seit 1979 ff) erfassen vornehmlich Weiterbildungsbeteiligung und -aktivität. Die Untersuchung von der hier berichtet wird, versuchte einem größeren Anspruch gerecht zu werden. Sie stellte sich das Ziel, berufsbezogene Lern- und Weiterbildungserfahrungen, -dispositionen und -aktivitäten zu erfassen und zugleich in Beziehung zu setzen zu vorberuflichen Sozialisations-, Bildungs- und erwerbsbiographischen Erfahrungen, zur aktuellen Erwerbs-, Arbeits- und Lebenssituation sowie zur Wahrnehmung des sozioökonomischen Wandels. Von daher versteht sich die Studie nicht so sehr als Flankierung, Ergänzung oder Ersatz des Berichtssystems Weiterbildung. Weit eher knüpft sie an die erste Repräsentativstudie zum Bildungsbewusstsein der westdeutschen Bevölkerung aus dem Jahre 1966 an (vgl. Strzelewicz/ Raapke/ Schulenberg 1966), wenn auch modifiziert.

Die Studie „Weiterbildung im gesellschaftlichen Wandel“ suchte Antwort auf zwei zentrale Fragen: Inwieweit ist ein Bewusstsein vom Lernen im Erwachsenenalter – im Sinne lebenslangen, lebensbegleitenden Lernens – in der Bevölkerung der Bundesrepublik verbreitet und schlägt sich im Verhalten der Menschen nieder? Sodann ging es in der Studie darum, zu erkunden, welche Lebens-, Bildungs-, Erwerbserfahrungen und – umstände lebensbegleitende Lernkompetenzen stützen bzw. ihre Ausbildung verhindern.

Zur Untersuchung nur soviel [vgl. Folie 0]


Es handelte sich um eine
    bundesweite Erhebung unter der Erwerbsbevölkerung im Alter von 19-64 Jahre: (4052 realisierte Interviews. Davon zwei Drittel in ABL, ein Drittel in NBL);
    die Stichprobe der abzubilden Grundgesamtheit ergab im Abgleich mit anderen Erhebungen Repräsentativität
    der Erhebungszeitraum lag im Sommer 2001 (durch Infratest Burke: Modus Computer gestützte persönliche Interviews auf der Basis eines standardisierten Fragebogens)
    Die Auswertung der Erhebung erfolgte durch das SOFI Göttingen, die Uni Heidelberg und das BISS Berlin)
    Auftraggeber war das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Das BISS war im Rahmen der Untersuchung für den Ost-West-Vergleich zuständig. Ich möchte einige Befunde der Untersuchung mit Blick auf das Thema der heutigen Konferenz vorstellen. Es geht mir um Antworten zu zwei Fragen:

    1. Lassen sich im Lichte der Untersuchung markante Unterschiede im Weiterbildungsbewusstsein, in der Annäherung an das Leitbild vom lebensbegleitenden Lernen, in Lernkulturen zwischen Ost und West identifizieren?
    2. Stützen die beigebrachten Befunde über das Weiterbildungsbewusstsein der deutschen Gesellschaft auf ihre Weise das von Wolfgang Engler in die Debatte gebrachte Deutungs- und Handlungsmuster von den Ostdeutschen als Avantgarde oder relativieren, widerlegen sie es?


Dabei unterstelle ich zweierlei:

    Avantgarde-Positionen sind u.a. an das Vermögen, die Kompetenz zu lebensbegleitendem Lernen geknüpft
    Avantgarde-Positionen sind inhaltlich durch die Suche nach Auswegen aus der Arbeitsgesellschaft, die Kreation eines neuen kulturellen Modells charakterisiert (vgl. Engler 2002: 178). Eine solche Suche hinterlässt Spuren im Weiterbildungsbewusstsein.



Operationalisierungen: „Kompetenz zu lebenslangem Lernen“ / Typologie von „Ost-West-Unterschieden“

Eine der zentralen Fragen der Untersuchung war: inwieweit ist die Kompetenz zu lebenslangem Lernen unter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (19-64 Jahre) verbreitet und verankert? Wie aber lässt sich das erfassen? Der Begriff der Kompetenz zu lebensbegleitendem Lernen beinhaltet verschiedene Dimensionen, sie sich als Anforderungen definieren lassen:
[vgl. Folie 1]

a) „Antizipation“ beruflicher Lernerfordernisse (biographisch- strategische Auseinandersetzung mit Veränderungen in Beruf, Arbeitswelt und auf den Arbeitsmärkten). Variable erfasst wichtigstes und zweitwichtigstes Moment zu Sicherung der eigene beruflichen Zukunft (Auswahl unter vier Antwortvorgaben) und Wahrnehmung von Weiterbildungsbedarf in den nächsten Jahren (ja, nein, weiß nicht);
b) „individuelle Selbststeuerungsdisposition gegenüber Lernprozessen. Die Variable bildet ab, inwieweit der einzelne in der Lage ist, seine Lernaktivitäten selbständig zu bestimmen, zu planen usw. Erfasst werden kognitive und motivationale Disposition über eine Batterie von 7 Fragen;
c)die dritte Dimension rückt neben dem persönlichen Lernengagement die Initiative und Aktivität sich den Zugang zu Lernprozessen zu verschaffen in den Blick (Kompetenzkontrollvariable bzw. „Kompetenzentwicklungsaktivität“). Hier gehen ein: Art und Breite der berufsbezogen Lernerfahrungen in den letzten 3 Jahren (Erfahrungen in welchen Lernkontexten –arbeitsbegleitendes Lernen/ Lernen im privaten Umfeld/formalisierte Lernprozesse/mediale Lernprozesse) sowie die Lernintensität (in welchen Lernkontexten viel gelernt?). Der dabei entfaltete Aktivitätsgrad wurde bestimmt über die Konfrontation mit Informationen zum persönlichen Lernengagement, zur Aktivität des Zugangs zu Lernprozessen (woher kann der Anstoß?) und dem individuellen Einsatz von materiellen wie immateriellen Ressourcen für Weiterbildung (mehr Zeit und mehr Geld als früher?) sowie über die wahrgenommenen wichtigsten Weiterbildungsbarrieren;
d) „Lernkompetenz“ als Indexvariable mit der höchsten Komplexität. Sie bündelt das Niveau der Antizipation + Grade der Ausprägung der individuellen Selbststeuerungsdisposition + Niveau der Kompetenzentwicklungsaktivität. Im Ergebnis lässt sich dann aussagen, wie viel Prozent der Erwerbsfähigen in der Bundesrepublik im Alter von 19 bis 64 Jahren und wie viel Prozent der Angehörigen verschiedener sozialdemographsicher Gruppen eine hohe, mittlere oder niedrige Kompetenz zu lebensbegleitendem Lernen ausgebildet haben.

Um Ost-West-Unterschiede in diesen Dimensionen zu erfassen, haben wir uns an eine von Manfred Lötsch (vgl. Lötsch 1980; 1988) für andere Zwecke entwickelte Typologie angelehnt. Diese Typologie arbeitet mit folgenden Klassifikationen:
[vgl. Folie 2]

    Keine Ost-West-Unterschiede im Weiterbildungsbewusstsein und -verhalten (Dieser Fall liegt auch vor, wenn die Unterschiede zwischen Vergleichsgruppen ≤ 5%)
    Graduelle Ost-West-Unterschiede (unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Struktur)
    (Gravierende) Qualitative Unterschiede im Weiterbildungsbewusstsein und –verhalten, die eine ungleiche Annäherung an ein neues Weiterbildungsverständnis im Ost-West-Maßstab signalisieren
    Profilunterschiede: unterschiedlich strukturiertes, aus verschiedenen Quellen gespeistes, aber gleichwertiges Weiterbildungsbewusstsein (Fokus Kompetenz zu lebensbegleitendem Lernen).


(Ausgewählte) Befunde des Ost-West-Vergleiches



Tab 1-3 (etwas höheres Antizipationsniveau im Osten, leicht höhere Lernkompetenz im Osten, identische Selbststeuerungsdisposition)

Auf der Ebene des allgemeinen Ost-West-Vergleiches der 2001 erhobenen Daten lässt sich über die Konturen des Weiterbildungsbewusstsein der Bevölkerung im Bundesgebiet folgendes festhalten:

    Das Weiterbildungsbewusstsein der deutschsprachigen Bevölkerung ist durch einen breiten Sockel an Gemeinsamkeiten und ein hohes Maß an Strukturgleichheit gekennzeichnet.
    Auf der Ebene des Vergleichs der Ost- und Westpopulation insgesamt lassen sich nur leichte graduelle Unterschiede im Sinne eines Gefälles von Ost nach West identifizieren.
    Annähernd gleich groß ist auch jene jeweils starke Minderheit in Ost (ca. 46%) und West (ca. 42%), die die vom Leitbild „selbstgesteuertes Lernen“/ „lebensbegleitendes Lernen“ nahegelegten Verhaltensweisen praktiziert.
    Hier nicht tabellarisch ausgewiesen: Zwischen Gruppen der oberen Soziallagen bestehen keine signifikanten West-Ost-Unterschiede in bezug auf die Lernkompetenz. Sozial benachteiligte Gruppen weisen hingegen in den neuen Bundesländern ein deutlich höheres Kompetenzniveau auf als im Untersuchungsgebiet West.

Diese Gemeinsamkeiten im Weiterbildungsbewusstsein zwischen Ost und West stellen sich ein, obwohl gravierende qualitative Ost-West-Unterschiede in der Erwerbstruktur, im Einkommen und Berufsverlauf zum Nachteil des Ostens bestehen und zudem die Annäherung an ein neues Weiterbildungsverständnis auf der Basis unterschiedlicher beruflicher Sozialisations-, Arbeitsmarkt- und Weiterbildungserfahrungen erfolgt. Die deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten im Weiterbildungsbewusstein speisen sich sowohl aus identischen als auch verschiedenen Quellen. Daher können Politikansätze und Strategien, die Weiterbildung, Qualifizierung, Lernen fördern, nicht allein bei den offensichtlichen deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten ansetzen. Dies zeigt schon die Besichtigung der wichtigsten Weiterbildungsbarrieren:



(im Osten wichtigste Barriere – der fehlende persönliche und berufliche Nutzen; im Westen – eine fast gleich besetzte Doppelspitze. Bei der Nähe/Ferne zur Weiterbildung (Tab 5) fällt vor allem auf, dass im Westen jene Minderheit, die Weiterbildung als persönliche Bereicherung empfindet, deutlich größer ist als im Osten.)



Die wichtigsten Leitdifferenzen im Weiterbildungsbewusstsein zwischen Ost und West rücken in den Blick, wenn die Ebene des allgemeinen Ost-West-Vergleiches verlassen wird.








Nicht graduelle, sondern qualitative Unterschiede im Weiterbildungsbewusstsein und –verhalten bestehen bei Arbeitslosen, „Stiller Reserve“ und Frauen zwischen Ost und West (Lernkompetenz nach Erwerbsstatus, Alter und Geschlecht). Ein deutlich höheres Antizipationsniveau von Lernerfordernissen lassen im Osten alle Erwerbsstatusgruppen, die Frauen und die Älteren erkenne. Tabelle 8 und 9 verweisen darauf, dass sich Arbeitslose Ost von ihren Schicksalsgenossen im Westen in mancher Hinsicht unterscheiden.
Arbeitslose, Stille Reserve und erwerbsfähige Frauen im Bundesgebiet Ost heben sich von den Referenzgruppen im Bundesgebiet West in aller Regel noch immer durch höhere Niveaus der Ausbildungsabschlüsse, eine ungebrochene und dezidierte „Erwerbsneigung“ und eben ein entwickelteres, auf „Beschäftigungsfähigkeit“ (Kommission der EU, 2000) fokussiertes Weiterbildungsbewusstsein ab. Letzteres ist der Fall, weil der überwiegende Teil der arbeitsfähigen ostdeutschen Bevölkerung keine andere sozial anerkennungswürdige Alternative hat bzw. sieht, als eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu finden und in Beschäftigung zu bleiben.

Diese Fixierung geht allerdings oft mit einer Engführung, mit dem Selbstausschluss von Lernfeldern – Stichwort Sozialkompetenzen – einher, die tatsachlich oder auch nur vermeintlich nicht der „Beschäftigungsfähigkeit“ dienen.

Im Bundesgebiet West sind Weiterbildungsbewusstsein und „Beschäftigungsfähigkeit“ loser verkoppelt. Daher ist auf der einen Seite der Anteil der Erwerbsfähigen größer, der sich weiterbildungsfern bzw. –abstinent verhält. Auf der anderen Seite ist aber auch der Personenkreis größer als im Osten, der gleichsam ein lernendes Verhältnis zur sozialen Welt ausbildet, Lernen und Weiterbildung auch im Kontext eines erfüllten und produktiven Lebens zu sehen und dabei allen Lernkontexten etwas abzugewinnen vermag.

Die holzschnittartig skizzierten Unterschiede im Weiterbildungsbewusstein zwischen Ost und West sind vor dem Hintergrund eines sich schließenden Zeitfensters zu sehen.
Im Bundesgebiet West zeichnen sich Entwicklungen ab, die zu einer stärkeren Fokussierung des Weiterbildungsbewusstseins auf „Beschäftigungsfähigkeit“ führen (können).
Im Bundesgebiet Ost drohen die erkennbaren Konturen des Weiterbildungsbewusstseins zu erodieren, wenn das Beschäftigungssystem der neuen Länder weiterhin nicht hineichend in der Lage ist, das Beschäftigungsversprechen einzulösen. Zudem lassen sich offenbar die objektiven und subjektiven Voraussetzungen, die zu einem entwickelteren Weiterbildungsbewusstsein bei Frauen wie bei Arbeitslosen und Angehörigen der Stillen Reserve im Bundesgebiet Ost geführt haben, nicht ohne weiteres in der Abfolge der Generationen reproduzieren. Dies deutet der Ost-West-Vergleich der Ausbildungsabschlüsse der Probanden im Alter von 19 bis 44 Jahre (Jüngere) mit dem der Probanden im Alter von 45 bis 64 Jahre (Ältere) an. Während in den alten Bundesländern zwischen Jüngeren und Älteren ein annähernd ausgewogenes Verhältnis hinsichtlich der Ausbildungsstruktur besteht, heben sich die Jüngeren im Osten durch ein qualitativ niedrigeres formelles Ausbildungsniveau von den Älteren im Osten ab. Überdies ist unter den Älteren im Osten der Anteil der Selbständigen sehr hoch. Die in Ostdeutschland (im Sample) höhere Quote der Selbständigen geht ausschließlich auf die starke Überpräsenz dieser Statuskategorie unter den Älteren zurück.

Was lässt sich im Lichte der Befunde über den Geltungsanspruch der These von den „Ostdeutschen als Avantgarde“ sagen? Wenn es zutrifft, dass die Ausbildung der Kompetenz zu lebenslangem Lernen Avantgardismus mit konstituiert und ermöglicht, dann wird die Englersche Position durch Erhebungen zum Weiterbildungsbewusstsein eher gestützt als relativiert. Allerdings sind jene größeren Teile der ostdeutschen Bevölkerung, die ein fortgeschrittenes Weiterbildungsbewusstsein haben, aktuell nicht auf der Suche nach Auswegen aus der Arbeitsgesellschaft. Was sie umtreibt ist der Erhalt von Erwerbsarbeit oder den Wiedereinstieg in Erwerbszusammenhänge. Soweit eine Suche nach Auswegen aus der Arbeitsgesellschaft stattfindet und sich im Weiterbildungsbewusstsein markiert, sind Ansätze dazu eher im Altbundesgebiet zu finden.



Literatur:

Engler, W.: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002

Lötsch, M.: Zur Entwicklung der Intelligenz in der DDR, in: Derselbe (wiss. Red.). Die Intelligenz in der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1980, S. 89-118

Lötsch, M.: Ingenieure in der DDR, Berlin 1988, S. 31-36

Strzelewicz, W.; Raapke, H-D.; Schulenberg, .W: Bildung und gesellschaftliches Bewusstsein. Eine mehrstufige soziologische Untersuchung in Westdeutschland, Stuttgart 1966



Folien


Folie 0: Untersuchungsdesign

„Weiterbildung im gesellschaftlichen Wandel“

    bundesweite Erhebung unter der Erwerbsbevölkerung im Alter von 19-64 Jahre – repräsentativ
    4052 realisierte Interviews (davon ein Drittel in NBL
    Erhebungszeitraum: Sommer 2001
    Erhoben von Infratest Burke
    Modus: Computer gestützte persönliche Interviews auf der Basis eines standardisierten Fragebogens
    Auswertung: SOFI Göttingen + Uni Heidelberg + BISS Berlin
    Auftraggeber: BMBF










Folie 2:
Klassifikation von Ost-West-Unterschieden im Weiterbildungsbewusstsein und –verhalten in Anlehnung an M. Lötsch (vgl. Lötsch 1980/1988)
    Keine Ost-West-Unterschiede
    Graduelle Ost-West-Unterschiede
    Gravierende qualitative Ost-West-Unterschiede
    Profilunterschiede zwischen Ost und West





Die Folien 3 – 7 mit den Tabellen 1 – 8 sind im Text.