Thema | Kulturation 2/2003 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Ina Dietzsch | Im Labor Ostdeutschland. Kulturelle Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels
| [Mit diesem Text resümiert die Verfasserin den Band „Labor Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel“,
den sie gemeinsam mit Kristina Bauer-Volke im Auftrag der
Kulturstiftung des Bundes herausgegeben hat. Interessenten bestellen
ihn unter info@kulturstiftung-bund.de.]
»Die Arbeit, die in den Labors der Zivilisation zu leisten ist,
unter den Gesichtspunkten der Vernetzung, Simulation, Diskussion, vor
allem experimentellen Handelns [...] zielt auf Systhesis, ›durchspielt‹
Möglichkeiten mit Phantasie, geht ›querfeldein‹.« [1]
Die AutorInnen der in diesem Buch veröffentlichten Beiträge haben die
Arbeit im Labor Ostdeutschland auf vielfältige Weise beschrieben. Dabei
wurde deutlich, dass die Frage, wieviel Kultur im engeren Sinne sich
die Gesellschaft leisten kann oder will, nicht diskutiert werden kann,
ohne gleichzeitig auch darüber nachzudenken, welche Funktion sie im
Rahmen übergreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse hat. Der
folgende Epilog stellt deshalb einen Versuch dar, noch einmal im
Überblick die kulturellen Dimensionen des gesellschaftlichen Wandels zu
benennen, wie sie sich in den hier publizierten Beiträgen und nach
einer Auswertung weiterer wissenschaftlicher Literatur zum
Transformationsprozess darstellen, und zugleich Fragen zu formulieren,
die sich neu ergeben haben und zukünftig eine genauere Beachtung
verdienen.
Auf der Suche nach neuen Bewertungen:
Arbeit, Erwerbslosigkeit und Armut am Ende der Industriegesellschaft
In modernen Gesellschaften ist Arbeit ein wesentliches Kriterium von
Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft. Die Arbeitenden waren auch
in der DDR die tragenden Säulen der Gesellschaft, und Erwerbsarbeit
stellte sowohl die ökonomische und soziale als auch die symbolische
Integration in die Gesellschaft sicher. Mit dem Zusammenbruch der DDR
verschwand hier innerhalb eines Jahrzehntes »die Industriemoderne [...]
weiträumig, ohne einen Erben zu finden« [2]. Damit ging eine kollektive
Erfahrung von wenigstens zeitweiliger Erwerbslosigkeit einher bzw.
davon, dass die neuen Arbeitsformen in vielen Fällen von einem
Normalarbeitsverhältnis abweichen.
Dieser Prozess hat verschiedene kulturelle Dimensionen. Erstens werden
dabei grundlegende Denkmuster der Industriemoderne herausgefordert, die
ungebrochene Erwerbsverläufe, festes Einkommen und geregelte
Arbeitszeiten als Norm festschreiben. Zweitens wurde experimentelles
Handeln in Gang gesetzt. Michael Hofmann und Thomas Strittmatter
beschreiben in ihren Beiträgen Tendenzen, die darauf hindeuten: die
Entstehung neuer sozialer Milieus, die Auflösung der Grenzen eines
bisher als genuin verstandenen kulturellen Bereichs der Gesellschaft.
[3] Auch das von Rolf Kuhn und Rudolf Woderich vorgestellte Projekt
Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land ist ein lebendiger
Versuch, die durch die Industriemoderne geprägten Denk- und
Handlungsmuster aufzubrechen. Doch gerade die Schwierigkeiten, die sich
dabei ergeben, die innovativen Ideen und Konzepte von Kulturarbeit mit
den Bedürfnissen der Menschen vor Ort zu vermitteln, verweisen
gleichzeitig auf ein Festhalten an vertrauten Vorstellungen von
Erwerbsarbeit. Dies zeigte sich auch im unmittelbar nach der Wende
begonnenen Großprojekt »Industrielles Gartenreich«
Dessau-Bitterfeld-Wittenberg, dessen Ergebnisse bereits evaluiert
wurden und von dessen Erfahrungen die IBA profitieren kann. Neben allen
Erfolgen, die bei der Verbesserung des Images für die Region erzielt
werden konnten, haben sich experimentell angelegte Projekte zur
Eigenarbeit und zum nachhaltigen Wirtschaften bisher nicht durchsetzen
können, obwohl versucht wurde, an Erfahrungen aus der DDR-Vergangenheit
anzuschließen. Eine Mitarbeiterin der anstiftung resümiert:
»Eigenarbeit, Eigeninitiative und Selbstversorgung müssten den
BewohnerInnen der ehemaligen DDR eigentlich vertraut sein. Dies war
zumindest eine der Annahmen der anstiftung, als sie 1998 in der
Plattenbausiedlung Wolfen-Nord Werkstätten für Eigenarbeit einrichtete.
[...] Begleitend fand fachliche Beratung durch MitarbeiterInnen der
anstiftung statt. Doch der Erfolg dieses Engagements stellt sich nicht
ein. In Wolfen-Nord liegt die reale Arbeitslosenquote bei nahezu 50
Prozent. In einer solchen Situation [...] findet ein soziales
Experiment wie Eigenarbeit äußerst ungünstige Bedingungen für seine
Realisierung vor.« [4] Ganz offensichtlich ist es hier nicht gelungen,
alternative Strukturen zur Existenzsicherung und neue Formen der
sozialen Anerkennung jenseits einer Einbindung in Erwerbsarbeit zu
etablieren.
Dies korrespondiert mit weiteren Forschungsergebnissen zu individuellen
und kollektiven Deutungen von Arbeit und Erwerbslosigkeit im
Transformationsprozess. Sie liefern vielfältige Hinweise darauf, dass
trotz bzw. gerade wegen der hohen Erwerbslosigkeit die zentrale
Bedeutung von Erwerbsarbeit in vielen Fällen bisher ungebrochen bleibt.
Hiermit ist eine dritte kulturelle Dimension angesprochen: Neben der
ökonomischen Dimension der Existenzsicherung stellt sich auch die Frage
nach Alternativen zu Systemen sozialer Anerkennung, die bisher eng an
Erwerbsarbeit gebunden waren und es in der Regel auch noch sind. So
zeigte unlängst eine Untersuchung, dass auch für ostdeutsche Männer mit
gebrochenen Erwerbsbiografien »Beruf« weiterhin eine Grundsäule ihrer
Identität bleibt. [5] Ebenso ist die Erwerbsorientierung von Frauen in
den neuen Bundesländern eine Selbstverständlichkeit in deren
biografischem Konzept geblieben. [6] Schließlich gilt sie hier für
beide Geschlechter als Ausdruck von Gleichberechtigung.
Und wie eine Studie über den Umgang mit Erwerbslosigkeit in Thüringen
zeigt, bleiben die Handlungsmuster, die sich dabei ausprägen, ein
»Spiel auf Zeit«. [7] Geschicktes Einkaufen, Preisvergleiche, das
verstärkte Informieren über Sonderangebote, der Verzicht auf
Restaurant-Besuche, Einschränkungen in Bezug auf Kleidung und
Telefonieren, die Reparatur von Kleidungsstücken und Geräten,
kurzfristiges Kalkulieren und zugleich langfristiges Sparen auf größere
Anschaffungen, das Rechnen mit noch größeren Einschränkungen in der
Zukunft – dies alles sind Handlungsweisen, die sicherstellen, dass
Erwerbslosigkeit als akute Krise bewältigt werden kann, die aber nicht
auf Dauer tragfähig sind. Darüber hinaus sehen sich Erwerbslose trotz
der Einschränkungen häufig nicht als Opfer ihrer Situation, sondern
deuten ihr Handeln als individuelle Leistung, ihr Leben trotzdem noch
ordnen zu können. Die wenigsten verstehen sich selbst als arm und sie
trösten sich damit, dass es anderen noch schlechter geht. [8] Damit
entgehen sie, aufgrund ihrer Erwerbslosigkeit bereits marginalisiert,
der noch stärkeren Stigmatisierung durch Armut, geben diese jedoch
zugleich an andere soziale Gruppen weiter.
Der Ausgrenzung durch Armut liegt ein Denkmuster zugrunde, das eng mit
dem Wachstumsgedanken moderner Gesellschaften verbunden ist: die
Vorstellung, dass eine stete Verbesserung der Lebensbedingungen Schritt
für Schritt auch die Armut behebe. Wer dann noch arm ist, trägt selbst
die Schuld. Doch die neue Armut, wie sie sich gegenwärtig in Europa
(nicht nur in den neuen Bundesländern) beobachten lässt, ist ein
formenreicher Ausdruck neuer sozialer Kämpfe, die durch die
ökonomischen Globalisierungsprozesse hervorgebracht und durch die
postsozialistischen Transformationen verstärkt werden. Mit ihr
verbunden ist eine kulturelle Praxis des Ausgrenzens und Abwertens, die
Selbstbestimmung und Freiheit einschränkt, soziale Verachtung erzeugt
und mit der oft die Würde verletzt wird. Sie schränkt die
lebensweltlichen Horizonte ein, führt zu einem Verlust an Kontrolle
über Raum und Zeit und zu Perspektivlosigkeit sowie zu
selbstzerstörerischen Handlungsverläufen, bringt aber auch Innovation,
Kreativität, widerständige Strategien und Kompetenzen im Umgang mit der
marginalisierten Position hervor. [9]
Um ihre eigene Armut nicht als solche erscheinen zu lassen, bringen
Menschen viel Kraft und Kreativität auf. In diesem Sinne kann es
metaphorisch verstanden werden, wenn Erwerbslose in einem Berliner
Obdachlosentheater spielen. [10] Während die eigentliche Zielgruppe des
Projektes – die Obdachlosen – das Theater im wahrsten Sinne des Wortes
als Theater sieht, das ihre wirklichen Probleme nicht lösen kann und
sich eher pragmatisch und wenig zuverlässig engagiert, erlangt das
Projekt für erwerbslose Nicht-Obdachlose eine besondere Bedeutung.
Ihnen gibt die Theatergruppe eine Struktur und die Möglichkeit »des
Was-Tuns« [11], ohne dass sie ihre Erwerbslosigkeit zum Thema machen
müssen. Und so nutzen beispielsweise erwerbslose KünstlerInnen das
Theater dazu, unsichere Zwischenphasen, die aus ihren oft prekären
Arbeitsverhältnissen resultieren, sinnvoll auszufüllen und zugleich der
Betroffenheit im Feld von Sozialarbeit zu entgehen.
Kreativität und widerständige Strategien im Umgang mit Armut finden
sich auch in der Zunahme von privater Garten-, Subsistenz- und
Kleinlandwirtschaft. Sie ist ein Phänomen, das in vielen
osteuropäischen Ländern bereits seit Jahren zur Normalität gehört, in
Deutschland in diesem Zusammenhang jedoch bisher kaum eine
Öffentlichkeit fand. Elisabeth Meyer-Renschhausen und Anne Holl, zwei
Ethnologinnen, haben die »Wiederkehr der Gärten« [12] beobachtet und
sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich dabei oft um Strategien des
Überlebens handelt, die weltweit sehr ähnlich sind. Jenseits von
städtischen Ziergärten und dem, was in den 80er Jahren vor allem als
Rudiment von Spießigkeit galt, haben sie im ländlichen Raum der neuen
Bundesländer seit Mitte der 90er Jahre Tendenzen einer »Reagrarisierung
ohne Landwirtschaft« festgestellt. Damit sind Formen des ländlichen
Wirtschaftens gemeint, die als eine Art Familienbetrieb, im Rahmen
einer Tauschringökonomie oder nicht marktförmig als erweiterte
Hauswirtschaft funktionieren. Dabei kann oft auf Erfahrungen von
Nebenerwerb zurückgegriffen werden, der schon während der DDR-Zeit oder
gar noch früher (Ackerbürger) praktiziert wurde, sich unmittelbar nach
der Wende aber nicht mehr lohnte: Tabakanbau, Kaninchenzucht, Obst- und
Gemüseanbau, Gänse- oder Entenhaltung usw.
Die Arbeit, die in diesen Bereichen in der Regel von Landfrauen bzw.
RentnerInnen geleistet wird, ist nicht nur allein der Notwendigkeit und
der hohen Erwerbslosigkeit in der untersuchten Region geschuldet. Es
handelt sich dabei eher um eine generelle Aufwertung von Gartenbau und
Kleinstlandwirtschaft und um produktive Umgangsweisen mit sozialer
Abwertung. »Eigenarbeit ist bewusstes Selber-Tun, ist Tätigkeit nach
eigenem Kopf, nach eigenem Konzept, mit den eigenen Möglichkeiten im
Rahmen der eigenen Gruppe für sich und diese soziale Beziehungsgruppe.
Als solche beinhaltet sie alle Chancen für den einzelnen wie für die
Gemeinde und die Gegend.« [13] Sicher, so mag man hier einwenden, trägt
dies zu einer erneuten Beschränkung individueller Freiheiten bei, weil
damit in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Mobilität zu den
Schlüsselkompetenzen zählt, die Bindungen an einen Ort verstärkt und
Frauen einmal mehr auf traditionelle Formen von Frauenarbeit verwiesen
werden. Doch es wird zugleich auch etwas gewonnen: Diese Arbeit stellt
häufig eine Quelle für Stolz und Selbstvertrauen dar und stärkt durch
die Einbindung in eine informelle Ökonomie das soziale Kapital – eine
Ressource, die vermutlich in der Zukunft gesamtgesellschaftlich immer
gewichtiger zum Tragen kommen wird.
Wie das Beispiel des Projektes »Industrielles Gartenreich« gezeigt hat,
funktioniert das Konzept von Eigenarbeit jedoch nicht überall in
gleicher Weise. Die Frage, unter welchen Bedingungen es gelingt, dabei
an Erfahrungen aus der DDR-Vergangenheit produktiv anzuknüpfen, stellt
sich für eine weitere, vergleichende Analyse. Parallel dazu bedarf es
aber auch einer öffentlichen Diskussion, die die Armut aus ihrer
Unsichtbarkeit herausholt, einer Debatte um den gesellschaftlichen Wert
informeller Ökonomien und der Aufwertung kreativer Handlungspraxen, mit
denen Menschen bisher unbeachtet versuchen, ihrer Armut zu entgehen.
Die andere Seite des Wachstumsdenkens: Schrumpfende Städte und das Verhältnis zur Natur
Schrumpfende Städte sind inzwischen zu einem Symbol der neuen
Bundesländer geworden. Wie die Beiträge in dem Kapitel »Szenario
Schrumpfstadt« ausführlich beschreiben, haben sie das Wachstumsdenken
in Ostdeutschland kräftig irritiert und damit vielschichtige Ängste
hervorgebracht. Wie tief damit die Vorstellungen vom ewigen Wachstum
angegriffen werden, wird deutlich, wenn für Hoyerswerda, wie Simone
Hain in ihrem Beitrag schreibt, auch schon mal in die Diskussion
eingebracht wird, die Stadt ganz auf- bzw. an die »Natur«
zurückzugeben. [14] Auch hier ist experimentelles Handeln gefordert und
zugleich die Aufwertung von Alltagspraktiken, die bisher eher eine
Negativbewertung erfahren haben und im Schatten des Wachstumsdenkens
standen, denn stadtpolitisches und alltagspragmatisches Handeln müssen
in Zukunft »weit über das eingeübte planerische Handlungsfeld und die
Beseitigung städtebaulicher Missstände« [15] hinausgehen.
Dort, wo durch die Deindustrialisierung, die Konversion großer
Militärgebiete und nicht zuletzt durch brachliegende ehemalige
Grenzgebiete eine (Um-)Gestaltung von Landschaften in großem Maßstab in
Gang gesetzt wurde, finden vielfältige Auseinandersetzungen um das
Verständnis von dem, was »Natur« ist, statt und darüber, wie sich in
der Zukunft das Verhältnis von Kultur und Natur gestalten soll. Der mit
dem Transformationsprozess verbundene Funktionsverlust großer Flächen
wird hier zur Chance für Neugestaltung, nachhaltiges Wirtschaften
gewinnt an Bedeutung und zwischenzeitliche Brachen werden ihrer
Nutzlosigkeit wieder enthoben. In einigen Zusammenhängen wird das Ende
der DDR gar als die Stunde Null für den Naturschutz angesehen. [16]
Dieser Wandel vollzieht sich jedoch nicht ohne Spannungen und
Aushandlungen um das Ausmaß und die Radikalität der Umdeutungen. Im
Unteren Odertal beispielsweise entzündete sich ein Konflikt an
unterschiedlichen Naturschutzverständnissen und Nutzungsbedürfnissen
der AkteurInnen. Natur»schützer« argumentieren hier mit der Erhaltung
eines globalen Ökosystems und damit, dass Totalreservate das Überleben
der Menschen auf dem Globus sichern. Demgegenüber stehen als
Natur»nutzer« die Landwirte, die eine weitere sanfte Bewirtschaftung
nach den Grundsätzen des Naturschutzes fordern. [17] Sie argumentieren
mit emotionalen Kategorien wie »schöner Landschaft« und »vertrauter
Umgebung« und sehen sich als »die einzigen, die in der Lage sind, diese
Landschaft zu erhalten und zu pflegen« [18]. Ihr Naturverständnis ist
vom Stolz geprägt, das eigene Land »in Ordnung« zu halten, und von
Interessen der eigenen Existenzsicherung. Symbol für die
konfliktträchtigen Auseinandersetzungen wurde das so genannte
»Elchpapier«. Dabei handelte es sich um ein Konzept, das die Ansiedlung
von Elchen in Totalreservaten vorsah, das am Widerstand der Bevölkerung
scheiterte [19] und sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen in
der Region eingeschrieben hat.
Neue Zukunftsvisionen und, wie von Wolfgang Kil in seinem Beitrag
gefordert, Strategien, die auf »Entschleunigung, Entdichtung,
Verkleinerung, Vorläufigkeit« und »Abschied« gerichtet sind [20], so
beweist auch dieses Beispiel, können nur im gemeinsamen Lernen mit der
Beteiligung aller und in öffentlichen Räumen entstehen. Für die
Moderation solcher Lern- und Aushandlungsprozesse sind bereits einige
innovative Ideen entwickelt worden. Ein eindrückliches Beispiel ist das
Vorgehen von zwei amerikanischen KünstlerInnen, das Rudolf Woderich für
die Landschaftsgestaltung im Südraum Leipzig in seinem Beitrag
vorstellt. [21] Für das Konversionsgebiet Lieberose haben zwei
Kulturwissenschaftler ebenfalls gerade eine Projektskizze entworfen.
Nach ihrem Konzept sollen alle landschaftsprägenden AkteurInnen in
einer von ihnen erarbeiteten Ausstellung »Landschaftsvision« mit ihren
Interessen zu Wort kommen. »Als Produkt bietet die Landschaftsvision
eine kulturhistorisch gegründete, aber ob der visionären Projektanteile
doch hinreichend offene Planungsgrundlage sowie eine nach innen
Identität stiftende, nach außen Prägnanz und Eigenart formulierende
Darstellung des Gebietes. Die partizipative Herangehensweise fördert
den demokratischen Willensbildungsprozess von Beginn an.« [22] Der
Erfolg solcher Konzepte hängt jedoch nicht nur von bürgerschaftlich
engagierten Einzelnen ab, sondern auch maßgeblich davon, welche Rolle
politische Institutionen bei der Unterstützung der Aushandlungsprozesse
spielen. Frank Adler hat beispielsweise das Scheitern der Projekte im
»Industriellen Gartenreich« analysiert und ist zu dem Schluss gekommen,
dass sich dort ein handlungsleitendes Verständnis von Nachhaltigkeit
nicht durchsetzen konnte, unter anderem weil »ein wirklicher Diskurs
zwischen den regionalen Akteuren über die komplizierten Probleme und
Interessenkonflikte (z.B. auf Kurzfrist-Lösungen drängender
Problemdruck vs. Langzeitorientierung, Ressortdenken vs. übergreifende
Lösungsansätze etc.) der Konkretisierung und Umsetzung nicht so recht
in Gang gekommen« ist. [23]
Neue Identifikationen: Mobilität und Ortsbezüge
Eine weitere kulturelle Dimension ist eng mit dem Schrumpfen der Städte
und der nach wie vor prekären ökonomischen Situation in den neuen
Bundesländern verbunden – die Frage nach Identitätskonstruktionen und
Gefühlen kultureller Zugehörigkeit. Mit dem Ende der DDR waren deren
ehemalige BürgerInnen herausgefordert, nicht nur die eigene
Lebensgeschichte neu zu schreiben, sondern auch ihr Verhältnis zu
Gesamtdeutschland, zu »ihrer« Stadt oder »ihrer« Region neu zu
definieren.
»Ostdeutsch« ist dabei zu einer Kategorie kultureller Zuschreibung wie
Selbstzuschreibung mit ambivalentem Charakter geworden. Der Bezug
darauf ermöglichte einerseits das Einfordern von politischer
Unterstützung und ökonomischen Transferleistungen, wird andererseits
aber zur identitätspolitischen Falle, weil in den Gegensatz
»ostdeutsch« und »westdeutsch« ein symbolisches Ungleichheitsverhältnis
eingeschrieben ist.
Vorstellungen von einer ostdeutschen Kultur wurden auch durch
wissenschaftliche Argumente gestützt. Mitte der 90er Jahre, als der
Institutionentransfer weitgehend abgeschlossen war, deutete sich an,
dass sich die erwartete Angleichung der Lebensverhältnisse nicht im
gleichen Tempo vollziehen würde. Zu diesem Zeit-punkt bekamen auch im
wissenschaftlichen Diskurs kulturelle Argumente ein stärkeres Gewicht.
Es wurden nun individuelle Strategien, Praktiken, aber auch die
besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften von »Ostdeutschen« und ihre
Identitätskonstruktionen hervorgehoben. Allmählich setzte sich die
Deutung von der Besonderheit, dem Anders-Sein der Bevölkerung in den
neuen Bundesländern durch. In politikwissenschaftlichen Zusammenhängen
wurde gar von einer ostdeutschen Teilgesellschaft, von
»Sondermentalität« und »Doppelidentität« gesprochen. Solche
Interpretationen reagierten auf das Scheitern sowohl von ökonomischen
und politischen Lösungsansätzen für die Probleme in den neuen
Bundesländern als auch von wissenschaftlichen Modellen, die von West
nach Ost übertragen worden waren. Sie bauten auf der Vorstellung auf,
bei den Erfahrungen der DDR-BürgerInnen hätte es sich lediglich um
Überformungen eines fundamentaleren Gemeinsamen aller Deutschen
gehandelt. Damit einher ging die Erwartung, dass diese mit dem Ende der
DDR auch schnell »vergessen« werden könnten. Das geschah jedoch nicht.
Und so lag es nahe, die eigenwillig und unerwartet verlaufenden
Entwicklungen mit einer »anderen Kultur der Ostdeutschen« zu erklären.
Doch die Identitätsbezüge in den neuen Bundesländern sind längst nicht
so homogen, wie mit der Zuschreibung bzw. Selbstzuschreibung
»ostdeutsch« nahe gelegt wird. Vielmehr wird diese überlagert durch
Erfahrungen mit Erwerbsmigration, durch Regionalisierungstendenzen und
eine Aufwertung des Lokalen, die aus den fortschreitenden
Globalisierungsprozessen resultieren. Daraus entsteht eine komplizierte
Gemengelage, die vor allem von einer Gleichzeitigkeit verschiedener
Identitätskonstruktionen spricht und die PolitikerInnen in ihrem
konkreten Umfeld gut kennen müssen, wenn sie Imagearbeit für die Stadt
bzw. die Region leisten wollen.
Peter A. Berger hatte schon 1991 als Folge des gesellschaftlichen
Wandels »Transitorien« vorausgesagt – »vorübergehende ›Zwischen‹-,
›Noch-Nicht-‹ und ›Nicht-Mehr‹-Zustände und Lebensphasen«, die »in den
nächsten Jahren in den neuen Bundesländern besonders häufig sein
werden.« [24] Seine Prognosen finden in verschiedenen Studien und
Forschungsarbeiten der letzten Jahre eine bemerkenswerte Bestätigung.
In solchen unterschiedlichen Lebenssituationen sind kaum mehr homogene
und kontinuierliche Identifikationen zu erwarten, sondern eher eine
ganze Spanne zwischen konservativen Rückbezügen auf »heile Welten« in
der Vergangenheit bis hin zu hybriden Identitätskonstruktionen mit
wechselnden Bezügen.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, den Blick auf die Mobilität in
den neuen Bundesländern zu richten. Vor allem verdient dabei das
Phänomen der PendlerInnen in die alten Bundesländer Aufmerksamkeit,
dessen kulturelle Aspekte bisher noch kaum untersucht wurden. Während
bis 1996 mehr Erwerbstätige aus den alten in die neuen Länder gependelt
sind, hat sich dieses Verhältnis inzwischen längst umgekehrt. [25] Dazu
kommt die massive Abwanderung aus ostdeutschen Städten und Regionen,
die den Weggehenden eine Bereitschaft für Mobilität und Abschied
abfordert und den Dagebliebenen Rechtfertigungen ihres Dableibens, wie
aus dem Beitrag von Franziska Becker hervorgeht. [26] Welche Folgen
diese Mobilität für die Bindung von Menschen an einen konkreten Ort
hat, ist bisher noch eine offene Frage. Franziska Becker und Matthias
Middell leisten in ihren Texten dazu erste Interpretationen. [27]
Langfristig wird von Interesse sein, inwieweit damit gängige
Vorstellungen von Sesshaftigkeit aufbrechen. Bleibt die Bindung der
Menschen an ihren Ort – beispielsweise durch die Familie – so stark,
dass die tägliche Reise zur Arbeitsstätte nur als Übergangsphase in
»bessere Zeiten« gedeutet wird? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit,
dass Abwanderer nach einer bestimmten Zeit wieder zurückkehren, mit dem
in den alten Bundesländern verdienten Geld ein Unternehmen gründen oder
dass sie mit dem Eintritt in das Rentenalter wieder in ihren Heimatort
ziehen, weil sie dort noch über funktionierende soziale Kontakte
verfügen? Oder werden sich aus der Erwerbsmigration zwischen Ost und
West »moderne Nomaden« entwickeln, deren Mobilität im Laufe der Zeit
zur »Wanderung in Permanenz« wird, wie es für bestimmte Berufsgruppen
(z.B. Flugpersonal, höhere Managementebene global agierender
Unternehmen, WissenschaftlerInnen etc.) schon lange gang und gäbe ist?
[28] Auch wenn dies noch unentschieden ist, kann mit relativ großer
Sicherheit davon ausgegangen werden, dass aus dem regelmäßigen Pendeln
neue Kompetenzen für die Vermittlung und Übersetzung zwischen
verschiedenen Erfahrungsräumen erwachsen.
Zukunftsperspektiven: Vorstellungen von Jugend und Alter auf dem Prüfstand
Das Schrumpfen von Städten, die Ausdünnung von Regionen und die
Abwanderung junger Menschen stellen auch das gängige Verständnis von
Jugend und Alter in Frage. Meinhard Miegel beschreibt in
Übereinstimmung mit anderen Demographen, was uns in den kommenden
Jahren erwartet: »[...] der eigentliche Alterungsschub steht noch
bevor. In den kommenden vierzig Jahren wird sich der Altersaufbau der
Bevölkerung Deutschlands und Europas dramatisch verändern. [...] Das
zahlenmäßige Verhältnis von Jung zu Alt kehrt sich um.« [29] Welche
kulturellen Dimensionen wird dieser demographische Wandel mit sich
bringen? Müssen wir uns die neuen Bundesländer zukünftig als ein
flächendeckendes Altersheim vorstellen? Wird die Gesellschaft gezwungen
sein, um das knappe Gut der Jugend zu wetteifern und Jugendlichkeit
weiter als Wertmaßstab und Schönheitsideal feiern? Oder wird die
demographische Entwicklung zu einer Aufwertung des Alters führen, wie
sie sich in den USA bereits in Begriffen wie selpies (second life
people) oder grampies (grown avtive moneyed people in excellent state)
ausdrückt? In modernen Industriegesellschaften werden Jugend und Alter
vorrangig als Phasen in einem biografischen Ablauf gedacht, in dem die
Zeit des Erwerbs im Zentrum steht. Damit wurden lange Zeit beide Phasen
– Jugend, im Sinne eines »Noch-Nicht« und Alter eines »Nicht-Mehr« – in
ihrer gesellschaftlichen Bedeutung der Erwerbsphase nachgestellt. Mit
der Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses werden diese Phasen im
individuellen Lebensverlauf immer länger und die Grenzen zwischen ihnen
fließend. Das führt zu einer widersprüchlichen Handlungs- und
Deutungspraxis sowohl in Bezug auf Jugend als auch auf Alter: Die
Abwanderung von Jugendlichen in den neuen Bundesländern wird zum einen
mit dem Verlust von Zukunftsperspektiven assoziiert und verbindet sich
mit der angstbesetzten Vision einer überalterten Gesellschaft. Zum
anderen zeigen der Beitrag von Bernd Lindner und Wilfried Schubarth
sowie das Gespräch mit Klaus Farin [30], dass Jugendliche mit ihren
Initiativen in den etablierten institutionellen Strukturen zu wenig
ernst genommen werden, ihnen Handlungsräume zur gesellschaftlichen
Mitgestaltung verschlossen bleiben.
Im Bezug auf das Alter lässt sich eine ähnliche Widersprüchlichkeit
feststellen. Dass ältere Menschen zurückbleiben, gilt zum einen als
Negativszenario, denn Alter wird häufig immer noch generalisierend mit
Vorstellungen von Schwäche und Unproduktivsein verbunden, Bleiben mit
Passivität. Parallel dazu sind zum anderen Ansätze zu einer Aufwertung
des Alters vor allem im ökonomischen Bereich zu beobachten, wenn zum
Beispiel die Gruppe so genannter SeniorInnen immer stärker als
Konsumentensegment entdeckt wird, bis hin zu touristischen AkteurInnen,
die Visionen von SeniorInnen-Paradiesen entwerfen. Bereits in dem
Begriff der SeniorInnen werden die Versuche zur gesellschaftlichen
Aufwertung des Alters augenfällig. Nur darauf zu bauen, das Alter mit
positiven Bildern zu besetzen, die darüber hinaus oft nur mit
Vorstellungen von Jugendlichkeit überschrieben werden (Alte, denen man
ihr Alter nicht anmerkt ... ), hieße, die Medaille einfach umzudrehen.
Dabei gerät schnell aus dem Blick, dass es um etwas Fundamentaleres
geht – um das Zulassen von Verschiedenheit, darum, die Veränderung im
Lebensverlauf als etwas Selbstverständliches anzuerkennen und Jugend,
Alter sowie das Dazwischen als gleichwertige Lebensphasen zu verstehen.
Solange dies jedoch nicht zum gesellschaftlichen Konsens gehört,
besteht die Gefahr, dass die angstbesetzten Visionen von demographisch
ausgedünnten, überalterten Regionen in Ostdeutschland keine
Möglichkeiten zur Identifikation und keine Zukunftsperspektiven mehr
für Jugendliche bereithalten und einmal mehr zur Abwertung der Menschen
beitragen, die hier leben.
Dieses Buch räumt den Zukunftsperspektiven von Jugendlichen ein ganzes
Kapitel ein, in dem die AutorInnen (kultur-)politische Forderungen
formulieren und die Potenziale kreativen Handelns von Jugendlichen an
konkreten Beispielen beschreiben. Deshalb möchte ich mich hier vor
allem den Fragen zuwenden, die sich für ein zukünftiges Verständnis des
Alters ergeben. In der soziologischen Altersforschung wird Alter als
eine soziale Konstruktion begriffen. Die Deutungen vom Alter variieren
demnach historisch und bleiben auch zukünftig veränderbar. Viele
Untersuchungen der Altersforschung mahnen außerdem zur Differenzierung.
[31] Sie unterscheiden nach »jungen Alten« und »Hochbetagten«, was
aufgrund der steigenden Lebenserwartung und besseren gesundheitlichen
Verfassung älterer Menschen sinnvoll erscheint. Nicht das Alter an
sich, sondern altersbedingte Krankheiten werden zum wesentlichen
Handicap älterer Menschen und nicht alle älteren Menschen müssen
automatisch weniger aktiv und physisch beeinträchtigt sein. Dafür
spricht, was die einzige uns bekannte Studie zur Aktivität älterer
Menschen in den neuen Bundesländern ergab. [32] Immerhin ein Drittel
der Befragten war »nachberuflich« erwerbstätig. Ihre
Lebenszufriedenheit schätzten sie überwiegend als hoch ein. Es geht
ihnen aufgrund des derzeitigen Rentenniveaus und ihrer Spareinlagen
finanziell im Vergleich zu den Jüngeren besser. Die (kulturellen)
Aktivitäten von älteren Menschen beschränken sich, so die Studie, in
der Mehrzahl auf Häusliches, wie Zeitung lesen, Fernsehen,
gegebenenfalls auch auf Gartenarbeit. Ins Kino, ins Theater, in die
Oper oder zum Tanzen gehen die meisten monatlich höchstens einmal,
viele noch seltener oder nie. Die überwiegende »Privatheit« dieser
Aktivitäten führt dazu, dass die Teilhabe von älteren Menschen an dem,
was mit einem engen Kulturbegriff als kulturelles Angebot verstanden
werden kann, im Hintergrund gesellschaftlicher Wahrnehmung bleibt.
Doch auch wenn sie im öffentlichen Raum stattfinden, erhalten sie kaum
Aufmerksamkeit, auch nicht in wissenschaftlichen Untersuchungen
außerhalb der Altersforschung. Gerhard Schulze, der mit seinem Buch
»Erlebnisgesellschaft« den Anspruch einer gesellschaftsübergreifenden
Analyse kultureller Praxis verfolgt und Alter als eine zentrale
Kategorie sozialer Differenzierung betrachtet, stellt fest, dass mit
dem von ihm verwendeten soziologischen Instrumentarium »Szenen, deren
Kultur vom Trivialschema beherrscht wird«, nicht entdeckt wurden.
»Kaffeefahrten, Volksliederabende, Heimatfilme, Busreisen nach
Österreich etwa wurden in der Befragung nicht gesondert thematisiert«
[33] – alles Bereiche, in denen derzeit die kulturellen Aktivitäten
vieler älterer Menschen zu erwarten sind. Es deutet also einiges darauf
hin, dass wir nur sehr wenig über die Bedürfnisse älterer Menschen
sowie ihre Erwartungen an die Gesellschaft wissen und noch weniger über
die der nächsten Generationen für die Gestaltung ihres Alter.
Auch Fragen der Mobilität und spezifischer milieu- und altersbedingter
kultureller Aktivitäten bleiben in den meisten Studien zum Alter(n)
unterbelichtet. Eine Ausnahme sind verschiedentliche Verweise auf
»AlterswandererInnen«, wie sie seit einigen Jahren in den alten
Bundesländern zunehmend beobachtet werden können, wo ältere Menschen
mit der Pensionierung ihren Wohnsitz in landschaftlich reizvolle
Regionen wie das Alpenvorland, die Nordseeküste oder die Lüneburger
Heide verlegen. Verweise auf diese Art von Wanderungsbewegungen sind
vor allem in Regionalstudien zu finden. In einer Analyse der
Perspektiven für die Müritz-Region wird davon ausgegangen, dass der
ländliche Raum von der verlängerten Lebenserwartung der Menschen
profitieren könne, weil er Qualitäten bietet, die den Bedürfnissen in
der »langen dritten Lebensphase« entsprechen, und dass somit ein
(begrenzter) Zuzug zu erwarten sei. [34] Die Ruhe, die man hier finden
kann, hat aber zugleich einen negativen Effekt, denn mit dem Rückgang
der Bevölkerung stellt sich auch verstärkt das Problem einer
infrastrukturellen Unterversorgung. Zentral ist dabei ein Konflikt, der
sich daraus ergibt, dass der wirtschaftliche Betrieb einer
funktionierenden Infrastruktur ausschließlich an Zahlen der zu
versorgenden Bevölkerung gemessen wird. Dagegen interessiert aus der
Sicht der potenziellen NutzerInnen vor allem, wie gut oder schlecht die
Dienstleistungen zu erreichen sind. Dieser Interessenkonflikt zwischen
Anbietern und Nachfragenden ließe sich in sehr dünn besiedelten
Regionen der neuen Bundesländer mit einer einfachen Übertragung des
westdeutschen Modells nicht lösen, so der Autor der Müritz-Studie.
Dieses funktioniert über ein System von zentralen Orten, auf die sich
auch die Versorgungspunkte konzentrieren. Um eine bedarfsorientierte
Versorgung in der Müritz-Region zu sichern, empfiehlt er deshalb ein
infrastrukturelles Netzwerk mit Knotenpunkten jenseits der zentralen
Orte, die gleichmäßig auf die Region verteilt werden und zusätzlich
über mobile Einsatzkräfte verfügen sollten. In dieser Form wären unter
anderem Stützpunkte von Sozialstationen, Allgemeinärzten,
Nachbarschaftsläden mit Postbankdiensten, eine Medikamentenausgabe und
Teilleistungen der Altenpflege zu organisieren. [35] Ähnlich ließe sich
auch die Organisation einer kulturellen Infrastruktur für Regionen
denken, deren Bevölkerungszahlen schon heute eine kritische Marge
erreicht haben.
Offen muss jedoch auch hier die Frage bleiben, wie sich insgesamt der
Bedarf danach entwickeln wird. [36] Die älteren Menschen von morgen
werden sehr wahrscheinlich ganz andere alltägliche
Selbstverständlichkeiten entwickelt haben und auch über andere
ökonomische Ressourcen verfügen, als dies derzeit der Fall ist.
Verbunden mit den Individualisierungsprozessen und der Pluralisierung
von Lebensformen ist außerdem zu erwarten, dass sich neue Bedürfnisse
nach sozialen Netzwerken im Alter artikulieren, aber auch praktische
Erfahrungen des Umgangs mit sozialer Isolation zur Verfügung stehen.
Insbesondere hier ist außerdem damit zu rechnen, dass sich noch einmal
die unterschiedlichen Alltagserfahrungen und die Differenzen in den
ökonomischen Ressourcen zwischen BewohnerInnen der alten und der neuen
Bundesländer bemerkbar machen werden.
Mut zum offenen Ausgang
»Gesellschaften entwickeln sich nur weiter, wenn sie sich selbst in
Frage stellen, ihren Wandel vorantreiben, sich verändern. Das
Faszinierende an dem Gedanken, daß die Basisgewohnheiten
problematisiert werden, ist für mich die Hoffnung auf Veränderung, die
sich darin ausdrückt.« [37]
Die Transformationsprozesse in Ostdeutschland haben kulturelle
Denkmuster der Industriegesellschaft in tiefgreifender Weise in Frage
gestellt und neue Handlungsstrategien hervorgebracht. Viel zu häufig
werden diese jedoch nur als reaktives Krisenmanagement wahrgenommen.
Dabei enthalten oftmals die einfachen Alltagsstrategien Einzelner
wichtige Potenziale für die Zukunft. Sie genau zu beobachten und in
Form von professionellem Wissen für größere Zusammenhänge verfügbar zu
machen, könnte zu neuen Impulsen und politischen Ideen führen. Mit dem
gesellschaftlichen Wandel ist aber auch die Suche nach neuen
Sinnstrukturen verbunden. Kulturarbeit in Form von Sinnproduktion wird
demnach in der Zukunft in allen gesellschaftlichen Bereichen an
Bedeutung gewinnen. Der Erfolg konkreter strategischer Konzepte wird
dabei wesentlich davon abhängen, wie es gelingt, sie mit den
Bedürfnissen der Menschen vor Ort zu vermitteln.
Zu den wichtigsten Einsichten, die aus der Analyse der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Prozesse in den neuen Bundesländern zu gewinnen
sind, gehört, dass die augenblickliche Situation nicht als Übergang in
eine wie auch immer vorgestellte Zielgesellschaft betrachtet werden
kann, sondern auch zukünftig der Wandel eine Normalität aller
spätmodernen Gesellschaften bleiben wird. Dies anzuerkennen, erfordert
Mut und das ständige Neuformulieren von Visionen. Peter Nausner hat
kürzlich in einem Vortrag Labors als »Zonen höchster Produktivität und
Verwundbarkeit« und als »Produktionsstätten von Experimenten«
beschrieben, die es erfordern, »auch dann am Ball zu bleiben, wenn
alles zunächst gegen einen Erfolg spricht.« [38] Die Arbeit im Labor
Ostdeutschland hat erst begonnen, und sie ist ein Experimentieren mit
offenem Ausgang.
Anmerkungen
[1] Glaser; 1994, S. 47
[2] Wolfgang Engler und Wolfgang Kil in einem Konzeptpapier 2002
[3] Michael Hofmann: Soziokulturelle Milieus einer
Industriegesellschaft in Bewegung; Thomas Strittmatter: Rollenwechsel
für Ostdeutschland: vom Nachzügler zum Vorreiter der Modernisierung?
[4] www.anstiftung.de/prowol.html, vgl. dazu auch kritisch Scurrell
2002. Eine Analyse des Scheiterns dieser Projekte formuliert Adler;
2000.
[5] Vgl. Scholz 2003
[6] Vgl. Dietzsch; Dölling 1996 sowie Datenreport 2002
[7] Lutz 2000, S. 131
[8] Ebd.
[9] Vgl. Knecht 1999, S. 15
[10] Vgl. Bachmann 1999
[11] Ebd., S. 287
[12] Vgl. Holl; Meyer-Renschhausen 2000
[13] Meyer-Renschhausen 2000, S. 38 f.
[14] Vgl. Simone Hain: Schauplatz Hoyerswerda – Porträt einer existentiell bedrohten Stadt
[15] Hannemann; Kabisch 2002, S. 269
[16] www.wwf.de/regionen/deutschland/projekte ost/
[17] Vgl. Polk 2003. Ähnliche Ziele verfolgt auch die von dem
Naturfilmer Heinz Sielmann gegründete Sielmann-Stiftung. Sie kaufte in
den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen in Ostdeutschland
großflächig Land auf (so z.B. das 50 Kilometer südöstlich von Berlin
und nördlich des Spreewaldes im Landkreis Oder-Spree gelegene
Naturschutzgebiet [NSG] Groß Schauener Seenkette, das 1906 Hektar
umfasst) und setzt sich dafür ein, das Gebiet in ein europäisches
Schutzgebietssystem zu integrieren. Obwohl sich auch die
Sielmann-Stiftung dem globalen ökologischen Haushalt verpflichtet
fühlt, wird hier eine naturverträgliche Bewirtschaftung betrieben. Ziel
ist dabei, dass der Mensch so wenig wie möglich in die Entwicklung
dieses kostbaren Gebietes eingreift, ohne allerdings ausgesperrt zu
sein. (vgl. www.sielmann-stiftung.de/projekte-fs1.html)
[18] Zit. nach Polk 2003, S. 60
[19] Vgl. Götze 2003 und Tagesspiegel vom 16.4.1998
[20] Wolfgang Kil: Stilllegungsprämie. Planerische Strategien,
kulturelle Erfahrungen und Perspektiven in den schrumpfenden Städten
Ostdeutschlands
[21] Vgl. Rudolf Woderich: Im Labor neuer Landschaften: Die IBA Fürst-Pückler-Land in der Lausitz
[22] »Ausgangspunkt der Landschaftsvisionen sind die Veränderungen,
Gestaltungen, Spuren und Zeichen, die die Menschen vermittelt über ihre
praktische Lebens- und Arbeitstätigkeit in der Landschaft hinterlassen,
wie jene mentalen Spuren, die die Landschaft in ihnen hinterließ. Die
Spuren werden dokumentiert, ihr hermeneutischer Sinngehalt analysiert,
interpretiert und zu einer Landschaftsgeschichte mit einem offenen,
reflektierten Horizont verwoben. Die Methodik und die Form der
Präsentation (Ausstellung, Inszenierung, begleitende Texte) rückt die
Landschaftsvisionen in die Nähe einer hermeneutischen
Landschaftsanalyse.« (Kenneth Anders und Lars Fischer: Aussicht auf
freies Land bei Lieberose: Ein ehemaliger Truppenübungsplatz und die
Möglichkeiten einer Landschaftsvision. Unveröffentlichtes Manuskript,
Kontakt: anderswiese@t-online.de)
[23] Adler 2000, S. 155
[24] Berger 1991, S. 85 f.
[25] Lt. Institut für Arbeits- und Berufsforschung seit 1997, zit. nach Harald Werner im Freitag vom 16.3.2001
[26] Vgl. Franziska Becker: Ortsbezug und Abwanderung.
Kulturanthropologische Skizzen zum Transformationsprozess in einer
Stadt an der deutsch-polnischen Grenze
[27] Vgl. ebd. sowie Matthias Middell: Regionalisieren ohne
Regionalismus? Zum Zustand der Territorialisierung in den neuen
Bundesländern nach 1990
[28] Vgl. dazu Merkel 2002, S. 236
[29] Miegel 2002, S. 25–26
[30] Vgl. Bernd Lindner; Wilfried Schubarth: Jugend als Zukunft –
Jugend ohne Zukunft? sowie das Interview mit Klaus Farin: Eigene
Spielregeln? Jugendkulturen in Ostdeutschland
[31] Vgl. dazu Backes 2000 sowie Prahl; Schroeter 1996
[32] Vgl. Trautloft 2002. Es handelt sich dabei um eine
unveröffentlichte Diplomarbeit über Freizeitaktivitäten im Ruhestand am
Beispiel Sachsens.
[33] Schulze 1992, S. 491
[34] Kujath 1995, S. 27
[35] Ebd., S. 28 f.
[36] Antworten darauf ließen sich möglicherweise in zukünftigen
Forschungen finden, mit denen zumindest die heutigen Erwartungen bzw.
Wünsche der folgenden Generationen für ein »erfolgreiches Altern«
erkundet werden könnten.
[37] Ina Merkel mit Bezug auf Ulrich Becks Begriffe der »zweiten
Moderne« bzw. der »reflexiven Modernisierung«, Merkel 2002, S. 231
[38] Nausner 2002
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