Thema | Kulturation 2014 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dietrich Mühlberg | Kulturinitiativen und Zwischenreden
Deutsche Kulturdebatten vor 25 Jahren
| I.
In der Rubrik "Zeitdokument" veröffentlicht Kulturation
das Protokoll einer deutsch-deutschen Kulturdebatte, die 1989 kurz vor
dem Jahresende Künstler, Kulturwissenschaftler und Kulturpolitiker
zusammengeführt hatte. Die folgenden sieben Textabschnitte blicken aus
der Perspektive eines ostdeutschen Akteurs auf dieses Ereignis zurück.
Sie versuchen daran zu erinnern, wie es im Dezember 1989 zu dieser wohl
einmaligen deutsch-deutschen Begegnung gekommen ist.
Die als Zeitdokument 12
eingestellten Beiträge zu dieser - "Zwischenrede" genannten -
Disputation bieten eine Momentaufnahme der unentschiedenen politischen
und kulturellen Situation, spiegeln die Irritationen auf beiden Seiten
der inzwischen geöffneten Mauer. Denn der schnelle Wandel im Osten
wurde inzwischen auch im Westen mit wachsender Anteilnahme verfolgt.
Dies besonders in Westberlin, wo bereits am 10. November bei der
Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg eine neue politische
Frontenbildung zu erleben war. Es begann sich abzuzeichnen, wer da mir
wem im Osten zusammengehen würde, welche Ratschläge zu erteilen wären
und wovor man die Ostdeutschen in ihrem Wende-Eifer besser warnte.
Waren die einen eher verwunderte Beobachter des Wandels, so die anderen
existenziell Betroffene. Ihre Statements deuten die unsichere
Stimmungslage an, in der kulturell engagierte Intellektuelle der noch
existierenden DDR gegen Ende des Jahres 1989 redeten und handelten. Das
Tempo der Ereignisse, durch die die politische Konstellation sich
veränderte, war ungewohnt hoch, entwertete eben erst gewonnene
Positionen schnell und erzeugte immer neue Hoffnungen, Unsicherheiten
und Sorgen. Es war jene kurze Zeitspanne, in der deutlich wurde, dass
die Chancen für eine reformierte sozialistische Gesellschaft sehr
gering waren, obwohl vielleicht die Mehrheit der Reformaktivisten immer
noch an die Chance einer erneuerten DDR glaubte. Es wollte noch niemand
recht wahrhaben, dass die durch den demonstrierten Unwillen ausgelösten
Veränderungen nicht auf eine Reformation, sondern auf das Ende des
„sozialistischen Experiments“ hinauslaufen würden. Selbst die wenigen
Verfechter der deutschen Einheit, wie die Leipziger um Heiduczek und
Czechowski, dachten dabei an eine Konföderation beider deutscher
Staaten. Die Einheitsbefürworter aus der jüngeren Künstlergeneration
(wie etwa Uwe Kolbe, Lutz Rathenow und Monika Maron) sahen sie als
Moment der europäischen Einigung. In jedem Falle aber waren die
konkurrierenden Protagonisten verschiedener politischer Lösungen noch
davon überzeugt, dass die kritische Intelligenz der ostdeutschen
Gesellschaft so etwas wie einen Gestaltungsauftrag habe. Nur kurze Zeit
später sollten sich alle Beteiligten in der Rolle unwichtiger
Randfiguren wiederfinden.
Auch die kulturelle Situation war bereits im Umschlagen, doch die
möglichen Folgen schneller politischer Veränderungen für die deutschen
Kulturen und ihre professionelle Personage waren noch nicht recht
abzusehen. Zwar war unter den Reformern aus dem Kulturbereich die
entschiedene Aufbruchstimmung bereits verflogen, die jene von Künstlern
organisierte große Berliner Demonstration am 4. November noch getragen
hatte. Denn schon wenige Tage später war mit der Grenzöffnung am 9.
November eine völlig neue Situation entstanden. Eher auf der Ebene der
Alltagserfahrung der Vielen wurde schlagartig sichtbar, wie
problematisch ein Nebeneinander bei offener Grenze zu machen sein
würde. Die turbulenten Umstände der Maueröffnung ließen den Aufruf
„Fassen Sie Vertrauen“, der gemeinsam von allen Fraktionen der
Bürgerbewegung just am 9. November verbreitet wurde, fast völlig
unbeachtet. Als drei Wochen später Künstler, Wissenschaftler,
Kirchenleute und Reformpolitiker den warnenden Aufruf „Für unser Land“
verbreiteten, nannte der die neue Alternative: Eigenständigkeit der DDR
oder Anschluss an die Bundesrepublik. Er wendete sich gegen den
„Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“. Mit diesem
Bekenntnis solidarisierten sich über eine Million durch ihre
Unterschrift und votierten für die Eigenständigkeit. Es schien also
weiterhin offen zu sein, in welcher Weise die Reformierung der
DDR-Gesellschaft fortgesetzt wird. Dass sie zu reformieren wäre, war
für fast alle eine unabweisbare Forderung und die mehr oder weniger
klare Erwartung zugleich. Für die Mehrheit der kulturell Engagierten
war es zu diesem Zeitpunkt noch schwer denkbar, dass die ostdeutsche
Gesellschaft sehr bald strukturell wie institutionell an die
westdeutsche angepasst sein würde und die ostdeutschen Funktionseliten
– egal ob bürgerbewegt, neutral oder "systemtreu" – beinahe völlig
durch Westdeutsche ersetzt sein könnten.
In dieser äußerst angespannten Situation hat es dann gegen Ende des
Jahres zwei deutsch-deutsche Aktionen von Angehörigen aller
Kulturberufe, von Künstlern, Autoren, Wissenschaftlern und Medienleute
gegeben, auf die mit dieser Dokumentation ein Vierteljahrhundert später
zurückgeblickt wird. Beides waren Versuche, sich über die kulturellen
Implikationen der politischen Vorgänge auszutauschen und die
Möglichkeiten für gemeinsames Handeln zu prüfen. Einmal hatte der
„Gesprächskreis DDR“ des Deutschen Kulturrates der Bundesrepublik
„organisierte und nicht-organisierte Künstler, Autoren und andere
Vertreter der Kulturberufe“ auf den 19. Dezember in die Akademie der
Künste zu Berlin (West) zu einem Treffen eingeladen. Zum anderen haben
zwei ähnlich engagierte Gruppen kulturell aktiver Leute in West- und
Ostberlin, zwei im Herbst 1989 entstandene „Kulturinitiativen“, zu
einem deutsch-deutschen Kulturtreffen auf den 22. Dezember nach
Ostberlin eingeladen, das sie "ZWISCHEN-REDE über den Zustand deutscher
Kulturen" nannten. Diese Veranstaltung kann hier unter "Zeitdokument 12" dokumentiert
werden, weil sich im Archiv der Akademie der Künste die transkribierten
Beiträge der Diskussionsredner fanden. Überdies sind im Archiv der
KulturInitiative '89 fast alle Materialien aus dieser Zeit abgelegt;
auch Dokumente der damaligen "Westberliner Seite" stehen als Quelle zur
Verfügung. Von dem Treffen, das der Kulturrat am 19. Dezember in
Westberlin organisiert hat, ist nur ein kurzes Sitzungsprotokoll und
die verabschiedete Resolution überkommen. Sie wurde der "Zwischenrede"
übermittelt (und dort von Rainer Flügge vorgetragen).
Man könnte meinen, es lohne nicht, die Situation kurz vor dem
politischen Scheitern fast aller mitwirkenden Ostdeutschen rückblickend
zu betrachten und zu dokumentieren. Doch abgesehen von der
"Aufarbeitung" historischer Ereignisse könnte ein solcher Rückblick
auch lehrreich sein. Mit der heutigen Erfahrung lesen sich die Texte
dieser Wendezeit deutlich anders, als es die damalige Intention der
öffentlich auftretenden kulturellen Aktivisten gewesen sein mochte.
Heute bemerken wir, dass die Unausweichlichkeit des schließlichen
Fortgangs der Ereignisse selbst in jenen Beiträgen anklingt, die noch
mit einer längeren eigenständigen Entwicklung der ostdeutschen
Gesellschaft rechneten. Andere sprachen bereits deutlicher über die von
ihnen erwarteten kulturellen Probleme der Annäherung beider deutscher
Gesellschaften. Sie sind hier wohl erstmals ausgesprochen worden, auch
das macht den Rückblick interessant. Er könnte es ermöglichen, die
Kontinuität und die Beständigkeit in kulturellen Problemlagen und
Lösungsvorschlägen zu erkennen. Doch deutet er auch den abrupten
kulturellen Wandel an, der für die Ostdeutschen mit dem Übergang in ein
anderes Gesellschaftssystem verbunden war und der viele ihrer
Anstrengungen und projektierten Neuanfänge schnell entwertete und
überflüssig machte.
Für das Verständnis der Vorgänge zum Jahresende 1989 dürfte es nützlich
sein, auf die Hintergründe näher einzugehen, die diese
deutsch-deutschen Begegnungen ermöglichten und notwendig machten.
Erstens soll darum näher auf die Entstehung der ostdeutschen
kulturellen Initiative eingegangen und dann auf die deutsch-deutschen
Kontakte zurückgeblickt werden, in deren Reihe die „Zwischen-Rede“
steht.
II.
Die Mehrzahl der kulturellen Reformdebatten gegen Ende der 80er Jahre
wurde durch Gruppen, Projekte, Freundeskreise außerhalb der bekannten
Institutionen angeregt und geführt. Teils bemächtigten sie sich - nun
auch jenseits der Kirche - der großen Apparate von Akademien,
Verbänden, oder vom Kulturbund - teils schufen sie schnell eigene,
meist kleinräumige Beziehungsnetze. In einigen Fällen waren solche
Strukturen schon früher entstanden und bekamen nun einen neuen Sinn.
So hatten bereits Mitte der 80er Jahre KulturwissenschaftlerInnen vor
allem in Berlin versucht, eine neue kulturelle Ost-West-Beziehung zu
erreichen. Ihr unmittelbares Motiv war es, die gerade für ihre Arbeit
prekäre kulturelle und wissenschaftliche Abschottung der DDR zu
durchbrechen. Westberlin schien dafür günstige Voraussetzungen zu
bieten, im Arbeitskreis „Europäische Kultur“ wurde über politisch
verwendbare Begründungen für ein neues Verhältnis zum Westen
nachgedacht (damals Thomas Flierl, Thomas Koch, Jürgen Marten, Edith
Broszinsky-Schwabe, Dietrich Mühlberg u.a.). Als Ideen dieser Art durch
Vorträge in Sitzungen wissenschaftlicher Räte manifest wurden, griff
die SED-Führung ein und unterdrückte den Versuch, im "europäischen
Haus" kulturelle Kontakte speziell mit Westdeutschland zu pflegen. Wie
heute genauer bekannt ist, berührte das die Differenzen der SED-Führung
mit den Weisungsberechtigten in Moskau und konnte schon darum als
„Wildwuchs“ nicht geduldet werden.
Offenbar wurde dies, als mit dem Kulturabkommen zwischen der DDR und
der Bundesrepublik (1986) sich die politischen Aufregungen legten und
nun pragmatische Entscheidungen nötig waren. Zwar stand alles, was
zwischen den beiden deutschen Regierungen kulturell vereinbart wurde,
unter der unumgänglichen Aufsicht von ZK und Staatssicherheit, doch
weiteten sich an vielen Stellen Handlungsspielräume und der über
Jahrzehnte als schwerwiegende politische Belastung geltende
„Westkontakt“ verlor an diskriminierender Wirkung. Halbwegs „normal“
wurde er erst mit den 1988/89 einsetzenden Wirren und den
Ermüdungserscheinungen der Kontrollorgane.
Gleichfalls auf Mitte der 80er lassen sich reformerische Absichten
zurückverfolgen, die die Forschung und die Lehre in den
kulturwissenschaftlichen Studiengängen betrafen. Im Kern ging es
zunächst darum, die schon länger sichtbare Ausdifferenzierung der
Kulturtheorie in kulturwissenschaftliche Spezialfelder zu
institutionalisieren und entsprechende Lehrgebiete zu installieren
(Kultursoziologie, Kulturpolitik, Internationale Kulturprozesse,
Kulturgeschichte, Kulturanthropologie, Kulturarbeit u.a.). Damit sollte
eine seit längerer Zeit versuchte Anpassung an internationale Standards
möglich werden. Zu den Reformabsichten gehörte es auch, das Studium von
ideologischem Ballast zu befreien, sich von allen nur propagandistisch
behaupteten Kultur- und Gesellschaftsidealen auch offiziell zu lösen,
den kritischen kulturwissenschaftlichen Blick auf die eigene
Gesellschaft zu legitimieren und Lehre und Forschung an den praktischen
Aufgaben in der wirklichen Gesellschaft auszurichten. Auch dafür gab es
entsprechende Spezialisierungen.
Im Frühjahrssemester 1988 begannen MitarbeiterInnen der Sektion
Kulturwissenschaft und Ästhetik der Humboldt-Universität in Berlin eine
Diskussionsreihe über Grundsätze einer Kulturreform. Eines ihrer
Ergebnisse war im September 1988 ein zusammenfassendes Papier unter dem
Titel "Zu einigen Perspektiven unserer Kultur und zu möglichen Aufgaben
von Kulturwissenschaft in der DDR (ein Diskussionsbeitrag)". Es löste
eine Reihe weiterer Grundsatzdebatten zu allen Aspekten kultureller
Entwicklung aus. Dabei wurde auch das Bedürfnis nach Vernetzung all
derer immer dringlicher, die ähnlich prinzipiell über notwendige
Veränderungen in den unterschiedlichen kulturellen Tätigkeitsbereichen
diskutierten. Zunächst war dies nur ein Nebenaspekt der Verständigung,
doch machten die politischen Zuspitzungen im Sommer 1989 die Sache
dringlicher.
Hatten die kulturtheoretischen und kultursoziologischen Bereiche der
Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED seit Beginn
der 80er Jahre den Ort geboten, an dem KulturwissenschaftlerInnen der
DDR ihre Reformabsichten diskutierten, war dies nach dem Weggang von
Lothar Bisky, nach dem spektakulären Rauswurf von Helmut Hanke und dem
Selbstmord von Hans Koch anders geworden. Das Bedürfnis, die durch
diese Restriktionen beendeten kommunikativen Kontakte wieder
herzustellen, belebte gleichfalls die Idee, einen Berufsverband der
studierten KulturwissenschaftlerInnen zu gründen, der Praktiker und
Wissenschaftler zusammenführt, deren Interessen vertritt und einen
Austausch jenseits der partei- und staatsoffiziellen Institutionen
ermöglicht.
Die Beteiligten haben alles dies in der Zuversicht betrieben, dass es
zu beträchtlichen politischen Veränderungen in der DDR kommen werde: zu
mehr Demokratie, zu mehr Rechten der einzelnen, zu differenzierteren
kulturellen Praxen usw. Die große Schwachstelle der ostdeutschen
Wirtschaft wurde zwar mit Besorgnis gesehen, doch in der
Brückenfunktion, die die DDR zwischen Ost- und Westeuropa schnell
ausbauen könnte, auch ein sicherer Aktivposten ganz selbstverständlich
angenommen. Ein politisch tragfähiges Konzept für die Umgestaltung der
ganzen Gesellschaft ist dabei nicht entstanden.
Einen stärkenden Hintergrund aller dieser Aktivitäten bildete
zweifellos die kritische Sympathie für Glasnost und Perestroika in
Moskau, wenngleich gerade im Kulturbereich gut bekannt war, wie gering
die Resonanz dieser Politik in der Sowjetunion selbst war. Doch wenn
deren Chancen auch klein sein mochten und ihr Erfolg ungewiss, war es
doch unvorstellbar, dass die große Sowjetunion die DDR aufgeben würde
oder gar selbst in absehbarer Zeit untergehen könnte.
III.
Sommer und Herbst 1989 waren doppelt geprägt. Einerseits war da eine
Art lähmenden Staunens über die völlige Unbeweglichkeit der politischen
Führung den eskalierenden Ereignissen gegenüber. Es mündete in die
Einsicht, dass von dort weder stabilisierende noch verändernde
Entscheidungen zu erwarten waren. Die für Kultur und Wissenschaft
zuständigen „politischen Linienrichter“ waren schon im Frühjahr
weitgehend verstummt. Zwar wurde gerade an der Humboldt-Universität in
vernetzten Arbeitsgruppen an Reformkonzepten für viele
Gesellschaftsbereiche gearbeitet (sie sind inzwischen bei der
Rosa-Luxemburg-Stiftung archiviert und umfassen in 61 Bänden 32
Teilbestände, etwa 15.500 Seiten). Doch der Adressat war nicht recht
erkennbar. Offenbar wurde erwartet, dass bei dem anstehenden
SED-Parteitag dieses analytische wie strategische Material zur
Ausstattung einer neuen Politikergeneration gehören würde. Dieses
Warten auf neue Leute bestärkte die allgemein abwartende Haltung noch.
Andererseits gab es in den Instituten ein eifriges Diskutieren und
Pläneschmieden, bei dem es von Glasnost und Demokratie bis hin zu neuen
Prüfungsordnungen ging. Bei all dem wurde immer eine irgendwie
reformierte DDR vorausgesetzt.
IV.
Im Oktober machten es die politischen Bewegungen dringlicher, den lange
besprochenen Verband von KulturarbeiterInnen als Kommunikationsort und
handlungsfähige Institution zu gründen. Es war völlig klar, dass eine
solche Vereinigung auch Aufgaben in den aktuellen politischen und
kulturellen Transformationsprozessen zu übernehmen hätte. Das geschah
mit Seitenblick auf die Arbeitsweise von Kulturpolitischer Gesellschaft
und Kulturrat im Westen.
Am 11. November 1989 kam es zu einer Vor-Beratung über die mögliche
Gründung einer kulturpolitischen Vereinigung. In dem versandten
Einladungspapier (zur Gründung einer "Kulturpolitischen Gesellschaft"),
das sich auf die in den Jahren 1988/89 diskutierten Konzepte stützte,
hieß es u.a.: „Zur Reform des politischen Systems der DDR gehört es,
dass neue Möglichkeiten entstehen müssen, soziale Interessen
auszudrücken, in der Öffentlichkeit geltend zu machen und
Entscheidungen zu beeinflussen. Das muss auch für das kulturelle Leben
gelten. Für diesen Bereich erwarten wir neue Formen der Mitwirkung und
der Selbstorganisation, eine starke Differenzierung der Gruppierungen,
Gesellschaften und Vereine - neben den Parteien und dem Staat. Sie
werden die "Einheitsorganisationen" ergänzen oder ablösen. In den
Volksvertretungen und Verwaltungen, in den Gewerkschaften und in den
Betrieben, in den örtlichen Kulturinstituten und in den Medien, in
Künstlergruppen und Künstlerverbänden, in den Bildungseinrichtungen und
Forschungsstellen sind in den letzten Jahren immer wieder Verfechter
einer bürgernahen Kulturarbeit, kreativer Möglichkeiten im Alltag,
neuer Formen der Selbstdarstellung und der kulturellen
Interessenwahrnehmung aufgetreten und haben für eine sozialistische
Kultur demokratischen Charakters eingestanden. Sie richteten sich damit
gegen die einseitige Ausrichtung auf die überkommene
Repräsentationskultur, gegen die Entpolitisierung des geistigen Lebens,
gegen die Unterdrückung Andersdenkender - vor allem auch derer, die
sich für ein zeitgemäßes Konzept sozialistischer Kultur einsetzten. Sie
vereinigen sich in der 'Kulturpolitischen Gesellschaft', um mit
politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, journalistischen und
finanziellen Mitteln für ihre kulturellen Ziele einzutreten.“ Hier auf Kulturation bieten die "Zeitdokumente" 6 bis 9 einen Einblick in die Anfänge dieser Organisation.
V.
1988/89 verstärkten etliche der in Westberlin tätigen Einrichtungen
politischer Bildung ihre Aufmerksamkeit für Ostberlin, das Interesse
von Kulturpolitikern und Wissenschaftlern an Austausch und
Zusammenarbeit nahm zu, die Zahl der wechselseitigen Gastvorlesungen,
gemeinsamen Tagungen und Debatten stieg an. Die im Rahmen der
Kulturabkommen laufenden Austauschprojekte intensivierten die
Ost-West-Kontakte (gegen deren staatliche Reglementierung bald schon
protestiert wurde) und gaben der Vision baldiger normaler Verhältnisse
in der geteilten Stadt Berlin eine reale Grundlage. Die Arbeitsgruppe
Kulturgeschichte konnte ihre Ausstellung "Anfänge der Arbeiterfreizeit"
nun auch in Westberlin präsentieren, die lange vergeblichen Bemühungen
um eine Gesamtberliner Baluschek-Ausstellungen waren plötzlich
aussichtsreich.Der kulturpolitische Austausch mit der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Westberlin wurde lebendiger - dies schon
wegen ihrer häufiger gewordenen kulturell orientierten Exkursionen nach
Ostberlin.
Doch erst die offene Grenze ermöglichte es, die Kontakte zu
„kulturpolitischen“ Freunden und Partnern in Westberlin auf neue Weise
zu intensivieren. Auch dort hatten sich Aktivisten der Kulturszene zu
einer Art „Kulturinitiative“ locker verbunden, die auf die neue
Situation in der Stadt und in den beiden Ländern reagieren wollten.
Dazu gehörten u.a. Joachim Günter, SPD-Politiker, Hardt-Waltherr Hämer,
Vizepräsident der Akademie der Künste, Ulrich Roloff-Momin, Präsident
der HdK, Krista Tebbe, Kunstamtsleiterin von Kreuzberg, Sabine Weißler,
Beauftragte für Kunst am Bau, Christiane Zieseke, Geschäftsführerin der
NGBK. Mit ihnen gab es eine Reihe gemeinsamer Debatten und
Verabredungen zu Projekten. Am ertragsreichsten war der wechselseitige
Austausch über Kulturarbeit und Kulturpolitik, über Konzepte wie
institutionelle Strukturen, über politische Hintergründe und
wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Und von dem, was sich die Aktivisten
dieser aufregenden Zeit vorgenommen haben, wurde in den Folgejahren
dann etliches erfolgreich abgearbeitet.
Gemeinsam wurden kulturpolitische Debatten, kleinere halböffentliche
Diskussionen an der Humboldt-Universität organisiert. Schließlich kam
es zu dem dringenden Vorschlag, die „Interessen der Kultur“ in dem
Getümmel der politischen Ereignisse und schnellen Veränderungen sofort
laut und öffentlichkeitswirksam geltend zu machen.
Was die Mitglieder beider „Kulturinitiativen“ verband und die
Zusammenarbeit ertragreich machte, war die gleichberechtigte Offenheit
aller Beteiligten. Die eingetretenen Umstände waren völlig neuartig,
Lösungen hatte keiner anzubieten, und alle waren von den aktuellen
Möglichkeiten mindestens ebenso begeistert wie sie kulturellen Schaden
befürchteten. Denn es war nicht so klar zu sagen, worin die neuen
Chancen und Gefahren überhaupt bestanden. Sicher waren nur schnelle
Veränderungen im Osten und die deutliche Priorität der politischen
Themen und Kräfte, durch die alle kulturellen Anliegen plötzlich
nebensächlich zu werden schienen. Hatte eben noch die oppositionelle
Kultur die Träger des politischen Systems öffentlich herausgefordert,
schien jetzt die Handlungsmacht an Politiker überzugehen.
Die Großmächte sprachen davon, dass die Teilung Berlins und
Deutschlands zusammen mit der Spaltung Europas überwunden werden solle,
Gorbatschow hatte ja schon länger vom "gemeinsamen Haus Europa"
geredet. Für Ende Dezember war der Besuch des westdeutschen
Bundeskanzlers in der DDR angekündigt, und tatsächlich verhandelte
Helmut Kohl am 19. und 20. Dezember mit dem Ostdeutschen
Ministerpräsidenten Hans Modrow. Eine ganze Reihe von Maßnahmen zum
künftigen Miteinander beider Staaten wurde dabei beschlossen.
Die politischen Entscheidungen schienen sich zu überschlagen, und so
wurde von den Vertretern beider "Kulturinitiativen" vereinbart, eine
weithin vernehmbare "Wortmeldung der Kultur" zu organisieren. Noch kurz
vor dem Jahresende 1989 wollten beide Initiativen möglichst viele
Kulturleute aus Ost und West zu einer deutlichen „Zwischen-Rede“
versammeln. „Zwischen“ meinte sowohl ein „Inmitten des Getümmels“, ein
Dazwischenreden als auch die Vorläufigkeit der Wortmeldung, weil die
Dinge im Fluss waren und Endgültiges kaum zu erwarten war.
Dazwischenreden schien nötig, weil nun nur noch die professionellen
Politiker das Sagen hatten, die augenscheinlich über die Köpfe der
kulturellen Öffentlichkeit hin Tatsachen schufen. Da wollten die beiden
Kulturinitiativen dazwischen gehen, ein erprobtes demokratisches
Verfahren, die westberliner Seite war darin geübt. Zugleich sollte die
Veranstaltung ein Test darauf sein, wer von "der Kultur" für eine
solche Debatte Interesse zeigte, wer mobilisierbar war und welche
Absichten er hatte.
VI.
Tatsächlich konnte die Versammlung in einer kurzfristigen
Mobilisierungsaktion für Freitag den 22. Dezember nach Ostberlin
zusammengerufen werden. Die politischen Veränderungen nach dem
Verschwinden der alten politischen Führungsriege durch die
Selbstauflösung von ZK und Politbüro der SED am 3. Dezember hatten an
Tempo zugenommen. So war der Orientierungsbedarf groß und die Stimmung
unter den Teilnehmern am Ende dieser Vorweihnachtswoche hoch aufgeladen
Am Montag hatten "SPIEGEL" und das ZDF die Ergebnisse einer von ihnen
beim Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der
Wissenschaften der DDR bestellten Meinungsumfrage veröffentlicht. Trotz
außerordentlich harter Kritik an der SED-Politik und großer
Unzufriedenheit wollten "nur 27 Prozent der Deutschen zwischen Elbe und
Oder/Neiße, dass die DDR 'mit der BRD einen gemeinsamen Staat bildet'.
71 Prozent hingegen meinen, dass die DDR 'ein souveräner Staat bleiben'
solle". (DER SPIEGEL 51/1989, S. 86)
Einen Tag später hatte Bundeskanzler Helmut Kohl seinen ersten
offiziellen DDR-Besuch begonnen. Bei seiner am Dienstag im Fernsehen
übertragenen Rede in Dresden schlug er vorsichtig neue Töne an und
sprach den entscheidenden Satz: „Mein Ziel bleibt, wenn die
geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.“ Vor
allem für die mediale Übertragung war in dieser Richtung Stimmung
gemacht worden. Mit dem Rücken zum Rednerpult standen Sprechchöre, die
die Kundgebungsteilnehmer unentwegt anfeuerten. "Um mich herum standen
viele große blonde Männer, die ihre Fäuste in den Himmel stießen und
sich in militantem Rhythmus die Seele aus dem Leib brüllten:
'Deutschland! Deutschland!'", schrieb der österreichische Journalist
Ewald König, der damals vor der Rednertribüne stand. Er war auch über
das Meer neuer schwarz-rot-goldener Fahnen ohne DDR-Emblem erstaunt
[Ewald König, Kohls Balanceakt in Dresden,
http://www.euractiv.de/wahlen-und-macht/artikel/kohls-balanceakt-in-dresden-002548].
Der "Runde Tisch" begrüßte Kohls Staatsbesuch und hoffte, dass er zum
"Ausbau in den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD" beitrage.
Am Mittwoch hatte Frankreichs Staatspräsident Mitterrand seinen Besuch
in der DDR begonnen und ihrer Führung feierlich erklärt: "Sie können
auf die Solidarität Frankreichs mit der Deutschen Demokratischen
Republik rechnen", denn es gibt "diese beiden deutschen Staaten". Im
Kulturbetrieb erregten auch die an diesem Tage begonnenen Beratungen
über ein neues Mediengesetz der DDR beträchtliche Aufmerksamkeit.
Am Donnerstag war Hermann Kant nach heftigen politischen Anwürfen als
gewählter Präsident des Schriftstellerverbandes zurückgetreten. Am
Freitag selbst endete am Brandenburger Tor der erste Staatsbesuch eines
französischen Staatsoberhaupts in der DDR. Mitterand hatte keine Lust,
an der von Modrow vorbereiteten symbolischen Handlung teilzunehmen: er
verabschiedete sich von ihm dort kurz bevor der Ministerpräsident der
DDR gemeinsam mit Helmut Kohl und Walter Momper das Tor für den
Ost-West-Fußgängerverkehr öffneten.
Diese Ereignisse bewegten die Teilnehmer der Zwischenrede nicht nur,
weil ihr Tagungsort dicht dabei, am anderen Ende der Luisenstraße lag.
In dieser Woche überhäuften sich in Berlin die Veranstaltungen, die
ablenkenden Verpflichtungen waren reichlich. Doch die Gelegenheit zu
einer Zwischenrede im Ungewissen war vielen Akteuren des Kulturbetriebs
wichtig. Und dies, obwohl den Veranstaltern mit dem 22. Dezember - es
war der Freitagabend vor dem Weihnachtsfest - nur ein denkbar
ungünstiger Termin zur Verfügung stand. So war der Andrang an diesem
Abend unerwartet groß, der Saal konnte die fast fünfhundert Teilnehmer
kaum fassen. Schon das war ein Erfolg, denn die beiden Veranstalter
waren ja keine Vereine mit stabilen Geschäftsstellen und Budgets. Ihre
Mitglieder nutzten für die Kommunikation die Büros ihrer Institute,
Ämter und Gesellschaften. Die Ostberliner Akademie der Künste war ein
großzügiger Gastgeber. Die Senatskulturverwaltung in Westberlin konnte
überzeugt werden, für die Kosten von Anreise und Übernachtung der
westdeutschen Teilnehmer aufzukommen. Und wegen der (damals strikt
beachteten) Parität bezahlte das DDR-Kulturministerium im Gegenzug ein
Büfett im Künstlerklub „Möwe“ für alle Teilnehmer aus Ost und West.
Dann kamen die Weihnachtsfeiertage, und alle hatten etwas Ruhe, die
Ereignisse zu überdenken und den Ertrag der „Zwischenrede“ zu
resümieren. Er bestand – so die übereinstimmende Meinung - damals vor
allem im Ereignis selbst, denn es war der gerade erst gegründeten
KulturInitiative '89 gelungen, im Osten eine weithin beachtete
repräsentative deutsch-deutsche Zusammenkunft zu organisieren und so
auch auf sich aufmerksam zu machen. Die Debatte selbst zeugte eher
davon, wie unterschiedlich die Situation in West und Ost damals gesehen
wurde und wie verschieden die Erfahrungshintergründe der Beteiligten
waren. Obwohl einige der anwesenden ostdeutschen Künstler, die sich in
Aufrufen für den Erhalt der DDR engagiert hatten, beredt schwiegen (wie
Heiner Müller und Christa Wolf), dokumentiert die Debatte, wie
kommunikationsbereit beide Seiten damals noch waren - das sollte sich
bald ändern. Zwar nicht auf der Ebene der beiden hier kooperierenden
"Kulturinitiativen", doch bei den Akademien und anderswo brach der
große Streit aus.
Liest man heute die damaligen Beiträge als Text, so scheint alles nicht
so recht zusammenzupassen, denn die Spannweite der Themen reicht von
Kleinigkeiten, mit denen sich das bis dahin Unerhörte anzukündigen
schien, bis zum Philosophieren über den Augenblick der welthistorischen
Wende in deutscher Dimension. Wenn man einen Gesamteindruck
zusammenfassend nennen sollte: die westdeutschen TeilnehmerInnen haben
wohl viel schneller begriffen, welche kulturellen Folgen der
unausweichliche Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus haben würde.
VII.
Die Texte sind damals nach dem Mitschnitt mehr schlecht als recht
transkribiert worden; der redaktionelle Aufwand war erheblich. Danach
lagen sie allen erreichbaren Autoren vor, nur zwei baten darum, ihren
Beitrag nicht zu veröffentlichen (Gerd Irrlitz und Georg Knepler).
Zusammen geben diese Zeitdokumente die Stimmungslage in dieser kurzen
Übergangszeit recht gut wieder. Man mag sie als gespieltes
Selbstvertrauen, als offensive Ratlosigkeit, als Aufbruch oder
Abrechnung deuten, wichtiger scheint es zu sein, wie die Zeitzeugen
ihre damaligen Vorstellungen später sahen. 1999 hat die Redaktion der Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung
(MKF) darum Teilnehmer der "Zwischen-Rede" um einen rückblickenden
Kommentar gebeten. Nicht zuerst um zu überprüfen, wie dicht sie damals
an den Trends der Zeit waren, sondern um eine Facette des kulturellen
Wandels im letzten Jahrzehnt sichtbar werden zu lassen. Einige haben
geantwortet, darunter auch etliche, die das für sinnlos hielten oder
mit dem damaligen Ereignis nichts mehr zu tun haben wollten. Alle
damals eingegangenen Texte sind hier in dem Zeitdokument 14 "Rückblick aus dem Jahre 2000 - Erinnerungen an die 'Zwischenrede' 1989" enthalten und dort nachzulesen.
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