KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum 


ThemaKulturation 2013
Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft
Dietrich Mühlberg
Zur Geschichte ostdeutscher Kulturwissenschaft -
Ein Interview
Vorbemerkung

1994 haben mich zwei junge Kulturwissenschaftler aus Lüneburg - Bettina Buschow und Carsten Winter - für einen Sammelband befragt, mit dem sie die deutschen kulturwissenschaftlichen Studiengänge vorstellten. Der dann von Carsten Winter 1996 herausgegebene Band "Kulturwissenschaft. Perspektiven, Erfahrungen, Beobachtungen" gibt Einblicke in die Studiensituation an 14 Universitäten und Hochschulen. Im Zentrum (S. 209 - 293) das eindrucksvolle Ergebnis einer umfänglichen Befragung von 814 Studierenden von 6 ausgewählten Studiengängen - inzwischen ein kulturgeschichtliches Dokument. Möglich wurde diese Studie, weil Studierende aus Berlin, Bremen und Lüneburg 1991 eine "Studentische Kontaktgruppe Kulturwissenschaftlicher Studiengänge" (SKKS) gegründet hatten, die als Auftraggeber und Organisator funktionierte. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass wir über ein materialreiches Abbild der Ausbildungssituation vor gut zwei Jahrzehnten verfügen, das über die Erwartungen der Studierenden ebenso informiert wie über die der lehrenden Wissenschaftler. Dazu gehört auch das zeitbedingte Bild von der ostdeutschen Kulturwissenschaft, das ich 1994 zeichnete, als ich den Aktivisten der SKKS Auskunft über die Entstehung, die Geschichte und die Perspektive des Studiengangs Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität gegeben habe. Hier der Text nach dem von Carsten Winter herausgegeben Band (S. 134-151).


Bettina Buschow und Carsten Winter:

Dietrich Mühlberg, der zur ersten Dozentengeneration der Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin zählt, wurde um Auskunft über die Kulturwissenschaft in der DDR gebeten. Hier wurde Anfang der 1960er Jahre, lange bevor in Westdeutschland über kulturwissenschaftliche Studiengänge nachgedacht wurde, eine Idee geboren, die heute an vielen Universitäten aufgegriffen wird. Im folgenden wird der Frage nachgegangen, wie es zur Gründung des Studienganges in der DDR gekommen ist, wie er sich in den folgenden Jahrzehnten entwickelt hat und von welchen politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Ereignissen dies begleitet war.


Wie ist es zur Gründung des Studienganges gekommen?

Unmittelbar war das ein Verwaltungsakt. Vor dem Wintersemester 1963 hat das zuständige Staatssekretariat die Philosophischen Institute der Universitäten in Leipzig und Berlin beauftragt, an ihren Abteilungen für Ästhetik den neuen Studiengang zu entwickeln. Später entstanden aus diesen Abteilungen selbständige Institute, schließlich auch ein eigenes für Kulturwissenschaft. Die wissenschaftlichen Wurzeln liegen in der Philosophie, konkreter in der Ästhetik.

Die Sache war auch schon längere Zeit diskutiert worden. Den Hintergrund bildeten die Debatten, die einige Zeit nach Stalins Tod über die weitere Gesellschaftsstrategie geführt worden sind. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hat sich dann auch die SED festgelegt. 1958 wurde auf die tiefgreifenden sozialen Veränderungen in Ostdeutschland reagiert, durch die eine völlig neue kulturelle Situation entstanden war. Die alte Oberschicht, weite Kreise der Mittelschicht und der größere Teil der Bildungselite hatten die DDR verlassen, teils schon bei der Flucht vor der Roten Armee, teils bei den Säuberungen und Enteignungen in der SBZ, und danach hatte die Abwanderung noch kein Ende. In allen gesellschaftlichen Bereichen waren inzwischen die Führungspositionen von Leuten aus den unteren sozialen Schichten besetzt worden. Ein massenhafter Aufstieg, der in dieser Form durchaus einmalig war und bei dem man wohl von einer kulturellen Revolution sprechen kann: die ganze Oberschicht und die Funktionseliten wurden durch Arbeiter, Bauern und kleine Angestellte ersetzt, die bis dahin nicht nur sozial benachteiligt gewesen waren, sondern auch keine eigene (Gruppen)Kultur auszubilden vermocht hatten, die der Hegemonialkultur der herrschenden Eliten ebenbürtig gewesen wäre.

Dieser Wandel war nicht unproblematisch und lieferte Gegnern wie Mitwirkenden viel Stoff für Heiterkeit. Doch gelacht wurde in der Zeit des Kalten Krieges wenig, die eine Seite verhöhnte die dummen Funktionäre und die anmaßenden „sowjethörigen Bonzen“, die andere Seite beharrte verbissen auf ihrem Anspruch und sah in jedem Mißlingen die Hand imperialistischer Agenten. Unter solchen Bedingungen konnte es auch zu keiner wirklichen Analyse der kulturellen Defizite dieser neu strukturierten Gesellschaft kommen. Die dabei entwickelte Urform der Abwehr sollte bis ans Ende der DDR wirksam bleiben: „Wir lassen uns doch vom Gegner keine Fehlerdiskussion aufzwingen!“ Das Pendant zu diesem kulturellen Muster hieß: „nach vorn denken“, konstruktiv diskutieren, das Neue erkennen.

Das positive Programm zur Überwindung der schwierigen kulturellen Situation wurde dann in Anlehnung an ein sowjetisches Modell die „sozialistische Kulturrevolution“ genannt. In der damaligen Sprache hieß das: nachdem Arbeiter und Bauern den Staat und die Wirtschaft führen, müssen sie jetzt auch die Höhen der Kultur erstürmen. Gedacht war das als eine gewaltige Kampagne der „kulturellen Massenarbeit“, durch die alle zu „gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten“ in einer (auf die Klassengesellschaft nun folgenden) „sozialistischen Menschengemeinschaft“ werden sollten. Da so ein gewaltiges kulturelles Ziel die Mobilisierung aller Kräfte (des Staates, der politischen Organisationen, der Gewerkschaften, Kommunen, Betriebe) erforderte und keine der traditionellen Kulturspezialisten (Pädagogen, Propagandisten, Pastoren, Künstler, Kunstwissenschaftler) für geeignet angesehen wurden, solche Vorgänge richtig zu lenken und zu verwalten, kam die Idee auf, für Kulturpolitik und Kulturarbeit Spezialisten an Universitäten auszubilden. Da zugleich die Aufwendungen für kulturelle Zwecke beträchtlich erhöht wurden, war damit auch die Vorstellung verbunden, diesen Vorgang und die Mittel berechenbar zu machen, sie so effektiv wie möglich einzusetzen und die Leistungsfähigkeit der kulturellen Einrichtungen quantitativ wie qualitativ zu steigern. Auch mit dieser Erwartung wurde 1960 auf einer Kulturkonferenz der SED über die Einrichtung kulturwissenschaftlicher Studiengänge gesprochen, die dann von der Regierung beschlossen worden ist.

Was nun „Kulturwissenschaft“ sein könnte, davon bestand nur eine ungefähre Ahnung: irgendwie eine Melange von Philosophie, Pädagogik, Kunstwissenschaften, Ethnologie und vor allem Marxismus-Leninismus. Schaut man näher hin, kann man bei Ulbricht, vor allem aber bei Kurella (der auf dieser Konferenz referierte und die Notwendigkeit der Kulturwissenschaft begründete), den Einfluß kulturphilosophischer Ideen deutscher Sozialisten, Monisten und Freidenker der Jahrhundertwende nicht übersehen. Vor allem die volksphilosophischen Schriften von Müller-Lyer dürften hier nachgewirkt haben. Er hatte versucht, Soziologie als „allgemeine Kulturwissenschaft“ zu begründen und in seinen „Phasen der Kultur“ die „Richtungslinien des Fortschritts“ offenbar ebenso einleuchtend dargestellt, wie er die Logik und die Gesetze der Kultur plausibel erläutert hatte. Von der Natur- zur „Kulturbeherrschung“ sei fortzuschreiten: die Vernunft wird durch die Kulturwissenschaft zu einer sozialen Macht, wenn sie sich anschickt, eine Menschengemeinschaft herzustellen. Von solchen geistes- und ideologiegeschichtlichen Ahnen und Stichwortgebern hatten wir damals keine Ahnung, als wir Bausteine für eine Kulturtheorie zu sammeln begannen. Da das damals am Philosophischen Institut geschah, war damit allerdings eine verwandte Richtung vorgegeben.


Wie kamen die ersten Studierenden dazu, in diesem neuen Studienangebot innerhalb der Philosophie zu studieren?

Unter den Philosophiestudenten der Universitäten wurde gefragt, wer denn für das neue Fach Interesse hätte. So kamen die ersten 20 Studierenden zusammen, fast alle hatten künstlerische Interessen oder sahen in dieser Spezialisierung eine Chance, sich dem Beziehungsfeld Individuum-Gesellschaft intensiver zu widmen.

Ich war damals Doktorand der Philosophie. Der neue Studiengang reizte mich, weil ich einerseits durch kunst- und literaturhistorische Studien vorgeprägt war, mich aber zugleich stark für die sozialen und kulturellen Kontexte aller Formen von Kreativität und Produktivität interessierte. So habe ich mit meiner Promotionsschrift versucht, Ansätze für ein marxistisches Konzept der Kulturgeschichte zu entwickeln - noch ohne Kenntnis der „Frankfurter Schule“, von Mentalitäts- und Sozialgeschichte war noch nichts zugänglich, die damals in Westdeutschland maßgebenden Autoritäten (Toynbee, Spengler, A. Weber, Freyer, Gehlen usw.) erwiesen sich für diesen Zweck als wenig brauchbar.


Welchen Stellenwert und welche Funktion hatte die Ästhetik innerhalb der Philosophie und in dem neu gegründeten Studiengang Kulturwissenschaft?

Im damaligen Gesellschaftskonzept der DDR wurde vom vermehrten Umgang mit den Künsten beträchtliche Wirkungen erwartet. Diese utopische Hoffnung ist den gebildeten Deutschen seit Schiller ein Axiom, die ästhetische Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende hat sie nach allen Seiten elaboriert und die kulturbeflissenen Köpfe in der Arbeiterbewegung haben sie begeistert aufgenommen. Seitdem war völlig klar, daß der Sozialismus nicht allein die Lösung der „Messer-und-Gabel-Frage“ ist, sondern als eine Kulturbewegung geradewegs auf einen vertrauten Umgang mit den Künsten zusteuere.

Mit solcher Überzeugung mußte die Ästhetik als Schlüsselwissenschaft erscheinen. Sie wurde darum gefördert und entwickelte sich zunächst als eine stark an Hegel (und seinen russischen Schülern) orientierte allgemeine Kunstphilosophie. Freilich von Anfang an mit der Tendenz, den Kunstbereich zu überschreiten und ästhetisches Verhalten überhaupt zum Gegenstande zu machen. Ähnlich wurde Kulturgeschichte anfänglich von vielen Beteiligten als eine allgemeine Geschichte der Künste verstanden (wie sie uns in Hausers “Sozialgeschichte der Kunst und Literatur” seit kurzem vorlag), jedoch auch hier (in Hausers Sinne) eher auf den sozialen Kontext, auf die “Kunstverhältnisse” abgehoben. Das wies in eine andere Richtung, und so haben wir an der Universität versucht, anhand einiger historisch-materialistischer Prämissen eine Kulturtheorie zu entwickeln, die dann auch für Untersuchungen kultureller Vorgänge und Zustände operationalisierbar sein sollte.

Bei der Beurteilung dieser Versuche muß man die damalige Wissenschaftssituation bedenken. Im Westen verlor das vorherrschende konservativ-elitäre Kulturverständnis erst ganz langsam an Einfluß, die spektakulären Auftritte der Frankfurter Schule standen noch bevor, Sozialgeschichte war noch kein Begriff, von den französischen und englischen Historikern erreichte uns nichts. An der eigenen Universität fehlten viele Voraussetzungen für ein solches Unterfangen: die Geschichtswissenschaft war auf die politischen Klassenkämpfe fixiert, empirische Sozialforschung fehlte völlig, die Psychologie wurde als Naturwissenschaft oder als pädagogisches Hilfsmittel verstanden. So hielten wir uns an die (gerade publizierten) Frühschriften von Marx, versuchten seine Einsichten in die Zusammenhänge von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zuständen zu verwerten und übten uns im Auslegen seiner humanistischen Botschaften. In diesen Annäherungen an eine Kulturwissenschaft lag durchaus eine innovative Chance. Sie wurde übrigens recht unterschiedlich genutzt, denn neben den (übrigens auch verschiedenartigen) Universitätsinstituten hatten bald auch die Akademie für Gesellschaftswissenschaften (der SED), die Bildungseinrichtungen der Parteien und Organisationen, die Bezirkskulturakademien und einige Kunsthochschulen eigene Abteilungen für “Kulturtheorie“. Die nicht nur politisch bedingten, sondern auch durch das Wissenschaftsverständnis verursachten Differerenzen zwischen ihnen wären ein Thema für sich.


Was waren die bevorzugten Gegenstände dieser entstehenden Kulturwissenschaft?

In den Anfangsjahren waren wir an unserem Institut völlig damit beschäftigt, ein kulturtheoretisches System auszuarbeiten, das die Grundthesen der damaligen philosophischen Gesellschaftstheorie berücksichtigte, zugleich aber bestimmte Gedanken von Karl Marx nutzte, um dem vereinfachenden ökonomischen Determinismus zu entgehen, der mit dem Schema von Basis und Überbau verbunden war. Wir bauten unsere Kulturtheorie von einer Subjekt-Objekt-Dialektik her auf und entwickelten Modelle, nach denen sich die Vermittlungen zwischen den gesellschaftlichen Makrostrukturen und den kulturellen Phänomenen auffinden ließen. Zum Problemkreis dieser "Vermittlungen" gehörte auch die Sozialisation des einzelnen, die Ausbildung individueller Subjektivität als biographischer und als kulturgeschichtlicher Vorgang; bei uns hieß das längere Zeit „Kulturtheorie der Persönlichkeit“ und wurde als ein eigener Lehr- und Forschungsbereich entwickelt. Deutlich haben wir uns um eine (eigentlich selbstverständliche) Unterscheidung bemüht. Nämlich der zwischen Kulturauffassung, Kulturpolitik und Kulturarbeit einerseits und dem tatsächlichen Alltagsleben der Menschen , ihren Lebensformen und „kulturellen Praxen“ andererseits. Das wurden selbständige Lehr-und Untersuchungsbereiche - ganz im Unterschied zum gängigen Verfahren von Kulturarbeit und Kulturpolitik, Absicht und Wirkung, Ziel und Resultat zu vermengen. Selbstverständlich haben wir dann auch unsere Modelle in Detailstudien erprobt. Schließlich versuchten wir danach die Kulturgeschichte einer sozialen Makrogruppe anhand vorhandener Daten zu rekonstruieren und darzustellen. Damit konnten wir etwas von dem abstreifen, was man im Westen später verächtlich (als die Phase der Kapital-Seminare vorbei war) den "Ableitungsmarxismus" genannt hat.

So gelang u.a. mit dem „Proletariats-Projekt“ Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre der Anschluß an den Stand der einschlägigen Gebiete der Geschichtsforschung und der Ethnographie. In den Übersichtsdarstellungen („Arbeiterleben um 1900“, „Proletariat. Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert“) wie in Studien zu Bereichen der Arbeiterkultur (Familie, Freizeitverhalten, Umgang mit Genußmitteln, Kulturarbeit und Kulturpolitik, Literaturverhältnis) haben wir versucht, den Forschungsstand zu resümieren, die von uns aufgeworfenen Fragen in die wissenschaftliche Diskussion zu bringen und in der Lehre ein Verständnis für Kulturen arbeitender Menschen der Moderne zu fördern. Allerdings haben wir unser „eigentliches Ziel“ nicht erreicht. Die Übertragung dieser kulturhistorischen Betrachtungsweise auf die aktuelle Gesellschaft ist uns nicht gelungen. Als wir 1988 zu einer vergleichenden Untersuchung kultureller Profile west- und ostdeutscher Arbeiter ansetzten (im Rahmen des deutsch-deutschen Wissenschaftsabkommens), wurde das schon von den Aufregungen überlagert, die mit den inneren Veränderungen der DDR zusammenhingen und uns auf aktuelle Themen lenkten.

Rückblickend läßt sich aber sagen, daß sich die ostdeutsche Kulturwissenschaft Mitte der 70er Jahre von der Fixierung auf die nur theoretischen Kontroversen löste, praxisorientierter arbeitete und sich im Anschluß an internationale Trends der Kulturpädagogik, Freizeitpädagogik und entsprechender Richtungen der Soziologie auszudifferenzieren begann. Freilich muß man bedenken, daß dies ein sehr kleines Grüppchen war: anfangs füfn „wissenschaftliche Mitarbeiter“, später vier Hochschullehrer und sieben wissenschaftliche (Ober)Assistenten.


Welche gesellschaftspolitischen Zielsetzungen waren mit diesen wissenschaftlichen Bemühungen verbunden?

Ich unterstelle einmal, daß alle, die in unserem Felde forschten, lehrten und studierten, der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft anhingen, aber doch sehr unterschiedliche Auffassungen von unmittelbaren gesellschaftspolitischen Zielsetzungen hatten. Dies schon, weil für sie die kulturelle Perspektive auf die Vorgänge entscheidend war und es keineswegs klar war, worin denn das „kulturelle Profil“ sozialistischer Gesellschaften bestehen könnte und sollte. Darüber gingen die Meinungen auseinander. Weil wir ja für die Praxis ausbilden sollten (und auch wollten) und alle unsere Studierenden über praktische Erfahrungen mit dem Kulturleben verfügten, war es für uns schon ein ständiges Problem, in welche Richtung die kulturellen Trends gingen. In der ersten Phase mußten wir uns fragen, ob es überhaupt richtig sein konnte, sich an den humanistischen Werten bürgerlicher Kultur des 19. Jahrhunderts zu orientieren und zugleich die traditionelle Volkskultur wiederbeleben zu wollen, wie es schon die Sozialreformer der Jahrhundertwende empfohlen hatten. Was die folkloristischen Neigungen der politischen Führung betrifft, so war das ganz klar: Arbeiter des 20. Jahrhunderts waren (im Unterschied zu jugendbewegten Jungbürgern) nicht dazu zu bewegen, die Laute zu schlagen und den Tanz um die Linde zu proben - wie es einige Traditionen auch der sozialistischen Jugendbewegung nahelegten und wie es unter sowjetischem Einfluß tatsächlich versucht worden ist. In dieser Lage konnten von uns keine Vorschläge für neue Formen der Kulturarbeit kommen. Anders war das bei der Absicht, das Volk an die „Schätze der Hochkultur“ heranzuführen und so auch die Künste aus einer Angelegenheit von Spezialisten zu einer Betätigungsmöglichkeit für Menschen aller sozialen Gruppen werden zu lassen.

Gegen dieses Programm zur Demokratisierung bürgerlicher Kultur war zunächst schon deshalb nichts zu sagen, weil man sich sonst den Vorwurf einhandelte, Anhänger des Proletkult zu sein. Zwar wußte niemand so genau, welche Ziele Bogdanow mit seiner Organisation „Proletarische Kultur“ einst verfolgt hatte, es „wußte“ auch niemand mehr, daß er Stalin zum Opfer gefallen war. „Proletkult“ war einfach das Synonym für Verherrlichung der Unkultur, für das Konstruieren einer künstlichen proletarischen Kultur, für Ablehnung der hohen Werte der Menschheitskultur, für die Negierung der sozialistischen Kulturrevolution usw. Also blieb es zunächst bei der alten Volksbühnen-Losung „Die Kunst dem Volke“, die so gar nicht spezifisch für die DDR war. Ähnliche Gedanken wurden zur selben Zeit in westeuropäischen Ländern verfochten, und sogar in Westdeutschland ging die Vorherrschaft elitärer Kulturideen langsam zu Ende, denken Sie nur an die 1963 von Georg Picht eingeleitete Debatte über die "Bildungskatastrophe" und ihre strukturwandelnden Folgen.


Aber wie im Westen dürfte das Demokratisierungsprogramm ja wohl nicht ausgesehen haben?

Das stimmt, denn schon der gesellschaftliche Kontext dieses Demokratisierungsprogramms war völlig anders. Hier war es ein von vom Staat, also „von oben“ verlangtes Muß, im Westen - denken wir an die Ruhrfestspiele und ihre programmatische Idee - war es eine dem elitären Kunstbetrieb „von unten“ abzutrotzende Forderung. Und es war im Osten eine „gesellschaftliche Notwendigkeit“. Denn durch das Verdrängen der "kulturtragenden" bürgerlichen Mittelschichten waren unzweifelhaft kulturelle Verluste entstanden. Wenn sie durch eine Kultur- und Bildungsoffensive wettgemacht werden sollten, so mußte traditionelles bürgerliches Kulturgut dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen. Mit der medialen Verbreitung westlicher Jugendkultur seit den 50ern geriet solche altmodische Programmatik zwar in wachsende Distanz zu jugendlichen Erwartungen, erzielte auf die Dauer aber doch so etwas wie kollektive Billigung einer spezfisch begriffenen Hochkultur. Sie war bei den neuen Funktionseliten, die ja in nur einer Generationsspanne aus den unteren Schichten rekrutiert worden war, besonders stark und hält bis heute an. Sie figurieren in den soziologischen Stratifikationsmodellen für Ostdeutschland heute als Milieu der „humanistischen Intelligenz“. Selbst wenn zugestanden werden muß, daß ja kaum andere kulturelle Substanz verfügbar war, beruhte das Kulturprogramm dennoch auf einem Irrtum, der nicht für Funktionäre von sozialistischen Parteien spezifisch ist. Es ist die etwas ältere, aus der Aufklärung stammende Idee, nach der ein bestimmtes Kultur- und Bildungsniveau die Voraussetzung für vernünftiges und gemeinschaftsorientiertes soziales Handeln ist. Es gehört zu den Grundüberzeugungen des Bürgertums, daß es den Unterschichten gerade hieran mangelt. Und genau dieses Mangelbewußtsein war der Bildungshintergrund derer, die das Konzept der Kulturrevolution erarbeitet haben: alles Intellektuelle, die die Massen über ihre wahre Bestimmung aufklären wollten. Das gilt für Trotzki und Lenin (auf die das Programm der Kulturrevolution zurückgeht) ebenso wie für führende Politiker und Kulturexperten der SED. Mehr oder weniger waren alle gebildeten Sozialisten davon überzeugt, daß eine neue Gesellschaft nur funktionieren könne, wenn alle Leute subjektiv aufgerüstet werden, wenn ein "Neuer Mensch" heranwachse. Nun schien die soziale Realität gerade diese alte Vorstellung zu bestätigen: die meisten Stellen waren mit Leuten besetzt, deren Bildung diese Position nicht rechtfertigte. Gerade die neue Intelligenz erlebte das alltäglich in ihren großen und kleinen Zusammenstößen mit den Trägern politischer Macht.

So kam es zu einer seltsamen kulturpolitischen Symbiose: Weil es für beide Gruppen auf der Hand lag, daß kulturell etwas getan werden mußte, wurden dann die Kulturkonzepte als Bildungs- und Hebungprogramm angelegt. Und so nimmt es nicht wunder, daß die Künste eine so wichtige Rolle spielten. Sie galten als eine besonders komplexe Aneignungsweise der Wirklichkeit, der wissenschaftlichen in bestimmter Hinsicht sogar noch überlegen. Ihr "Vorteil" (den auch Kulturwissenschaftler immer hervorhoben), wurde darin gesehen, daß sie Anschaulichkeit mit einem hohen Grad an Reflexion verbindet. So sollte der Denkhorizont des Volkes über ein entsprechendes Theater, über Filme und vor allem über die Literatur geweitet werden.


Worin also besteht der „Irrtum des Kulturprogramms“?

Heute eine Binsenweisheit, aber wir bildeten uns vor zwanzig Jahren etwas darauf ein, daß unsere soziologischen und historischen Studien die Erwartungen der „Hebungsprogramme“ nicht bestätigten, sondern andere Konzepte nahelegten. Wir (und selbstverständlich nicht nur wir) kamen zu der Einsicht, daß es nicht so sehr die planbaren Kultur-, Bildungs-, Hebungs- und Erziehungsprogramme oder die politischen Eingriffe in kulturelle Verhältnisse sind, die darüber entscheiden, wie die einzelnen denken, handeln, Bedürfnisse und Sehnsüchte ausbilden und ihr Leben führen. Das alles ist zunächst durch ganz andere Faktoren bedingt, hängt von der Struktur und Qualität aller ihrer Lebensbedingungen ab, von den Verkehrsverhältnissen, der Marktsituation, den kommunikativen Strukturen, vom Profil des Mileus usw. Das ist nur scheinbar trivial, denn der Irrtum, daß sich ein wie auch immer geartetes Denken und Handeln über ein Hebungs-, über ein Bildungs- oder Kulturpropgramm herstellen oder anregen läßt, ist unter Gebildeten verbreitet. Er liegt auch allen emphatischen Konzepten von Kulturarbeit zugrunde. Jedenfalls treibt er jene, die als Kulturbringer kommen und die Armen im Geiste missionieren wollen. Unser kulturelles Konzept (das wir nicht durchsetzen konnten, das aber etliche unserer Absolventen vertreten haben) ging in eine andere Richtung. Nach unserer Auffassung sollte die Aufgabe von Kulturpolitik und Kulturplanung darin bestehen, die verschiedenen sozialen Gruppen dabei zu unterstützen, ihre je eigenen Handlungsräume zu sichern, damit sie von sich aus, selbständig und freiwillig und auch mit ihren Mitteln, das machen können, was ihrer sozialen Lage und ihren Perspektiven entspricht - heute würde man das ein plurales Programm nennen. Darauf haben diese Gruppen in demokratischen Gesellschaften einen legitimen Anspruch, nachdem die Bildungseliten mit großer Selbstverständlichkeit die Hochkultur als Medium für Sinnstiftung, Genuß und Kommunikation besetzt haben. In den Schwierigkeiten, ihn auch geltend zu machen - ähnelten sich die so verschiedenen deutschen Gesellschaften.

Als es dann beim Übergang von Ulbricht zu Honecker zu einer Wende im gesellschaftspolitischen Konzept kam, änderte sich die kulturpolitische Strategie. Wesentlich war daran, daß nun die soziale Differenzierung als ein normales Merkmal der sozialistischen Gesellschaft angesehen wurde und in der Folge darum klassen-, schichten- und gruppenspezifische Differenzierungen in der Lebensweise wie im ganzen kulturellen Habitus akzeptiert werden mußten. Das gab uns Argumente, auf gruppenspezifische Formen von Kulturarbeit zu drängen. Bald danach begannen auch in Westdeutschland die Debatten über eine „Neue Kulturpolitik“. Selbstverständlich haben wir verfolgt, was Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann, Olaf Schwencke damals als Programm der „Soziokultur“ vorgestellt haben und was das Grundsatzpapier der „Kulturpolitischen Gesellschaft“ 1976 an eklatanten kulturpolitischen Defiziten aufzählte. Es war eine Phase, in der Beschäftigung mit Kulturpolitik durchaus spannend war. Um diese Zeit wurden wir übrigens auch erstmals im Westen als mögliche Verbündete wahrgenommen, unser Material nachgefragt und manche wissenschaftliche Beziehung geknüpft. Etliche davon gingen erst nach 1990 in die Brüche, als die Abgrenzungen wie die Allianzen (auch diesmal durch außerwissenschaftliche Faktoren) neu bestimmt worden sind.


Hatte die Arbeit des Instituts für Kulturwissenschaft Auswirkungen auf kulturpolitische Entscheidungen? Wie war es um die wechselseitige Durchdringung von kultureller Wirklichkeit, Wissenschaft und Politik bestellt?

Das Institut und die Studienrichtung verdankten ihre Entstehung einem politischen Auftrag, dessen Einlösung auch immer wieder eingefordert worden ist. Doch die politische Strategie war schwankend, Kulturpolitik setzte bald diese, bald jene Akzente. Es hat mehrere Phasen und Bereiche gegeben, in denen unsere Vorstellungen ganz oder teilweise mit den politischen Zielen übereinstimmten, egal ob vermeintlich oder wirklich. Das hat übrigens „die Obrigkeit“ wenig beeindruckt, offenbar schon deshalb, weil weder im Parteiapparat noch bei den Ministerien jemand die „volle Verantwortung“ für uns hatte - wir lagen irgendwie zwischen Kulturpolitik, Wissenschaftspolitik und Geschichte. Das fiel erst 1986 auf, als wir uns mit eigenen Wortmeldungen in die grundsätzlichen Auseiandersetzungen am kulturwissenschaftlichen Lehrstuhl der parteieigenen Akademie für Gesellschaftswissenschaften einmischten und dabei energisch in die Schranken verwiesen wurden.

Bei dieser gesellschaftlichen Stellung konnte es zu den anfangs von uns erwarteten wissenschaftlichen Begründungen und Berechnungen der verschiedenen Kulturoffensiven nicht kommen. Und viele der im Laufe der Jahre getroffenen kulturpolitischen Entscheidungen der SED Führung korrespondierten überhaupt nicht mit unseren (mehr oder weniger wissenschaftlich zu stützenden) Vorstellungen von einer erstrebenswerten kulturellen Situation. Aber das ist für Wissenschaftler keine ungewöhnliche Konstellation. Auch ist zu bedenken, daß kulturpolitische Entscheidungen das eine sind, ihr Befolgen in der alltäglichen Kulturarbeit von Betrieben, Provinzstädten oder Dörfern etwas anderes - von den schließlichen kulturellen Folgen solcher Unternehmungen ganz zu schweigen. Kulturwissenschaftler haben ja auf alle Beteiligten dieses Zusammenhangs zu achten; die Neigung, sich instrumentell auf die kulturpolitische Seite zu schlagen, war nicht sehr stark. Schon weil unser Einfluß auf kulturpolitische Entscheidungen gering war. Wirksam waren wir wohl nur vermittelt über die Ausbildung der Studierenden und Doktoranden. Das war auch einer der Gründe, warum wir mehr die philosophische und historische Seite des Studiums betonten. Das haben uns einige unserer Studierenden mitunter angekreidet. Später aber zeigte sich, daß sie sich mit den erworbenen Grundkenntnissen und Methoden ganz gut behaupten konnten (und können). Man muß allerdings bedenken, daß wir nie mehr als 200 Studierende hatten (davon die Hälfte im Fernstudium) und sich die Lehrenden um beinahe jeden kümmern konnten. Die Betreuung war recht intensiv - bis hin zur Berufsvermittlung der Absolventen des grundständigen Studiums.

Man könnte meinen, wir hätten uns so weit wie möglich von der Kulturpolitik ferngehalten, doch das trifft es nicht ganz. Mitarbeiter von Universitäten erhielten gar nicht die entsprechenden Informationen, durften (offiziell) auch gar nicht dazu forschen und waren in kulturpolitische Entscheidungsfindungen gar nicht einbezogen. Auch hat das System der Kaderlenkung unsere Studierenden nicht für wirkliche Führungspositionen vorgesehen, dafür waren dann umfangreiche weitere Studien und Prüfungen anderer Art nötig. Von den Absolventen (und ihren Lehrern) wurde erwartet, die richtigen Beschlüsse der Führung „umzusetzen“.


Ist also aus der wissenschaftlichen Begleitung des groß angelegten kulturellen Hebungskonzeptes nichts geworden?

Als ich mein Studium 1954 am Philosophischen Institut begann, wurde uns erzählt, wir sollten später in jedem Dorf und in jeder Gemeinde die Pastoren verdrängen und eine wissenschaftliche Weltanschauung vermitteln, als Propagandisten so etwas wie weltliche Seelenhirten werden. Und so ähnlich war die Idee für das kulturwissenschaftliche Studium, vielleicht haben auch hier der „praktische Theologe“ und der Propagandist der Freidenker Modell gestanden. Es sollten nämlich akademisch gebildete Leute herauskommen, die irgenwo unter den Menschen Kulturarbeit leisten, vergleichbar vielleicht mit dem Programm, das Jahrzehnte später im Westen als Freizeit- oder Kulturpädagogik entwickelt worden ist, nur stärker sozial orientiert und ideologisch festgelegt. In solch einem Beruf sind dann aber nur wenige unserer Absolventen gegangen. Viele wollten das auch gar nicht, und entsprechende Kompetenzen hatten sie bei uns auch gar nicht erwerben können. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen, am Freizeit-Thema. Wir konnten wohl ein Seminar darüber abhalten, wie verschiedene Philosophen Zeit und Raum theoretisch gefaßt haben, wir konnten in Vorlesungen erläutern, welch wichtige kulturgeschichtliche Ereignisse die Entstehung von Muße und von disponibler Zeit waren. Auch die Tendenzen im Zeitverhalten der Moderne, die Ergebnisse der Zeitbudgetuntersuchungen und der Freizeitsoziologie konnten diskutiert werden. Aber mit solchem Wissen vermag niemand irgendwo im Freizeitbereich eine Aktion anzuregen; wir haben keine atheistischen Pastoren, keine Freizeitpädagogen oder Animateurs ausgebildet.


Worin bestand das vermittelte kulturwissenschaftliche Wissen?

Das hat sich im Verlaufe von drei Jahrzehnten beträchtlich verändert und läßt sich nur grob andeuten. Zwei große Stränge wären zu unterscheiden. Einmal war das die philosophische Ästhetik, verstanden als allgemeine Theorie der sinnlichen Erkenntis. Mit der starken Betonung der Geschichte des ästhetischen Denkens war sie Mittler philosophischer und historischer Bildung und ermöglichte den Studierenden, die fast alle ein kunstwissenschaftliches Nebenfach belegt hatten, größere kulturelle Zusammenhänge zu entdecken. Den anderen Strang bildete die Vermittlung kulturtheoretischer Kenntnisse, wobei das Schwergewicht auf den zivilisationsgeschichtlichen Konzepten von Herder bis Elias und auf den Sozialisationstheorien psychologischer und soziologischer Herkunft lag. In den siebziger Jahren kamen eine sozialgeschichtlich wie ethnologisch orientierte Kulturgeschichte der Moderne und kulturvergleichende wie kultursoziologische Erkenntnisse dazu.


Gab es Auseinandersetzungen über den Stellenwert der Ästhetik oder die Tradition des Faches?

Das sind verschiedene Dinge. Einmal lag das Kulturkonzept, dem wir die Gründung der Studienrichtung verdankten, ganz in der Tradition des kunstorientierten bürgerlichen Kulturverständnisses. Das war für die Situation der Kulturwissenschaft - zumal sie dann einem kunstwissenschaftlichen Fachbereich in missionarischer Erwartung zugeordnet worden ist- gewiß nicht unproblematisch. Zugleich aber mußten Ästhetiker und Kulturwissenschaftler in der Ausbildung kooperieren, was tatsächlich nicht ohne Konkurrenzen abging, die zweifellos förderlich waren und den Studierenden Wahlmöglichkeiten eröffneten. In der Anfangssituation war die gemeinsame marxistische philosophische Herkunft von starker Bindung, die wurde schwächer mit der Profilierung der beiden “Disziplinen”. Denn Ästhetiker und Kulturwissenschaftler berufen sich auf unterschiedliche Traditionen und haben unter den Sozial- und Geisteswissenschaftlern jeweils anderere Partner. So haben wir uns um Parität bemüht, keine wissenschaftlich korrekte, aber eine sehr praktische Lösung.

Die war auch nötig, weil über das Curriculum kaum öffentlich zu diskutieren war. Das offiziell verbindliche Studienprogramm war von einer Expertenkommission des Ministeriums für Hoch- und Fachhochschulwesen entworfen, in der wir zwar vertreten waren, aber niemals eine Chance hatten, unsere weitreichenden Vorstellungen durchzusetzen. Auch ohne die Vorgaben „von oben“ wäre das nicht gelungen: jeder der versammelten Experten hatte da sein System kulturwissenschaftlichen Denkens und wollte vor allem seine Vorstellung vom Fach auf diese Weise festschreiben. So hat es uns nicht sonderlich gestört, daß wir die darin vorgesehenen Lehrgebiete beibehalten mußten. Es hing weitgehend von uns ab, was unter diesen Überschriften gemacht wurde. So hieß das Lehrfach “Ästhetik der Moderne” eben "Auseinandersetzung mit imperialistischen Theorien".


Heute wird diskutiert, ob das kulturwissenschaftliche Studium unter dem Mangel an klaren Inhalten leidet. Gab es als Bezugspunkt auch einen Textkanon?

Das hat sich mit den Jahren gewandelt und war anfangs durch die allgemeine Distanzierung von der „bürgerlichen Pseudowissenschaft“ mitgeprägt. Aber auf welche kulturwissenschaftlichen Texte marxistischer Gesinnung sollten wir zurückgreifen? Die gab es kaum. Für uns waren darum zunächst die Texte „der Klassiker“ (also von Marx, Engels und Lenin) maßgeblich, und es gehörte zu unserem Legitimationsnachweis, daß wir zeigten, welch großen Raum kulturelle Probleme in ihrem Werk eingenommen haben. Ich glaube, daß es ein Gewinn war, die frühen Werke von Marx als kulturgeschichtliche Studien zu interpretieren und sie zugleich als historische Texte zu behandeln. Das gilt auch für seine späten ethnologischen Exzerpthefte und deren Adaption durch Engels. Neben den „Grundrisssen“ von Marx standen Herders „Briefe“ und Hegels „Phänomenologie“, also die großen zivilisationsgeschichtlichen Konstruktionen der vorindustriellen Zeit. Wir behandelten sie damals aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, angeleitet durch die (verfügbaren) Texte von Lukàcs und Bloch und die (nicht so einfach zugänglichen) der Frankfurter Schule. Folgerichtig hatten dann in den 70er Jahren die englischen Kulturtheoretiker (also etwa Raymond Williams, das Birminghamer CCCS, E.P. Thompson und Eric Hobsbawm), die französische Mentalitätsgeschichte, Norbert Elias und später die westdeutsche Sozialgeschichte einigen Einfluß auf uns. Freud haben wir kaum beachtet, und auf die Ethnologen sind wir erst durch die Texte von Bourdieu stärker aufmerksam geworden.

Die große Schwierigkeit bestand darin, daß die Klassiker der Moderne und die Texte „westlicher“ Autoren nur den Lehrenden verfügbar waren (und auch das nur bei listenreicher Aktivität). Das änderte sich erst in den 80er Jahren allmählich. Die Vervielfältigungstechnik war primitiv und aufwendig, die Textauszüge, die wir den Studierenden geben konnten, waren darum sehr begrenzt, aber sie wurden wirklich gelesen. Unter diesen Bedingungen spielte die mündliche Weitergabe eine andere Rolle als heute, die Lehrenden waren Vermittler von Wissen, das anders nicht greifbar war. Übrigens war auch die sogenannte „Auseinandersetzungsliteratur“ in diesem Sinne wirksam, etwa wenn in den 60er Jahren Alfred Kurella eine materialistische Anthropologie aus der Auseinandersetzung mit Gehlen und Portmann zu gewinnen versuchte, I. S. Kon die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts kritisch darstellte oder Robert Steigerwald darüber informierte, daß Herbert Marcuse einen (selbstverständlich ungangbaren) „dritten Weg“ vorschlage.

Insgesamt versuchten wir ein Basiswissen dadurch zu sichern, daß wir die Studierenden über alle verfügbaren Texten informierten, die Kultur in komplexere Vorgänge einordnen, die Zusammenhänge mit Makrostrukturen erkennen lassen und die die Wechselbeziehungen mit ökonomischen, politischen und sozialen Zuständen verdeutlichen. Das reichte von Marx und Max Weber bis zur Frankfurter Schule und Bourdieu, bezog die historische Schule der Psychologie ein und litt darunter, daß die Klassiker der Moderne erst in den 80er Jahren langsam verfügbar waren (und auch da keineswegs in allen wichtigen Texten).

Wir haben dann auch bald versucht, neben den hektographierten Studientexten und den Lehrbriefen (die für das Fernstudium nötig waren und denen schon wegen der Bibliothekssituation im Lande immer ein Reader zum jeweiligen Thema angehängt war) eine eigene Schriftenreihe für die interne Kommunikation herauszubringen, die „Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung“. Wir begannen vor siebzehn Jahren und haben bis heute 36 Ausgaben hergestellt. Anfangs haben wir Bibliograpien, Referate, Rezensionen und Konferenzmaterial gedruckt, zunächst nur zur Kulturgeschichte der Arbeiterklasse. Besonders wichtig war der umfangreiche Besprechungsteil, er brachte uns Rezensionsexemplare internationaler Fachliteratur, die auf anderem Wege kaum erreichbar war. Mit Beginn der 8oer Jahre haben wir dann thematische Ausgaben zu allen Bereichen der kulturwissenschaftlichen Arbeit am Institut produziert, vor allem wurde hier die Serie unserer Kolloquien dokumentiert. Inzwischen ist aus den „Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung“ eine Schriftenreihe mit thematischen Schwerpunkten und festen Rubriken geworden.


Stark mündlich vermitteltes Wissen kann ja auch sehr beliebig sein. Welche Schwierigkeiten brachte das?

Zunächst sei angemerkt: fast immer haben unsere Studierenden über das viel zu große Literaturpensum geklagt; es wurde schon „am Text“ gearbeitet. Aber selbstverständlich war die stark mündliche Vermittlung wichtiger Theoriebereiche nicht unproblematisch. In mancher Hinsicht versetzte uns das in die Zeit vor dem Buchdruck zurück und machte die Lehrenden zu „Geheimnisträgern“, die ihr Wissen nur in besonderen Situationen preisgaben. Da war eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl sicher unvermeidlich. Aber diese Umstände machten auch neugierig auf die „Geheimlehren“ unserer Wissenschaft, sicherte eine (unter heutigen Verhältnissen völlig undenkbare) Kommunikationsdichte. Vielen Studierenden war klar, daß sie in unseren Veranstaltungen mit theoretischen Ansätzen und Forschungsergebnissen vertraut werden konnten, über die anderswo nichts zu erfahren war. Das soll nicht überbewertet werden, aber jedenfalls wurden Themen behandelt, über die in Druckschriften erst sehr viel später nachzulesen war.

Das war auch eine Folge der (gelinde gesagt) „großen Reserviertheit“, mit der die Offiziellen jedem neuen gesellschaftswissenschaftlichen Projekt begegneten. Auch dafür ein Beispiel. Es erscheint für eine sozialistische Gesellschaft widersinnig, doch als wir Anfang der 70er Jahre begannen, uns mit dem Thema Arbeiterkultur zu beschäftigen, wurde dies sowohl von den Wissenschaftspolitikern als auch von vielen Historikern als eine gewisse Provokation empfunden; sie sahen darin eine Herabwürdigung der geschichtlich so heroisch handelnden Arbeiterklasse. Als Arbeiterleben dann auch im Westen ein beliebtes Thema wurde, verstärkte das die Ablehnung noch. In dieser Forschung, die ja häufig vom Alltag in den verschiedenen proletarischen Milieus ausging, wurde (wie auch in der ganzen sozialgeschichtlichen Richtung) etwas besonders Böses gesehen: ein unter dem Deckmantel der Empirie vorgetragener Angriff auf die „historische Mission der Arbeiterklasse“ usw. Aus heutiger Sicht verstehe ich die damaligen Aversionen noch besser, sie waren in gewisser Weise schon berechtigt. Rekonstruierten wir nämlich die Wandlungen „der Arbeiterklasse“ und die ihrer subjektiven Verfassung, so wurde auch die Differenz zu jenen politischen Zuständen deutlich, die so ausdrücklich in ihrem Namen hergestellt worden waren. Auch Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen in der DDR bekam ja eine ganz andere Bedeutung. Wurde doch die Frage provoziert, warum ausgerechnet eine Gesellschaft, die als Arbeiter- und Bauernstaat definiert wurde und in der immer wieder „der Klassenstandpunkt“ eigefordert wurde, hinter etliche jener Bedürfnisse, Freiheiten und Genüsse zurückgehen mußte, die für die Lohnabhängigen schon selbstverständlich geworden waren. Die Freiheit der Marktwirtschaft ist tendenziell sicher arbeiterfeindlich, aber sie hat die Unfreiheiten früherer, vormoderner Abhängigkeitsverhältnisse abgeschafft. Als einige dieser vormodernen Einengungen in gewandelter Form wiederkamen (oder so empfunden worden sind), durften sich machthabende Politiker wie opponierende Reform-Intellektuelle nicht wundern, wenn vor allem junge Arbeiter sich entschlossen „über die Mauer zu springen“, wenn vor allem sie es waren, die sie schließlich aufbrachen und - wie es die Westler sahen - nach den Bananen rannten. Sicher hatten sie Illusionen über die künftigen Möglichkeiten, und diesem Aufbruch folgte darum der Katzenjammer - die Freiheit des Arbeitsmarktes ist eben kein sicheres Glücksversprechen für den einzelnen. Dennoch liegt in dieser Abwendung von der DDR-Gesellschaft eine kulturelle Zwangsläufigkeit: es ist auf die Dauer unmöglich, hinter Errungenes zurückzugehen, das früheren Generationen schon vertraut war.


Welchen Stellenwert können kulturwissenschaftliche Forschungsergebnisse unter den veränderten politischen Bedingungen haben?

Das muß sich erst noch erweisen und läßt sich heute nicht abschätzen. Dabei würde ich den Erkenntnisgewinn nicht sehr hoch veranschlagen. Eine gewisse Stärke gewann die ostdeutsche Kulturwissenschaft aus ihren sozialen Bindungen und Interessen. Sie betrachtete die Arbeit als ein kulturelles Ereignis und „den Betrieb“ als einen Kulturort, beteiligte sich an der Freizeitforschung, sah in den sozialen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts kulturell innovative Kräfte, wendete sich den Kulturen sozialer Gruppen zu (Arbeiter, Jugendmilieus, Homosexuelle, Ausländer), förderte aktiv die Erforschung von Geschlechterverhältnissen, bot der Frauenforschung eine Nische, drängte auf Medienforschung und auf die Untersuchung der populären Künste, versuchte dörfliche Kultur zu bestimmen und eine Vorstellung von Urbanität zu gewinnen. Bei der geringen Zahl der Kräfte eine enorme Zerstreuung mit entsprechenden Folgen. Das überdauernde Resultat könnte ein spezifischer Wirklichkeitssinn sein, nützlich dort, wo das Alltagsverhalten eine Rolle spielt, wo Sensibilität für die Kulturen arbeitender Menschen, von Sondergruppen und Außenseitern gefragt ist. Vielleicht ist das eine Ursache dafür, daß KulturwissenschaftlerInnen gegenwärtig an der Artikulation und Verbreitung ostdeutschen Selbstverständnisses so überaus stark beteiligt sind.

Für ein Eindringen in die etablierten Diskurse des bundesdeutschen Wissenschaftsapparates sind die Chancen eher gering. Wissenschaftler vergleichbarer sozialer Orientierung und mit ähnlichem Kulturverständnis haben sich dort nur ausnahmsweise etablieren können. Um beim Beispiel Arbeiterkultur zu bleiben. Jüngst war die Ablehnung solcher Forschung noch heftiger und folgenreicher als die, die wir vor zwanzig Jahren erfahren mußten. Die Geisteswissenschaftler aus dem Westen, die gekommen waren um bei uns alles zu evaluieren und zu regulieren, sagten unmißverständlich: ausgerechnet mit Arbeiterkultur haben Sie sich beschäftigt? Das ist ja ein recht peripherer Gegenstand für einen Kulturwissenschaftler, können Sie vielleicht noch was anderes? Und sie dachten dabei: typisch für den Osten, außer Arbeiterkultur kennen diese systemtreuen Kulturwissenschaftler nichts, weil sie lebenslänglich nur das gemacht haben, was die Parteiführung befohlen hat.


Für die Berliner Kulturwissenschaft haben sich abrupt die Bedingungen von Forschung und Lehre verändert. Wohin tendiert die Berliner Kulturwissenschaft, wird sie praktischer?

Das sind mehrere Fragen, Antworten sind mir schwer möglich, danach müßten Sie andere fragen, ich kenne die Vorhaben der neuberufenen Kolleginnen nicht. So kann ich bislang nur etwas ausschließen. Wenn Sie unter „praktisch“ die Nähe zu den Feldern der Kulturarbeit verstehen, so dürfte es künftig nicht in diese Richtung gehen. Die schon zitierten Herren haben klargestellt, daß es nicht Aufgabe einer Universität sein kann, sich in Kulturvorgänge, oder gar in Kulturpolitik einzumischen. Das wäre vielleicht die Sache von Sozialwissenschaftlern (vor allem von Politologen), wäre Aufgabe von Fachhochschulen und von pädagogischen Disziplinen. Darum wurden die kunstpädagogischen Bereiche aus der Fakultät entfernt, wurde Kultursoziologie (auch im Sinne unserer Lebensweiseforschung) nicht akzeptiert und für Theorie und Geschichte der Kulturpolitik kein Bedarf mehr gesehen. Das Fernstudium für Leute aus den Kulturberufen wurde abgeschafft und die Spezialausbildung für Jugendkulturarbeit abgegeben. War anfangs noch davon die Rede, die sozialgeschichtliche Orientierungen der Berliner Kulturwissenschaft nicht völlig aufzugeben, hat sich das dann durch die Berufungspolitik des Senators erledigt.


Unbestritten ist aber doch, daß die sich an vielen Orten etablierende Kulturwissenschaft Antworten geben muß, die andere Disziplinen so nicht zu geben vermögen. Wie sehen Sie für Berlin die Möglichkeiten kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre?

Sehr optimistisch, denn das kulturwissenschaftliche Institut ist (wenn wir das Anschnellen der Studentenzahlen nicht berücksichtigen) recht gut mit Stellen ausgestattet. Welches Profil Lehre und Forschung künftig haben werden, das ist noch offen. Bei der eher geisteswissenschaftlichen Ausrichtung dürfte von den Traditionen der letzten dreißig Jahre nichts bleiben. Etwas davon könnte sich an anderen Instituten fortsetzen: bei den Sozialhistorikern und Philosophen; die empirisch-kulturwissenschaftlichen Erfahrungen sind in der Europäischen Ethnologie zu finden - an diesen Stellen sind auch kompetente KulturwissenschaftlerInnen tätig. An das kulturwissenschaftliche Institut wurden inzwischen WissenschaftlerInnen berufen, die eine größere Nähe zu den Künsten haben, die den Ästhetikern verwandter sind. Auch die Studierenden, die aus den westlichen (Bundes)Ländern in großer Zahl zu uns kommen, verstehen unter Kulturwissenschaft etwas, was vor allem Umgang mit den Künsten verspricht. Was daraus folgen wird, kann ich nicht absehen.

Eine eigenartige Anstrengung ostdeutscher KulturwissenschaftlerInnen bestand in ihrem Versuch, die Kunstzentriertheit der bürgerlichen und sozialistischen Kulturauffassungen zu überwinden. Die Symbiose mit der Ästhetik bot dafür die besten Voraussetzungen: ihr wurde es überlassen, die ästhetischen Praxen (vom Alltag bis zu den Künsten) als kulturelle Phänomene zu untersuchen. Solche Abgrenzung erzeugte bei KulturwissenschaftlerInnen auch Vorurteile, etwa die Neigung, solche Betrachtungsweisen für zu abgehoben vom „wirklichen Leben“ anzusehen. Dabei sind derartige Distanzierungen eigentlich unverständlich, gehört es ja zu den frühen kulturwissenschaftlichen Einsichten, daß es „die“ erkenn- und beeinflußbare soziale Wirklichkeit nicht gibt, sondern die Wirklichkeiten (erklärbare) kulturelle Konstrukte sind. Dennoch wollten wir (in der so unübersehbar vorhandenen sozialen Realität) verändernd wirksam sein, wollten uns nicht damit zufrieden geben, nur über erneute Interpretationen von Interpretationen jener Interpretationen zu reden, die bestimmte Menschen mit den symbolischen Abbildern ihrer sozialen Wirklichkeit angefertigt haben. Auf diese Weise mag man mit originellen Perspektiven sinnstiftende Diskurse eröffnen. Doch ich glaube nicht, daß kulturwissenschaftliche Studiengänge durch die Forcierung solcher Hermeneutik an Profil gewinnen können. Die Philosophie, die Literatur- und Kunstwissenschaften und vor allem die Ästhetik dürften ihnen darin nicht nur überlegen sein, sondern darin auch einen konkurrierenden Anspruch auf ihren eigenen Daseinszweck erblicken.

Aber vermutlich äußert sich in solchen Vorstellungen von Kulturwissenschaft sowieso nichts als ein typisches Vorurteil der Ostdeutschen, die sich als Aufsteiger aus dem Milieu der kleinen Leute jede Wissenschaft nur als „eingreifendes Denken“ vorstellen können und die - stark ergebnisorientiert und weniger diskursfreudig - immer „nützlich“ sein wollen, also stets auch nach sozialen Akteuren ausschauen, die mit ihren Erkenntnissen etwas anfangen können. Was liegt da näher, als sich die eigenen Studierenden als künftige kulturelle Macher vorzustellen und sie auf diese Profession vorzubereiten?

Doch es geht ja nicht nur um wissenschaftliche Haltungen und Stile. Die allgemeine Ratlosigkeit gegenüber den harten Tatsachen dieser Welt und ihren kulturellen Implikationen ist ja nicht zu übersehen. Angesichts der sich entfaltenden sozialen Konfliktlagen können wir heute nicht viel mehr empfehlen als Multikulturalität, Pluralität, Bürgersinn und Toleranz. Auf die tiefe Legitimationskrise aller Kulturarbeit haben wir einstweilen gar keine Antwort, angesichts des Andrangs von Studierenden können wir nur die Köpfe schütteln.


Das klingt sehr desillusionierend. Was müsste die Kulturwissenschaft angesichts dieser Herausforderungen leisten?

“Die Kulturwissenschaft“ ist ja eine Fiktion, es wird da unterstellt, daß alle, die sich als KulturwissenschaftlerInnen verstehen, zumindest verwandte Vorstellungen von ihrer Disziplin haben. So kann ich nur für mich und einige ähnlich denkende KollegInnen etwas sagen. Es hatte sich an unserem Institut in dreißig Jahren ein gewisses Profil herausgebildet. Es war eher durch die Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände gegeben als durch die Verständigung auf ein einheitliches und spezifisches Methodenarsenal. Wir haben uns im doppelten Sinne um wissenschaftliche Vermittlung bemüht: einmal um Übergänge zwischen den (von anderen) modellierten Makrostrukturen und den vielfältigen Mikrokosmen individueller Existenzen und Schicksale. Zum anderen ging es um Vermittlungen zwischen elaborierten wissenschaftlichen Disziplinen mit ihren zwangsläufigen Borniertheiten; für sie waren wir als Medium interdisziplinärer Kontakte darum gelegentlich interessant, aber immer “unsauber” und schon darum nicht recht akzeptabel. Zu diesem Profil gehörten auch auffällige außerwissenschaftliche Neigungen, einige politische Präferenzen und ein beträchtliches soziales Engagement. Die politischen Optionen waren und sind demokratischer und sozialistischer Art, kaum konservativ. Weil Kulturwissenschaft auch Formen sozialen Engagements zum Untersuchungsgegenstand hatte, verfügt sie über eine gehörige Distanz zu allen Arten von kulturell und weltanschaulich motivierter Hingabe ans Soziale. Dennoch war und ist sie selbst engagiert, weil sie (auch durch die Lehrtätigkeit) verbunden ist mit den im “kulturellen Bereich” tätigen Fachleuten. Die leisten ja „humane Dienste“, haben immer Menschen als Adressaten. Sie optimieren nicht den Postdienst, keine Kapitalflüsse und auch nicht technische Systeme oder die Schlagkraft einer Armee. KulturarbeiterInnen sind für Menschen da und wollen was für sie tun. Darauf würde ich auch die Perspektiven eines kulturwissenschaftlichen Studiums gründen wollen. Denn die Herausforderungen der Zeit sehe ich in den sozialen und kulturellen Konfliktfeldern der hochorganisierten europäischen Gesellschaften. Sie zwingen dazu, sich den gegenwärtigen kulturellen und sozialen Prozesse zu stellen, in sie einzutauchen, für die menschlichen Schicksale sensibel zu bleiben und sich für Lösungen einzusetzen, die nicht hinter den erreichten humanen Ansprüchen zurückzubleiben. Hinter den großen Überschriften der Politik - Abbau des Sozialstaates, Globalisierung des Arbeitsmarktes, Abschied von der Arbeitsgesellschaft, ökologischer Umbau, Nord-Süd-Konflikt usw. - sind auch die kulturellen Problemlagen der nächsten Jahrzehnte zu finden:

Leider sehe ich, daß von den ostdeutschen KulturwissenschaftlerInnen aus mehreren Gründen vorerst wenig zu erwarten ist. Zunächst ist da der Verlust von Institutionen und Arbeitsplätzen anzumerken; nur ein kleiner Teil des kreativen Potentials ist heute noch wissenschaftlich eingebunden. Es ist darum kein Zufall, wenn etliche wissenschaftliche Köpfe heute in der Politik, in den Medien und im Management reüssieren oder im Felde der Jugend-, Sozial- und Kulturarbeit tätig wurden. Einige von ihnen haben sich in einem freien „Kulturwissenschaftlichen Institut“ zusammengeschlossen und haben interessante Projekte zur ostdeutschen Kulturgeschichte, zur Kulturpoltik und zur Mediensituation begonnen.

Ähnlich liegt das auch bei dem ehemaligen Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität. Zwar konnte 1990 der Senat von Berlin durch eine große Aktion von Wissenschaftlern und Kulturpolitikern aus dem Westen davon überzeugt werden, daß der Abwicklungsbeschluß der Wissenschaftssenatorin verfehlt ist (auch weil nicht unser Institut für die Kunstpolitik der SED und für den bösen Umgang mit Künstlern verantwortlich wäre), doch die Aussonderung der Ostdeutschen ist auch hier inzwischen abgeschlossen und wird nur noch durch die Arbeitsgerichte verzögert.

Ein weiteres Handikap dürfte in der spezifischen Weise bestehen, in der ostdeutsche KulturwissenschaftlerInnen aufgrund ihrer Tradition und ihrer Erfahrungen die veränderte soziale und kulturelle Lage reflektieren. Was sich hier im Osten verändert, sehen sie sehr deutlich und können es auch aus den (nur ihnen so vertrauten) geschichtlichen Voraussetzungen erklären. Doch dieser Platzvorteil und ihre historisch gewachsenen Kenntnisse sind durch ernsthafte Defizite zugleich entwertet: sie haben sich in der Vergangenheit kaum mit den jetzt wirkenden ökonomischen und politischen Faktoren beschäftigt, kennen die Strukturen nicht, sind aus den Beziehungsnetzen der akademischen bürgerlichen Welt ausgeschlossen und geraten allemal in die Lage von Bittstellern. Der kulturwissenschaftliche Diskurs war in Ostdeutschland eh schon dürftig, es gibt ihn noch, aber er hat sich weiter eingeengt. Nur wenige haben bislang neue wissenschaftliche Verbindungen herstellen können. Das aber wäre schon nötig, weil Kulturwissenschaft nur dort Erwähnenswertes geleistet hat, wo sie in Kontakt war mit Forschungsfeldern anderer Richtungen und etablierter Disziplinen. Vielleicht bin ich zu pessimistisch und übersehe die Chancen, die in dieser Malaise stecken. Soziales Engagement und demokratische Gesinnung vorausgesetzt, ist es ja ein Vorsprung, wenn die ostdeutschen KulturwissenschaftlerInnen bereits erfahren haben, was die Mehrzahl westdeutscher Akademiker erst dunkel ahnt: die soziale Situation hat sich so gründlich geändert, daß viele geläufige Methoden, Interpretationsmuster und Wertvorstellungen inzwischen unangemessen geworden sind. Vergesse ich als Ostdeutscher für einen Moment, daß Wissenschaft nur in etablierten Institutionen möglich ist, sehe ich darin eine enorm anregende Situation.