Thema | Kulturation 2/2003 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Ina Merkel | Im Spiegel des Fremden Die Weltfestspiele von 1973
| Nach
den Jahren der Abrechnung mit dem Unrechtssystem DDR, der SED-Diktatur
und Kommando-Wirtschaft ist neuerdings eine Deutungswende hin zu einem
gutwillig-wohlwollenden Erinnern an das putzige Alltagsleben in der DDR
zu beobachten. In diesen Trend fiel auch das 30jährige Jubiläum der
Weltfestspiele (28. 7. - 5. 8. 1973), die nunmehr als "legendäres"
Ereignis, als "Mythos" erinnert werden dürfen [1]. Die Medien bedienen
neuerdings unbefangen ein nostalgisches Erinnerungsbedürfnis, das noch
wenige Monate zuvor als Ostalgie abgekanzelt worden war. Das
verwundert, handelte es sich doch bei den Weltfestspielen um ein
organisiertes Politereignis mit eindeutig propagandistischem Impetus.
Noch 1998 hatte Stefan Wolle in seinem Buch "Die heile Welt der
Diktatur" den Inszenierungsaspekt betont. Seine These lautete: "Im
Unterschied zu früher waren die Überwachungs- und
Disziplinierungsmethoden weniger sichtbar und deshalb weitaus
effektiver geworden." [2] Die DDR hätte nach außen den schönen Schein
von Öffnung und politischer Toleranz organisiert, aber unmittelbar vor
dem Ereignis regelrechte "Säuberungen" von Asozialen, Geisteskranken,
Vorbestraften und HWG-Personen (Frauen mit häufig wechselndem
Geschlechtsverkehr) durchgeführt, die mit Ermittlungsverfahren und
Einweisungen in psychiatrische Kliniken, Jugendwerkhöfe oder durch
Berlin-Verbot aus dem öffentlichen Verkehr gezogen worden wären.
Kategorien, unter die auch politisch unliebsame Personen hätten fallen
können.
Überdies waren laut Stefan Wolle die teilnehmenden Jugendlichen
wochenlang vorher ideologisch eingeschworen und in Schulungslagern auf
den Umgang mit feindlichen Argumenten vorbereitet worden. Kurzum: die
DDR hätte sich ohne viel öffentlichen Aufhebens provokanter Personen
bereits vorweg entledigt. Wolles Deutung legt die Vermutung nahe, dass
vor allem "linientreue FDJler" aus allen Teilen der Republik
herangekarrt wurden, mit Essbeuteln und Freibiermarken geködert, mit
Ost-Rock-Musik verführt - damit sie den neuen Staatschef Erich Honecker
gebührend feiern. Waren die Weltfestspiele nicht eindeutig ein
"Massenspektakel" [3], das zeigen sollte, inwieweit sich die Jugend der
DDR mit dem Staat identifizierte? Liegt die Affirmationsfunktion dieses
Festivals nicht eindeutig auf der Hand?
Was ist es, dass es in diesem Sommer geradezu euphorisch von den Medien
erinnert wurde? Ordnen sich die Weltfestspiele einfach nur ein in eine
neuerliche Welle der Ostalgie, 13 Jahre nach der Wende? Oder ist "die
Zeit reif für einen Rückblick, frei von Abrechnungen und brutalen
Verteilungskämpfen um Posten und Diskurshoheit", für eine
"Bestandsaufnahme ohne die Gefahr der schwärmerischen Verklärung", wie
das Berliner Stadtjournal Zitty schreibt? [4] Das mag durchaus sein,
aber wieso könnten sich die Weltfestspiele für einen solchen Zugang
eignen? Möglicherweise deshalb, weil sie als ein massenkulturelles
Ereignis ambivalenten Deutungen zugänglich sind. Die Weltfestspiele
waren für diejenigen, die daran teilgenommen haben, ein prägendes
Erlebnis, das sich nicht allein in politischen Kategorien beschreiben
läßt, sondern eine kulturelle, eine lebensweltliche Dimension hat.
Genau darauf zielen auch die neuen Deutungsversuche, die sich mit
Begriffen wie: "das rote Woodstock" oder "sozialistische Blumenkinder"
dem Phänomen zu nähern suchen. Begriffe, die eine "Hippiesierung" der
DDR nahe legen, deuten sie doch auf eine jugendkulturelle
Aneignungsweise des Festivals, fern von Politisierung und
Instrumentalisierung.
Doch auch darauf lassen sich die Weltfestspiele, obwohl sie im Berliner
Volksmund hinterher "Weltbettspiele" genannt wurden, schwerlich
festlegen. Das Bild von den Hippies trägt nur zum Teil, denn das war
nicht der entscheidende jugendkulturelle Bezugspunkt. Den boten
vielmehr die linken Protestkulturen: Che Guevara, Nelson Mandela,
Angela Davis, die nationalen Befreiungsbewegungen und der Wahlsieg des
chilenischen Volkes. Sie wurden während der Westfestspiele begeistert
gefeiert. Sicherlich, und das macht die Ambivalenz aus, in der
Kombination von politischer Aussage und subkulturellem Habitus. Dass
sich der politische Protest lebensweltlich ausdrückte, war das
Faszinierende. Das Pathos von Revolution, Aufstand und Protest verband
sich mit einem attraktiven Outfit: langen Haaren und wallenden Bärten,
wilden Klamotten und ungezwungenem Verhalten. Die Unkonventionalität,
nach der der jugendkulturelle Ausdruck immer strebt, verknüpfte sich
mit dem Gestus der Weltveränderung. Das Politische war in seiner
exotischen Gestalt auf neue Weise attraktiv geworden.
In diesem Zusammenhang ein "Kulturschockerlebnis für DDR-Jugend" [5]5
zu vermuten, wirkt etwas übertrieben. Die Weltfestspiele bedeuteten nun
wirklich nicht den "massiven Einfall westlicher Kultur, westlicher Mode
und Lebenshaltung". So hinter dem Mond war die DDR-Jugend nun auch
wieder nicht. Via Fernsehen und Radio, Kino-Filmen, Verwandten und
Intershops war der Westen auch nach dem Mauerbau allgegenwärtig und die
DDR-Bürger waren mit ständigem Vergleichen beschäftigt. Interessant an
den Weltfestspielen war eher, dass man hier Bekanntschaft mit
Westmenschen machen konnte, die von der sozialistischen Idee fasziniert
waren und sich die DDR mit freundlichen Augen besahen. Denn das
Negativbild war man gewöhnt - angefangen von den Westmedien bis zu den
nörgelnden Verwandten mit ihren Schikanegeschichten von der
Grenzkontrolle - das Positivbild hingegen nicht. Aber das Kulturschock
nennen?
Eher schon könnte die Präsenz fremder Kulturen und Lebensweisen
überraschend und überwältigend gewesen sein: Franzosen und Briten,
Italiener, Spanier und Griechen, Afrikaner und Asiaten, kurz:
Jugendliche aus der ganzen Welt, die sich sichtlich in der DDR
vergnügten und mit denen man bei aller Fremdartigkeit und wohl auch
Exotik bestimmte linke Weltanschauungen teilte. Es gab, und vielleicht
war das eine der schönsten Erfahrungen, die man während der
Weltfestspiele machen konnte, einen antikolonialistischen Konsens, der
über weltanschauliche und ideologische Differenzen hinweg reichte. D.h.
so fremd waren diese jungen Leute nicht - das war eine linke Jugend,
mit der man sich ganz schnell über bestimmte Dinge einig sein konnte.
Eine letzte Deutung interpretiert die Weltfestspiele als den Anfang vom
Ende der DDR. Dieser Anfang vom Ende ist in den letzten Jahren überall
vermutet worden: 1953, 1961, 1968 usw. usf., warum also nicht auch
1973? Im Nachhinein lassen sich die Anzeichen für den Untergang
vielleicht leichter erkennen. Die 70er Jahre waren allerdings eher von
einer Aufbruchstimmung gekennzeichnet. Das hatte mit dem neuen
Staatschef zu tun, vor allem aber auch mit dem Durchbrechen der
weltpolitischen Isolation der DDR. 1973 waren beide deutsche Staaten in
die UNO aufgenommen worden, die DDR wurde endlich weltweit diplomatisch
anerkannt, was damals als "Anerkennungswelle" gefeiert wurde. Die
Öffnung nach außen war zunächst von einer Liberalisierung nach innen
begleitet, beides Momente, aus denen die DDR-Bevölkerung Hoffnung auf
Veränderung schöpfen konnte. Ihre Erwartungen wurden in den folgenden
Jahren vielfach enttäuscht, und viele zogen daraus die Konsequenz, der
DDR ganz den Rücken zu kehren. In der Tat war das dann der Anfang vom
Ende.
Ich will im folgenden aus der Auseinandersetzung mit diesen Neudeutungen zwei Gedankenstränge entwickeln:
1. Eine wichtige Funktion der Weltfestspiele bestand darin, als Bühne
für die Außenrepräsentation der DDR zu dienen, auf der sie
Weltoffenheit demonstrieren konnte. Dies erforderte eine tatsächliche
Öffnung und ermöglichte so vielen DDR-Bürgern die leibhaftige Begegnung
mit dem Fremden, d.h. mit alternativen Denk- und Lebensweisen. Das war
eine Erfahrung, die sich nicht mehr zurücknehmen ließ.
2. Eine zweite Funktion der Weltfestspiele bestand darin, die
Zustimmung, das Bekenntnis der Jugend zur Politik der Staatsführung
einzuholen und der Bevölkerung vorzuführen. Dabei wurden alte Rituale
der politischen Kultur (Kundgebung, Demonstration) mit aktuellen
jugendkulturellen Formen (Rockfestival) zu einem neuen
Veranstaltungsmuster gemischt, erfolgreich erprobt und in den
Folgejahren tradiert: dem Jugendfestival. [6]6 Bereits in der
Vorbereitung auf das Festival bedeutete dies eine jugendpolitische
Kehrtwende, die die Entfaltung einer eigenen Jugendkultur in Clubs,
Bands, Mode, Musik usw. ermöglichte. Auf diese Weise konnte ein bis
dahin politisch abstinenter Teil der Jugend, wenigstens der äußerlichen
Form nach, in die Staatsdoktrin integriert werden.
Die Weltfestspiele von 1973 darf man dennoch nicht überbewerten. Sie
bedeuteten keine Zäsur im Leben der DDR. Weder in politischer noch in
alltagskultureller Hinsicht stellten sie einen Bruch mit den bisherigen
Verhältnissen dar. Insofern eignet sich das Ereignis auch nicht recht
zur Generationenbildung im Mannheimschen Sinne. Allerdings war das
Erlebnis mit einigen neuartigen Erfahrungen verknüpft, die für die
jugendlichen Teilnehmer eine politische bzw. subkulturelle Initiation
bedeuten konnten. Und vor allem von diesem Teil der Jugend, der sich
politisch und kulturell interessierte, der noch bereit war, sich zu
engagieren, der noch erfüllt war von Idealen und der zugleich kritisch
der eigenen Gesellschaft gegenüberstand, wird im folgenden die Rede
sein.
Begegnungen mit dem Fremden
Mit der vergleichsweise geringen Präsenz von Ausländern in der DDR
(kaum Gastarbeiter, wenige Städte wie Rostock, Leipzig und Berlin mit
ausländischen Geschäftsleuten, Politikern oder Touristen usw.) ist ein
deutlicher Unterschied zur Bundesrepublik oder auch zu anderen modernen
Industriestaaten benannt. Sicher gab es einige eingeheiratete
Sowjetbürger, Polen, Tschechen oder Amerikaner, aber sie fielen nicht
nur nicht ins Gewicht, sie fielen auch nicht auf. Es ist die fast
vollständige Abwesenheit fremder Kulturen, die rückblickend bedeutsam
zu sein scheint. Diese geringe Präsenz von Ausländern wurde auch schon
damals eher bedauert. Fremde, die die DDR besuchten, bedeuteten eine
Wertschätzung des eigenen Landes. Deshalb wurden sie auch mit Freude
empfangen. "Die Jugend der Welt bei uns zu Gast" - das war ein Slogan
voller Stolz: Man kommt uns besuchen! Endlich kommt man auch uns
besuchen!
Die Weltfestspiele stehen in einem engen Zusammenhang mit der 1969
angelaufenen "Anerkennungswelle", mit der die lange anhaltende
diplomatische Blockade durchbrochen wurde. Den Anfang machten
asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Staaten: Ägypten,
Algerien, Chile, Guinea, Irak, Kambodscha, der Kongo, Somalia, der
Sudan und Syrien. Mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags mit der
BRD (21. Dezember 1972) endete der erpresserische Druck seitens der BRD
und so nahmen eine ganze Reihe weiterer Staaten zur DDR diplomatische
Beziehungen auf. Zu nennen sind hier vor allem Australien, Belgien,
Burundi, Dänemark, Finnland, Frankreich, Ghana, Griechenland,
Großbritannien, Indonesien, Iran, Island, Italien, Japan, Kamerun,
Kolumbien, Kuwait, der Libanon, Libyen, Luxemburg, Marokko, Mexiko, die
Niederlande, Norwegen, Österreich, Pakistan, Peru, Sambia, Schweden,
die Schweiz, Spanien und Thailand. Die USA ließen sich von den drei
westalliierten Mächten am längsten Zeit und nahmen erst im September
1974 diplomatische Beziehungen mit der DDR auf.
Mit dem Grundlagenvertrag gab die BRD ihren Alleinvertretungsanspruch
(Hallstein-Doktrin) auf. Er bedeutete de facto die gegenseitige
Anerkennung als souveräne Staaten. Das Staatsbürgerschaftsproblem wurde
mit diesem Dokument jedoch nicht gelöst, sondern musste ausgeklammert
bleiben. Deshalb wurde das Reisebegehren der DDR-Bürger in Richtung
Westen weiter restriktiv beschränkt, jedenfalls war das eines der
offiziellen Argumente. Einen politischen Höhepunkt in diesem
Anerkennungsprozess stellte die gleichzeitige Aufnahme beider deutscher
Staaten in die Vereinten Nationen als 133. und 134. Mitglied am 18.
Januar 1973 dar. Symbolisch steht dieses Datum für den Beginn einer
neuen Ära - der friedlichen Koexistenz -, für das Bemühen von Ost und
West, aufeinander zuzugehen, für die Anerkennung der Teilung
Deutschlands als Folge des II. Weltkrieges. Dieser Hintergrund ist für
das Verständnis der politischen Funktion der Weltfestspiele wichtig -
nach innen und nach außen wurde das Prinzip der friedlichen Koexistenz
demonstriert. Die weltweite diplomatische Anerkennung der DDR löste in
der DDR selbst Hoffnungen auf eine weitergehende, auch innenpolitische
Öffnung aus.
Dabei bedeuteten die diplomatischen Kontakte zu den verschiedenen
Welten: den westlichen Industrienationen, den jungen Nationalstaaten
oder den sozialistischen Länder etwas sehr Verschiedenes und löste
höchst unterschiedliche Erwartungen bei den DDR-Bürgern aus. Das Fremde
war ja nicht einfach alles, was außerhalb der DDR lag, es war nicht
homogen, sondern hatte sehr unterschiedliche Facetten und es ist zu
fragen, was die verschiedenen Perspektiven im Zusammenhang mit der
konkreten Erfahrung während der Weltfestspiele bedeuteten.
Bruderländer
Die konkretesten Erfahrungen mit dem Fremden haben DDR-Bürger zu diesem
Zeitpunkt vor allem mit den "Bruderländern" sammeln können. Die
Orientierung auf die Sowjetunion (die "Freunde") und die
osteuropäischen Nachbarländer war nicht unattraktiv. Bei Reisen ins
sozialistische Ausland konnten DDR-Bürger erste Fremdheitserfahrungen
machen, begrenzt - gleichwohl nicht unwichtig. Zum Zeitpunkt der
Weltfestspiele dürfte man bei der dort feiernden Jugend davon ausgehen,
dass sie zumindest schon einmal eines der unmittelbaren Nachbarländer:
Polen bzw. die Tschechoslowakei, besucht hatten. Reisen nach Ungarn,
Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien oder die Sowjetunion lagen ebenfalls
im Bereich des Denkbaren.
Trotz der ähnlichen Staats- und Wirtschaftsstrukturen waren die
Unterschiede auffällig: einerseits erschien die DDR sehr viel sauberer,
organisierter, disziplinierter, reicher - andererseits hatten diese
Länder etwas Exotisches zu bieten: Sonne, Meer, Früchte,
Folkloristisches, Gastfreundschaft, Lockerheit, Temperament, Kultur und
Geschichte. Die Erfahrungen, die DDR-Bürger in den sozialistischen
Bruderländern machen konnten, waren denen der Bundesdeutschen in
Italien, Spanien oder Südfrankreich vergleichbar. Im Zusammenhang mit
den Weltfestspielen waren vor allem die Polen, Tschechen und Ungarn
auch insofern attraktiv, als sie schon seit Jahren eine eigene
Jugendkultur zugelassen und gefördert hatten. Aus diesen Ländern
stammten bekannte Rockgruppen (Omega, Rote Gitarren, Illes, No to co
usw.) die internationales Prestige hatten. In Krakau, Budapest und Prag
gab es Jazzkeller und Szenekneipen. Man konnte dort Platten von den
Beatles und den Rolling Stones kaufen, mal ganz abgesehen von Jeans und
T-Shirts. In jugendkultureller Hinsicht boten sich in diesen Ländern
Möglichkeiten, von denen die DDR-Jugendlichen nur träumen konnten.
Dritte Welt
Gegenüber den jungen Nationalstaaten zeigten sich die DDR-Jugendlichen
in bester antirassistischer Räson - als auf Völkerfreundschaft hin
sozialisiert. Vom Kindergarten an wurden solidarische Verhaltensweisen
eingeübt und zwar als etwas Aktives: für den Solidaritätsbasar Kuchen
backen, Topflappen häkeln, Sticker basteln - dem Einfallsreichtum waren
da keine Grenzen gesetzt. Es fühlte sich gut an, zu geben, großzügig zu
sein. Noch als Studenten haben wir mit großem Erfolg Versteigerungen
veranstaltet, Antiquitäten gesammelt, Bücherspenden erbeten, selbst
armgroße Pappmache-Puppen gebastelt - Karikaturen unserer Professoren.
Von dem Erlös wurden Kindersachen und Spielzeug gekauft und mit dem
Schiff nach Mozambique geschickt, wo ein ehemaliger Mitstudent als
Aufbauhelfer arbeitete. Solch besonderes Engagement deutet allerdings
auch darauf hin, dass sich die Rituale der Solidarität abnutzten,
formalisiert durchgeführt wurden, unter moralischem Druck standen.
Solidarität zu üben, war ein politisches Gebot.
Von den Ländern, in die die Spenden gingen, wusste man wenig
Nicht-Politisches, kaum etwas, das nicht mit Befreiungskampf,
Bürgerkrieg oder politischer Revolte zu tun hatte. Die Menschen dort
waren arm, aber es schien die Sonne und es gab viel blaues Meer. Auf
Kuba wuchs vor allem Zuckerrohr, in Vietnam Reis und in Afrika
herrschte Dürre. In der Vorstellung der DDR-Jugend waren das keine von
Bananen, Apfelsinen oder Ananas überquellenden Länder. Sie waren nicht
wegen ihrer exotischen Genüsse interessant, sondern wegen ihres
abenteuerlichen Befreiungskampfes. Die dort agierenden
Befreiungsbewegungen waren kämpferisch, kraftvoll, mutig, ihre
Protagonisten wurden eingesperrt, gequält, ermordet, sie teilten
gewissermaßen das Schicksal der Widerstandskämpfer im Dritten Reich,
deren Geschichten wieder und wieder erzählt worden waren. Es waren
moderne Widerstandsbewegungen, in denen die Mythen des
Partisanenkampfes, der konspirativen Gruppe, des bewaffneten Aufstandes
neu auflebten. Die Widerstandskämpfer, die von früher erzählten, waren
alte Männer, die Kämpfer in den Befreiungsbewegungen aber strahlten im
Licht der Jugendlichkeit. Der Nationalsozialismus war besiegt, an
diesen Befreiungsbewegungen aber konnte man vielleicht sogar noch
teilnehmen. Die DDR-Jugend dachte nicht in Kategorien von Reisefreiheit
oder Urlaub, wenn sie diese Länder als künftige Reiseziele in Betracht
zog, sondern sah sich als Kämpfer im Dschungel, als Forscher oder
Entwicklungshelfer.
Der Westen
Bei der Begegnung mit dem Westen stellt sich die Frage, wie fremd er
eigentlich war oder besser: in welcher Hinsicht er fremd erschien.
Historisch gesehen gehörte die DDR zum gleichen abendländischen
Kulturkreis, sie war ein moderner Industriestaat. An die
konsumkulturellen Entwicklungen war man partiell über die
Verwandtschaft, die Delikat- und Exquisitläden und die Intershops
angeschlossen. Virtuell nahm man via Medien an der Musikkultur und den
jugendlichen Subkulturen teil. Die Westdeutschen waren in diesem
Zusammenhang nicht sonderlich interessant, nicht fremdartig genug,
außerdem ohne dieses Charisma des Aufständischen, an dem es auch der
sozialistischen DDR mangelte.
In politischer Hinsicht erschien der Westen äußerst heterogen -
zersplittert und zerstritten in die verschiedensten Richtungen, die
sich auf den Weltfestspielen gegenseitig in Streitgespräche
verwickelten. Jusos gegen Junge Liberale, Christen in der
Auseinandersetzung mit Kommunisten. Das nahm man erstaunt zur Kenntnis,
aber mit den eigenen Problemen hatte das nur wenig zu tun. Auch die
heute so eifrig von ihnen selbst erinnerten Auftritte von Politikern
oder Journalisten wie Löwenthal auf dem Alexanderplatz wurden nicht
goutiert. Sie waren auf antikommunistische Agitation aus, und zielten
damit am linken jugendkulturellen Protestschema vorbei.
Die Fern-Sehnsüchte der DDR-Jugendlichen reichten weit über
Westdeutschland hinaus, sie richteten sich nach Frankreich, Italien,
Großbritannien, Spanien, Griechenland, Kanada und die USA, das lässt
sich auch deutlich an den ersten Reisezielen nach Mauerfall ablesen. Es
lockten die alten Kulturen, die modernen Städte, die beeindruckenden
Landschaften, die Folklore, das Essen - kurz alles, was den
touristischen Reiz dieser Länder ausmacht.
Man muss sich in diesem Zusammenhang sicher fragen, welche Rolle die
nicht gegebene Reisefreiheit in den Westen in dieser rein unter
sozialistischen Verhältnissen aufgewachsenen Jugend spielte. Nehmen wir
die Jahrgänge 1948 bis 1958 - die damals 15-25 Jährigen als größte
teilnehmende Gruppe an, dann handelt sich um Jugendliche, die mit der
1961 endgültig geschlossenen Grenze aufgewachsen sind, sie bereits als
unverrückbare Selbstverständlichkeit kennen gelernt haben, und die ihre
politische Sozialisation Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre
erfahren haben, einer Zeit, in der die DDR diplomatisch anerkannt
wurde. Damit verband sich die - nicht ganz unbegründete - Hoffnung,
dass sich auf diesem Wege irgendwann auch das
Staatsbürgerschaftsproblem mit der Bundesrepublik lösen und damit der
Reiseweg in den Westen öffnen würde. Die Polen, Tschechen und Ungarn
durften schließlich auch reisen - allerdings mußten sie an den
Westgrenzen entsprechende Devisenbeträge vorweisen.
Reisemöglichkeiten schienen sich also perspektivisch zu erweitern:
durch die Befreiungskämpfe Richtung Dritte Welt, durch die
diplomatische Anerkennung auch Richtung Westen. Die Weltfestspiele
schienen dafür ein Zeichen zu setzen. Viele in meinem Umfeld waren
davon überzeugt, dass sich das Problem der Mauer über kurz oder lang
von selbst erledigen würde - nicht im Sinne einer Wiedervereinigung,
sondern im Sinne der Normalisierung völkerrechtlicher Beziehungen. Die
Demonstration von Weltoffenheit, die die politische Führung anstrebte,
war deshalb ein Bestreben, das die DDR-Bevölkerung und insbesondere die
Jugend, teilte. Die Interessen trafen sich in diesem Punkt.
Linke Protestkulturen
Die eigentliche Bezauberung ging während der Weltfestspiele von den
linken jugendlichen Protestkulturen aus: Studentenbewegung, Black
Panther, Friedensbewegung, Hippies usw., die sich ihrerseits auf
nationale Befreiungsbewegungen bezogen: Kuba, Vietnam, Afrika und mit
diesen eine faszinierende Allianz eingegangen waren. Sie boten eine Art
Revolutionsersatz. D.h. der Exotismus speiste sich weniger aus der
Konsumkultur oder der fremden Lebensweise, sondern vielmehr aus dem
Pathos der Revolution, des Aufstandes oder des Kampfes um die
Unabhängigkeit. Die Vietnamesen wurden umjubelt und die Chilenen als
diejenigen, denen als ersten auf demokratischem Wege ein Wahlsieg
gelungen war, gefeiert, die Kubaner angehimmelt und die Afrikaner
begeistert begrüßt. Die Helden hießen Ho Chi Minh, Che Guevara, Angela
Davis und Salvatore Allende. Das Charisma der linken
antikolonialistischen und antikapitalistischen Protestkultur -
kämpferisch, anarchistisch, enthusiastisch - strahlte aus der Dritten
Welt über die westlichen Jugendkulturen bis in die DDR hinein. Sie
gaben deren antirassistischer Räson einen neuen Inhalt und Sinn.
Während der Weltfestspiele durfte die DDR-Jugend kurzzeitig Teil dieser
Bewegung sein, die sie sonst mit großen Augen von außen bewunderte. Die
DDR bot den linken Protestkulturen eine Bühne und ein begeistertes
Publikum.
Die Begegnung mit dem Fremden zielte während der Weltfestspiele nicht
auf das Herausfinden von (ethnischer) Differenz, sondern von
Gemeinsamkeiten ab. Das entspricht ganz dem Paradigma des dem
Kommunistischen Manifest vorangestellten Slogans: Proletarier aller
Länder vereinigt Euch! Ebensowenig wie Geschlechtsunterschiede gelten
ethnische oder nationale Unterschiede als relevant für die
revolutionäre Bewegung. Die Grenzen verlaufen zwischen Arm und Reich,
Arbeit und Kapital, unterdrückten Völkern und Kolonialherren. Ethnische
Besonderheiten - so es sie denn überhaupt substanziell gibt und sie
nicht ohnehin eine Konstruktion sind - haben ihre Geltung höchstens auf
der lebensweltlichen Ebene und hier lösen sie vielleicht
(individuelles) Interesse aneinander aus, bilden aber keine Grundlage
für Ab- oder Ausgrenzung. Dieses Paradigma der kommunistischen Utopie -
Frieden und Völkerfreundschaft hieß das auf DDR-deutsch - beherrschte
das Klima während der Weltfestspiele.
Das heißt nicht, dass Staatsführung oder Bevölkerung frei gewesen wären
von Norm- und Wertvorstellungen, die an christlich-abendländische
Traditionen und die protestantische Ethik anknüpfen und an denen sich
die Anderen messen lassen mussten: Pünktlichkeit, Ordnung, Sauberkeit,
Fleiß, Sparsamkeit usw. Nicht vorgesehen in diesem Kanon sind
Hedonismus, Vergnügen und Ausgelassenheit. Der Norm- und
Wertzusammenhang spielt in der Sphäre der Arbeit und der Politik, die
realen Begegnungen mit dem Fremden aber finden vor allem in der Sphäre
des Konsums (exotische Früchte, Tücher, Waren) und der Freizeit
(Ferienlandschaften, Musik, Tanz, Geschmack) statt. Hier wird das
Fremde angeeignet, einverleibt, exotisiert. Die alternative
Rationalität jedoch, die fremde Kulturen ausmacht, wird in beiden
Kontexten mehr oder weniger negiert. Die Begegnung mit dem Fremden
gerät nicht zur Irritation, sondern dient der Bestätigung des Eigenen.
Doch dieses Muster funktionierte nicht in der Begegnung mit den
modernen linken Protestkulturen. Die alternative Rationalität steht
unübersehbar im Vordergrund, es handelt sich um Gegenbewegungen: anders
arbeiten, anders Politik machen, anders lieben, anders leben. Im
subkulturellen Ambiente der linken Protestbewegungen wie der Hippies
ist der Zusammenhang von Arbeit (oder Nicht-Arbeit), Politik (oder
Nicht-Politik) und Konsum (oder Anti-Konsum) als ganzheitliche
Lebensweise ausgebildet. Das lässt sich nicht einfach nachmachen,
aneignen oder integrieren, das irritiert, stößt an Grenzen, provoziert,
lässt das Eigene in einem anderen Licht erscheinen. In der Begegnung
mit den linken Protestkulturen, so meine These, machte die DDR-Jugend
daher ihre eigentliche Fremdheitserfahrung. In dieser Begegnung
entsteht während der Weltfestspiele etwas Neues, so bisher nicht
Dagewesenes: eine neue Form politischer Diskussionskultur.
Entscheidend für das Gelingen der Weltfestspiele war, dass sich die
jugendkulturelle Spontaneität überall Bahn brechen konnte: spontane
Diskussionsrunden auf der Straße, in Jugendklubs, in der Kirche - es
entfaltete sich eine intellektuell anregende Diskussionskultur mit
nächtelangen Streitgesprächen. Wichtig waren nicht nur die Begegnungen
mit Westdeutschen, sondern vor allem die mit DDR-Andersdenkenden, bspw.
Christen. Ich scheue mich davor, sie als Dissidenten oder
Oppositionelle zu bezeichnen, das sind sie vielleicht später geworden.
Zunächst einmal aber boten die Straße oder die Kirche vermittelt über
fremde Diskussionspartner die Chance zur Auseinandersetzung über die
eigenen Vorstellungen vom Sozialismus. Klaus Renft reflektiert das aus
heutiger Sicht so: "Und das (Revolution machen) das wollten wir ja, wir
waren ja überzeugte Sozialisten, aber wir wollten einen demokratischen
Sozialismus, einen menschlichen Sozialismus!" [7]
Dem Festival gelang es, die Idee vom Sozialismus mit einem neuen
Charisma auszustatten, sie aus der Veralltäglichung herauszuholen,
Emotionen zu erneuern. Und das funktionierte vermittelt über die
Fremden: Lateinamerikaner, Vietnamesen, Afrikaner, linke
Protestkulturen, die alle um eine andere Gesellschaft kämpften. Der
Sozialismus hatte sich als Idee in der DDR schon fast verbraucht, über
die um ihre Befreiung kämpfenden Völker floß ihr neuerlich
Attraktivität zu. Insbesondere auf der lebensweltlichen Ebene
erschienen die musikalischen Chilenen, die tänzerischen Afrikaner, die
ausgelassenen Kubaner auch als eine Verheißung auf eine andere -
menschlichere - Art von Sozialismus. Einen Sozialismus, der Spaß macht.
Das machte den emotionalen Erfolg der Westfestspiele im Unterschied zu
den vorher und nachher zelebrierten Festivals aus - die nämlich litten
am Mangel von starken Symbolen, die sich für eine kultische Verehrung
und Sinnbildung geeignet hätten. Nationale Symbole waren nach dem NS
desavouiert, ebenso wie Führerbilder nach der Stalin-Ära. Dieser Mangel
an sozialismuseigenen oder DDR-spezifischen Symbolen war bei den
Weltfestspielen kein Problem, denn die tragenden Symbole wurden von den
anderen mitgebracht: das Palästinensertuch, die vietnamesische Uniform,
die chilenische Fahne und die krausen Haare. Symbolfiguren wie Angela
Davis - Mitglied der Black Panther, am 4. Juni 1972 aus dem Gefängnis
entlassen, Che Guevara - obwohl bereits tot stand er für die Revolution
in Lateinamerika, Salvatore Allende - der Mann, dem es gelungen war,
auf demokratischem Wege zu siegen usw. verschaffte die DDR ein Podium
und verhalf ihnen zu einem unglaublichen Glanz. Dass sie dabei selbst
im Schatten stand, machte sie eher sympathisch. Das Streben dieser
Staaten nach sozialismusähnlichen Gesellschaftsformen bestätigte
sozusagen indirekt die (langweilige) DDR - die wollten dahin, wo wir
schon waren. Aber vielleicht war darin ja auch die Chance enthalten,
dass die DDR anders wurde - in diesen wenigen Tagen jedenfalls war sie
es.
Unverhofft befanden sich die DDR-Jugendlichen im Brennpunkt utopischer
Spiegelungen: Die DDR zwar nicht als Paradies aber doch als
erstrebenswerte gesellschaftliche Alternative (Frieden, sexuelle
Libertinage, soziale Sicherheit, Ausbildungs- und Berufsperspektiven).
Es gab unter den Jugendlichen scheinbar keine Grenzen der
Verständigung, es herrschte vielmehr eine Form der nonverbalen
Übereinstimmung auf der Grundlage eines politischen Konsenses, der
nicht thematisiert werden mußte. Die DDR-Jugend erlebte die Faszination
der anderen von dieser so offen und freiheitlich erscheinenden DDR.
Damit waren die DDR-Jugendlichen Gleiche unter Gleichen, die üblichen
Herabsetzungen, die gewohnten Demütigungen griffen nicht - weder von
Seiten der eigenen Regierung noch aus der Perspektive des Westens.
Frieden, nationale Befreiung, Kampf gegen Rassendiskriminierung waren
Politikfelder, die sich außerhalb des deutsch-deutschen Konfliktes
befanden, in dem es wesentlich um die Überlegenheit des jeweils anderen
politischen Systems ging. Über das Fremde konnte man einen partiellen
Konsens miteinander erreichen, der dann über Konfliktpunkte,
unterschiedliche Auffassungen über das politische System hinweghalf.
Darüber hinaus spielte sicherlich das gegenseitige Interesse
aneinander, der Wunsch, langfristig Kontakte zu knüpfen usw. eine
Rolle, so dass man sich auf beiden Seiten des politischen Lagers
tolerant, interessiert und flexibel gab. Im Zentrum der Diskussion
stand nicht die Überzeugung, sondern die Begegnung. Die DDR zeigte
während der Weltfestspiele Weltoffenheit im besten Sinne des Wortes,
indem sie die öffentliche und freie Rede zuließ.
Rituale der politischen Kultur und ihre jugendkulturelle Aneignung
Das Feiern politischer Feste hat in der Arbeiterbewegung und somit auch
in der sozialistischen DDR, die sich in ihrer Erbfolge fühlte, eine
lange Geschichte. Dabei vermischen sich zwei Traditionen: die
Demonstration bzw. Kundgebung und die hymnische Feier, das Fest.
Während Demonstration und Kundgebung oft konkrete Anlässe hatten und
der Protestkultur zuzurechnen sind, hatten Feste und Feiern eher
rituellen Charakter und die Funktion, Gemeinschaft zu stiften. In der
DDR wurden mit Vorliebe Festmärsche inszeniert, deren wichtigster
Inhalt das (Glaubens)-Bekenntnis zur Staats- und Parteiführung war. Im
Anschluss an den Marsch gab es oft ausgiebige Feiern.
Zelebriert wurden auf diese Weise wiederkehrende Jahrestage wie der
Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (Trauermarsch zum
Grabmal an der Tribüne der Parteiführung vorbei), der 1. Mai
(Vorbeimarsch an der Tribüne mit der Parteiführung, Volksfest) und der
7. Oktober (Gründungstag: vorabendlicher Fackelzug, Militärparade,
Volksfest). Aufmärsche gab es darüber hinaus anlässlich des Tages der
Befreiung (8. Mai, vor den sowjetischen Ehrenmalen), und von
Parteitagen.
Fast alle dieser politischen Massenveranstaltungen stellten eine
Mischung aus politischem Bekenntnis zum Staat und anschließendem
Volksfest dar. Erst zog man bspw. am 1. Mai witzelnd und schwatzend bis
vor die Tribüne und versuchte, einen Blick auf die neue Frisur von
Margot Honecker zu erhaschen. Am Nachmittag dann bummelte man durch die
Straßen, wo Buden mit allem möglichen Krimskrams aufgebaut worden
waren, kostenlose Kinderspiele, Lesungen, Konzerte usw. stattfanden.
Der Verdacht liegt nahe, dass hier Pflicht und Belohnung in einem
Zusammenhang standen. Die Staatsführung brauchte die Massenaufläufe zur
Demonstration ihrer Legitimität, die sie sich ja nicht durch Wahlen
erworben hatte. Das Bedürfnis, sich selbst zu feiern, die Zustimmung
der Bevölkerung einzuholen und an das eingeforderte Bekenntnis
anschließend auch noch zu glauben, mutet absurd an. Entleerte Rituale
als Ersatz für Idealismus und Euphorie?
Die Teilnahme an solchen bekennenden Festmärschen wurde im Verlauf der
DDR-Geschichte insbesondere für Jugendliche mehr und mehr zum Problem.
Solange die Gruppe der FDJler an einer Schule an einer Hand abzuzählen
war, bedeutete das Bekenntnis etwas, denn man hob sich damit aus der
Masse heraus, erntete dafür Bewunderung oder Spott und Beschimpfung.
Spätestens Ende der 60er Jahre dürften aber fast alle Jugendlichen erst
Mitglieder der Pionierorganisation, später dann der FDJ gewesen sein.
In der Masse zum Bekenntnis aufzumarschieren, wurde zu einer peinlichen
Pflichtübung. Das FDJ-Hemd wurde in der Mappe versteckt, kurz vor der
Schule angezogen und möglichst schnell wieder ausgezogen. Während die
Protestdemonstration rational-aufklärerisch daherkommt, hatte das
abverlangte Bekenntnis zum sozialistischen Staat quasi-religiösen
Charakter.
Während der Weltfestspiele wurden alle langjährig erprobten Elemente
sozialistischer Festkultur zelebriert: aus der Sportveranstaltung
stammte der Einzug der Delegationen mit anschließender Massenshow im
Stadion der Weltjugend, einer Demonstration glich der Fackelzug zum
Treptower Ehrenmal für den unbekannten sowjetischen Soldaten, es fanden
Kundgebungen statt und ein Festival des politischen Liedes mit
Auftritten berühmter Liedermacher veranstaltet. Auf den Straßen ging es
zu wie bei einem mehrtägigen Volksfest mit Verkaufsbuden,
Straßenbühnen, Essen und Trinken. Doch es kamen auch zwei neue Elemente
hinzu, die beide direkt an jugendkulturelle Erlebnismuster anknüpften:
das Rockfestival und die Vermarktung des Ereignisses durch die Kreation
einer eigenen Mode. Darüber hinaus fand etwas statt, das so vermutlich
nicht geplant gewesen war aber mit Gelassenheit geduldet wurde: die
spontane Aneignung öffentlicher Straßen und Plätze bis tief in die
Nacht mit Tanz und Musik.
Das Rockfestival
Der Staats- und Parteiführung hatte die Jugend - die "Hausherren von
morgen" - schon immer besonders am Herzen gelegen und sie hat versucht,
sie nach ihren Vorstellungen zu formen. Doch die Jugendzeit ist in
allen Gesellschaften eine Phase, in der Grenzen getestet und neue
Lebensformen ausprobiert werden. Auch die DDR-Jugend bot in ihrer
Konsum- und Westorientiertheit immer wieder Anlässe für
Auseinandersetzung und Konfrontation. Die Jugendpolitik reagierte
darauf unterschiedlich, es gab Phasen großer Härte auf die Phasen der
Liberalisierung folgten. Ablesbar ist das u. a. daran, wie sich
jugendkulturelle Erlebnismuster in der offiziellen Fest- und
Feierkultur Platz verschaffen konnten, ob bspw. westlich geprägte
Rockmusik erlaubt war oder nicht. Eigenständige jugendkulturelle
Entwicklungen konnten sich oft nur dann Raum verschaffen, wenn sie ein
politisches Interesse artikulierten. Während Tanzmusikgruppen immer
wieder Probleme bekamen, war die Singegruppenbewegung opportun. Während
der Weltfestspiele durften beide erstmals gleichberechtigt
nebeneinander agieren, es gab ein Festival des politischen Liedes und
es gab ein Festival der Rockmusik. Die Rockmusik rückte damit in den
Bereich der anerkannten populären Vergnügungsformen auf.
Während der gesamten Spiele waren auf Straßenbühnen Rockformationen aus
der DDR und anderen Ländern zu hören und zu sehen. Sie waren frei
zugänglich und erregten einen enormen Massenzulauf, der bis tief in die
Nacht anhielt. Um die Bühnen herum entfaltete sich ein fröhliches
Jugendleben auf Parkbänken und Rasenflächen. Insofern trifft der
Begriff "rotes Woodstock" durchaus etwas von der Veranstaltungsform
her.
Obwohl einige Gruppen spezielle Festivaltitel komponiert und getextet
hatten - "Ketten werden knapper..." von Renft ist eines der populärsten
Beispiele - waren die Veranstaltungen nicht vordergründig politisiert.
Aber sie waren auch keine reinen Musikveranstaltungen. Dass die
Verknüpfung von Politik und Rockmusik nicht nur möglich war, sondern
auch die massenhafte Zustimmung der Jugendlichen bekam, begeisterte die
DDR-Führung dermaßen, dass sie sie in späteren Jahren regelrecht zum
Muster ausbaute. Zunächst hatte das die Staats- und Parteiführung
allerdings schwere Überwindung gekostet.
Michael Rauhut hat die Hintergründe in seinem Buch über die
DDR-Rockmusik aufgearbeitet [8]. Noch in den 60er Jahren wurde
Rockmusik massiv als Ausgeburt des Imperialismus, als Zeichen des
kulturellen Untergangs bekämpft, war den Oberen zutiefst suspekt. Das
1965 stattfindende berüchtigte 11. Plenum, auf dem eine Vielzahl von
Filmen verboten wurde, beschäftigte sich dezidiert mit der
Jugendpolitik. Die vorsichtige Öffnung hin zu jugendkulturellen
populären Formen - im Anschluss an das Deutschlandtreffen der Jugend
1964 war ein eigener Jugendsender, DT 64, gegründet worden, auf dem die
neuerdings erlaubten DDR-Rockgruppen zu hören waren - wurde Ende 1965
rigide zurückgenommen. Rockmusik erschien als ein unkontrollierbares
Phänomen, man hatte Angst, die Jugendlichen würden der Politik
entgleiten.
Doch das Bedürfnis der Jugend nach Tanzmusik ließ sich nicht dauerhaft
eindämmen, zumal die osteuropäischen Nachbarländer in dieser Beziehung
offener waren. Ostdeutsche Jugendliche pilgerten zuhauf zu den
Konzerten nach Krakow oder Prag, standen stundenlang nach den Platten
von Omega, Czeslaw Njemen oder den Roten Gitarren an. 1969/70 schwenkte
die Politik allmählich auf diese Bedürfnisse ein. Rauhut spricht von
einer "Wende im tanzpolitischen Denken" [9], woraufhin der landeseigene
Rock langsam zum "gehätschelten Kulturgut" aufstieg. [10]
Als sich Anfang der 70er Jahre die Jugendabteilung des ZK der SED
erneut mit den Freizeitmöglichkeiten der Jugend beschäftigte, war sie
"entsetzt" darüber, wie unzureichend das Angebot war. Weder auf den
Dörfern noch in urbanen Zentren gab es genügend Möglichkeiten
"sinnvoller Freizeitbeschäftigung". Die Jugendlichen hingen auf den
Straßen und Plätzen ab, trieben sich in Klubs und Kneipen herum. Das
größte Risiko würde darin bestehen, "einen Bereich dem Selbstlauf zu
überlassen, und wo wir nicht sind, da sind eben andere, auch
nichtsozialistische Kräfte am Wirken.", argumentierte Günther Jahn, der
damalige Vorsitzende der FDJ. [11] Unter dem neuen Konzept von
Kontrolle und Integration entfaltete sich eine Kampagne, die darauf
abzielte, Jugendtanzveranstaltungen einzurichten und Tanzmusikgruppen
zu fördern.
Rauhut zeigt, dass bereits 1971 - und das ist für diesen Zusammenhang
wichtig - die Vorbereitungen auf die Weltfestspiele begannen. Merklich
erhöht wurde in diesem Zusammenhang die Zahl der Jugendklubs (allein
1973 wurden 1.200 Jugendklubs neu eröffnet) und auch die DDR-Rockmusik
wurde im Vorfeld gezielt popularisiert - vor allem durch den Rundfunk.
Auf den Weltfestspielen selber - und das mag das Label "rotes
Woodstock" provoziert haben - fanden täglich von 21.00 bis 1.00 Uhr auf
Freiflächen, in Gaststätten und Klubhäusern fast 100 Bälle statt - ein
Riesenangebot an Tanzmöglichkeiten. Darüber hinaus spielten auf
Straßenbühnen 200 Combos aus der ganzen DDR, 12 Berufs- und 33
Amateurorchester. "Von den DDR-Bands war alles vertreten, was Rang und
Namen besaß aber auch so mancher Newcomer: Thomas Natschinski und
Gruppe, Horst-Krüger-Septett, Pudhys, Express, Uve-Schikora-Combo,
Reinhard Lakomy, Renft, Scirocco, Panta Rhei, WIR, Rainer-Bloß-Sextett,
simultan, Minnesänger ... Opulent war auch die Liste an Gästen des
sozialistischen Auslands besetzt: Omega, Rote Gitarren, Skaldowie,
Locomotiv GT, Vaclav Neckar & Bazillen, Jiri Korn & Olympic,
Illes, 2+1, Anawa, Pavol Hammel, No to co, Halina Franckowiak, Singende
Gitarren etc. Aus westlichen Breiten wurden vorzugsweise Schlagerstars
und Protestsänger verpflichtet, Formationen wie Middle of the Road
(Großbritannien) und Mouth & McNeal (Niederlande) sicherten die
Popflanke ab." [12]
Im Finale der Weltfestspiele wurde nach einer Abschlußkundgebung eine
"Tanzstraße der Jugend" eröffnet, wo bis weit in die Nacht auf 30
Freilichtbühnen an die 50 Kapellen, etliche Solisten, Tanzorchester,
Chöre, Komiker, Artisten und Conferenciers auftraten. Das Arrangement
von Staat, Jugend und Rockmusikern schien perfekt, eine machtvolle
kulturpropagandistische Inszenierung.
Mit dem Rockfestival während der Weltfestspiele wurde ein neuer Typ von
Jugendfest kreiert, der auf der Verknüpfung von Musik und Politik
beruhte. Diese Vermischung wurde musterbildend: von da ab gab es kein
Jugendtreffen mehr ohne Rockbands. Erst der Aufmarsch oder die
Kundgebung, dann das Rockfestival. Beispielhaft dafür sind
Großveranstaltungen in den 80er Jahren, die unter der Überschrift "Rock
für den Frieden" große Massen von Jugendlichen anzogen.
Das hatte mit Woodstock nur noch entfernt Ähnlichkeit. Die
Jugendfestivals waren nichtkommerzielle Veranstaltungen, ohne Drogen
und mit einem politischen Anspruch, den die Rockbands und ihr Publikum
partiell teilten. Die DDR-Jugend bestätigte gewissermaßen die
außenpolitischen Intentionen der Staatsführung: sie war kritisch im
antikapitalistischen oder antikolonialistischen Sinne und insofern
Woodstock nicht unähnlich. Aber sie begehrte nicht gegen den eigenen
Staat auf, jedenfalls nicht während dieser offiziellen Veranstaltungen.
Ein politisches Ereignis wurde in populäre und "jugendgemäße"
Vergnügungsformen eingebettet. Das verlangte, dass sich die Rockmusiker
mindestens loyal gegenüber der Staats- und Parteiführung verhielten.
Das Ergebnis war eine zentrale symbolische Aufwertung von Rockmusik,
was von einem schalen Beigeschmack begleitet war, denn zugleich diente
das Rockfestival zur symbolischen Demonstration der Übereinstimmung von
Parteiführung und Jugend.
Kommerzialisierung
Die Weltfestspiele wurden auch werbestrategisch professionell
vorbereitet. Zum einen musste für das kostspielige Ereignis Geld
zusammengetragen werden und zum zweiten ging es um die Verbreitung des
Labels aus propagandistischen Gründen. In unzähligen "Subbotniks"
(freiwillige unentgeltliche Arbeitsleistungen) wurden Schulen und
Vorgärten verschönert, Straßen und Plätze auf Hochglanz geputzt. Es
wurden freiwillig zusätzliche Arbeitsschichten gefahren und
Spendenaktionen durchgeführt. Die Studierenden der Kunsthochschule
Berlin-Weißensee erfanden eigens Souvenirs. Es wurden massenhaft
T-Shirts und Achselhemden bedruckt und Festivaltücher verkauft, auf
denen während der Weltfestspiele Unterschriften gesammelt wurden. Das
hatte den Effekt, dass das T-Shirt vielen DDR-Jugendlichen das
ungeliebte FDJ-Hemd ersetzte, das vor allem für die Jugendlichen
Pflicht blieb, die offiziell zum Festival delegiert waren.
Die Gestaltung war politisch neutral, man verzichtete auf das DDR- und
das FDJ-Emblem und propagandistische Sprüche. Die T-Shirts waren
einfach nur bunt gestreift in den Farben des Festivals. Auf den
Souvenirs waren die architektonischen Highlights der Hauptstadt zu
sehen: Fernsehturm und Brandenburger Tor. Dieses kommerzielle Angebot
befriedigte vor allem das Bedürfnis nach Fetischen der Erinnerung.
Nicht nur die politische Zurückhaltung auch der Fakt der
Kommerzialisierung als solcher waren bemerkenswert. Die DDR bediente
damit jugendkulturelle Bedürfnisse nach Gemeinschaftlichkeit, Image und
Mode.
Karnevalisierung
Die Weltfestspiele waren perfekt vorbereitet und funktionierten
reibungslos und ohne größere Zwischenfälle, vielleicht weil unliebsame
Personen, wie Wolle beschreibt, im Vorfeld ausgesondert worden waren.
Dennoch fand während der Weltfestspiele so etwas wie eine
Karnevalisierung der DDR statt, sie befand sich in einer Art liminalem
Zustand (Schwellenphase). In diesen wenigen Tagen waren bestimmte
Regeln außer Kraft gesetzt: man durfte auf der Straße herumlaufen, bis
in die Nacht die Parks bevölkern, Musik machen usw. und man durfte vor
allem sagen, was man dachte, man durfte um Meinungen streiten. Die
Straße wurde von der Jugend als öffentlicher Ort angeeignet, mit Musik,
Diskussion, Essen, Karneval und Liebe. Geradezu unglaublich dieses
Tanzen und Singen auf der Straße bis tief in die Nacht, animiert von
Lateinamerikanern und Afrikanern, die mit Gitarren und Trommeln Musik
machten. Dazu gehört auch, dass sich überall Liebespaare fanden,
öffentlich geknutscht wurde und die Wiesen nachts bevölkert waren. Dass
Liebe und Sex so öffentlich möglich waren, hatte weniger mit den
Hippies zu tun, sondern war Bestandteil einer "arbeiterlichen" oder
proletarischen Sittlichkeit, die auf in der DDR bereits tradierte
Formen der sexuellen Freizügigkeit gründete.
Hinter seine Erfahrungen kann man nicht zurück.
Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass es während der
Weltfestspiele trotz aller Inszenierung, trotz der Bekenntniszumutungen
der politischen Kultur, trotz der vorangegangenen Erfahrungen mit
Zensur und Repression (1964/65er Ereignisse: Filmverbote, Beat-Demos,
Fall des Jugendkommuniques usw.) gelang, so etwas wie einen Konsens
oder zumindest Konsenspunkte zwischen der Jugend und ihrem Staat
herzustellen. Das mag sich im Nachhinein schnell als Illusion
herausgestellt haben, aber die Stimmung war von gegenseitiger
Anerkennung und Toleranz zwischen Alt und Jung bestimmt. Neben ihrer
außenpolitischen hatten die Weltfestspiele vor allem eine
lebensweltliche Bedeutung, die darin bestand, dass sich die DDR für
sub- und jugendkulturelle Entwicklungen öffnete.
Die Weltfestspiele waren in doppelter Hinsicht erfolgreich für die DDR:
es war gelungen, Weltoffenheit und politische Toleranz vorzuführen und
die Jugend fester an den Staat zu binden. Die während der
Weltfestspiele auf der Straße und seitens der Parteiführung
demonstrierte Fähigkeit, miteinander zu diskutieren und dabei darauf zu
verzichten, sich gegenseitig zu überzeugen, schloss eine
Liberalisierung nach innen ein und wäre ohne diese nicht glaubhaft
gewesen. Das deutlichste Zeichen, dass die Parteiführung in diese
Richtung abgab, war neben der Kunstpolitik (Absage an die Dogmen des
sozialistischen Realismus) die offizielle Anerkennung und symbolische
Integration der DDR-Rockmusik.
Die Teilnehmer ihrerseits hatten ein einmaliges Erlebnis - eines, das
zugleich auf der Ebene der politischen Kultur wie auf der
lebensweltlichen Ebene spielte. Sie erfuhren eine echte Politisierung,
weil Politik machen auf einmal die Möglichkeit der Partizipation, des
Mitdenkens versprach, Spaß machte. Die Erfahrung von Toleranz, einander
respektvoll zuzuhören, sich um Konsensfindung zu bemühen, all das
entsprach den Vorstellungen eines menschlichen, freieren Sozialismus.
Überdies bewirkte die Begegnung mit den Fremden so etwas wie einen
doppelten Patriotismus: Die langweilige DDR stand auf einmal im
Mittelpunkt des Interesses der Welt und, ganz wichtig, sie blamierte
sich nicht. Die Fremden ermöglichten einen Blick auf das eigene Land,
der ungewohnt war und es in ein freundlicheres Licht tauchte. Und auch
umgekehrt funktionierte es, wenn die Westsender oder angereiste
Politiker die DDR oder das Festival madig zu machen suchten, geriet man
fast ungewollt in Verteidigungshaltung. Antikommunismus wurde einfach
nicht goutiert.
Die Jugendlichen machten in der Begegnung mit Fremden die Erfahrung,
dass es woanders auch lebenswert ist, dass man sich auch über
Sprachschwierigkeiten und weltanschauliche Differenzen hinweg
verständigen kann, dass es sich woanders zu kämpfen lohnen könnte, dass
es so etwas wie ein Risiko gibt, das man eingehen kann, dass es
unabhängige eigene Lebensentscheidungen gibt. Sie erfuhren als
Jugendliche Zuspruch von vielen Seiten, machten die Erfahrung der
Akzeptanz von Jugendkultur. Das reichte von der Frisur über die
Kleidung, die musikalischen Präferenzen bis zur sexuellen Libertinage.
Der Machtantritt Honeckers - das wurde während der Weltfestspiele
deutlich - verband sich mit einer jugendpolitischen Wende: der
Anerkennung und Aufwertung der Rockmusik, der Toleranz gegenüber
jugendlichen Kleidungsstilen (er ließ aus dem Westen Jeans
importieren).
Die SED-Führung machte mit den Weltfestspielen in mehrfacher Hinsicht
prägende positive Erfahrungen: das Konzept der Karnevalisierung ging
auf: "Wir können auch anders" kam in der Weltöffentlichkeit gut an und
wurde als Weltoffenheit zurück gespiegelt. Und auch die
jugendpolitische Öffnung, die als Zeichen der Liberalisierung nach
innen gemeint war, wurde positiv an die Parteiführung zurückgegeben.
Da drängt sich am Ende die Frage auf, warum anschließend wieder Enge
einzog in die DDR, wenn sich die Öffnung doch so gut für die
DDR-Führung erwiesen hatte. Denn der anschließende Rückfall in die ganz
normale DDR gehört zu dem Ereignis Weltfestspiele dazu. Das war, wie
wenn die Gäste abreisen und man wieder allein gelassen wird. Hinterher
ist es schlimmer als vorher. Während die Öffnung, die zelebrierte
politische Toleranz, die demonstrierte Weltoffenheit wie ein
unerwartetes Wunder erschien, mit dem sich Hoffnungen auf eine andere
DDR verbanden, ein Wunder, das seine Logik hatte, das zwar unerwartet
kam aber logisch erklärbar war: so musste sich die DDR zeigen und dann
würde sie auch für ihre Bewohner die notwendige Attraktivität
ausstrahlen, damit sie von selber dablieben, war die anschließende
Schließung ein Schock. Logisch wäre die Fortsetzung der Öffnung
gewesen, irrational erschien die Rückkehr in die alten Verhältnisse.
Dadurch wurde auch das Ereignis anschließend entwertet. Man fühlte sich
an der Nase herumgeführt.
Die Schließung, wie überhaupt die jugendpolitischen Wenden, deuten auf
parteiinterne Fraktionskämpfe hin, auf Auseinandersetzungen mit der
Führung in der Sowjetunion, auf sich verschiebende Kräfteverhältnisse.
Für die damaligen Teilnehmer waren solche Hintergründe kaum
nachvollziehbar, für sie war etwas anderes entscheidend: die Erfahrung
von Öffnung und Schließung in kurzer Zeit. Hinter seine Erfahrungen
kann man nicht zurück: nicht hinter die liberale Diskussions- und
Streitkultur, nicht hinter die lebensweltliche Toleranz gegenüber
jugendkulturellen Bedürfnissen. Die Rücknahme wurde nunmehr als
Repression empfunden, als irrationales Verhalten. Die Bereitschaft, das
zu tolerieren, wurde in der Jugend immer geringer. Skeptizismus,
Zynismus und Perspektivlosigkeit machten sich als Stimmung breit. Es
stärkte die Skepsis gegenüber politischen Ritualen, die Unwilligkeit,
Glaubensbekenntnisse abzugeben.
Die Weltfestspiele bündeln als ein konkretes Ereignis eine längere
Phase der wiederholten Öffnung und anschließenden Schließung, die ich
von 1964 (Jugendkommunique) bis 1976 (Ausweisung von Wolf Biermann und
anschließender andauernder Exodus populärer Schauspieler, Musiker,
Künstler) datieren würde. Sie haben gewissermaßen eine symbolische
Aussagekraft und sagen damit etwas Allgemeingültigeres aus über diese
Phase. Das gilt auch für diejenigen, die an dem Ereignis selbst gar
nicht teilgenommen haben und das dürfte die Mehrheit der
DDR-Jugendlichen gewesen sein. Wer in diesen Jahren seine politische
Initiation erfahren hat oder für wen sie lebensstilbildende Kraft
hatten, unterscheidet sich von vorangegangenen oder nachfolgenden
Generationen.
Es wäre überzogen, von einer Weltfestspielgeneration zu sprechen,
dennoch haben diejenigen, die damals jung waren (zwischen 15 und 25
Jahre alt, also die Jahrgänge 1948 bis 1958), besondere Erfahrungen
gemacht, die sich vielleicht so beschreiben lassen, dass politische,
insbesondere außenpolitische Vorgänge als bedeutsam für den eigenen
Lebenszusammenhang empfunden wurden. Es war, als könne man in Kürze
aktiv daran teilhaben - nach Kuba, Chile oder Afrika gehen, um dort am
Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Das Fremde als das
Revolutionäre wirkte euphorisierend auf eine Jugend, für die sich die
politischen Rituale mehr und mehr entleerten. Die Aufbruchstimmung in
der DDR, getragen von der diplomatischen Anerkennung, fiel mit der
Jugendphase zusammen. Es gab für diese Jugend Ideale, Träume von einer
anderen Welt, die konkrete Züge annahmen. Und auch die Schließung ist
generationsspezifisch verarbeitet worden: als Desillusionierung,
Enttäuschung, Skepsis, Opposition, Zynismus und Resignation oder aber
als Rückzug ins Private.
In der Wende waren die damaligen Jugendlichen zwischen 30 und 40 Jahren
alt. Und diese Gruppe dürfte den größten Teil der Protagonisten der
Wende gestellt haben: der "Ausreiser" wie der Reformsozialisten, der
Oppositionellen wie der Angepaßten. [13] Sie sind heute zwischen 45 und
55 Jahre alt und teilen sich wiederum in diejenigen, die es in den
Umbrüchen geschafft haben, sich einigermaßen zu etablieren und in
diejenigen, die sich mühe- oder auch freudvoll von Projekt zu Projekt,
von Unternehmung zu Unternehmung hangeln, immer wieder gezwungen, das
Lebenskonzept zu überprüfen. Eine gespaltene Generation gewissermaßen,
die sich in besonders engagierter Weise an den Deutungskämpfen um die
DDR-Geschichte beteiligt hat. Aber sie eint auch etwas: nämlich dass
sie beim Elitenwechsel komplett außen vor geblieben ist. Vielleicht die
eigentliche lost generation der Nachkriegszeit.
Anmerkungen
[1] Zitty 16/2003, S. 3 bzw. S. 24.
[2] Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur, Berlin 1998, S. 164.
[3] Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden - Rote Fahnen.
Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, S. 195.
[4] Zitty, S. 3.
[5] Zitty, S. 24.
[6] Diese These verdanke ich Dieter Rink.
[7] Zitty, S. 25.
[8] Michael Rauhut: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 - Politik und Alltag, Berlin 1993.
[9] Rauhut, S. 271.
[10] Rauhut, S. 279.
[11] Günther Jahn auf einer ZK-Tagung 1972, zitiert bei Rauhut, S. 283.
[12] Rauhut, S. 286.
[13] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Rockmusiker zu den
ersten gehörten, die im Sommer 1989 ihre Konzerte dazu benutzten,
öffentlich gegen die Politik der Parteiführung aufzutreten.
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