Thema | Kulturation 2/2003 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Gerd Dietrich | Eine "weltoffene" Diktatur. Die DDR am Beginn der 70er Jahre
| Eröffnungsvortrag
der "Sommeruniversität" im Rahmen der Veranstaltung der Bundeszentrale
für Politische Bildung: "heldinnen, bands & klassenbrüder.
Weltfestspiele '73", Berlin, 1. August 2003.
Es soll auch bei dieser "Sommeruniversität" um den Versuch gehen, das
Wesen und Leben in dieser DDR, oder das, was diese kleine Welt im
innersten zusammenhielt, zu erklären. Und seit dem Ende der DDR häufen
sich ja die Erklärungsmodelle. Die Angebote scheinen sich stetig zu
mehren, die Literatur ist nahezu unüberschaubar geworden: Da ist von
einem totalitären bzw. posttotalitären Staat, von einem
vormundschaftlichen Staat, von einem Versorgungsstaat oder von einem
Ständestaat mit Kastenherrschaft die Rede, da spricht man von moderner
Diktatur, Erziehungsdiktatur, von parteibürokratischer Herrschaft oder
von einer Patrimonialbürokratie neuen Typs, da gibt es Charakteristika
wie durchherrschte Gesellschaft, Organisationsgesellschaft,
Klassengesellschaft, Konsensgesellschaft oder Nischengesellschaft, und
da geistern Begriffe wie arbeiterliche und tragische Gesellschaft oder
das Land der kleinen Leute und die roten Preußen durch die Literatur.
(vgl.Ihme-Tuchel)
Jeder kann sich sein kleines Modell zusammenbasteln aus dem großen
Modellbaukasten der Theorien. Die DDR-Geschichte ist gleichsam zu einem
Marktplatz der Ideen, zur Spielwiese und Probebühne, zum
Experimentierfeld und Diskussionsobjekt der Politik-, Sozial- und
Kulturwissenschaften geworden.
Ich habe nicht die Absicht, einen weiteren Typ von Diktatur zu
kreieren. Ich will auch nicht, jedenfalls noch nicht, am Wettbewerb der
Interpreten teilnehmen. Ich versuche allein auf die Zweigleisigkeit von
Altem und Neuem, auf das Nebeneinander von Hoffnungen und
Enttäuschungen; oder - um es wissenschaftlich auszudrücken: auf die
"konstitutive Widersprüchlichkeit" (Pollack,S.110) und auf die
"unaufhebbare Multiperspektivität" (Sabrow, S.107) jener Zeit
einzugehen.
Ich werde erstens über die Ambivalenz Anfang der 70er Jahre, zweitens
die Weltfestspiele 1973 sprechen und drittens über den Wandel der
Erinnerung nachdenken.
1. Die DDR zur Zeit der Weltfestspiele
In dem Projektseminar "Zwischen Propagandashow und 'rotem Woodstock' X.
Weltfestspiele der Jugend und Studenten, Berlin 1973" haben wir uns mit
dieser Widersprüchlichkeit und Multiperspektivität beschäftigt. Ich bin
gespannt darauf, wie eine junge Generation von heute die Erfahrungen
der jungen Generation von damals beschreibt und beurteilt. - Zuvor
jedoch ein Blick zurück:
Weltfestspiele der Jugend und Studenten hatten in Berlin - Ost schon
einmal stattgefunden: das III. Festival im August 1951. Es war das "bis
dahin größte und aufwendigste". Die junge DDR warb um Anerkennung.
"26.000 Teilnehmer aus 104 Ländern mischten sich mit rund 2 Mill.
Jugendlichen aus der DDR. Etwa 35.000 waren aus der Bundesrepublik und
Westberlin gekommen" (Breßlein, S.89 u. S.5). Das Festival stand unter
der Losung: "Jugend - einig im Kampf für den Frieden - gegen die Gefahr
eines neuen Krieges". Erich Honecker, damals Chef der FDJ, dazu in
seinen Erinnerungen: "Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte kam es
in den Augusttagen des Jahres 1951 zur massenhaften Begegnung der
deutschen Jugend mit Jugendlichen aus Ländern aller Kontinente nicht
auf dem Schlachtfeld, sondern auf dem Feld des Friedens und der
Völkerverständigung." (Honecker, Leben, S.181)
Mit der Organisation allerdings war die FDJ überfordert. Täglich gingen
80.000 bis 90.000 Jugendliche nach Berlin - West, um dort Kinos zu
besuchen und sich verpflegen zu lassen. Der darob von der SED-Führung
heftig kritisierte FDJ-Chef trat die Flucht nach vorn an, ließ
Marschsäulen von 10.000 FDJ'lern nach Westberlin demonstrieren, was zu
blutigen Zusammenstößen mit der Polizei führte. "Die Freie Deutsche
Jugend stürmt Berlin" hieß ein Lied von 1950.
Seitdem hatte sich die Lage grundlegend verändert. Bipolarität und
Blockdenken waren im Kalten Krieg verfestigt worden. Die Berliner Mauer
im August 1961 nahm den Ostdeutschen die Freiheit der Ausreise - und
des Kinobesuchs - und leitete zugleich die Konsolidierung der DDR ein.
Zum Ende der 60er deutete sich eine Phase der Entspannung zwischen den
Supermächten USA und Sowjetunion und in deren Folge auch zwischen den
beiden deutschen Staaten an. Der lange Kampf der DDR gegen die
Hallstein-Doktrin hatte Erfolg: Im Sommer 1973 unterhält sie mit 89
Staaten diplomatische Beziehungen, ist in den Spezialorganisationen der
UNO vertreten, im September 73 werden beide deutsche Staaten in die
Vereinten Nationen aufgenommen.
Die Vorbereitung der Weltfestspiele 1973 stand ganz im Zeichen dieses
Prozesses internationaler Anerkennung und gewachsener Souveränität. Sie
stand ebenso im Zeichen der Konkurrenz mit der Bundesrepublik. Als z.B.
Honecker die Olympioniken der DDR empfing, die bei den XX. Olympischen
Sommerspielen in München 1972 erstmals als selbständige Mannschaft
auftraten und den dritten Platz in der Länderwertung belegten, wies er
ausdrücklich auf die Weltfestspiele als nächsten Höhepunkt hin. Die DDR
wollte beweisen, daß sie zur reibungslosen Durchführung eines ebenso
großen internationalen Treffens in der Lage sei.
Im Verhältnis zur Bundesrepublik aber geriet die DDR Anfang der 70er
unter erheblichen Anpassungsdruck und Veränderungszwang. Auf der einen
Seite Gespräche und Verhandlungen, kulminierend im Grundlagenvertrag
vom Dezember 1972. Von Egon Bahr prägnant kommentiert: "Früher hatten
wir gar keine Beziehungen, jetzt haben wir wenigstens schlechte."
(Bender, S.184) Gleichwohl war das der Beginn eines "Wandels durch
Annäherung".
Auf der anderen Seite Distanz und Abgrenzung: Kaum hatte Willy Brandt
eine ähnliche Position vertreten, wie sie die DDR bisher bezogen hatte:
zwei Staaten, die nicht Ausland füreinander sind und derselben Nation
angehören, trat die SED den Rückzug an. Die Verfassung der DDR von 1968
hatte noch vom sozialistischen Staat deutscher Nation gesprochen, der
VIII. Parteitag der SED 1971 erklärte, daß die Geschichte über die
nationale Frage entschieden habe und 1974 wurden alle nationalen Bezüge
aus der Verfassung gestrichen. - Über die deutsch-deutschen Querelen
während der Weltfestspiele wird uns Carsten Schröder berichten.
Auch gesellschaftspolitisch geriet die SED Anfang der 70er unter
Veränderungszwang und Anpassungsdruck. Mit der von Honecker
eingeleiteten Politik eines "Konsumsozialismus" versuchte die DDR, im
Konsum dem Westen nachzueifern, ohne seine Produktivität erreichen zu
können. Später wurden hierfür die Begriffe "Fürsorgediktatur" oder
"diktatorischer Wohlfahrtsstaat" (Jarausch, S.42; Meuschel, S.235)
geprägt. Bekanntermaßen führte dies in die Schuldenfalle.
Die SED - Politik der frühen 70er ist auch als "kontrollierte Öffnung"
bzw. "repressive Toleranz" (Wolle, S.164; Ohse, S.304) bezeichnet
worden. Denn die SED-Führung mußte wieder größere Handlungsspielräume
zulassen, um Autorität zurück zu gewinnen. Das innenpolitische Klima
war seit 1965 - seit dem "Kahlschlagplenum" - geradezu eisig geworden.
Selbst bei loyalen Bürgern hatte die SED an Vertrauen eingebüßt. Der
Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag 1968 hatte ein
übriges getan.
Und natürlich wollte sich der neue Mann an der Spitze - nach seiner
Rolle als Zuchtmeister von 1965 - nun als Landesvater profilieren. Die
SED-Führung unter Honecker versuchte ab 1971 zu testen, was
herauskommen könnte, wenn sie sich zeitweilig nur auf die
Globalsteuerung kultureller und geistiger Prozesse beschränkte. Man zog
eine stillschweigende Korrektur vor. Die Kontrollmechanismen wurden
zwar flexibler gehandhabt, aber nicht prinzipiell reformiert. Hauptziel
war, einen Beruhigungseffekt zu erzielen. Zugleich schien sich
Veränderung anzukündigen:
So gab es im Januar 1972 zum ersten Mal eine Öffnung der Grenzen in
Richtung Osten. Nun konnten die Bürger der DDR visafrei nach Polen und
in die CSSR reisen.
Daß die am Tage fleißig arbeitenden Werktätigen am Abend in den Westen
"gingen", wurde nicht mehr mit dem Herunterholen der "Ochsenköpfe" bzw.
Unterschriftenaktionen gegen Westmedien beantwortet, sondern von
Honecker im Mai 73 mit dem lakonischen Kommentar versehen, daß "bei uns
jeder nach Belieben ein- und ausschalten kann". (Honecker, Bd.2, S.235)
In der Sprache der Kulturpolitik häuften sich Stichworte wie Weite und
Vielfalt, Entdeckerdrang und Phantasie, Geduld und schöpferisches
Suchen. Auf der ZK-Tagung im Dezember 71 fiel Honeckers berühmt
gewordener, freilich sehr unterschiedlich interpretierbarer Satz: "Wenn
man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines
Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben."
(Honecker, Bd.1, S.421)
Geradezu spektakulär war die Legalisierung des
Schwangerschaftsabbruches bis zur 12. Woche durch Gesetz der
Volkskammer im März 72, wo es zum ersten Mal sogar Gegenstimmen gab.
Diese moderne Fristenlösung war verbunden mit umfangreichen Maßnahmen
zur Verlängerung des Mutterschutzes, dem Ausbau von Kinderkrippen und
der finanziellen Förderung junger Ehen.
Auch in der Jugendpolitik gab es eine Trendwende: Noch 1968 hatten die
Herrschenden dem ganzen Land gezeigt, daß sie bereit waren, selbst die
eigenen Kinder der Staatsräson zu opfern. Als die gegen den Einmarsch
in Prag protestierenden Töchter und Söhne von Altkommunisten
exemplarisch bestraft wurden. Aber Ende der 60er signalisierte selbst
das MfS: das Konfliktpotential auf dem Beatmusik- und Jugendsektor sei
so bedrohlich, daß sich ein erneuter Kurswechsel empfehle.
Nun bekam die Jugendpolitik eine konstruktive Note, zielte auf
Integration statt auf Konfrontation. Der Jugend sollten wieder
Freiräume gewährt werden. Die FDJ wurde verpflichtet, sich für deren
kulturelle Belange zu engagieren und sie nicht nur mit
propagandistischen Formeln anzusprechen. Die Konsum- und
Freizeitmöglichkeiten wurden deutlich verbessert, vom Ausbau des Tanz-
und Unterhaltungsangebots bis zu technischen Geräten und Medien. Die
Weltfestspiele verhalfen der Rockkultur in der DDR endgültig zum
Durchbruch.- Heiner Stahl wird über den Jugendsender DT 64 und Johannes
Krätschell über einen Jugendklub in Berlin sprechen. - Und die Losung:
"Nieten in Nietenhosen unerwünscht" war längst passé. Jetzt produzierte
die DDR selber Jeans, oder so was ähnliches.
Jene "Öffnung" und "Toleranz" hatte allerdings eine Kehrseite, die der
Kontrolle und der Repression. Der gigantische Ausbau der
Staatssicherheit und ihres Systems der "Inoffiziellen Mitarbeiter" in
den 70er Jahren war Teil dieser Politik. Daß Unterdrückung, Überwachung
und Manipulation subtilere Formen annahmen, lag nicht an den fehlenden
Möglichkeiten, sondern den veränderten ökonomischen und internationalen
Rahmenbedingungen. "Der Stasi - Apparat unterlag dem gleichen Prinzip
wie die Absperrmaßnahmen an der Grenze ", schrieb Stefan Wolle: "Er
wurde technisch immer perfekter und politisch immer wirkungsloser."
(Wolle, S.152) Was er zu den Weltfestspielen alles in Bewegung setzte,
wird uns Christoph Ochs zeigen.
Zweifelsohne erweiterten sich die sozialen und kulturellen
Möglichkeiten Anfang der 70er Jahre in der DDR beträchtlich. Gemessen
am Wünschbaren mochten die Veränderungen gering erscheinen. Verglichen
mit den Zuständen vorher war die Verbesserung der sozialen Lage und des
kulturellen Klimas unübersehbar. Allerdings, politische oder
institutionelle Garantien für einen dauerhaft größeren Freiraum wurden
nicht gegeben. Kein Wunder auch, daß eine Politik, die jene Tendenzen
begünstigte sie zugleich beargwöhnte. - Wir wissen, wie das ausging:
Die Grenzen der Toleranz sind 1976/77 mit den Namen Reiner Kunze, Wolf
Biermann, Rudolf Bahro oder Entwicklungen wie den Szenen oder dem Punk
umschrieben. Es begann eine neuerliche Aussteiger- und Ausreisebewegung
aus der DDR.
2. Die X. Weltfestspiele - Fakten und Zahlen
Die Ambivalenz des Festivals in Berlin - Ost 1973 ist schon mehrfach
beschrieben worden: Einerseits ist von "Propagandashow",
"Massenspektakel", "Schaufensterveranstaltung" und der DDR als
"Potemkinsches Dorf" die Rede, andererseits von Offenheit der
Diskussionen, der Fülle internationaler Begegnungen, von jugendlicher
Ausgelassenheit: ein Hauch von "Woodstock" eben. (Mählert, S.195; Ohse,
S.339; Wolle, S.163; Rossow, S.251ff.; Kirchenwitz, S.63)
Auch die offizielle Zielstellung, die die SED - Führung ausgab, betonte
einen doppelten Aspekt. Schon bei der Konstituierung des
Festivalkomitees der DDR im Februar 72 sagte Honecker: "Die X.
Weltfestspiele der Jugend und Studenten werden ein Fest der
Lebensfreude, ein Ereignis von großer politischer Bedeutung sein."
(Honecker, Bd.2, S.448) Stets wurden beide Aspekte betont. Und es ist
keineswegs so, daß diese politische Bedeutung auf reine Propaganda oder
Ideologie reduziert werden kann.
Die von allen Teilnehmern akzeptierte Losung der X. Weltfestspiele
lautete: "Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und
Freundschaft". Und wenn wir uns vor Augen führen, mit welcher
Begeisterung Delegationen empfangen wurden, etwa aus Vietnam, in dem
gerade der Krieg zu Ende ging, oder aus Chile, das wenige Monate später
dem Putsch von Pinochet zum Opfer fiel, so wird verständlich, daß es
tatsächlich einen friedliebenden und antiimperialistischen Geist gab
und gibt, der die Jugend der Welt damals einte und der sie auch heute
gegen den Krieg demonstrieren läßt.
Das Prinzip der Freundschaft über alle Kontinente hinweg, symbolisiert
in der Festivalblume, sollte nicht eine utopische Idee bleiben, sondern
mit dem Ende des Kalten Krieges Erfüllung finden. Dies zeigte auch das
Festival des Politischen Liedes, über das Sarah Jost sprechen wird.
Freilich ist nicht zu leugnen, daß jene Idee einer freundlichen Welt
damals ebenso mit Illusionen behaftet war, wie die Hoffnung der Jugend
auf Liberalisierung in der DDR. Aber darüber werden uns Oliver Falk und
Beate Krenz aufklären.
Gleichwohl zeigten diese X. Weltfestspiele, daß die Jugend der DDR zwar
zu Großveranstaltungen noch zu mobilisieren war, ansonsten sich aber an
der westlichen Massenkultur orientierte. Während die Politik noch auf
ideologische Gleichschaltung zielte, übernahm die Sub- und Gegenkultur
schon die Funktion authentischer Wahrnehmung. "Ketten werden knapper"
von Gerulf Pannach und Klaus Renft wurde so zur inoffiziellen
Festivalhymne.
Daß man die Feste feiern muß, wie sie fallen, hat Honecker zwar mit
"Fest der Lebensfreude" nicht gemeint. Er dachte wohl eher konservativ
an "Brot und Spiele" fürs Volk und jene manifeste
Repräsentationskultur, wie sie alljährlich zum 1. Mai und 7. Oktober
inszeniert wurde. Aber das Leben in der DDR war nicht gerade arm an
Feiern und Festen. Zu ihrem Ende soll es jährlich über 5.000 Feste
zwischen Ostsee und Thüringer Wald gegeben haben. Denn die 'Lust auf
Feste' traf sich mit der "parteioffiziellen Legitimierung populärer
Formen geselliger Unterhaltung", ja mit einer geradezu als
"klassenneutral" verstandenen Unterhaltungskultur. (Mohrmann, S.424;
Rossade, S.141) Wie sehr sich die Bilder gleichen, wird Svea Bräunert
beim Vergleich des Karnevals der Nationen 1973 mit dem Karneval der
Kulturen 2003 demonstrieren.
Über Details und Emotionen des Festivals werden wir noch viel erfahren.
Ich will einige nüchterne Zahlen nennen, die Dimensionen umreißen, was
hier zu inszenieren und zu installieren war. Und das ohne Zwischenfälle
und zur Zufriedenheit der Teilnehmer, denn diesmal klappte die
Organisation.
Der Abschlußbericht (vgl. zum folg. SAPMO; Honecker, Leben, S.332) nennt 1.542 Veranstaltungen mit ca. 7,4 Mill. Besuchern.
Aufgeschlüsselt heißt das: Ca. 1.200 Kulturveranstaltungen mit 174
bekannten Künstlern aus 22 Ländern hatten 5,2 Mill. Besucher.
Zu den 210 Veranstaltungen des politischen Programms kamen 1,8 Mill.
in- und ausländische Teilnehmer, zu 36 Meetings der Solidarität 354.800
Teilnehmer, zu 157 Konferenzen und Seminaren 20.200 Teilnehmer, die
internationalen Zentren der Solidarität wurden von 380.000 Menschen
aufgesucht.
Die 137 Sportveranstaltungen hatten 437.000 Zuschauer. Am Sportprogramm
nahmen 685 Sportler aus 20 Ländern teil. Zu den 8 internationalen
Volkssportzentren kamen über 150.000 Festivalteilnehmer.
Darüber hinaus gab ein Pionierprogramm für Kinder und Jugendliche mit
46 Kinderdelegationen waren aus 44 Ländern. 50.000 Mädchen und Jungen
nahmen am internationalen Kinderfest teil.
Für die ausländischen Festivalteilnehmer wurden ca. 1.000
Freundschaftstreffen mit 30.000 Teilnehmern, 135 Fahrten zu Mahn- und
Gedenkstätten mit ca. 5.000 Teilnehmern und 230 Exkursionen in die
Bezirke der DDR mit 8.700 Teilnehmern organisiert.
Insgesamt nahmen an den X. Weltfestspielen 25.646 ausländische Gäste
teil, darunter 19.136 Festivaldelegierte. Sie repräsentierten 1.700
nationale und internationale Organisationen aus 140 Ländern. In dieser
Hinsicht mag "Weltoffenheit" tatsächlich zutreffen.
Der Bericht spricht von 288.000 Festivaldelegierten aus der DDR. An
anderer Stelle wird die Zahl von 500.000 FDJ'lern und Jungen Pionieren
genannt, die am Festival teilnahmen. (Honecker, Bd.2, S.332) Über die
Weltsicht bzw. die Halb-Weltsicht dieser "Heldinnen, Bands &
Klassenbrüder" wird uns Franziska Hornbogen informieren.
Bleibt die Frage: Warum beschäftigt uns die Erinnerung daran?
3.Vom Verlust und Gewinn der Erinnerung
Heute reibt sich manch einer verwundert die Augen und schüttelt bedenklich den Kopf:
- Jana Hensels "Zonenkinder" hat inzwischen eine Auflage von 130 000.
- Wolfgang Beckers "Good bye, Lenin" sahen bisher über 5 1/2 Mill. Zuschauer.
- Der DDR - Geschmack ist auch in den "Kaufhallen" von Kaiser's oder
Netto angekommen. - Ich selbst stehe auf Pflaumenmus aus Mühlhausen,
Ziegenkäse aus Altenburg und Senfgurken aus dem Spreewald, Thüringer
Rostbratwürste freilich nur in meiner Heimatstadt.
- Die Massine Productions GmbH plant in den Rathenau-Hallen in Berlin-Oberschöneweide einen "Funpark": Alltag in der DDR.
- Bei Berthelsmann wird "Das dicke DDR-Buch" vertrieben, als Sach- und Lachbuch in einem.
- RTL plant für den Herbst eine "DDR - Show" mit Katarina Witt u.a. Prominenten.
- Und hier: "Helden, Bands & Klassenschwestern" !
Da moniert das Flaggschiff gehobener (DDR-) Unterhaltung "Das Magazin":
"Der Osten ist nur noch Mode und Unterhaltung, die DDR hat ihre
Beißringfunktion für Freund und Feind verloren." (Meier, S.14)
Was geht hier vor? - Natürlich hat die Kulturindustrie einen
gewinnträchtigen Markt entdeckt. Das ist ihr nicht zu verdenken, so ist
sie nun einmal. Und selbstverständlich haben gute Ostprodukte ihren
Markt verdient! Darauf will ich gar nicht hinaus. Es geht um eine
allgemeine Erinnerungskultur, es geht um einen Wandel der Erinnerung.
Lange Zeit standen sich die professionellen Geschichtsdeutungen der
DDR-Vergangenheit und die erinnerten Alltagserfahrungen der
Ostdeutschen ziemlich unvermittelt gegenüber. Die Ostdeutschen litten
an einem "Mangel an Traditionssicherheit" (Mühlberg, S.218), sie
fühlten sich geschichtlich ausgegrenzt, ihre vergangene Lebenswelt war
ohne Wert geworden.
Dietrich Mühlberg hat den "langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR" klug und einfühlsam beschrieben:
Während sich in der ersten Phase - 1990 - 1992 - im Überschwang der
gewonnenen Freiheit die Ostdeutschen leichtsinnig von allem trennten,
was nun "historischer Ballast" geworden war: Bibliotheken flogen in die
Container, Straßen und Plätze wurden umbenannt, Denkmäler geschleift
und die Super-Illu, das neue Blatt für die Ostdeutschen, setzte auf den
Titel: "Vor der Wende mußte Meike aus Berlin die häßliche blaue FDJ -
Bluse anziehen. Heute trägt sie am liebsten Reizwäsche. Doch der Wandel
ist nicht nur äußerlich. Die neue Freiheit ist wie ein Ventil für die
Seele." (Mühlberg, S.231)
Setzte in der zweiten Phase - 1993 - 1996 - eine "Ernüchterung" ein und
es wurde nach Perspektiven gesucht, um den eigenen Erinnerungen wieder
Raum zu geben. In dieser Zeit finden sich auch "erste Signale eines
neuen Selbstbewußtseins" der Ostdeutschen, von den Westdeutschen
zumeist als "Nostalgie" abgewertet. Und wenn über 80% der Ostdeutschen
für die "gute Idee Sozialismus" votierten - nach der bekannten Umfragen
- Frage, ob der Sozialismus im Grunde eine gute Idee war, die nur
schlecht ausgeführt wurde -, so drückte sich darin nicht ein Festhalten
an der Idee, sondern vor allem eine "Verteidigung der in Mißkredit
geratenen eigenen Vergangenheit" aus. (Mühlberg,S.233)
Die dritte Phase - seit 1996 - ist dadurch gekennzeichnet, "daß sich
der Umgang mit der DDR-Geschichte zu differenzieren begann und nun
unterschiedliche Deutungsangebote für die ostdeutsche Vergangenheit in
Umlauf kamen." Mühlberg stellt eine "Widerständigkeit gegen alle
offiziellen Geschichts-Deutungen" fest. (Mühlberg, S.243) Und an
Beispielen, wie Thomas Brussigs Roman "Helden wie wir" oder Leander
Haußmanns Film "Sonnenallee", begann sich dann, ein
außerwissenschaftlicher Streit über den zulässigen Umgang mit der
DDR-Geschichte zu entzünden.
Es ist ein Streit darüber, ob mit pikaresken Zügen und Mitteln des
Verlachens, ob mit Satire und Ironie Vergangenheit aufgearbeitet werden
kann. Hier soll nicht "Ostalgie" gepflegt und kein DDR - Disneyland
aufgebaut werden. Es werden Erfahrungen des Scheiterns artikuliert,
eigene Traditionen neu erfunden und mythische Gegenwelten konstruiert,
um sich der schwankenden Identität in der Gegenwart zu versichern. Auch
die Ostdeutschen sollen und wollen keine Menschen ohne Schatten, sprich
ohne Vergangenheit, sein!
Hier und heute, am Beispiel der Weltfestspiele, wird es möglich sein,
sich auf ganz unterschiedlichen Wegen mit dieser Geschichte der DDR
auseinander zu setzen: wissenschaftliche Vorträge, Diskussionen,
Gespräche mit Zeitzeugen, Ausstellungen, Ortsbegehungen, Konzerte und
Filme. Gemeinsamer Nenner allerdings sollte sein: "die ostdeutsche
Vergangenheit ganz selbstverständlich in die deutsche Geschichte
einzuordnen". (Mühlberg, S.251)
Ich kann es auch anders sagen:
Wir wollen die DDR nicht wiederhaben,
aber wir lassen Sie uns auch nicht nehmen!
Literatur
Bender, Peter: Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, München 1996.
Breßlein, Erwin: Drusba! Freundschaft! Von der Kommunistischen
Jugendinternationale zu den Weltjugendfestspielen, Frankfurt a. M. 1973.
Ders. Die Weltjugend und der Dogmatismus. Geschichte und Problematik der Weltjugendfestspiele. In: APZ, B 22/73, 2. Juni 1973.
Honecker, Erich: Aus meinem Leben, Berlin 1980.
Honecker, Erich: Reden und Aufsätze, Bd.1, Berlin 1975.
Honecker, Erich: Reden und Aufsätze, Bd.2, Berlin 1975.
Ihme-Tuchel, Beate: Die DDR, Darmstadt 2002.
Jarausch, Konrad H.: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur
begrifflichen Einordnung der DDR. In: APZ, B 20/98, 8.Mai 1998.
Kirchenwitz, Lutz: Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker und Kaisergeburtstagssänger, Berlin 1993.
Mählert, Ulrich / Stephan, Gerd-Rüdiger: Blaue Hemden - Rote Fahnen. Die Geschichte der FDJ, Opladen 1996.
Meier, André: Ach, wie niedlich. In: Das Magazin, Juni 2003.
Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von
Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a. M. 1992.
Mohrmann, Ute: Lust auf Feste. Zur Festkultur in der DDR. In: Evemarie
Badstübner (Hg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000.
Mühlberg, Dietrich: Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR. In:
Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis.
Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/New York
2002.
Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961-1974), Berlin 2003.
Pollack, Detlef: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder:
War die DDR-Gesellschaft homogen? In: Geschichte und Gesellschaft,
1/1998.
Rossade, Werner: Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus, Berlin 1997.
Rossow, Ina: "Rote Ohren, roter Mohn, sommerheiße Diskussionen". Die X.
Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 als Möglichkeit
vielfältiger Begegnungen. In: Fortschritt, Form und Eigensinn.
Erkundungen zum Alltag in der DDR, Berlin 1999.
Sabrow, Martin: Die DDR im nationalen Gedächtnis. In: Geschichte ist
immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart München 2001.
SAPMO-Barch, DY 24/7705: Abschlußbericht vom 7.8.1973.
Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998.
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