Thema | Kulturation 2011 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Frank Thomas Koch | Sieben Bücher quer gelesen: Bilanzierungen der deutschen Einheit und die Wiederkehr von Visionen der Gesellschaftsveränderung
| Thomas Ahbe:
Die DDR im Rücken. Die sozialisatorische Mitgift der Ostdeutschen und
der aktuelle Konflikt von Erinnerungen und Leit-Erzählungen im
vereinigten Deutschland :IWM Wien Tr@nsit online, 2010, 18 Seiten Michael Behr: Planungsparadoxien im gesellschaftlichen
Transformationsprozess. Ostdeutschland als prognostisches Dauerproblem.
In: Mittelweg 36, 18. Jg.(2009)6: 64-81 Elmar Brähler/Irina Mohr (Hrsg.) : 20 Jahre deutsche Einheit – Facetten einer geteilten Wirklichkeit, Psychosozial-Verlag Gießen 2010, 298 Seiten
Peter Krause, Jan Goebel, Martin Kroh, Gert G. Wagner:
20 Jahre Wiedervereinigung: wie weit Ost-und Westdeutschland
zusammengerückt sind; Wochenbericht des DIW Berlin 44/2010, 10 Seiten Herfried Münkler: Mitte und Maß, Der Kampf um die richtige Ordnung, Rowohlt Berlin 2010, 300 Seiten
Klaus Schroeder: Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Verlag Wolf Jobst Siedler jr. Berlin 2010, 249 Seiten
SFZ Berlin-Brandenburg: Sozialreport 2010. Die deutsche Vereinigung – 1990-2010 – Die Positionen der Bürgerinnen und Bürger, Berlin 2010, 125 Seiten
Soviel Bilanzierung war noch nie. Fokus einer Sammelbesprechung
Die
Zahl der Akteure und Institutionen ist Legion, die -mit Blick auf den
20. Jahrestags des Mauerfalls, der Revolution in der DDR und der
deutsche Einheit -Analysen, Bilanzen, Gutachten und Expertisen,
theoretische Verallgemeinerungen und empirische Befunde zum Aufbau Ost,
zum Vereinigungsprozess, zur Lage des vereinten Deutschland vorgelegt
hat. So viel Bilanzierung war noch nie.
Die hier aufgeführten Texte stellen nur eine sehr kleine
Auswahl unter den „Bilanzen“ dar. [Die Publikation von Herfried Münkler
gehört streng genommen überhaupt nicht zu den bilanzierenden Texten,
aber sie thematisiert Entwicklungsfragen des vereinten Deutschland.]
Für die Auswahl der Bilanztexte wie für ihre Auswertung
ist die Erkenntnis leitend, dass Bilanzierungen -neben einer
Vergewisserung über Soll und Haben -immer auch als Form der
Verständigung über Perspektiven, Optionen, Zukunft ausgelegt sind.
Ausgewählt wurden Texte, die nach Art ihrer Bilanzierung und/oder ihrer
Beantwortung der Frage „ (Ost-)Deutschland, was nun?“ deutlich
kontrastieren. Sicher hätte jede einzelne Publikation eine gesonderte
Besprechung als Ganzschrift verdient. Doch in dieser Sammelbesprechung
geht es um eine an ausgewählten Bilanzlinien orientierte Verständigung
über die Frage, wie weiter?
Soweit die Texte bilanzieren, beziehen sich in der Sache
und in der Regel -teils positiv, teils produktiv-kritisch -auf eines
oder mehrere der übergreifenden Ziele des Vereinigungsprozesses, wie
sie etwa in den Jahresberichten der Bundesregierung zum Stand der
deutschen Einheit fixiert worden sind. [Dazu gehören die Überwindung
teilungsbedingter Folgen und Unterschiede zwischen Ost und West, der
Abbau struktureller Defizite, die Angleichung der Lebensverhältnisse,
das Herbeiführen einer selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung im
Bundesgebiet Ost sowie die Ausbildung, Stärkung eines Gefühls der
Zusammengehörigkeit , auch als Gewinnen der „inneren Einheit“
bezeichnet. Den aufgeführten Zielen des Vereinigungsprozesses wiederum
liegt das Leitbild von der Übertragung des westdeutschen Modells auf
den Osten bzw. dessen Übernahme durch den Osten zugrunde.]
1. Welche Ziele des Vereinigungsprozesses bzw. des Aufbau Ost stehen im Mittelpunkt? (Fokus)
2. • Welche Generalbilanz wird gezogen?
3. Was lässt sich aus der Sicht des Rezensenten als »besonderer Fakt« oder als »besondere Deutung« an der Bilanz hervorheben?
So
unterschiedlich die Positionen im Einzelnen auch ausfallen, so
verbindet die meisten Bilanzen die Vorstellung, dass eine Periode zu
Ende geht, eine Zäsur sich abzeichnet, die Koordinaten und Zielmarken
sich nunmehr verschieben. In den Blick rücken von daher drei weitere
Fragen:
1. welche Art von Koordinatenverschiebung legen die Texte nahe?
2. Wie beantworten sie die Frage, (Ost-)Deutschland, was nun?
3. Sind die Antworten der Autoren durch die Texte gedeckt oder
enthalten die Texte Positionen, die reicher sind als die
Verallgemeinerungen der Verfasser?
Gesellschaften im Umbruch. Rückblicke auf die Initialphase der Vereinigung
Aus
der Sicht des Rezensenten ist es zunächst geboten, in groben Strichen
auf die Einbettung der deutsch-deutschen Vereinigung in
gesellschaftstheoretischer Perspektive ist zu verweisen, die für die
Sammelrezension leitend ist. Denn von daher erschließt sich sowohl die
Wiederkehr von Visionen der Gesellschaftsveränderung als auch, das und
warum partiell in neuer Weise die Initialphase der Vereinigung in den
Blick rückt.
Die deutsche Einheit im Spannungsfeld von Krise und Transformationen des Fordismus
Ich
gehe davon aus, dass die Gesellschaften westlichen Typs wie die
staatssozialistischen Gesellschaften in der Zeit des Kalten Krieges
unterschiedliche Spielarten des fordistischen Wirtschafts-und
Sozialmodells verkörperten. Ab Mitte, Ende der 1970er Jahre geriet der
Fordismus in die Krise, an der die staatssozialistischen Gesellschaften
schließlich zerbrachen, weil sie im Unterschied zu den westlichen
Gesellschaften keine Anpassungsformen zu finden vermochten. Der
Zusammenbruch des „Kommunismus“ in Ost-und Mitteleuropa überdeckte die
Krise des Fordismus in den westlichen Gesellschaften und ließ sie für
sehr viele Menschen in den Hintergrund treten. Die ostdeutsche
Bevölkerung votierte mehrheitlich für den Beitritt zur Bundesrepublik.
Der Sieg des Westens im Systemwettbewerb erschien evident. In den
kapitalistisch-fordistischen Gesellschaften erodierte jedoch mit der
Krise des Fordismus das Modell des „Teilhabekapitalismus“, ging die
Phase eines „ Kapitalismus ohne Reservearmee“ (Lutz 1984: 186) zu Ende,
stellten sich in neuer Weise Fragen nach sozialer Ex-und Inklusion
(Geißler 1976; Kronauer 2002, Land 2003; Alda et al. 2004). Befinden
sich seit Ende der 1970er Jahre die Gesellschaften westlichen Typs im
Umbruch, in Suchprozessen nach einem neuen Wirtschafts-und
Sozialmodell, so hat man sich die Transformation der
kapitalistisch-fordistischen Erwerbsgesellschaft als „von oben“ wie
„von unten“ ausgehende Suchprozesse vorzustellen, in denen Konzepte der
„Exklusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung und der
Exklusionsverwaltung“ (Bommes/Scherr 1996) praktiziert werden.
Dahrendorf (1995) hielt das Tolerieren einer „Unterklasse“ von etwa 5
Prozent der Bevölkerung für „wirtschaftlich machbar und politisch
risikolos“, aber er sah es als höchst problematisch an, wenn die
„Grundwerte des Bürgerstatus – gleiche Teilnahmerechte für alle -für
eine Kategorie von Menschen außer Kraft…“ [gesetzt werden]. Inzwischen
ist die kritische Masse von 5 Prozent bundesweit, im Osten deutlich
überschritten. Arbeitsmarktexklusion, von Kronauer (2002) als eine
Achse der Analyse sozialer Exklusion bestimmt, erscheint als
prozessuale Folge sozialen Wandels, die sich indes nicht in der
„Entziehung oder Verweigerung von Rechten“ äußert, sondern in einer „…
Erosion der … auf soziale Teilhabe gerichteten Substanz von Rechten“
und Möglichkeiten (Wolf 2007: 1165).
Die Suchprozesse nach einem neuen Wirtschafts-und
Sozialmodell kreisen letztlich um zwei Pole. Zum einen geht es um eine
neuartige Ressourcen-, Energieeffizienz, um einen Umbau der
Wirtschafts-und Lebensformen nach Maßgabe ihrer ökologischen
Tragfähigkeit. Zum anderen um die Suche nach neuer Sozialstaatlichkeit.
Bei den einstigen staatssozialistischen Gesellschaften kommt noch der
Systemwechsel hinzu. Deshalb wird in dieser Beziehung vom „doppeltem
Umbruch“ (Land 2003) gesprochen. Die Krise des fordistischen
Teilhabekapitalismus ab den 1970er Jahren hat international zu
markt-liberalen Transformationen geführt, die nachhaltig darauf
abheben, das Modell der „Markt-und Konkurrenzgesellschaft“ (Reißig
2009) global durchzusetzen. Die markt-liberalen Transformationen des
Fordismus führten in die Krise des Jahres 2008. In der Krise des Jahres
2008 wurde erneut erkennbar, dass der „…Kapitalismus… eine
Gesellschaft… [ist], die …von sich aus kein Maß kennt. Maß und Maßstab
müssen von außen an ihn herangetragen und gegen seine Dynamik
durchgesetzt werden“ (Münkler 2010:59). Doch nicht nur die Finanzkrise
mit ihren Folgen für die Bankenwelt, die Wirtschaftskrise und die Krise
der öffentlichen Haushalte, sondern auch ökologische Herausforderungen
bewirken, dass statt der Entfesselung der Marktkräfte (Deregulierung)
nunmehr stärker deren Re-Regulierung in den Blick rückt. Da die
ökologischen Lebensgrundlagen in Gefahr sind, wenn es nicht gelingt,
global wirksame Antworten (Erderwärmung nicht über 2 Grad) zu finden,
erweist sich soziale Exklusion größerer Bevölkerungsgruppen für die
Bewältigung der ökologischen Krisen und Herausforderungen als massives
Handicap -in Deutschland, in Europa, in globaler Perspektive (Beck
2007; Adler/Schachtschneider 2010; Dyer 2010). Soziale Exklusion ist
nicht nur aus den skizzierten normativen Erwägungen Dahrendorfs (1995),
sondern zudem auch mit Blick auf die ökologischen Herausforderungen
dysfunktional. Reißig (2010: 129-141) hat drei alternative
Entwicklungsperspektiven zur markt-liberalen Transformation des
Fordismus identifiziert, die jeweils die kapitalistische Dynamik
sozialen und/oder ökologischen Maßgaben unterwerfen: a) die „regulierte
Markt-und Konkurrenzgesellschaft; b) das „sozial-liberale
Entwicklungsmodell; c) die Perspektive des „Paradigmenwechsels“ hin zu
einer (ökologisch) „nachhaltigen Solidargesellschaft“.
Der skizzierte Hintergrund ist in den Bilanzierungen der
deutschen Einheit in sehr unterschiedlichem Maße präsent. Am
deutlichsten bei Reißig (2010), Misselwitz (2010), Kasparick (2010),
Mohr (2010), Behr (2009), bei Wagner (2010) wie bei den Autoren des
Sozialreports (2010); am wenigsten bei Klaus Schroeder (2010) und den
Autoren der Bilanz des DIW.
Die Bilanzen zwischen TINA-und TATA
Das
so genannte TINA-Prinzip („There Is No Alternative“) ist ein Essential
des hegemonialen Einheitsdiskurses und darüber hinaus eine eherne
Argumentationsfigur der Träger, Sachwalter und Weißwäscher neoliberaler
Reformen. Die französische Politologin Susan George setze TINA den
TATA-Slogan entgegen – „There Are Thousand Alternatives“. Soweit in den
Texten die Initialphase der Vereinigung und der darauf gegründete
Vereinigungsweg noch einmal in den Blick rücken, bewegen sich die
Autoren gleichsam im Spannungsfeld zwischen TINA und TATA.
Am stärksten ist Klaus Schroeder dem TINA-Prinzip
verpflichtet. Klaus Schroeder argumentiert, dass die DDR wirtschaftlich
am Ende, daher auf Gedeih und Verderb auf die deutsche Einheit
angewiesen und der beschrittene Vereinigungspfad gleichermaßen
alternativlos wie erfolgreich war (vgl. Schroeder 2010: 86-138). Dem
lässt sich mit Wolf Wagner entgegnen: „Staaten brechen nicht aus
ökonomischen Gründen zusammen“ (Wagner 2010: 41). M.E. stand die DDR in
ihrer Endphase wirtschaftlich keineswegs schlechter da als andere
Länder des Ostblocks. Es zeigt sich auch, dass der Anteil der DDR am
gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukt (trotz der systembedingten
Webfehler) in Prozent zwischen 1950 (12,5%) und 1989 (12,9%) nicht
gesunken, sondern leicht gestiegen ist (Heske 2009: 101). Ich würde
daher den Akzent anders als Schroeder setzen. 1989/90 hatte die DDR
zweieinhalb Optionen – die Transformation zu Demokratie und
Marktwirtschaft qua Vereinigung (über den Beitritt nach Artikel 23
Grundgesetz zur Bundesrepublik bzw. die Vereinigung nach Artikel 146
mit der Bundesrepublik) und die Transformation ohne Vereinigung. Für
diese ebenfalls bestehende Option fehlten der DDR in der
Entscheidungsphase nicht so sehr wirtschaftliche als vielmehr
politische und kulturelle Ressourcen. Die Zahl der potentiellen Träger
einer Transformation ohne Vereinigung schmolz zwischen November und
Dezember 1989 von 89% auf 24% (Winkler 2009: 16).
Rolf Reißig ruft verschiedene Typen und Formen von
Vereinigung der älteren und jüngeren Geschichte auf und diskutiert vor
diesem Hintergrund den besonderen deutschen Vereinigungsfall und die
„Tücken“ seiner „Zielorientierung“ (Reißig 2010: 208-220). Ulrich Busch
analysiert die Eigentumstransformation im Prozess der friedlichen
Revolution und der deutschen Vereinigung und kommt zu dem Befund: „Die
Eigentumstransformation war notwendig, um den Systemwechsel zu
bewerkstelligen. Die dabei zur Anwendung gelangten Methoden jedoch
waren nationalspezifisch, politikdeterminiert und interessengeleitet.
Sie wären auch anders denkbar gewesen“ (Busch 2010: 72).Mit hin gab es
sowohl zum gewählten Vereinigungsmodus als auch auf dem beim Aufbau Ost
beschrittenen Pfad immer auch Alternativen.
Hans Misselwitz fragt grundsätzlicher nach den
„historischen Alternativen und unausgeschöpften Möglichkeiten von
1989/1990“ und lotet sie exemplarisch innen-wie außenpolitisch aus
(Misselwitz 2010: 97-107). Er rückt dabei den Zeitgeist vor zwei
Jahrzehnten in den Blick, der bestimmt war von der Vorstellung einer
„Erschöpfung der utopischen Energien“ (Habermas) und der „völlige(n)
Erschöpfung aller Alternativen“ (Fukuyama). „Politisch verband sich
damit der Abschied von Visionen der Gesellschaftsveränderung“
(Misselwitz 2010:99). Misselwitz erinnert daran, dass der damalige
Bundespräsident von Weizsäcker von der „Utopie des Status quo“ sprach.
Die Utopie des Status quo wiederum lässt sich auf der Basis der
Analysen von „Mitte und Maß“ als Programmatik, Vision und Bedürfnis der
westdeutschen nivellierten Mittelschichtsgesellschaft sozial verorten
(vgl. Münkler 2010: 215-222).
In die Initialphase der Vereinigung fallen auch weitere
Weichenstellungen. War es zwingend vorprogrammiert, dass das vereinte
Deutschland als Staat und Gesellschaft ein so ungleiches Verhältnis zu
Traditionen, Leistungen, Mitgiften der beiden deutschen
Teilgesellschaften ausbilden und kultivieren würde, aus denen es
hervorgegangen ist? [Das ungleiche Verhältnis wird exemplarisch und
gleichsam lehrbuchhaft im Opus Magnum des Historikers Hans-Ulrich
Wehler (2008:XV)) auf den Punkt gebracht: „Die kurzlebige Existenz der
DDR hat in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt…Alle falschen
Weichenstellungen, die in Ostdeutschland vorgenommen worden sind,
müssen nach dem Vorbild des westdeutschen Modells in einem mühseligen
Prozess korrigiert werden. Das ist die Bürde der Bundesrepublik nach
1990.“] Das ungleiche Verhältnis wird auch als ausgesprochene
„historisch-politische Schieflage“ [Vgl. Weigl, Michael/ Colschen, Lars
(2001): Politik und Geschichte. In: Korte/Weidenfeld (Hrsg.):
Deutschland-Trendbuch. Fakten und Orientierungen. Opladen, S.15.] der
Berliner Republik bezeichnet und problematisiert, weil es sich auf
Dauer nicht durchhalten lässt (vgl. Stöbel-Richter et al. 2010: 185;
Mohr 2010) und sich zudem als Hindernis erster Güte für nation building
erweist.
Irina Mohr fragt nach dem Stand gegenseitiger Anerkennung
geschichtlicher Erfahrungen und kommt zu dem Befund, dass die
geschichtlichen Erfahrungen der DDR und ihrer Bürger im Offizialdiskurs
grundsätzlich ausgeblendet werden. Die Ostdeutschen mussten erkennen,
„… das sie mit dem damals gewählten Weg des Beitritts
nach Artikel 23 Grundgesetz auch zu einem Deutungsanspruch beigetreten
waren, der die Nichtanerkennung aller derjenigen geschichtlichen
Erfahrungen nach sich zog, die dem alten Feindbild vor allem des
konservativen Westens entgegenstanden. Auch der Umdeutung der
sozialistischen Diktatur in ein dem Hitler-Regime gleichgesetztes,
verbrecherisches Regime mussten sie schließlich hilflos zusehen.“ (Mohr
2010:201).
Mohr führt das auf tief sitzende Ängste der
Marktliberalen wie der Konservativen vor einer geistigen Anerkennung
der DDR zurück. Könnte sich doch die DDR bei einer differenzierten
Betrachtung „… als das erweisen, was sie wirklich war: ein autoritär
pervertierter… Emanzipationsversuch von einem Denk-und
Wirtschaftssystem, das Ungleichheit selbst dann hinnimmt, wenn sie
gegen Leben und Würde der Menschen geht“ (Mohr 2010:202).
Die historisch-politische Schieflage der Berliner
Republik wie der Gesellschaft des vereinten Deutschland gegenüber ihren
Vorgängergesellschaften zeitigt eine weitere fatale Konsequenz. Wenn es
darum geht, kollektive oder individuelle Lebensleistungen von Menschen
mit einer DDR-Biographie anzuerkennen, die nicht zu dem eher kleinen
Kreis der Oppositionellen gehörten oder zum Widerstand, dann bestehen
hausgemachte erhebliche Schwierigkeiten, ja Dilemmata (vgl. Schroeder
2010: 49, 51f, 60, 70, 75, 78, 95, 174, 220, 221.) Insofern die „alte“
DDR-Forschung (und ihre zeitgenössischen Entsprechungen) die DDR als
Variante einer modernen Industriegesellschaft in den Blick rückt(e),
war bzw. ist sie vom Grundansatz in der Lage, Modernisierungsblockaden,
Modernisierungsdefizite wie auch Modernisierungspotentiale, ja
Modernisierungsvorsprünge gegenüber der Alt-Bundesrepublik zu benennen
und auch kollektive wie individuelle Leistungen zu identifizieren. Die
vom Forschungsverbund SED-Staat getragene „neue“ DDR-Forschung ist dazu
außerstande und nicht willens. Ihr wissenschaftliches wie
außerwissenschaftliches Credo veranlasst sie, andere Akzente zu setzen.
(Sofern es überhaupt Leistungen gab, waren es solche, die diktatorische
Verhältnisse am Laufen hielten, verlängerten, stabilisierten oder
beschönigen halfen.)
Gegenüber 1990 haben sich Lagen, wahrgenommene
Hausforderungen und so auch der Zeitgeist abermals verändert. Nicht nur
die DDR ist untergegangen, auch die alte Bundesrepublik besteht nicht
mehr. Visionen der Gesellschaftsveränderung sind in Politik und
Gesellschaft wieder gefragt und im Kommen, ja die „Bundesbürger stellen
die Systemfrage“. [ Vgl. Markus Sievers: Bundesbürger stellen die
Systemfrage. Nur 48 Prozent vertrauen der sozialen Marktwirtschaft,
Berliner Zeitung 10.11.2010, S. 10.
Die Anhänger des TINA-Prinzips haben zwar bei der
Besichtigung von zwei Jahrzehnten deutscher Einheit und ostdeutscher
Transformation die Normativität des Faktischen auf ihrer Seite, jedoch
ist der historische Rückblick immer auch Debatte der Gegenwart mit der
Geschichte über die Zukunft. Mit der Wiederkehr von Visionen und
Notwendigkeiten der Gesellschaftsveränderung in der Gegenwart, rücken
daher Fragen nach Alternativen und unausgeschöpften Möglichkeiten der
zurückliegenden beiden Jahrzehnte in neuer Weise mehr und mehr in den
Blick. Und insofern wir uns nach zwei Jahrzehnten deutscher Einheit und
„Aufbau Ost“ einer Zäsur nähern, zeichnet sich im Diskurs die Forderung
nach einem Wechsel der Wegzeichen ab. Sei es, dass von einer „zweiten
Wende“ (Michael Behr 2009) die Rede ist oder plädiert wird, die
deutsche Einheit weiter-und neu zu denken (Reißig 2010: 208-220).
Generalbilanz von 20 Jahren deutscher Einheit und „Aufbau Ost“ – Revue der Positionen
Tendenzielle Ost-West-Angleichung und Auflösung des Ost-West-Unterschiedes in vielfältige regionale Disparitäten (DIW 2010)
Fokus.
Maßgeblich für Studie des DIW (vgl. Krause et al. 2010) ist die
Angleichungsperspektive. In den Blick rücken die Verteilung von
Einkommen und Arbeitsmarktchancen, Haushalts-und Familien-formen, die
subjektive Bewertung von Lebensumständen, Einstellungen und Werte.
Generalbilanz. Die Autoren konstatieren rasche Angleichungsfortschritte
für die erste Hälfte der 1990er Jahre und eine differenzierte
Entwicklung ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. So sind die
Einkommensdivergenzen zwischen Ost und West zuletzt sogar gestiegen.
Auch aus der Angleichungsperspektive heben die Autoren hervor, dass
mittlerweile die ersten nach der Vereinigung geborenen Jahrgänge in den
Arbeitsmarkt eingetreten sind und die meisten Erwerbstätigen den
überwiegenden Teil ihrer beruflichen Laufbahn im „Arbeitsmarkt
westlicher Prägung“ verbracht haben. Zäsur. Ost-West-Unterschiede sind
geblieben und bleiben weiterhin bestehen, doch (und hier deutet sich
die Zäsur an) „sind sie aber zunehmend Ausdruck vielfältiger regionaler
Disparitäten innerhalb des vereinten Deutschlands, nicht nur zwischen
Ost-und Westdeutschland.“
Der besondere Fakt: Ostdeutsche sind in gesamtdeutschen Führungspositionen weiterhin unterrepräsentiert
In
die Betrachtung einbezogen wird, was sonst meist unterbleibt, der
Anteil der Ostdeutschen unter den Erwerbstätigen mit
Führungsfunktionen. „Führungskräfte“ sind etwas anderes als „Eliten“.
Werden unter „Eliten“ nach dem Positionsansatz von Higley/Burton
Personen verstanden, die über gesellschaftliche Macht verfügen, mithin
in der Lage sind, bindende Entscheidungen von größerer Reichweite zu
treffen oder wichtige Entscheidungen maßgeblich beeinflussen zu können,
so gelten im Rahmen der DIW-Studie als Führungskräfte Selbständige und
Freiberufler mit mindestens 10 Mitarbeitern; Angestellte mit
umfassenden Führungsaufgaben, Beamte im höheren Dienst. Legt man das
strengere Kriterium nach Higley/Burton zugrunde, so stammen weniger als
5 Prozent der ranghohen Entscheider in Bezug auf die Bundesrepublik als
Ganzes aus dem Osten. Im Osten selbst sind rund 30% der Entscheider aus
dem Osten, 70% sind westdeutscher Herkunft. [Christian
Cadenbeck/Bastian Obermayer: Geschlossene Gesellschaft, in Süddeutsche
Zeitung Magazin Heft 30/2010, S. 3 von 7.] Wenn man indes das sehr
weite Verständnis des DIW zugrundelegt [die Einbeziehung der Inhaber
von KMU mit mindestens 10 Beschäftigten in die Kategorie der
Führungskräfte treibt die Ostquote enorm nach oben und verschönt das
Bild], dann sind die „meisten Führungspositionen in Ostdeutschland… von
Ostdeutschen besetzt“ – 71 Prozent im Jahr 2010, bezogen auf
Deutschland 9%. Interessant ist indes, dass der Anteil der Ostdeutschen
unter den Inhabern von Führungspostionen seit 1990/94 im Osten wie in
Deutschland nicht etwa gewachsen, sondern stetig gefallen ist(vgl.
Krause et al. 2010: 4)! „Diese anhaltende Unterrepräsentation
Ostdeutscher, die sich im Laufe der Zeit leicht verstärkt hat, deutet…
darauf hin, dass es Ostdeutsche im vereinten Deutschland schwerer
haben, in Führungspositionen aufzusteigen“ (Krause et al. 2010:4).
Warum aber ist das so? Und was bedeutet das für die Bilanz von 20
Jahren Wiedervereinigung? Dazu äußern sich die Autoren nicht. Diese
Fragen hat vor allem Raj Kollmorgen beantwortet. [Vgl. Reproduktion der
Wessis. Der Soziologe Raj Kollmorgen über westdeutsche Eliten im Osten,
Neues Deutschland 19.11.2010, S. 4. ] Nach zwei Jahrzehnten deutscher
Einheit sind es m. E. zwei in einander greifende Gründe, die die
Unterrepräsentation Ostdeutscher erklären. Führungskräfte und Eliten
tendieren dazu, sich aus sich selbst zu reproduzieren. Die Inhaber
entsprechender Positionen ziehen Personen aus dem gleichen Milieu und
mit dem entsprechenden „Stallgeruch“ nach. Wir haben es also mit
Prozessen sozialer Schließung zu tun. Überdies fehlt es in der
ostdeutschen Gesellschaft an einem hinreichend großen Reservoir von
Personen mit Aufstiegswillen bzw. deren Anzahl ist rückläufig. Im Jahr
2000 erreichte die "Aufstiegsbejahung" mit 27 % in Ostdeutschland ihren
Höhepunkt, um seitdem systematisch abzusinken (Sozialreport 2010: 94;
Winkler 2009:218 ff.).
Obgleich die Autoren der DIW-Studie selbst keine
gesellschaftsverändernden Intentionen erkennen lassen, so legt ihre
Bilanz doch Weichenstellungen nahe, die zu mehr Chancengleichheit
führen. Das gilt nicht nur für den Zugang zu Führungs-bzw.
Elitepositionen.
Vereinigung weitgehend abgeschlossen. Nation Building und Sorge um die Reproduktion des Status quo (Klaus Schroeder 2010)
Fokus.
Klaus Schroeder besetzt im Rahmen des hegemonialen Diskurses eine
Sonderposition. Sieht der Mainstream in Politik und Wissenschaft den
„Aufbau Ost“ in den zurückliegenden 20 Jahren und den ihm
zugrundeliegende Vereinigungsprozess als eine Erfolgsstory, so hebt
Klaus Schroeder -materialgestützt und mit großer Entschiedenheit -auf
die Diskrepanz zwischen einer „im Kern imponierende(n)
Vereinigungsbilanz“ und fortbestehenden „Fremdheit“ zwischen Ost-und
Westdeutschen ab.
Generalbilanz. Aus der Perspektive Schroeders sind die
Ziele des Vereinigungsprozesses weitgehend erreicht worden [mit der
Formulierung „Wohlstandexplosion ohne wirtschaftliches Fundament“ (139)
legt der Autor allerdings dar, dass das Ziel einer selbst tragenden
Wirtschaftsentwicklung bislang nicht eingelöst werden konnte.], ja ist
der „Vereinigungsprozess… auf vielen Feldern abgeschlossen und die
Lebensbedingungen haben sich – schichtenspezifisch – für die meisten
Menschen weitgehend angeglichen“ (Schroeder 2010: 15). Doch der
Umschlag von der „äußeren zur inneren Einheit“ wolle nicht gelingen. Zu
einer Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls ist es nichtgekommen.
Trotz oder ungeachtet einer positiven Vereinigungsbilanz werde diese im
Ost und West von einer negativen öffentlichen Stimmung überschattet.
Die Deutschen fühlten sich nicht als ein Volk. Sie sind sich nicht
näher gekommen. Es gebe ein Unbehagen in Ost und West an wie in der
Einheit, eine fortbestehende Fremdheit. „Es kann nur zusammenwachsen,
was zusammengehören will!“ (Schroeder 2010:232)
Einheitsgewinne Ost
Um das
Unbehagen an und in der Einheit im Bundesgebiet Ost auflösen zu helfen,
ist der Autor sehr bemüht, darzulegen, was die Ostdeutschen durch die
Einheit gewonnen haben, welche Fortschritte gegenüber der Endphase der
DDR auf dem „konsumorientierten Vereinigungspfad“(10) erzielt wurden.
Hier findet er einprägsame und treffende Formulierungen. Im
Wesentlichen stellt er drei Gewinne heraus:
(1) Die erfolgreiche „Totalsanierung“ in
wirtschaftlicher, ökologischer und infrastruktureller Hinsicht zwischen
Rügen und Oelsnitz
(2) eine „beispiellose Wohlstandsexplosion ohne
wirtschaftliches Fundament“ (139), d.h. bedeutende Wohlstandsgewinne
der ostdeutschen Bevölkerung, die sich auf Transferzahlungen und nicht
auf eine selbst tragende Wirtschaftsentwicklung im Bundesgebiet Ost
stützen
(3) als synthetische Kennziffern für die durchgreifende
Verbesserung von Lebensverhältnissen gegenüber der Endphase der DDR
werden der Anstieg der Lebenserwartung von Männern und Frauen und der
Fall der Selbstmordrate in den Blick gerückt.
Der Autor resümiert, dass das mehr ist als die
Ostdeutschen hätten erwarten können. Mehr aber sei nicht drin. Obschon
Klaus Schroeder die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der in
Bundesrepublik sowie der in den westlichen Gesellschaften praktizierten
Wirtschafts-und Lebensformen gar nicht stellt, ja nicht einmal die
Frage nach ihrer ökologischen Tragfähigkeit in die Projektion
einbezieht, relativiert er zugleich die positive Bilanz für den Osten
auf der Basis seines eigenen Koordinatensystems in zweierlei Hinsicht:
Seine griffige Formulierung „Wohlstandsexplosion ohne
wirtschaftliches Fundament“ besagt ja auch, dass der erreichte
Wohlstand nur dann von einiger Dauer ist, wenn es gelingt, das bislang
fehlende wirtschaftliche Fundament einzuziehen und den bevorstehenden
Rückgang der Transferleistungen zu kompensieren. Sollt das nicht
gelingen, bricht der Wohlstand wie ein Kartenhaus zusammen. Dies zum
einen. Zum anderen stellt der Autor heraus, dass die Bevölkerung des
Ostens in den vergangenen 20 Jahren schrumpfte, die des Westens
deutlich wuchs. „Da insbesondere jüngere Menschen in den Westen
umsiedelten, stieg das Durchschnittsalter im Osten stetig und liegt
derzeit über dem in Westdeutschland. Innerhalb von zwanzig Jahren
entwickelte sich Ostdeutschland also von einer vergleichsweise jungen
zu einer alten Gesellschaft…“(205).
Leerstelle: Einheitsgewinne West
In
der Initialphase der Vereinigung hätte, wie Klaus Schroder ausführt,
ein Großteil der Westdeutschen gut auf die Vereinigung verzichten
können. Große Teile der ostdeutschen Bevölkerung wollten sie 1989/1990
hingegen um jeden Preis. Die verhaltene Ausprägung des Willens zur
Einheit im Bundesgebiet West ist vielfach in ein Unbehagen an und in
der Einheit umgeschlagen. Zwar ist der Autor in seinem Buch einigen
Gründen und Ausdrucksformen dieses Unbehagens auf der Spur. Es fehlen
dagegen weitgehend Passagen, die -ähnlich wie für den Osten -für
Westdeutschland und die Westdeutschen als Kollektivgesamtheit
auflisten, welche Gewinne die Einheit objektiv für sie gebracht hat und
einträgt.
Die Effekte der vereinigungsbedingten
Wirtschaftskonjunktur Westdeutschlands veranschlagt Schroeder nicht
sehr hoch. Die West-Ost-Transfers verbucht er als Bürde und Last. Er
erkennt oder thematisiert nicht, welche nachhaltig positiven Effekte
die Transfers für Westdeutschland haben. [Vgl. Ulrich Busch (2010):
Transferleistungen-Aufbauhilfe und Entwicklungsblockade für
Ostdeutschland, in: 20 Jahre Deutsche Einheit: Von der Transformation
zur europäischen Integration –Tagungsband, IWH-Sonderheft 3-2010,
S.381-400.]
Was aber hätte er benennen können? Westdeutschland konnte
die Schützengräben des Kalten Krieges verlassen, sich von seinen
Herausforderungen und Verhaltenszumutungen emanzipieren. Es hätte von
ihm beispielsweise auf die nachhaltige Verbesserung der Fachkräfte-und
demographischen Situation Westdeutschlands infolge des Zustroms aus dem
Osten verwiesen werden können, auf den Zugewinn an sozialer wie
Biodiversität, auf Modernisierungspotentiale („Das Beste, was die DDR
in die Einheit eingebracht hat, ist ihre weibliche Seite“) oder darauf,
dass Abertausende Westdeutsche im Osten Karriere-und Aufstiegschancen
fanden, die sie ohne die Einheit niemals gehabt hätten. Der Autor hätte
überdies darlegen können, wie der Beitritt des Ostens Verkrustungen der
westdeutschen Gesellschaft in der Familien-und Bildungspolitik
aufbrechen hilft oder die Position von Minderheiten im Westen stärkt
.Die Anzahl der Konfessionsfreien entspricht seit 1990 in Deutschland
annähernd der Zahl der katholischen Christen bzw. der der evangelischen
Christen. Und ist es nicht so, dass im Osten der Einstieg in den
Ausstieg aus der Atomenergie erfolgt(e), mithin beim Schleifen von
DDR-Atomanlagen Know how von bundesweiter und weltweiter Bedeutung
akkumuliert wird?
Dass der Autor so ganz darauf verzichtet, aufzuzeigen,
was die westdeutsche Gesellschaft durch die Einheit gewonnen hat, ist
mit Blick auf die mit dem Buch eigentlich verfolgte Intention ein
konzeptioneller Mangel. Wie aber ist dieser Mangel zu erklären?
Offenbar wurde darüber in Politik und Wissenschaft bislang zu wenig
reflektiert. Zudem: Der innere und äußere Auftrag des
Forschungsverbundes SED-Staat, die ihn leitenden Normative und
Prämissen lassen das einfach nicht zu. Ist doch der Autor der Meinung,
dass der „reale Sozialismus jenseits der Menschen… wenig
Erhaltenswertes hinterlassen hat…“ (49). Die Formulierung „jenseits der
Menschen“ erweist sich indes als semantische Beruhigungspille, die
durch die Charakterisierung der Ostdeutschen, ihrer Denk-und
Verhaltensstandards, ihrer Einstellungen und Werte im Text beständig
konterkariert wird.
Vermessungen und Ursachen fortbestehender Fremdheit
Sicher:
Auswärtige Gäste und Beobachter vermögen kaum noch Unterschiede
zwischen ehemaligen Bundes-und DDR-Bürgern zu sehen. Ferner geben
Entscheidungsträger, Prominente, „Normalbürger“ der Bundesrepublik
vielfach öffentlich wie im privaten Umgang zu Protokoll, dass
Ost-West-Kategorien für sie jede Bedeutung verloren hätten. Diese
Gewissheit teilt der Autor (wie auch der Rezensent) so nicht. Klaus
Schroeder führt dazu aus:
„Doch unter dieser vermeintlich einheitlichen Oberfläche
schlummern noch nachwirkende Kräfte des Lebens in gegensätzlichen
Systemen, die das Zusammenwachsen behindern. Viele neue
Bundesbürgersind nach wie vor infiziert vom mentalen Gift der
sozialistischen DDR, viele alte Bundesbürger trauern weiterhin
vergangenen Zeiten nach, sodass ein gemeinsamer Neuanfang in vielen
Bereichen blockiert wurde. Dabei geht es nicht um die Säulen der
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die sich
in vierzig Jahren Bundesrepublik bewährt haben, sondern um die
Neujustierung ihres Zusammenwirkens und ihrer Triebkräfte. Ein
gemeinsamer Aufbruch, der Zusammengehörigkeit hätte stiften können, ist
bisher ausgebelieben. Überwunden geglaubte Stereotypen über den jeweils
anderen aus geteilten Zeiten… und das Wiederaufleben alter Mentalitäten
prägen bis zu einem gewissen Grad weiterhin die beiden in Umrissen noch
immer vorhandenen Teilgesellschaften und behindern das weitere
Zusammenwachsen. Der geistige Zustand der Nation reicht bisher nicht
zur Bewältigung der Herausforderungen, vor denen Deutschland steht.“
(8)
Selbst nachwachsende ostdeutsche Eliten seien immer noch
von einem „anderen Welt-wie Menschenbild geprägt und unterscheiden sich
von ihren westdeutschen Pendants.“ (221) Daher stellt sich für
Schroeder die Frage, warum ist das so, wie ist es dazu kommen? Werden
da etwa „zwangsweise“ Populationen zusammen geführt, die einfach nicht
zusammengehören, oder will nicht zusammenwachsen, was eigentlich doch
zusammengehört? (Vgl. S. 203)
Viele Menschen in Ost und West lasten aktuelle Probleme
der Vereinigung an, unabhängig davon ob ein Zusammenhang bestehe oder
nicht. Im Kern werden vier Faktoren in unterschiedlicher Intensität
herangezogen, um die „Unterentwicklung des Zusammengehörigkeitsgefühls“
und das Unbehagen an und in der Einheit in Ost und West zu erklären:
(1) Die Asymmetrie der Ausgangslage beider deutscher
Staaten und Gesellschaften, der Modus des eingeschlagenen
Vereinigungsweges und seine Folgen
(2) Nachwirkende Prägungen jahrzehntelanger
unterschiedlicher Sozialisation, „systembedingter“ Unterschiede in
Sozialstruktur und Alltagskultur (mittelschichtendominierte versus
„proletarisierte“ Denk-und Verhaltensmuster;
Kirchenbindung/Entkirchlichung; urbane versus eher ländliche
Lebenswelten; amerikanisierte, individualisierte Deutsche trafen auf
Deutsche in einem herkömmlichen, eher „altmodischen“ Sinn)
(3) Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre und überzogene bzw. nicht erfüllte (beiderseitige) Erwartungen
(4)
Das bei West-wie Ostdeutschen suboptimal ausgebildeten Vermögen,
zwischen „System“ und „Lebenswelt“ unterscheiden zu können. Daraus
resultierten überschüssige, überflüssige Brüskierungen des Ostens von
westdeutscher Seite (wie etwa exemplarisch bei der Ausstellung „60
Jahre. 60 Werke“) bzw. überschüssige Empfindlichkeiten im Osten (in
Bezug auf die Anerkennung individueller Lebensleistungen).
Obschon Schroder den Modus der Vereinigung und den
eingeschlagenen Weg der Übertragung des westdeutschen Modells für
richtig und alternativlos hält, kommt er zu dem Schluss, dass die
„Gründe für das Unbehagen an der Einheit und das Missverhältnis
zwischen materieller Lage und öffentlicher Stimmung“ im Osten
vielfältig sind, sie „lassen sich aber im Kern auf den Charakter des
Vereinigungsprozesses als von außen geleitete Transformation
zurückführen…“ (218).
Handicap: kein gemeinsamer Aufbruch, der Zusammenhörigkeit stiften könnte
Gemäß
der Leitfrage des Buches („Warum nicht zusammenwächst, was
zusammengehört“) rückt der Autor die Wiedervereinigung als
„Zusammenschluss zweier Bevölkerungen“ in den Blick und beleuchtet
zunächst die Initialphase der Vereinigung, die Asymmetrie der
Ausgangslage beider deutscher Staaten wie auch die bald wahrgenommenen
Unterschiede in der Sozialstruktur und Alltagskultur. Angesichts der
Asymmetrien der Ausgangslage beider deutscher Gesellschaften, der
finalen Krise der DDR war eine „Vereinigung auf Augenhöhe“, ein
„Neuanfang für beide Seiten nicht möglich“(26). Sieg und Überlegenheit
des westlichen Systems erschienen in der Initialphase der Vereinigung
zu evident. Gleichwohl stellt der Autor fest, dass damit ein
„gemeinsamer Aufbruch, der Zusammengehörigkeit hätte stiften können“
(S.8), ausblieb und auch in den vergangenen 20 Jahren sich nicht
einstellen wollte. Verstehe ich den Autor richtig, so sieht er darin
ein für das Gewinnen der „inneren Einheit“ schwer kompensierbares
Handicap. Der Autor führt damit an eine Einsicht heran, ohne sie selbst
auszusprechen, die sich unter produktiv kritischen Bezug auf ein Diktum
von Helmut Plessner [Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über
die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M.
1988, S. 43.] so formulieren lässt: das vereinte Deutschland ist eine
Gesellschaft ohne „Projekt“. Schroeder selbst kann aber im Unterschied
zu Reißig (vgl. Reißig 2010: 208-220)nichts anführen, worauf sich ein
gemeinsamer Aufbruch stützen könnte oder sollte.
Mit Nachdruck hebt Schroeder auf nachwirkende Prägungen
jahrzehntelanger unterschiedlicher Sozialisation, „systembedingter“
Unterschiede in Sozialstruktur und Alltagskultur ab. Die Rede ist von
den „tiefsten Gräben zwischen den deutschen Teilgesellschaften“ (S.12).
Zweifellos gibt es unterschiedliche systembedingte sozialisatorische
Mitgiften. Wenn Schroeder solche Mitgiften beschreibt, spult er einen
kruden Ableitungsmechanismus ab. Aus der Sicht des Rezensenten blendet
er zudem zu stark Quellen und Reproduktionskanäle von Verhaltensweisen
aus, die in der Gegenwartsgesellschaft des vereinten Deutschland
liegen. Bei der Auslotung alltagskultureller Unterschiede ist der Autor
formell um Äquidistanz bemüht, um Lern-und Veränderungsprozesse bei
Ost-und Westdeutschen auszulösen. Real vermag der Autor indes nur
bedingt aus dem ehernen Gehäuse der westdeutschen Wir-Gruppe
herauszutreten, die idola fori der Mittelschichten zu durchbrechen und
er bleibt den wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen normativen
Positionen des Forschungsverbundes SED-Staat verpflichtet.
Während im Osten des Bundesgebietes „Ostalgie“ um sich
griff, habe den Westen „Westalgie“ erfasst. „Westalgie hat inzwischen
weitausgrößere Ausmaße als die Ostalgie angenommen“ (214). Westalgie
scheint aber aus der Sicht des Autors ein eher harmloses Phänomen zu
sein. Dagegen problematisiert Schroeder das, was er unter Ostalgie
fasst, in dreifacher Weise: a) als Gestus, der zu Fehlanpassungen an
die transferierten Institutionen führt; b) als Gefahrenpotential,
Schranke des Zusammenwachsens der Deutschen c) als Gefahr für die
Herausbildung und Reproduktion eines Sockels an Grundüberzeugungen im
vereinten Deutschland aus dem „Geist des Kapitalismus“. Die
entscheidenden Hemmnisse für das „ Zusammenwachsen der Deutschen“ sieht
der Autor im Osten. Die Herausbildung und Reproduktion einer
„ostdeutschen Sonderidentität“ (Selbstwahrnehmung als Ostdeutscher,
nicht als Deutscher) stelle, soweit sie mit „Gleichgültigkeit oder
Ablehnung gegenüber den grundsätzlichen Dimensionen einer
freiheitlich-demokratischen Gesellschaft“ einhergehe, ein „erhebliches
Gefahrenpotenzial dar.“ (65)
„Da die nostalgische Verklärung der DDR“ durch eine
Mehrheit der Ostdeutschen noch dazu „bei einer beträchtlichen
Minderheit“ von ihnen „mit einem Nicht-Verbundensein mit dem vereinten
Deutschland korrespondiert, erweist sich seit geraumer Zeit »Ostalgie«
als eines der zentralen Hindernisse für das Zusammenwachsen der
Deutschen“ (74).
Verschiebung der Perspektive auf unabgeschlossene nation building und Sorge um den Status quo
Schroder
dramatisiert zweifellos die fortbestehende Fremdheit und die Gefahr aus
dem Osten allemal. Auf den wissenschaftlichen Diskurs über innere
Einheit lässt er sich gar nicht ein. [Einen guten Überblick und eine
kritische Revue der Vorstellungen von „innerer Einheit“/
“Zusammenwachsen“ bietet Markus Linden. Vgl. Markus Linden: Innere
Einheit. Konjunkturen und Defizite einer Debatte, in: Deutschland
Archiv Heft 2/2009, S.303-314.] Aber das hängt wohl damit zusammen,
dass er die Vereinigung für weitgehend abgeschlossen hält und sich die
Koordinaten seiner Problemsicht geändert haben. Es sind gleichsam
Sorgen um Machtbalancen, um die Erosion (west)deutscher politischer
„Leitkultur“ und „Wertegemeinschaft“, um die politische und soziale
Stabilität der Bundesrepublik, um ihre Entwicklungs- und
Zukunftsfähigkeit, um den Bestand und die Reproduktion des
liberaldemokratischen Kapitalismus, die den Autor umtreiben. Habe sich
doch Deutschland -nicht nur infolge der Einheit -in den vergangenen 20
Jahren stärker verändert als den meisten bewusst ist. Die Folgen
zeigten sich in der Politik ebenso wie im alltäglichen Leben.
Gefährdungspotentiale der Berliner Republik sieht Schroeder zunächst
und vor allem darin, dass der „Geist des Kapitalismus schwächelt“,
seine Anerkennung und Akzeptanz nicht nur im Osten, sondern auch im
Westen des Landes rückläufig ist (vgl. S.194-202).
Alles in allem „… ist das vereinte Deutschland nicht
westlicher, sondern eher östlicher, eher linker als rechter, eher
sozialdemokratischer als liberal-konservativer, eher staats-als
marktbezogener geworden. Zwar existieren zwischen alten und neuen
Bundesbürgern weiterhin deutliche Unterschiede in Einstellungen,
Wertordnungen und poltischen Auffassungen, aber der Veränderungsprozess
läuft schon lange nicht mehr ausschließlich von Ost nach West, sondern
in vielerlei Hinsicht auch in umgekehrter Richtung… Das Erbe der DDR im
wiedervereinten Deutschland ist nicht zu übersehen…“( 230).
In der Sache hebt Schroeder auf unabgeschlossene nation
building in der Bundesrepublik Deutschland ab. Mir scheint darin ein
produktiver Gedanke zu liegen. Vor diesem Hintergrund sieht und
diskutiert Schroeder die Gräben zwischen Ost-und Westdeutschen und
erweitert zudem das Problemfeld, indem er an einigen Stellen explizit
auf die „ dritte Kraft“ (S.15) – die nichtdeutschen Zuwanderer und ihre
Nachfahren – verweist:
„Zwischen 30 und 35 Prozent der im vereinten Deutschland
Lebenden… wurden in anderen politischen und kulturellen Systemen
sozialisiert. Der Prozess der Identitätsfindung und des
Zusammenwachsens ist vor diesem Hintergrund mehr als eine reine
Adaption von Teilpopulationen aus der DDR und der alten Bundesrepublik,
zumal die Zugewanderten und Beigetretenen auf eine (westdeutsche – T.K)
Bevölkerung mit einer vergleichsweise unterentwickelten eignen
(nationalen) Identität stießen.“(225) Bislang wurden die erheblichen
Schwierigkeiten, die die Bundesrepublik Deutschland als Staat,
Gesellschaft und System hat, die ostdeutsche Bevölkerung und zugleich
Personen mit ausländischem Migrationshintergrund zu integrieren,
getrennt diskutiert. Der Autor argumentiert:
„Jenseits ihrer fortbestehenden Institutionen ist in der
größer gewordenen Republik vieles in Bewegung geraten, was die
bisherige politische und soziale Stabilität in Frage stellen könnte…
Positiv gesehen ist das vereinte Deutschland eine normale Gesellschaft
geworden, deren Sonderbedingungen entfallen sind…“ (231) Auf der
anderen Seite stelle sich angesichts der Veränderungen der letzten 20
Jahre die Frage, ob die „… in Zeiten des Wohlstands entstandene
Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen und pluralen Ordnung stärker
als in Ländern mit… ungebrochener demokratischer Tradition bedroht“
sei. „Nüchtern betrachtet mangelt es in Deutschland vor allem an einem
Konsens über Grundüberzeugungen, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und
Leitlinien, wie die Zukunft aussehen soll.“ (231)
Eine Gesellschaft, der es daran mangle, sei
„krisenanfällig“, schlecht gerüstet, Herausforderungen und
Bewährungsproben zu bestehen. Schroeder argumentiert freilich nicht
zuletzt in seinem Buch pro domo. Was der Autor in geballter Form an
empirischen Befunden und Interpretationen zur Wahrnehmung und Bewertung
der Einheit in der deutschen Gesellschaft bietet, lässt sich aus der
Perspektive des hegemonialen Einheitsdiskurses und der
DDR-Aufarbeitungsindustrie nicht anders denn als SUPER-GAU fassen.
Daher sind Fragen nach der Wirksamkeit, Akzeptanz, Legitimation des
Forschungsverbundes selbst wie überhaupt der hegemonialen
DDR-Aufarbeitung nicht auszuschließen. Das Buch von Schroeder hält
gleichsam entlastende Antworten bereit, warum das so ist und liefert
zugleich Gründe, die es interessierten Entscheidungsträgern nahelegen,
die Tätigkeit des Forschungsverbundes und anderer einschlägiger
Institutionen zu verstetigen und weiter zu alimentieren.
Das vereinte Deutschland -ein geteiltes
Deutschland. Übergang in „ein historisches Zwielicht, in dem sich das
»Nicht Mehr« mit dem »Noch Nicht« mischt (Thomas Ahbe 2010)
Fokus.
Im Mittelpunkt der Bilanzierung von 20 Jahren deutscher Einheit steht
bei Thomas Ahbe Ostdeutschland. Beleuchtet werden sozialisatorische
Mitgiften, sozialpsychologische Ebenen der Vereinigung, Konflikte um
Erinnerungen und Leit-Erzählungen (Ahbe 2010). Der Autor stellt sich
mithin ähnlichen Fragen wie Schroeder.
Generalbilanz. Der zentrale Befund Ahbes ist der
Fortbestand einer vielfältigen Spaltung der deutschen Gesellschaft,
darunter nicht zuletzt auf der Ost-West-Achse. Zwar hat es eine
deutliche Angleichung von Lebensverhältnissen gegeben, doch in den
nächsten Dekaden werde es nicht mehr um eine vollständige Angleichung
von Konsumstandards im Osten gehen.
Ahbe fasst die Übertragung des westdeutschen Modells auf
den Osten und dessen Belgleitmomente als „Kolonialisierung“ auf. Der
Osten als verlängerte Werkbank, als kapitalistische Region ohne
einheimisches Kapital und einheimische Eliten mache den Westen reich
-und der Westen mache den Osten stumm. Die besonderen Erinnerungen,
Bilanzen der ostdeutschen Mehrheitsbevölkerung kommen in den
Ost-Diskursen der Medien, der Bildung, der Politik nicht vor, sie sind
nicht integriert, sondern werden ausgeblendet und stigmatisiert (vgl.
S. 19).
„Für die Überwindung der Spaltung fehlt eine einheimische
Elite, welche ostdeutsche Erfahrungen, Deutungen und Ansprüche
artikuliert – und schließlich jene ökonomischen, sozialen und
kulturellen Ressourcen, die die entsprechende Selbstorganisation der
ostdeutschen Gesellschaft ermöglichen könnte.“ (Ahbe 2010: 19).
Die anhaltende Abwanderung habe aus der vergleichsweise
jungen eine alternde Gesellschaft gemacht. Die tendenzielle Entleerung
und Überalterung Ostdeutschlands wirkt sich regional unterschiedlich
aus, gefährde in den besonders betroffenen Gebieten Infrastrukturen
aller Art.
„Die zurückliegende Kolonialisierung Ostdeutschlands hat
diesen Landstrich um seine Zukunft gebracht… Zwei Dekaden nach dem
Mauerfall ähnelt die Situation Ostdeutschlands jener, wie sie schon
fünf Dekaden zuvor … bestanden hatte“ (Ahbe 2010: 19). Was sich aus der
Perspektive des Mainstreams als Erfolgsstory darstellt, erscheint aus
der Sicht Ahbes als Desaster.
Der Autor tritt mit einer Kaskade besonderer, d.h. hier
sehr subtiler, zutreffender, origineller Deutungen hervor, die im
krassen Gegensatz zu jenen stehen, die Klaus Schroeder in den Diskurs
eingespeist hat.
Besondere Deutung 1: Erklärung sozialstruktureller und kultureller Ost-West-Unterschiede
Hatte
Klaus Schroeder alltagskulturelle und sozialstrukturelle Differenzen
damit erklärt, dass eine „mittelschichtdominierte“ auf eine
„proletarisierte“ Population traf, so fasst und erklärt Thomas Ahbe
diesen Sachverhalt anders. Die Ostdeutschen sind im vereinten
Deutschland gleichsam Erben und Totengräber der „arbeiterlichen
Gesellschaft“ (Engler); die Westdeutschen Erben und Totengräber der
„nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ ( Schelsky).
In den Zeiten der Teilung entwickelten die beiden
rivalisierenden deutschen Staaten deutlich unterscheidbare
Leit-Erzählungen. Diese Leit-Erzählungen waren zwar auch Propaganda,
aber zugleich mehr als das. Millionen Menschen wurden in Ost und West
im Banne dieser Leit-Erzählungen jeweils sozialisiert und zumindest
trafen diese Erzählungen ein Stück weit auch ihre sozialen Erfahrungen.
Im Westen sollte der Proletarier sich vom Klassenkampf verabschieden
und vom Proletarier zu Bürger werden, verbürgerlichen. Im Osten kam es
zu einer Entbürgerlichung, zu einer Verarbeiterlichung des Landes.
Das findet noch immer einen Niederschlag in der
subjektiven Schichteinstufung der Deutschen in Ost und West. „Offenbar
muss man von einem `Rückkopplungseffekt der Gesellschaftsbilder auf die
individuelle Selbstpositionierung ausgehen“ (Münkler 2010: 46). In
beiden Teilgesellschaften der Bundesrepublik ordnen sich nicht wenige
Personen einer Schicht zu, der sie (nach soziologischen Maßstäben) gar
nicht angehören. In die subjektive Schichteinstufung gehen zwar auch
Status, soziale Position, Einkommen und solche Größen ein. Hinzu kommen
indes die in der jeweiligen Teilgesellschaft einst und noch immer
wirkenden Leit-Erzählungen über die „ehrbaren Stützen der
Gesellschaft.“ Im Westen seien das die Mittelschichten, im Osten die
Arbeiterschaft.
Das von Engler in den Diskurs eingeführte Wort
„arbeiterlich“ transportiert zwei Grenzziehungen. Zum einen grenzt es
sich von „proletarisch“ und zum anderen vom Offizialdiskurs in der DDR
über die Arbeiterklasse als „herrschende Klasse“ ab. War soziale
Unsicherheit einst der Grundzug proletarischer Existenz, so gehörte es
zu den gesellschaftspolitischen Visionen der DDR, damit zu brechen.
Einer der Unterschiede zwischen dem DDR-Arbeiter/ Beschäftigten und dem
Proletarier bestand darin, dass ersterer soziale Unsicherheit nicht
kannte. Im Osten wurden die einst Ton angebenden Ober-und
Mittelschichten aus ihren politischen und wirtschaftlichen Positionen
verdrängt oder /und gingen in den Westen. Die Kommandopositionen wurden
von einstigen Produktionsarbeitern besetzt. Allein bis Mitte der 1950er
Jahre rückten 150.000 von ihnen in leitende Positionen auf. Die
Arbeiterschaft hatte zu keinem Zeitpunkt die politische Macht, aber
vielfach das soziale Zepter in der Hand. Viele ihrer Sitten und
Gebräuche, Praktiken, Partnerschafts-und Gesellungsformen, Modi sich zu
kleiden und miteinander umzugehen, wurden von anderen Schichten
partiell adaptiert. Im Osten entstand eine arbeiterliche Gesellschaft.
Zwar blieben, wie Ahbe weiter ausführt, der Bauer, die Ärztin, der
Ingenieur und der Professor was sie waren, gab es weiterhin
nicht-arbeiterliche Milieus, aber sie hatten einen arbeiterlichen
Akzent. Das soziale Gravitationszentrum der westdeutschen Gesellschaft
war ein anderes als das der ostdeutschen, als die Einheit herbeigeführt
wurde.
Komponenten der „arbeiterlichen Gesellschaft“
reproduzier(t)en sich als kulturelles Phänomen im Bundesgebiet Ost
aufgrund der wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Gegebenheiten der
„Transferökonomie“. „So konnte Ostdeutschland in zwei Dekaden der
Transformation nicht an das als Vorbild vorgegebene Modell der
westdeutschen Mittelschichtengesellschaft Anschluss gewinnen und die
dafür erforderliche bürgerliche Mittelschicht herausbilden.“ (Ahbe
2010). Andere Seiten der arbeiterlichen Gesellschaft (wie etwa die
Ideologie der produktiven Arbeit und das darauf gegründete
Selbstbewusstsein gegen über dem „Wasserkopf da oben“ und den
„Taugenichtsen da unten“) gingen mit dem Untergang der DDR verloren.
Doch auch die westdeutsche Mittelschichtgesellschaft ist Bewegungen und
Veränderungen unterworfen. Und so lässt sich über die Deutschen in Ost
und West sagen, dass sie jeweils Erben und Totengräber ihrer einstigen
kulturellen Leiterzahlungen sind.
Besondere Deutung 2: Die DDR im Rücken
Ahbe
rückt die sozialisatorische Mitgift der Ostdeutschen auf andere Weise
in den Blick als Schroeder und bewertet sie grundsätzlich anders. Zwar
waren und sind Ostdeutschen eine in sozialer, politischer, kultureller
Hinsicht vielfältig differenzierte Bevölkerung, doch agieren sie
allesamt, sofern es sich nicht um Zuwanderer oder Nachgeborene handelt,
aus einer Position mit der „DDR im Rücken“. Was sie an DDR im Rücken
haben, ist indes durch das Feuer von 20 Jahren Transformation
hindurchgegangen. Die Ostdeutschen von 2010 sind nicht die Ostdeutschen
von 1989. Die Rede von der DDR im Rücken hat bei Ahbe drei verschiedene
Bedeutungsebenen:
(1) So wie man sich von Menschen und Verhältnissen
abwenden kann, sie hinter sich lässt, ihnen den Rücken kehrt, sich von
ihnen distanziert, hat das ein Großteil der DDR-Bevölkerung mit der DDR
vor 1989/90 oder/und seit 1989/1990 getan; (2) Unabhängig davon, in
welchem Maße die Abkehr von der DDR erfolgte, beziehen sich nicht
wenige Menschen mit einer DDR-Biographie zugleich selektiv auf
Erfahrungen und Wissensbestände , Deutungen, Produktionen, eigene oder
fremde Leistungen, in der DDR gefundene Lösungen und meinen, dass sie
aktuell und auch künftig eine Rolle spielen können, Wert und Bestand
haben (sollten) oder bewerten sie im Rückblick positiv. Dabei sind es
stets Bedürfnisse und Interessen, Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste der
Gegenwart, die die Rückblicke auf Vergangenes leiten und einfärben und
nicht so sehr die Frage „wie es einst gewesen“. (3)Eine dritte
Bedeutungsebene der Metapher „die DDR im Rücken“ verweist darauf, dass
DDR-Erfahrungen, Leistungen, Lösungen, Narrative als rückenstärkende
Ressource bei der Deutung und Bewältigung jeweils anstehender
Herausforderungen, Risiken, Chancen, Gefahren zu Buche schlagen
(können).
Alle drei Bedeutungsebenen der Interpretation von Ahbe
sind empirisch belegt und belegbar (vgl. Berth et al. 2010: 155-171;
Stöbel-Richter et al. 2010: 180-194; SFZ: Sozialreport 2010). Bei
vielen Ostdeutschen sind alle drei Bedeutungsschichten zugleich und
zudem in unterschiedlichen Mischungen anzutreffen. Es gibt aber auch
Gruppen, die auf die erste und nur die erste Bedeutungsschicht abheben
sowie solche, für die die zweite und dritte zentral sind.
Für Ahbe ist ein Agieren mit der „DDR im Rücken“ nicht so
sehr Handicap, Erblast, Schranke, Fessel, Verbleib in selbst
verschuldeter Unmündigkeit, sondern er rückt es als Reservoir von
Erfahrungen, als Ressource bei der Bewältigung aktueller Probleme in
den Blick (vgl. Ahbe 2010: 19-22).
Besondere Deutung 3: Erklärung und Beschreibung von „Ostalgie“
Ahbe
analysiert und beschreibt Ostalgie als (gleichsam notwendige und
folgerichtige) Reaktion auf Herausforderungen und Verhaltenszumutungen
von Transformation und Vereinigung („Kolonisierung“), auf die Umbrüche
in Arbeits-und Lebenswelten, als Antwort auf eine massive Diskurslücke.
[„Durch die Verwestlichung der ostdeutschen Medienlandschaft sahen die
Ostdeutschen sich, ihre DDR-Vergangenheit, ihre Kultur sowie ihre
`Erfolge` oder ihr `Versagen` beim `Aufbau Ost` vor allem aus
westdeutscher Perspektive beschrieben und bewertet. So vermissten viel
Ostdeutsche abermals ein Forum, auf dem ihre Sichtweisen verhandelt
wurden – ihre besonderen Osterfahrungen im Transformationsprozess oder
ihre neu gewonnenen Einsichten zur DDR und zum vereinigten
Deutschland.. Für die Ostdeutschen bedeutet diese Konstellation, dass
sie in einer (Medien-)Welt leben, in welcher der Fremdblick auf ihre
Gruppe die vorherrschende mediale Darstellung ist.“ (Ahbe 2010: 23,
24)]..
Ostalgie hat verschiedenen Facetten und Formen. Sie ist
Werbestrategie, Praktik zur Bearbeitung von Erfahrungsbrüchen,
Geschäftsfeld von Unternehmen in Ost und West, marginalisierter
Gegendiskurs. Sie äußert sich in Befunden der Umfrage-und
Meinungsforschung, so in Urteilen über die DDR im Rückblick. Die
verschiedenen Facetten von Ostalgie gerinnen in ostdeutschen
Identitätsbildungen. „Ostalgie“ findet sich nicht nur bei den
abtretenden Generationen.
„Die Erfahrungen, die seit der Vereinigung gesammelt
wurden, wie auch im Lichte dieser aktuellen Erfahrungen neu
angeeigneten Erinnerungen aus der DDR-Zeit ließen offensichtlich einen
großen Teil der Ostdeutschen zu der Überzeugung kommen, dass sie doch
keine (West-)Deutschen, sondern Ostdeutsche sind.“ (Ahbe 2010: 2).
Ausdifferenzierung der Lebensverhältnisse im
vereinten Deutschland. Schrumpfung, Entleerung, Überalterung, Verarmung
Ostdeutschlands
Folgt man dem Autor, so wird das
vereinte Deutschland auch weiterhin ein Land mit verschiedenen
Geschwindigkeiten, Entwicklungslogiken sein, mit Bevölkerungen, die
nicht all zu viel mit einander zu tun haben, gleichwohl aber in einem
Staat leben. Ahbe geht davon aus, dass weiten Teilen Ostdeutschlands
eine Phase der Schrumpfung, Entleerung und Überalterung, Verarmung
bevorstehe. Diese werde mit einer Schrumpfung des staatlichen
Institutionen-Netzes und einem partiellen Rückzug wirtschaftlicher
Akteure in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber wie als Anbieter
einhergehen. (Partiell werde es das auch in einigen Regionen des
Westens geben.) Für den Umgang mit dieser Situation gebe es keine
Rezepte.
„Was werden die in ihrer Region verbliebenen Ostdeutschen
tun? Sie werden das tun, was ihnen ihre Mentalität und Sozialisation
ermöglicht und ihnen ihre Erfahrung nahelegt – das, was schon bei der
Bewältigung des problematischen DDR-Alltags dienlich war. Hierzu gehört
die Bildung von partnerschaftlichen, familien-und betriebsorientierten
Netzwerken sowie die Pflege des – von westdeutschen Beobachtern einst
als „Chaosqualifikation“ beschriebenen -Improvisationsvermögens… Die
kommende Phase der Schrumpfung, Entleerung und Überalterung…. ist etwas
Neues, ein historisches Zwielicht, in dem sich das „Nicht Mehr“ mit dem
„Noch Nicht“ mischt. Hierfür scheinen die zusammenbruchserfahrenen
Ostdeutschen ganz gut disponiert zu sein.“ (Ahbe 2010: 20).
Mir scheint, dass Ahbe hier Überlebensstrategien im Blick
hat, die nicht nur für die unmittelbar bevorstehenden Jahre , sonder
auch in Krisen apokalyptischen Ausmaßes (vgl. Dyer 2010) im 21.
Jahrhundert tauglich sein könnten, die eintreten werden, wenn es der
Welt nicht gelingt, den Klimawandel zu stoppen. Eine Vision der
Gesellschaftsveränderung verbindet Ahbe mit ostdeutschen Lebenswelten
nicht.
Viel erreicht. Viel zu tun. Neue Aufgaben für
neue Generationen (Ulrich Kasparick 2010)/ Verabschiedung einer
„irreführenden Regieanweisung“/„zweite Wende“ (Michael Behr 2009)
Ahbe
hat als sozialwissenschaftlich informierter Beobachter und intimer
Kenner ostdeutscher Lebenswelten gleichsam die ostdeutschen
Normalbürger im Blick. Wie stellen sich aber Generalbilanz der Einheit
und des Aufbau Ost sowie die Entwicklungsoptionen aus der Perspektive
von Verantwortungsträgern bzw. Führungskräften dar? Im Mittelpunkt des
folgenden Abschnitts stehen die Bilanzen eines Politikers aus dem Osten
und eines Zuwanderers, eines Soziologen.
Generalbilanz von Ulrich Kasparick (Kasparick 2010:
221-227). Der Autor hat seit 1990 ununterbrochen in deutsch-deutschen
Teams gearbeitet, zuletzt in der Bundesregierung. Von daher ist es
seine Grunderfahrung, dass sich die Unterschiede verwischen und
Deutschland weiter zusammenwächst. „Der Westen ist nicht mehr nur
`westdeutsch`, der Osten schon lange nicht mehr nur `ostdeutsch`,
gerade die Eliten mischten sich schnell.“ (221). Als Zeichen des
Zusammenwachsens wertet der Autor auch (im Unterschied zum
Rezensenten), dass die Kanzlerin aus dem Osten kommt. Obwohl der
Beitritt nach Artikel 23 die Übernahme des westdeutschen Modells zur
Folge hatte und dazu führte, Bewährtes und weniger Bewährtes
einzuführen, ohne die Chance eines Neubeginns , darunter auch die
problematische Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern in der
Bildungsfrage, ist der Osten aus der Sicht des Autors dennoch in
etlichen Bereichen zum“ Vorreiter“, „Zukunftslabor“ für gesamtdeutsche
Problemlagen geworden.
Deutschland ist seit gut neun Jahren im „Krieg gegen den
Terror“. Die ersten Mandate habe der Autor mitgetragen. Er hält aber
seit 2009 die militärische Option des Westens für gescheitert. „Ich
glaube, dass es in der Einen Welt nur noch eine, unteilbare Sicherheit
geben könne“(222).
Mit der Wahl 2009 sei die „Wendegeneration“ ostdeutscher
Politiker mit wenigen Ausnahmen abgetreten. Die Leistung dieser
Generation bestand darin, „dass auf dem Gebiet einer Diktatur eine neue
demokratische Ordnung wachsen konnte. Vieles ist erreicht, vieles ist
noch zu tun“ (227) – von einer neuen Generation.
Probleme, Herausforderungen, Aufgaben der kommenden Generation als gesellschaftverändernde Vision
(1)
Zunehmende Umweltzerstörung, sich beschleunigender Klimawandel und
zunehmende Ungerechtigkeit führen in die Selbstzerstörung. Es gilt sie
zu stoppen
(2) Die europäische Verflechtung vorantreiben
(3) Lösung der neuen sozialen Frage: Vermeidung von Altersarmut in Ostdeutschland
(4)
Der demographische Wandel gefährdet den Aufbau Ost. Große Gebiete
Deutschlands werden mit weiter zunehmender Armut zu kämpfen haben.
Daher wird die Frage nach noch leistbaren Standards neu zu beantworten
sein – Mindeststandards der staatlichen Daseinsvorsorge in Städten und
Regionen wie Sozialstandards –
(5) „Die alte Frage, die uns vor 20 Jahren schon
umtrieb…“ Wie viel ist genug?“ werden wir nun gemeinsam neu beantworten
müssen.“ (226). Kasparick hebt damit auf die (mangelnde)
Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschafts-und Lebensformen ab.
Was Kasparick als Aufgaben neuer Generationen inhaltlich
umreißt, rückt der Soziologe Michael Behr in anderer Weise in den
Blick, in dem er den leitenden Modus des Suchens und Experimentierens
herausstellt:
„Anders als vor zwei Jahrzehnten, als die Akteure im
Transformationsprozess eine klare, wenngleich irreführende
Regieanleitung hatten - die Angleichung von Strukturen und
Lebensverhältnissen an Westdeutschland - stehen nun keine Vorbilder zur
Verfügung… (Politische Eliten wie die Bürger) werden zu Protagonisten
einer neuen Entwicklung, die modellhaftes Erproben und Experimentieren
erzwingt...“ (Behr 2009:80).
Kasparick wie Behr tendieren offenbar zu der Position,
dass die Entwicklungsoptionen, die das Programm der „nachholdenden
Modernisierung“ dem Osten bot, am Erlöschen, ausgereizt sind.
„Das Diskriminierungsgefühl der Ostdeutschen
[hat] eine reale Basis“ und reproduziert sich erweitert in der jungen
Generation (Wolf Wagner 2010)
Fokus und
Generalbilanz. Wolf Wagner beschreibt und interpretiert die
deutsch-deutsche Vereinigung nach dem Modell des „Kulturschocks“. In
der jüngsten Version (Wagner 2010: 36-53) legt er dar, dass die DDR nur
einen geringen Modernisierungsrückstand gegenüber der
Alt-Bundesrepublik aufwies (vgl. S. 39), aber vier“ alltagskulturelle
Normverschiebungen in Richtung sozialistischer Lebensvorstellungen“
(39)voran getrieben hat: a) die Entkirchlichung; b) im Verständnis der
Rolle der Frau und Funktion der Familie; c) in der Bewertung der
Arbeiterklasse; d) in der DDR wurde mit der Tradition der „ererbten
Bildungsprivilegien“ gebrochen und den Kindern aus akademisch
gebildeten Elternhäusern (in den ersten Jahrzehnten-T.K.) ein Studium
erschwert. Daher konnte sich in der DDR der „Trend weg von den
Ingenieursfächer hin zu den Geistes-und Sozialwissenschaften“ nur
verhalten auswirken. Deshalb dominierten innerhalb der „sozialistischen
Mittellschicht der DDR“ und dann unter den Führungskräften in den neuen
Bundesländern Personen, die technischingenieurwissenschaftliche
Studiengänge absolviert haben.
Wagner schätzt ein, dass in den vergangenen 20 Jahren im
Osten Anpassungen der je eigenen alltagskulturellen Normen und
Sichtweisen stattfanden, aber nur „…diejenigen alltagskulturellen
Normen…“ wirklich aufgegeben werden, „… die dem eignen Lebensgenuss und
dem eigenen Vorankommen im Wege stehen würden“ (43). Daher steht Wagner
der Entscheidung und Interpretation der Marketing Firma „Sinus
Sociovision“ distanziert und skeptisch gegenüber, die Milieu-Schemata
für alte und neue Bundesländer ab 2001 wegen der „zunehmenden
Konvergenz der Lebenswelten“ zusammenzuführen. Nur noch ein
Sondermilieu der „DDR-Nostalgischen“ werde von Sinus ausgewiesen (20%
der Menschen in den neuen Bundesländern. Laut Sinus handle es sich bei
den Nostalgiekern vorwiegende um Menschen über 50 mit geringem
Einkommen, die sich selbst als Verlierer der Einheit und als Menschen
zweiter Klasse sähen).
Der besondere Fakt: erweiterte Reproduktion der
Gegenüberstellungen nach dem Modell „Wir“-„Sie“ auch in der jungen
Generation Ost wie West
Die leitende Vorstellung des
hegemonialen Diskurses besteht in der Hoffnung, Zuversicht und
Gewissheit, dass sich Ost-West-Unterschiede oder gar Gegensätze mit der
Dauer der Einheit verwachsen, ja schon jetzt in der jungen Generation
gegen Null tendieren würden. Zuweilen wird dabei auf die Sächsische
Langzeitstudie Bezug genommen, deren Probanden jedoch nicht
repräsentativ (vgl. Berth et. al. 2010:170) für die ostdeutsche junge
Generation sind.
Wagner setzt dieser Hoffnung und Gewissheit empirische
Befunde entgegen. Für den Westen stützt er sich auf Erhebungen unter
2500 ausländischen Austauschschülern, die in westdeutschen
(wohlsituierten) Gastfamilien lebten, westdeutsche Schulen (Gymnasien)
besuchten und zwei Wochen in den neuen Bundesländern waren. „Über 90%
derjenigen, die den Kurzaufenthalt in den neuen Bundesländern…
verbracht haben, berichteten nach dem Aufenthalt… von massiven
Vorurteilen, die in ihrer westdeutschen Schule und in ihren
westdeutschen Gastfamilien gegenüber den Ostdeutschen und
Ostdeutschland geäußert wurden“ (Wagner 2010:50). In der Regel zeigten
sich die Austauschschüler völlig überrascht, wie freundlich,
interessiert, offen und warmherzig sie in den ostdeutschen Gastfamilien
und Gastschulen aufgenommen wurden. Im Westen werden mithin Vorurteile
gegenüber dem Osten von Generation zu Generation weitergereicht. „Das
Vorurteil hält sich also auch in Kreisen, wo man es am wenigsten
erwarten würde“ (Wagner 2010:50).
Für den Osten stützt sich Wagner auf Befunde des
Thüringen-Monitors der Jahre 2000-2008. Jährlich werden 1000
wahlberechtigte Thüringer befragt. Unter anderem wird die
Zustimmung/Ablehnung zu der Antwortvorgabe erhoben: „Westdeutsche
behandeln Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse“.
Die nachfolgenden Abbildung 1 zeigt, dass sich
Gegenüberstellungen nach dem Modell „wir“-„sie“ gegenüber den
Westdeutschen in der jungen Generation (18-24 Jahre) nicht abschwächen
im Zeitverlauf, sondern erweitert reproduziert haben, die Zustimmung
unter den jüngeren Befragten zu der Antwortvorgabe stärker ausfällt als
in der befragten Gesamtpopulation.
Zustimmung zur Aussage „Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als Menschen zweiter Klasse“ Thüringen Monitor 2002-2008
Infratest Dimap N= 1000 pro Jahr Zit. n. W. Wagner 2010: 48
Fazit
und Vision: Wagner sieht „eine starke Basis in der sozialen und
politischen Wirklichkeit“ (Wagner 2010: 51), die Ostdeutsche
veranlassen, der Antwortvorgabe „Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als
Menschen zweiter Klasse“ zuzustimmen. Dahinter steht die Vision eines
Zuwachses an sozialer Teilhabe für weite Teile der ostdeutschen
Bevölkerung.
Angekommen im vereinten Deutschland. Für ein modernes und soziales Deutschland (SFZ: Sozialreport 2010)
Fokus.
Der Sozialreport 2010 schreitet das gesamte Spektrum, mehr oder weniger
alle Dimensionen des Vereinigungsprozesses aus und präsentiert (und
interpretiert) Wahrnehmungen und Bewertungen auf der Ebene der
Bevölkerung des früheren Bundesgebietes wie der neuen Länder. Deshalb
wird im Rahmen der Sammelbesprechung die Generalbilanz von 20 Jahren
deutscher Einheit der Autoren des Sozialreports nur auf wenige Punkte
beschränkt, und zwar auf solche Punkte, in denen sich der Sozialreport
von
Generalbilanz. Grundsatzentscheidung für die Einheit wird ebenso akzeptiert wie die Grundordnung des Gemeinwesens.
Klaus
Schroeder hatte das Unbehagen an und in der Einheit in West und Ost
sowie die fortbestehende Fremdheit herausgestellt. Und verstehe ich
Wolf Wagner richtig, so gibt es aus seiner Sicht zwischen Oder und
Rhein derzeit nur eine Gruppe, die im vereinten Deutschland angekommen
ist - die gebildeten (mit Abitur, Hochschulabschuss) und wohlsituierten
Ostdeutschen. Für die gebildeten und wohlsituierten Schichten im Westen
gelte das so nicht (Wagner 2010:51). Der Sozialreport setzt andere
Akzente, indem er herausstellt: Die Grundsatzentscheidung für die
Vereinigung Deutschlands werde in den alten wie in den neuen
Bundesländern gleichermaßen befürwortet und stehe nicht zur
Disposition. Darin drücke sich aus, dass die Einheit Deutschlands eine
historische Tatsache ist und auch von der Bevölkerung nicht nur
akzeptiert, sondern ausdrücklich befürwortet werde. Trotz aller Skepsis
und Kritik an der Gestaltung des Prozesses der Einheit und an seinen
Resultaten werden die Einheit Deutschlands und damit verbunden auch die
Grundordnung des Gemeinwesens anerkannt. (Der Rezensent ist sich nicht
sicher, ob diese Interpretation empirisch wirklich gedeckt ist.) Der
Stand der Vereinigung und die Bilanz der bisherigen Ergebnisse fallen
dagegen mehrheitlich kritisch aus. Bedenklicher noch als die
Einschätzung des Status quo ist die kritische Sicht auf die Zukunft.
Die Menschen in Ost und West gehen mehrheitlich davon aus, dass -in
materieller und institutioneller Hinsicht, wie auch im Hinblick auf die
Chancenverteilung -von einer Angleichung der beiden Teile Deutschlands
auf absehbare Zeit nicht die Rede sein kann. Dabei gebe es Felder, auf
denen die Befragten in Ost und West übereinstimmend Angleichung
wünschen (Chancengleichheit; Löhne/Gehälter) und solche, in denen
Ostdeutsche mehr Angleichung wollen als es westdeutsche Mehrheiten für
sinnvoll und angebracht halten (Sozialreport 2010: 20 f.; 39). Aus der
Perspektive des Sozialreports 2010 scheint die „innere Einheit“ weiter
vorangeschritten zu sein als es im veröffentlichten Meinungsbild
angenommen wird. So sind die Wertestrukturen nahezu identisch. Und in
vielen Bewertungen bestehen große Übereinstimmungen. Differenzen
zwischen der Einschätzung von Schroeder, Wagner, Ahbe und den Autoren
des Sozialreports zum Stand der „inneren Einheit“ resultieren wohl auch
daraus, dass letztere auf real bestehende übereinstimmende
Wertestrukturen abheben, Schroeder, Wagner oder Ahbe hingegen
wechselseitige Wahrnehmungen stärker in den Blick rücken.
Der besondere Fakt: Annäherung in der Placierung von Freiheit unter den Grundwerten
Längere
Zeit wurde eine Leitdifferenz zwischen Ost und West in der
unterschiedlichen Bewertung von Freiheit und Gleichheit gesehen. Der
Sozialreport 2010 weist nun für den Osten aus, dass für 46 Prozent der
Befragten gleichermaßen Freiheit und soziale Sicherheit den ersten Rang
unter den Grundwerten einnehmen (Gerechtigkeit setzten 37%, Solidarität
13% und Gleichheit 10% der Befragten auf Rang 1). Im Westen rückten
Freiheit 61% der Befragen auf Rang 1; Gerechtigkeit 37%, soziale
Sicherheit 29%; Solidarität 13%, Gleichheit 12%. (Sozialreport 2010:
94).
Der besondere Fakt: Vermessung der „ideellen Gesamtdeutschen“ im Osten
Der
Anteil der Ostdeutschen, der sich als „richtiger Bundesbürger fühlt“
steige kontinuierlich an. Er liegt bei 25% für die ostdeutsche
Gesamtbevölkerung und bei den unter 35jährigen bei 40 Prozent
(Sozialreport 2010: 28f). Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass
sich 75 Prozent der Ostdeutschen insgesamt und 60 Prozent der Befragten
unter 35 nicht als „richtige Bundesbürger“ sehen.
Der besondere Fakt: tendenzielle Annäherung an Zwiebelform im Osten
Bemerkenswert
ist ferner, dass sich die Sozialstrukturen nach der der subjektiven
Schichtzuordnung tendenziell und verhalten angleichen. Nach der
subjektiven Schichtzuordnung stellte sich die Sozialstruktur der
ostdeutschen Gesellschaft zu Beginn der Vereinigung als Pyramide mit
einer überaus starken Basis – der Arbeiterschicht – dar; die
Sozialstruktur der westdeutsche Gesellschaft hingegen als
Mittelschichten dominierte Gesellschaft mit vergleichsweise schmaler
Ober-wie auch schmaler Arbeiter-und Unterschicht -nahm die Form einer
Zwiebel an. Im Jahr 2010 dominieren im Westen noch immer bei weitem die
Mittelschichten, im Osten zeichnet sich ebenfalls die Zwiebelform ab:
Seit
1990 ist im Osten die Unterschicht stark, die Mittelschicht leicht und
die obere Mittelschicht bzw. Oberschicht beträchtlich gewachsen.
Hingegen ist die Einordnung in die Arbeiterschicht deutlich rückläufig.
Erstmals ordnen sich mehr in die Mittel-als in die Arbeiterschicht ein.
Dieser Befund relativiert sowohl Aussagen Schroeders als auch
Verallgemeinerungen von Ahbe. Mit Ahbe lässt sich aber festhalten, dass
die Mittelschichten Ost die „DDR im Rücken“ haben und durch die
Transformation hindurchgegangen sind. Auch das unterscheidet sie von
den Mittelschichten im Westen.
Der besondere Fakt: soziale Auf- und Abstiege in Deutschland
Bezogen
auf den Zeitraum seit 1990 ist sowohl im Osten als auch im Westen die
Anzahl der Menschen, die auf Aufstiegschancen positiv verweisen,
kleiner als die Anzahl jener, die die Entwicklung in diesem Zeitraum
unter dem Aspekt der Aufstiegschancen negativ sehen (Tabelle 2). Im
Osten ist sie größer als im Westen, aber nicht groß genug, wenn man
bedenkt, dass es im Osten eine Revolution, mithin auch einen
Elitenwechsel gegeben hat.
Bezogen auf die letzen 5 Jahre besteht im Westen ein
quantitativ annähernd ausgewogenes Verhältnis zwischen Auf-und
Abstiegen, im Osten gibt es mehr Abstiegs-als Aufstiegserfahrungen
(Tabelle 3). Dieser Effekt ist wohl auf die Politik der Sozialreformen
zurückzuführen.
Wie aber nehmen sich die Befunde in der historischen
Tendenz aus? Nach dem 2. Weltkrieg setze in der Altbundesrepublik ein
rascher Wiederaufbau ein, der für breite Schichten einen sozialen
Aufstieg brachte.
„Der breite soziale Aufstieg… zog eine Verbürgerlichung
der Arbeiterschaft nah sich, in deren Folge ein tendenziell
einheitliches Klassenbewusstsein durch individuelle
Leistungsorientierung ersetzt wurde. `Armut wurde auch von den
Arbeitern nicht länger als proletarisches Klassenschicksal
wahrgenommen, sondern als persönliches Versagen`(Schäfer). Dieser
Wandel in der Wahrnehmung und Beurteilung des sozialen Schicksals trug
maßgeblich zur Entstehung der Mittelschichtsgesellschaft bei, zu deren
mentalen Voraussetzungen gehört, dass soziale Positionen der Menschen
im Großen und Ganzen auf individuelle Leistung oder persönliches
Versagen zurückgeführt wird, dass soziale Schranken und institutionelle
Barrieren keine Blockadewirkung entfalten, dass der sozialen Herkunft
keine determinierende Relevanz zukommt und Unglücksfälle, die nicht auf
moralisches Versagen oder mangelnde Leistungsbereitschaft
zurückzuführen sind, sozial abgefedert werden. Der Ausbau des
Sozialstaates und die Vermittelschichtung der westdeutschen
Gesellschaft bedingten sich gegenseitig (Münkler 2010: 217).
Wir können aus den Tabellen 2 und 3 den Schluss ziehen,
dass die von Münkler skizzierten Zusammenhänge in der Bundesrepublik
der Gegenwart erodieren, die Gesellschaft nur bedingt in der Lage ist,
das Aufstiegsversprechen der nivellierten Mittelschichtgesellschaft
einzulösen.
Zäsur. Hatte Schroeder darauf verwiesen, dass sich
Deutschland seit 1990 – nicht nur im Zuge der Einheit – verändert habe,
ohne Ross und Reiter zu benennen, so ist der Sozialreport deutlicher:
Die Achsen wurden mit Hilfe der neoliberalen Reformen (nicht zuletzt
unter Rot-Grün) in Richtung marktliberaler Konkurrenzgesellschaft
verschoben. Die Autoren des Sozialreports selbst plädieren für ein
modernes und soziales Deutschland und setzen sich insbesondere für ein
präzisiertes Konzept zur Angleichung von Lebensverhältnissen, eine Art
Stufenprogramm mit abrechenbaren Aufgaben und Zeithorizonten ein. In
Übereinstimmung mit der überwältigenden Mehrheit der ostdeutschen
Befragten sehen sie unter Verweis auf den Einigungsvertrag nicht
zuletzt die Bundesregierung in der Pflicht (Vgl. Sozialreport 2010: 124
f.). Im Zentrum der Visionen der Gesellschaftsveränderung stehen Fragen
der sozialen Teilhabe, weniger hingegen Aspekte der ökologischen
Trag-und Zukunftsfähigkeit der Lebensformen im vereinten Deutschland.
Bewegung in der (westdeutschen) Mitte:
Auseinanderdriften zwischen oberer und unterer Mitte. Zunahme von
Parteien der Mitte und politische Horizontverengung (Herfried Münkler
2010)
Fokus. Herfried Münkler hat keine Bilanz der
deutschen Einheit, sondern einen Beitrag zur Neuvermessung
der(schrumpfenden) sozialen und politischen Mitte im 21. Jahrhundert
vorgelegt. „Die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949“, lasse sich
als „Debatte über Funktion und Wert der Mitte“ (Münkler 2010:9)
beschreiben und kennzeichnen. Deshalb sind m.E. Konstanten und
Bewegungen in der (westdeutschen) Mitte auch von einiger Bedeutung für
Verlauf und Perspektiven der deutschen Einheit, auf die Münkler selbst
aber so gut wie gar nicht eingeht.
Zunächst zu einigen Konstanten und ihren Folgen für den Vereinigungsprozess.
In
beiden deutschen Staaten sind Lehren aus der deutsche n Geschichte
gezogen worden. Die Bonner Republik wollte nicht die Fehler der
Weimarer Republik wiederholen.
Leitend wurde die Position, dass man am besten „…gegen
eine Wiederholung von Weimar geschützt sei, indem man die politische
Mitte stark mache und sich klare gegen die Gruppierungen an den
Extremen abgrenze. So wurde der politische Kampf gegen die Extremisten
von links und rechts zur Verfassungsräson der Bonner Republik… Dass die
[Weimarer] Republik buchstäblich zwischen den politischen Extremen
zerrieben wurde, ist darauf zurückzufuhren, dass sich die soziale
Mitte… politisch zu den Extremen hin (genauer zur NSDAP – T.K.)
orientierte“ (Münkler 2010:208).
Unter den Bedingungen des Kalten Krieges lag der Akzent
der Abgrenzung gegenüber den „Extremisten“ von links. Daher, so die
Schlussfolgerung des Rezensenten, war die westdeutsche Gesellschaft
denkbar schlecht auf eine Entwicklung vorbereitet, die hellsichtige
Beobachter wie Günter Gaus lange vor der Vereinigung vorausgehen
hatten: „Wenn wir die Einheit ernsthaft wollen, müssen wir akzeptieren,
dass eine große Partei, die sich linkssozialistisch oder kommunistisch
nennt, bei uns zu Hause sein wird“. [Zitiert nach Karlen Vesper:
Frankfurter Buchmesse: Bahr, Höppner. Rot, roter? Neues Deutschland vom
8.10.2010, S. 15.]
Der Vermittelschichtung der westdeutschen Gesellschaft
ist mit einer Orientierung am Status quo, einer gewissen Abneigung vor
Veränderungen sowie einem von der Mitte ausgehenden Anpassungszwang
verbunden (vgl. Münkler 2010: 215-225). Auch darauf ist die große
Entschiedenheit der westdeutschen Seite zurückzuführen, mit der sie
1989/90 auf der Übertragung des westdeutschen Modells auf den Osten
bestand. Der Anpassungszwang ist ferner eine der Quellen und
Reproduktionskanäle für „Ostalgie“.
Die Vermittelschichtung der Alt-Bundesrepublik legte den
großen Volksparteien nahe, sich als Parteien der Mitte zu präsentieren.
Spätestens seit den 1990 Jahren tummelten sich aber alle Parteien der
alten Bundesrepublik in der Mitte und erhoben mit unterschiedlichen
Akzenten den Anspruch, Parteien der Mitte zu sein.
„Die Alternativen, die im politischen Spektrum entwickelt
werden, betreffen unterschiedliche Erwartungen innerhalb der Mitte… Das
Problematische an der Dominanz der Mitte im deutschen Parteienspektrum
…ist … die Einschränkung politscher Programmatiken auf ein durch die
Ränder der Mitte begrenztes Spektrum“ (Münkler 2010: 229).
Diese „politische Horizontverengung“ (Münkler) , so
scheint es dem Rezensenten, hat zur Folge, dass die Parteien der Mitte,
die das vereinte Deutschland seit 1990 ununterbrochen regieren,
Probleme, Potentiale des Ostens nicht als solche wahrnehmen, sondern
eben wie sie aus den Perspektiven der sozialen und politischen Mitte
erscheinen. Und insofern die politische Agenda jeweils durch
Erwartungen und Problemsichten der Mitte bestimmt wird, interessiert
auch nicht sonderlich, was die „Problemlösungen“ (Hartz Gesetze;
Weichenstellungen für die Etablierung eines Niedriglohnsektors,
Sparpaket) für den Osten bedeuten.
Noch wichtiger als die Konstanten sind die Bewegungen in der (westdeutschen) Mitte.
Zäsur: Spaltung und Schrumpfen der Mitte
„War
die gesellschaftliche und politische Stabilität der Bundesrepublik
Deutschland während der letzten sechs Jahrzehnte wesentlich dadurch
gewährleistet, dass sich die obere und untere Mittelschicht als ´die
Mitte der Gesellschaft` begriffen, so ist diese Form der Stabilität
inzwischen gefährdet. Tatsächlich haben sich in der gesellschaftlichen
Mitte zwei Bedrohtheitserfahrungen entwickelt, deren Bearbeitung sich
wechselseitig ausschließt. Auf der einen Seite, in der Regel in der
oberen Mittelschicht, steht der Eindruck einer Überlastung mit Abgaben
und Abzügen… Es breitet sich das Empfinden aus, dass die soziale
Sicherheit zu sehr auf Kosten der individuellen Freiheit ausgebaut
worden sei, und mit der Kritik an einer überhöhten Staatsquote geht die
Forderung nach Rückbau der sozialen Sicherungssysteme einher. Ein
solcher Rückbau aber hat einen Zuwachs von Unsicherheit vor allem in
der unteren Mittelschicht zur Folge, weil diese … auf ein Sozialsystem
angewiesen ist, das die Absicherung gegen Lebensrisiken mit einem
gewissen Maß an Statussicherheit verbindet… Wo dieses
Sicherheitsempfinden in Frage gestellt wird, ist die Zugehörigkeit zur
Mitte bedroht. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass in Deutschland
erstmals seit Jahrzehnten die Zahl derer, die sich der
gesellschaftlichen Mitte zurechnen, rückläufig ist… Spaltung der
Gesellschaft heißt zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wesentlich,
dass … die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden (was
durchaus der Fall ist…)…, sondern vor allem, dass die Mitte selbst sich
spaltet. Die Bedrohung der Mitte kommt von innen, nicht von außen. Erst
die Spaltung der Mitte führt dazu, dass das Auseinanderdriften der
Ränder und der Ausschluss einer zunehmenden Zahl von Menschen vom
gesellschaftlichen Leben dramatisch erscheinen“ (Münkler 2010: 57, 58,
59).
Das Auseinanderdriften der oberen und unteren
(westdeutschen) Mitte hat eine Reihe von Folgen für die Wahrnehmung und
Bewertung der Einheit wie auch für die Perspektiven und
Entwicklungsoptionen im vereinten Deutschland. Die Spaltung der
westdeutschen Mitte fällt zeitlich in die Phase der Berliner Republik.
Sie hat mit der Vereinigung als solcher wenig zu tun, ist nicht durch
sie bedingt, wird aber mit ihr in Verbindung gebracht. Für die Spaltung
der Mitte spielte nicht zuletzt die Agenda 2010 eine Rolle. Die Agenda
ist gleichsam Ausdruck und Modus der Spaltung der Mitte. Im Westen
bilanzieren mehr Menschen (35%) als im Osten (24%) für sich Verluste
nach fast 20 Jahren deutscher Einheit und weniger für sich Gewinne
(West 37%; Ost: 42%)(Sozialreport 2010:22). Der Eindruck einer
„Überlastung mit Abgaben und Abzügen“ im Zusammenhang mit dem Aufbau
Ost ist im Westen allgemein verbreitet. Die Spaltung der westdeutschen
Mitte ist eine wesentliche Quelle von „Westalgie, d.h. der positiven
Erinnerung an die Zeiten der alten Bundesrepublik, als sich noch obere
und untere Mitte als die Mitte der Gesellschaft verstanden. Die
auseinanderdriftende westdeutsche Mitte tendiert zudem mit ihrer
Missachtung, Ignoranz, Stigmatisierung ostdeutscher Lebenswelten dahin,
ihre Distinktionsbedürfnisse zu befriedigen, ihre Identität zu
beschwören oder sich ihrer zu versichern (vgl. Ahbe 2010).
Die Bereitschaft der Mitte, sich für soziale Aufsteiger
(aus dem Osten wie aus dem Westen) zu öffnen, ist in Zeiten der
Stagnation oder in denen sich die Mittelschichten durch die allgemeine
Entwicklung bedroht fühlen, begrenzt. Sie tendieren dann eher, wie
Münkler ausführt, zur Selbstabschließung. Das zeigt sich nicht zuletzt
bildungspolitisch (z.B. bei der Bestimmung der Zugangsvoraussetzungen
für Bildungseinrichtungen, im partiellen Festhalten am dreigliedrigen
Schulsystem, in Bürgerbegehren und Initiativen (Hamburg), in der
Gründung von Privatschulen und Privatuniversitäten, die sich mit einer
opulenten Finanzausstattung versehen, der Pflege exklusiver Kontakte
und Verbindungen…)
„Die Mitte schließt sich ab, indem sie die Agenturen für
Bildungs-und Ausbildungszertifikate auf soziale Selbstreproduktion
programmiert. Damit entzieht sie sich einem Teil der Aufgaben, die sie
für die Gesellschaft zu erfüllen hat. Sie wird für die
Konkurrenzfähigkeit der Gesellschaft dadurch zum Problem. ..Will die
Mitte ihrer gesellschaftlichen Aufgabe als Integrationszentrum und
Aufstiegsmotor erfüllen, so muss sie bereit sein, dafür die
Zukunftschancen der eigenen Kinder hintanzustellen, was konkret
bedeutet, keinerlei Einrichtungen zu installieren, die diesen einen
Vorteil beim Wettstreit um Positionen verschaffen …“ (Münkler 2010:
71).
Das ist jedoch für die Mitte in West und Ost eine schwer
zu akzeptierende Forderung. „Aber wer hat die Fähigkeit“, fragt
Münkler, „die Mitte in dieser Situation zur Räson zu bringen? Eine
Politik, die auf die Zustimmung der Mitte angewiesen ist, wohl kaum“
(Münkler 2010: 71).
Transformationsgestalten von Mitte und Maß nach Münkler
„Angesichts
der engen Verbindung von Mitte und Maß nimmt es nicht wunder, dass, wo
die Mitte in Gefahr ist, auch ein Verlust des Maßes droht…Der
Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die von sich aus kein Maß
kennt. Maß und Maßstab müssen von außen an ihn herangetragen und gegen
seine Dynamik durchgesetzt werden“ (Münkler 2010: 59).
Münkler skizziert in verschiedenen Feldern den Verlust
von Maßbestimmungen. So übermittelten die Trivialliteratur wie auch
Blockbuster die Botschaft, nicht sei unmöglich, wenn man es nur
entschieden und kompromisslos wolle. Für die politische Ordnung nach
dem Ende des Ost-West-Konflikts gelte, sie dürfe der global
ausgetragenen Wirtschaftskonkurrenz keine Steine in den Weg legen. Eine
permanente Revolutionierung der Anreize und die beständige Produktion
von Überschüssen erscheinen als normal. Daher lasse sich nicht mehr
definieren, was Verschwendung ist. Der Maßstab des
„Normalarbeitsverhältnisses“ spiele in den Köpfen der Menschen noch
eine Rolle, in der realen Arbeitswelt verliert er zusehends an
Bedeutung. Der dauerhaft hohe Sockel von Langzeitarbeitslosen stelle
die Normalität des Arbeitslebens in Frage. Der schnell anwachsende
Niedriglohnbereich sorge dafür, dass die Erwartung, man könne von
seiner Arbeit leben, nicht mehr trägt. Verloren gehe der
Leistungsbegriff im Zuge der „Umstellung von `Leistung auf Erfolg`“.
Die Folge sei, dass Leistung kurzerhand mit Einkommen gleichgesetzt
werde. Damit einher gehe die Umstellung von einer „Leistungs-auf eine
Gelegenheitsökonomie“, die Genese einer „Wirtschaftskultur der
Zufälligkeit (Neckel)“. So aber gebe es keine Kriterien mehr, anhand
derer die Angemessenheit von Status und Einkommen beurteilt werden
könne. Die modernen Gesellschaften haben sich weitgehend von
meritokratischen Prinzipien entkoppelt (vgl. Münkler 2010: 59-68).
„Während wachsende Bevölkerungsgruppen von ihrer Arbeit nicht mehr
leben können…, sind die Wohlstandsgewinne der letzten beiden Jahrzehnte
ausschließlich im oberen und obersten Einkommensbereich eingestrichen
worden. In der Folge hat die Vorstellung von Gewinnern und Verlierern…
wieder größere Bedeutung erlangt “ (Münkler 2010: 67)
Das Auseinanderdriften von oberer und unterer Mitte
äußere sich parteipolitisch vorerst aber in inneren Gegensätzen der
Volksparteien und einer Zunahme von Parteien der Mitte. „Dieser Prozess
dürfte das kommende Jahrzehnt bestimmen, und er dürfte sich erst wieder
ändern, wenn es zu einem deutlichen Gewichtszuwachs der sozialen und
politischen Periphere käme. Dafür gibt es durchaus Anzeichen. Aber sie
sind nicht so stark, dass damit in absehbarer Zeit zu rechnen ist“
(Münkler 2010: 237).
Folgen wir Münkler, so tangieren die Spaltung und das
Schrumpfen der „sozialen Mitte“ die Chancen auf Teilhabe in der
deutschen Gesellschaft insgesamt, und zwar eher negativ (vgl. Heitmeyer
2010). Sie tangieren weiterhin, worauf Münkler nicht eingeht, das
Vermögen und die Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, sich globalen
Herausforderungen -wie dem Umbau von Wirtschafts-und Lebensformen nach
Maßgabe ihrer ökologischen Tragfähigkeit – nachhaltig zu stellen.
Fazit: Einheitsgestaltung und Zukunftsgestaltung
Wenn
wir die Bilanzierungen von 20 Jahren deutscher Einheit noch einmal
Revue passieren lassen, so ergibt sich ein recht uneinheitliches Bild.
Dennoch zeichnen sich einige Trends ab. Zudem markieren mehr oder
weniger alle Autoren das Erreichen einer – freilich verschieden
gefassten – Zäsur, einer Wendemarke. Von daher stellt sich die Frage:
wohin treibt das vereinte Deutschland? Droht gar eine „Scheidung auf
tschechoslowakisch“? Verschränken sich künftig Einheits-und
Zukunftsgestaltung oder entkoppeln sie sich? Schließlich werfen die
Bilanzen selbst oder/und ihre nicht explizit gewordenen
Hintergrundannahmen die Frage auf, ob größere Teile der deutschen
Gesellschaft offen für Visionen und Notwendigkeiten der
Gesellschaftsveränderung sind.
Die Einheit ist weniger fest gegründet als
gemeinhin angenommen, doch eine Scheidung auf tschechoslowakisch ist
nicht zu erwarten
Die Bundesrepublik Deutschland
präsentiert sich im 20. Jahr der staatlichen Einheit in den
herangezogenen Bilanzierungen überwiegend als eine Gesellschaft, in der
die „ideellen Gesamtdeutschen“ in der Minderheit sind. Die Größe dieser
Minderheit wird unterschiedlich veranschlagt, doch immer bleibt es bei
einer Minorität. In der Ost-West-Dimension dominieren wechselseitige
Wahrnehmungen und Gegenüberstellungen nach dem Modell „wir“ – „sie“ und
sie reproduzieren sich offenbar auch in der Generationsfolge. Das in
der ostdeutschen Gesellschaft weit verbreitete Diskriminierungsgefühl
hat eine reale Basis in mangelnder Chancengleichheit. Es gründet sich
nicht oder nur peripher auf unangemessene und überzogenen Ansprüche.
Die ostdeutsche Bevölkerung ist unter den Inhabern gesamtdeutscher
Elite-wie auch Führungspositionen unter-, unter den Erwerbslosen und
den Beziehern von Hartz IV überrepräsentiert. Gleiches gilt für
nichtdeutsche Migranten und ihre Nachfahren. In Ostdeutschland
registrieren mehr Personen soziale Abstiege als Aufstiege. Die
westdeutsche Mehrheitsgesellschaft tut sich überaus schwer bei der
postumen geistigen Anerkennung der DDR und in der Welt der
Westdeutschen besteht ein unzureichendes Bewusstsein darüber, was die
Einheit ihnen an Positiva, Gratifikationen gebracht hat. Die deutsche
Einheit ist in der Gesellschaft weniger tief verankert als es den
Anschein hat und gemeinhin suggeriert wird. (Die Autoren des
Sozialreports 2010 sehen das freilich anders.)
Über die Entwicklungsperspektiven Ostdeutschlands werden
in den Bilanzen zumindest ambivalente Aussagen getroffen. Ahbe meint
gar, dass die Politik und Praxis seit 1990 „diesen Landstrich um seine
Zukunft gebracht“ habe. Und Kasparick spricht von der Gefährdung des
„Aufbau Ost“ durch den demographischen Wandel. Heißt es bei Klaus
Schroeder, es könne „nur zusammenwachsen, was zusammenwachsen will“, so
meinte Wirtschaftsminister Brüderle -in einem freilich anderen
Zusammenhang-„es trennt sich, was nicht zusammengehört“. Deutet sich in
der Tiefe der Gesellschaft an, dass die deutsche Einheit nur eine
Episode sein könnte? Eine „Scheidung auf tschechoslowakisch“ ist im
deutschen Falle aus drei Gründen mehr als unwahrscheinlich. Gibt es
doch erstens in der Bundesrepublik -anders als etwa in Schottland,
Belgien, Italien oder Spanien -keine politische oder soziale Kraft, die
die staatliche Einheit zur Disposition stellen würde. Deshalb findet
das vorhandene Unbehagen an und in der Einheit keine
Organisationsanker. Zweitens ist darauf zu verweisen, dass die deutsche
Einheit der ostdeutschen Bevölkerung beachtliche Wohlstandsgewinne
brachte, die sich aber eben nicht auf ein entsprechendes
„wirtschaftliches Fundament“ (Schroeder) gründen. Dieser Sachverhalt
ist der ostdeutschen Bevölkerung sehr wohl geläufig. Solange es an
einer wirtschaftlichen Basis für die Eigenstaatlichkeit gebricht,
würden organisierte Sezessionisten, sollte es sie je geben, keine
hinreichende Unterstützung gewinnen. Und schließlich ist Ostdeutschland
in zwanzig Jahren aus einer vergleichsweise jungen zu einer alten
Gesellschaft geworden. Eine alternde Bevölkerung „probt nicht den
Aufstand“ und verbindet ihre Hoffnungen nicht mit einer Sezession. In
den neuen Bundesländern wird die kritische Masse an zornigen jungen
Männern und Frauen unterschritten, die sich eine Verbesserung ihrer
Entwicklungsmöglichkeiten von ostdeutscher Eigenstaatlichkeit
versprechen könnte. Deshalb bleibt die Bundesrepublik der staatliche
Rahmen für mögliche Veränderungen, soweit sie Deutschland betreffen und
sich auf Deutschland begrenzen lassen.
Das Thema Einheit hat an Zentralität verloren. Chancen und Zwänge einer Symbiose von Einheitsgestaltung und Zukunftsgestaltung
In
Politik, Wissenschaft und Gesellschaft hat das Thema Einheit an
Zentralität verloren. Der Bedeutungsschwund zeigt sich nicht zuletzt in
den recht sparsamen Festlegungen des Koalitionsvertrages von CDU, CSU
und FDP zu einheitsbedingten Aufgaben und in der Weigerung , sich auf
eine Neujustierung der Ziele, auf Indikatoren der Zielerreichung und
Terminierungen einzulassen, wie sie die Autoren des Sozialreports 2010
(vgl. S. 27) und die Partei Die LINKE forderten. Auf der Ebene der
Bilanzen zeigt sich das ferner darin, dass von Autoren befunden wird,
der Vereinigungsprozess sei als weitgehend abgeschlossen zu betrachten.
Überdies schoben sich nicht einigungsbedingte, gesamtdeutsche,
europäische und globale Herausforderungen in den Vordergrund:
Klimawandel, die Regulierung der kapitalistischen Dynamik, der Übergang
zu einem ökologisch tragfähigem Wachstumspfad, die Alterung der
Gesellschaft, die zunehmende soziale Verwundbarkeit (Prekarität) und
Ausgrenzung (Exklusion) großer Bevölkerungsgruppen in Ost und West, die
Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie, die Integration
von Personen mit Migrationshintergrund…
Hatte Klaus Schroeder an den Gedanken herangeführt, dass
das vereinte Deutschland „eine Gesellschaft ohne Projekt“ sei, auf das
sich ein gemeinsamer Aufbruch hätte stützen können (vgl. S.13), so
zeichnet sich ein solches in seinen Konturen ab.
Im Kern geht es um ein nicht nur auf Deutschland
bezogenes „…Ringen um ein neues sozialökonomisches und kulturelles
Entwicklungsmodell, das einen nachhaltigen, spezifisch
ressourceneffizienten, umweltverträglichen Entwicklungspfad und eine
neue soziale und humane Lebensqualität generiert und am Gemeinwohl
orientiert ist. Man könnt dies normativ auch als »Gesellschaft
nachhaltiger und solidarischer Entwicklung« als Alternative zur
»Fordistisch-industriellen Teilhabegesellschaft«, besonders aber zur
»Marktliberalen Konkurrenzgesellschaft« bezeichnen… Einheitsgestaltung
und Zukunftsgestaltung – beide orientiert …[am] Ziel einer nachhaltigen
und solidarischen Gesellschaft – sind nun eng miteinander verknüpft und
sollten nicht länger gegeneinander gestellt werden“ (Reißig 2010:218f).
Der Position von Reißig über den Zusammenhang von Einheits-und
Zukunftsgestaltung seien zwei Erwägungen des Rezensenten hinzugefügt:
Erstens. Die Akteurkonstellationen, die ein solches
Projekt tragen könnten, sind im Ansatz existent. Sie haben sich aber
noch nicht zusammengefunden. Und es könnte sein, das sie dazu längere
Zeit benötigen, als zur Verfügung steht. Auch daher ist der Ausgang
offen.
Zweitens. Es liegen vielfältige theoretische und
empirische Befunde über die destabilisierenden Rückwirkungen der
markt-liberalen Transformation der einstigen fordistischen
Erwerbsgesellschaft vor. Sie zeigen, wie die sich ausbreitende „Zone
der Verwundbarkeit“ (Prekarität) und die „Zone der Entkopplung“
(soziale Ausgrenzung/Exklusion) auf die „Zone der Integration“, mithin
den Kern der Arbeitsgesellschaft zugreifen und die Fundamente der
gesellschaftlichen Integration zersetzen(vgl. Castel 2000; Wolf 2007;
Heitmeyer 2010). Daher kann der anstehende tiefgreifende Umbau unserer
Wirtschafts-und Lebensformen nach Maßgabe ihrer ökologischen
Tragfähigkeit nur gelingen, wenn er von einer neuen und höheren Form
der sozialen Teilhabe aller flankiert wird. Geschieht dies nicht, so
würde der Umbau am Widerstand oder/und dem Mangel an politischen und
ökonomischen Optionen der exkludierten und sozial verwundbaren
Bevölkerungsteile scheitern (vgl. Beck 2007: 318ff). Ökodiktatur oder
Untergang (vgl. Dyer 2010) wären die Alternativen zum
sozial-ökologischen Umbau.
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