Thema | Kulturation 2/2009 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Sylka Scholz | Einst Doppelverdiener – sichern Frauen heute das Familienbudget? Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland
| Der
Titel des folgenden Beitrags legt eine grundlegende Veränderung in den
Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland nahe. Waren Männer und Frauen
in der DDR beide vollerwerbstätig und trugen gemeinsam, wenn auch in
unterschiedlich hohen Anteilen, zum Familieneinkommen bei, so
übernehmen zunehmend Frauen die Sicherung des Familienbudgets. Eine
solche Situation stellt eine Herausforderung für die bisher tradierten
Geschlechterarrangements dar: Zwar war der Mann in der DDR keineswegs
ein Familienernährer, jedoch war es in den hegemonialen
Geschlechterbildern auch nicht vorgesehen, dass Frauen als alleinige
Versorgerin der Familie fungieren. Der Beitrag geht der Frage nach, wie
verbreitet das Phänomen der Familienernährerin in Ostdeutschland ist
und wie Frauen und insbesondere Männer mit dieser Konstellation
umgehen.
Theoretischer Hintergrund der Analyse ist das Konzept des
Geschlechtervertrages, welches von der Soziologin Birgit Pfau-Effinger
(1993, 2000) entwickelt wurde. Dieses Konzept wird im ersten Abschnitt
vor- und die wichtigsten Merkmale des Geschlechtervertrages der DDR
dargestellt und mit dem westdeutschen Geschlechtervertrag verglichen,
der ab 1990 auf die Institutionen Ostdeutschlands übertragen wurde. Das
Augenmerk liegt dabei auf den Widersprüchen im Geschlechtervertrag, die
bisher vorrangig für Frauen beschrieben und hier nun auch für Männer in
den Blick genommen werden sollen. Im zweiten Abschnitt untersuche ich
die Erwerbsintegration von Frauen und Männern im Ost-West-Vergleich
unter der Fragestellung, ob sich die Geschlechterverträge angeglichen
haben oder ob sich weiterhin deutliche Unterschiede feststellen lassen.
Der Verbreitung von Familienernährerinnen wird im dritten Abschnitt
genauer nachgegangen. Im vierten Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie
Männer mit dieser Situation umgehen und zeige auf, dass der Verlust von
Erwerbsarbeit zu einer zunehmenden Verunsicherung von Männlichkeit
führen kann. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einem Resümee.
1. Spannungsverhältnisse im Geschlechtervertrag der DDR
Das Geschlechterverhältnis einer Gesellschaft ist nicht nur
durch die sozialen Strukturen einer Gesellschaft, sondern auch durch
kulturelle Muster bestimmt, die eine Geschlechterkultur konstituieren
(Pfau-Effinger 1993, 2000). Diese umfasst kulturelle Normen und
Leitbilder, die sich auf die Formen der gesellschaftlichen Integration
und Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen beziehen, sowie auf
Vorstellungen zur Generativität und über das Verhältnis der
Generationen. In einer Gesellschaft können ein oder mehrere Leitbilder
existieren, sie sind Resultat von Konflikten, Aushandlungsprozessen und
Kompromissbildungen. Die Leitbilder sind in Form von Normen in den
institutionellen Systemen verankert und relativ stabil. Die
Geschlechterkultur wirkt sich auf soziale Strukturen, gesellschaftliche
Institutionen, Diskurse kollektiver Akteure, auf die Orientierungen und
Werthaltungen der Individuen aus. Jedoch handelt es sich dabei nicht um
ein deterministisches Verhältnis, der bestehende kulturelle Kompromiss
kann erneut zum Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse werden.
Die Beziehungen zwischen Frauen und Männern beruhen auf
einem “sozio-kulturellen Konsens“, einem so genannten
„Geschlechtervertrag“ (ebd.). Der Vertrag beinhaltet das kulturelle
Leitbild über die ‚richtige’ Form der geschlechtsspezifischen
Arbeitsteilung, die ‚richtige’ Familienform und die Art und Weise der
gesellschaftlichen Integration beider Geschlechter in den Arbeitsmarkt
und die Familie. Dieses Leitbild gibt Regelungen und Verhaltensmuster
vor hinsichtlich solcher Fragen, wie welche gesellschaftlichen Bereiche
die hauptsächlichen Sphären der Integration von Frauen bzw. Männern in
der Gesellschaft sind, wieweit Gleichheit oder Ungleichheit bzw.
Komplementarität der Lebensbereiche der Ehepartner festgelegt sind,
welcher gesellschaftlichen Sphäre die Kindererziehung vorrangig
zugeordnet wird und welchen gesellschaftlichen Stellenwert die Familie
im Vergleich zu anderen Lebensformen hat. Dieser kulturelle Kosens
beruht in modernen Gesellschaften auf ungleichen Ausgangsbedingungen
zwischen Männern und Frauen: Kennzeichnend ist eine Macht-Asymmetrie zu
Gunsten der Männer. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die
kulturellen Leitbilder nicht von allen sozialen Gruppen gleichermaßen
geteilt werden, dass es also ethnische, regionale, schichtspezifische
Differenzen gibt, jedoch müssen sich alle sozialen Gruppen mit den
hegemonialen Leitbildern auseinandersetzen, alternative Konstruktionen
werden meist marginalisiert.
Der Geschlechtervertrag der DDR war gekennzeichnet durch eine
Integration beider Geschlechter in die Erwerbssphäre (vgl. Scholz
2004). Dies war einerseits ökonomisch notwendig, andererseits aber auch
politisch motiviert durch die Gleichheitsidee. Der Staat garantierte
Männern und Frauen eine berufliche Ausbildung sowie einen Arbeitsplatz
und somit eine ökonomische Existenzsicherung. Das Familienmodell der
„Versorgerehe“ (Pfau-Effinger 1993, 644), das auf einem männlichen
Familienernährer und einer weiblichen Hausfrau beruht, und sich in
Deutschland im Zuge der Industrialisierung in einem längeren
historischen Prozess etablierte (ebd.), erodierte. Allmählich bildete
sich das „Doppel-Verdiener-Modell“ (Schenk 1995, 479) heraus.
Insbesondere Irene Dölling (2003, 2005) hat gezeigt, dass der
DDR-Geschlechtervertrag für Frauen in sich äußerst widersprüchlich war.
Wurden einerseits die Mitglieder beider Genusgruppen sozusagen
geschlechtsneutral mittels lebenslanger, vollzeitlicher Erwerbsarbeit
in die Gesellschaft integriert, blieben andererseits Frauen normativ
und praktisch für die Familienarbeit verantwortlich. Zwar hatten Frauen
nun den Zugang zu dem gesellschaftlichen Bereich in modernen
Gesellschaften, der ausschlaggebend ist für die soziale Positionierung
und den Zugang zu Ressourcen, zugleich wurden aber die sozialen
Ungleichheiten, die sich aus der Verantwortung für die Familienarbeit
ergeben, gesellschaftlich ignoriert. Die Vielzahl der sozialpolitischen
Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der Vereinbarung von Beruf und
Familie für Frauen zielte, machte Frauen zugleich zu Objekten der
patriarchal-paternalistischen Fürsorgepolitik (Dölling 1991). Die
Ambivalenz des Geschlechtervertrages manifestierte sich in
widersprüchlichen Geschlechterordnungen in den unterschiedlichen
Institutionen. So war die Erwerbssphäre in der DDR
geschlechtsspezifisch segregiert, Frauen und Männer traten nicht in
direkte Konkurrenz, die Löhne in den Arbeitsbereichen der Frauen fielen
deutlich niedriger, auch war der Anteil von Frauen an
Führungspositionen kleiner als der der Männer (vgl. Nickel 1993).
Darüber hinaus galt im Erwerbssystem die männliche Norm der
lebenslangen, vollzeitlichen Beschäftigung. Frauen wurden einerseits
dieser Norm unterworfen – „Unsere Muttis arbeiten wie ein Mann“
(Dölling 1993, 31) – und andererseits auf Grund der verringerten
zeitlichen Verfügbarkeit durch die Verantwortung für die Familien- und
Hausarbeit nicht als vollwertige Arbeitskräfte angesehen.
Diese Widersprüchlichkeiten lassen sich ebenso auf der Ebene der
kulturellen Leitbilder aufzeigen. Ina Merkel kommt in einer Analyse von
Frauen- und Männerbildern in den Printmedien der 1950er Jahre zu dem
Resultat, dass der „neue Mensch“ (Merkel 1995, 170) als Leitbild der
sozialistischen Gesellschaft ausdrücklich beide Geschlechter umfasste,
unter der Hand aber doch männlich vergeschlechtlicht war. Im Zentrum
des Bildes vom „neuen Menschen“ stand die Arbeit, die wesentlich von
Männern repräsentiert wurde. Dabei kam ein Konzept von Arbeit ins Bild,
das vor allem proletarisch geprägt war. Der „klassische
Industriearbeiter“, der „diszipliniert, schöpferisch und kraftvoll –
aber auch intelligent und kulturvoll“ (ebd. 172) ist, bildete den
Grundtypus für die Darstellung des „neuen Menschen“. Als Prototyp kann
der Arbeitsheld Adolf Hennecke angesehen werden, der zugleich das
hegemoniale Männlichkeitsideal der DDR repräsentierte (vgl. Scholz
2008). Da auch berufstätige Frauen ins Bild gesetzt wurden (vgl.
Dölling 1993) und ebenfalls als „neue Menschen“ galten, entstand jedoch
ein „Spannungsverhältnis von männlicher Dominanz und weiblicher
Emanzipation“ (Merkel 1995, 173), das aus meiner Perspektive das
Geschlechterverhältnis der DDR insgesamt kennzeichnete (vgl. Scholz
2004).
Fragt man nun nach den Ambivalenzen des Geschlechtervertrages für
Männer so ist zunächst die weibliche Konkurrenz im Erwerbssystem zu
nennen. So revoltierten die Männer der älterer Generationen noch zu
Beginn der 1950er Jahre gegen die Frauenerwerbstätigkeit wie etwa die
Arbeiter der Leunawerke, die am 17. Juni 1953 auch forderten: „Hinweg
mit dem Frauenförderungsplan“ (Zachmann 1997, 133). Im Verlaufe der
DDR-Geschichte wurde die Frauenerwerbstätigkeit jedoch zunehmend auch
für die Männer eine Selbstverständlichkeit und nicht mehr hinterfragt.
Widersprüche resultierten aus meiner Perspektive aus dem starren
Männerleitbild, das ausschließlich an Erwerbsarbeit gebunden blieb
(vgl. ff. Scholz 2004, 2008). Während die Berufsrolle in das weibliche
Leitbild integriert wurde, blieb die Familienrolle im männlichen
Leitbild außen vor. Verstärkt wurden die Gegensätzlichkeiten auf Seiten
der Männer durch die zunehmende Erosion des erwerbszentrierten
Leitbildes in seiner heroisierenden Komponente, wie sie von den „Helden
der Arbeit“ repräsentiert wurde. Vor allem in den jüngeren Generationen
setzte eine Distanz zum politischen System ein, die auch daraus
resultierte, dass sie ihre Ansprüche an eine qualifizierte
Erwerbsarbeit in einer zunehmend marode werdenden Wirtschaft nicht
umsetzen konnten. Im letzten Jahrzehnt der DDR wurde die männliche
Familienrolle zu einer wichtigen alternativen
Männlichkeitskonstruktion, denn in den sozialen Praxen mussten sich die
Männer aufgrund der Erwerbstätigkeit der Frauen auch in der Familie
engagieren und erlebten diese Erfahrung meist positiv. Das Bild des
zärtlichen Vaters trat in Konkurrenz zum sozialistischen Arbeitshelden
(vgl. Schochow 2009, Scholz 2010). Doch bevor sich das veraltete
hegemoniale Leitbild transformieren konnte, brach die DDR zusammen. Als
einer der Gründe dürfte wohl auch die Unfähigkeit der männlichen
politischen Elite angesehen werden, einen neuen Konsens mit den
jüngeren Generationen auszuhandeln und damit verbunden ein neues
attraktives Männlichkeitsleitbild zu kreieren.
Nach der politischen Wende und der darauf folgenden
Wiedervereinigung im Oktober 1990 veränderte sich in Ostdeutschland die
Wirtschaftssystem von einer Planwirtschaft zu einer marktvermittelten
Ökonomie. Damit verbunden polarisierten sich auch die Bereiche Beruf
und Familie, die in der DDR durch die Erwerbsintegration von Frauen eng
miteinander verknüpft waren. Die umfangreichen sozialpolitischen
Unterstützungen für Familien wie ganztägige Kinderbetreuung, günstiges
Kantinenessen, ein monatlicher Haushaltstag etc. wurden reduziert und
damit verschlechterten sich die Bedingungen für eine Vereinbarung von
Beruf und Familie wesentlich. Den Hintergrund für diesen Ab- und Umbau
bildete der Geschlechtervertrag der alten Bundesrepublik. Dieser
beruhte Ende der 1980er Jahre auf dem modernisierten
Ernährer-Hausfrau-Modell (Pfau-Effinger 1993). Das heißt, der Ehemann
war der Ernährer der Familie, die Ehefrau blieb nach der Geburt des
Kindes bzw. der Kinder zunächst zu Hause und ging dann einer
Teilzeitarbeit nach. Kinderbetreuung galt im Gegensatz zur Auffassung
in der DDR als eine ‚private’ Angelegenheit der Familie. Dieser
Geschlechtervertrag korrespondierte zum einen mit einer entsprechenden
Sozial- und Familienpolitik, die auf eine Stärkung der Familie setzte
und bspw. die Hausfrauenehe durch das Ehegattensplitting steuerlich
begünstigte. Zum anderen ging er mit einem in Vergleich mit der DDR
stark ausgebauten Dienstleistungssektor in der Wirtschaft einher, der
die meisten Teilzeitarbeitsplätze für Frauen zur Verfügung stellte. Wie
wirkte sich dieser Umbau des Geschlechterverhältnisses nun auf das
Doppel-Verdiener-Modell der DDR aus?
2. Die Erwerbsintegration von Männern und Frauen im Überblick
Die gegenwärtige Situation der Erwerbsintegration beruht auf einem
doppelten Transformationsprozess. Unmittelbar nach der politischen
Wende 1989 setzte eine massive Deindustrialisierung ein. Der
ostdeutschen Gesellschaft ging in kurzer Zeit die Erwerbsarbeit in
hohem Maß verloren: die Anzahl der Beschäftigten reduzierte sich von
9,7 Millionen im Jahr 1989 auf 6,1 Millionen Ende der 1990er Jahre; ein
Drittel der Arbeitsplätze wurde abgebaut (Winkler 2002). Damit
verbunden waren eine anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit sowie eine
Flexibilisierung des Normalarbeitsverhältnisses hin zu befristeten und
untertariflich bezahlten Arbeitsverträgen. Diese Entwicklung hat sich
im neuen Jahrtausend bedingt durch den allgemeinen Umbau des westlichen
Erwerbssystems fortgesetzt. Die Stichworte lauten hier Vermarktlichung,
Prekarisierung und Subjektivierung (vgl. bspw. Lohr/ Nickel 2007;
Aulenbacher et. al 2007). Seit Beginn der 1990er Jahre verändern sich
die betrieblichen Rationalisierungsstrategien weg vom fordistischen
Koordinations- und Kontrollmodus hin zur Marktsteuerung. Die
Beziehungen zwischen den Unternehmenseinheiten werden nun nach
marktbezogenen Richtlinien restrukturiert. Zugleich kehren die Subjekte
in die Ökonomie zurück, dieser Prozess ist mit dem Begriff
„Subjektivierung“ gemeint. Denn die subjektiven Faktoren, die im
Fordismus massiv kontrolliert und unterdrückt wurden, gelten nun als
Potentiale der Rationalisierung. Dementsprechend werden hemmende
Hierarchien und Bürokratien abgebaut, und den Individuen wird mehr
Eigenverantwortung übertragen. Zugleich werden die Arbeitsverhältnisse
massiv flexibilisiert hinsichtlich der Arbeitszeiten und der
Arbeitsorte. Das implizit männliche Normalarbeitsverhältnis erodiert
allmählich und wird ersetzt durch verschiedenste prekarisierte
Arbeitsformen wie Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung oder
Teilzeitarbeit.
Gegenwärtig haben, so die Analysen des Netzwerkes
Ostdeutschlandforschung (2006), etwa die Hälfte der Arbeitnehmer/innen
noch klassisch fordistische Erwerbsverläufe mit nur kurzen
Unterbrechungen. Bei gut einem Drittel sind die Erwerbsverläufe
diskontinuierlich und durch Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit,
Leistungsbezug und/oder Maßnahmen wie Fortbildung, AMB, ABM bestimmt.
Es bildet sich eine neue Art prekärer und fragmentierter
Erwerbsbeteiligung heraus. Nimmt man die geringfügig Beschäftigten
hinzu, kommt man zu dem Ergebnis, „dass in Ostdeutschland fast 50
Prozent der Erwerbstätigen nicht mehr in fordistischen
Erwerbssituationen agieren“ (ebd., 41). Vergleicht man diese Situation
mit Westdeutschland, so zeigt sich, dass aufgrund dieses doppelten
Transformationsprozesses die Erwerbsverhältnisse in Ostdeutschland
deutlich prekärer sind.
Im Folgenden wende ich mich der Entwicklung der Erwerbsintegration
zwischen 1996 bis 2006 in einem Ost-Westvergleich zu (Statistisches
Bundesamt 2008). Zunächst werden die 35-55jährigen Männer und Frauen
betrachtet, das sind die Geburtenjahrgänge 1951 bis 1971, die
weitgehend unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz ihre
Sozialisation erfahren haben.
Das Erwerbsmuster der ostdeutschen Männer ist ebenso wie das
westdeutscher Männer durch eine Vollzeittätigkeit gekennzeichnet. Dabei
liegt die Arbeitslosigkeit der ostdeutschen Männer deutlich über der
der westdeutschen Männer. Im Laufe von 10 Jahren nahm die Integration
in eine Vollzeitarbeit ab, die Arbeitslosigkeit stieg weiter. Die
Erwerbsmuster der Männer in Ost und West unterschieden sich insgesamt
wenig, die Differenzen ergeben sich aus der schlechteren
Arbeitsmarktlage in Ostdeutschland. Die Erwerbsintegration der Frauen
differierte jedoch erheblich: 1996 waren ostdeutsche Frauen in einem
sehr viel höheren Maße in eine Vollerwerbstätigkeit integriert, während
über die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in Westdeutschland einer
Teilzeitarbeit nachging. Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland war
doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Zehn Jahre später ist die
Erwerbsintegration der ostdeutschen Frauen leicht gesunken, die
Arbeitslosigkeit weiter gestiegen. Die Integration in eine
Vollzeittätigkeit ist zurückgegangen (von 58% auf 42%), die
Teilzeitquote hat sich fast verdoppelt (von 17% auf 32%). Dieser
Anstieg ist jedoch der Arbeitsmarktsituation geschuldet und entspricht
nicht den Wünschen der ostdeutschen Frauen (vgl. Statistisches
Bundesamt 2008, 127). Die Erwerbsintegration der westdeutschen Frauen
ist hingegen gestiegen. Jedoch arbeitet weit über die Hälfte der Frauen
Teilzeit, dies ist von den meisten auch erwünscht (ebd.).
Insgesamt zeigt sich eine allmähliche Annäherung der Geschlechter
hinsichtlich der Erwerbsintegration, zugleich verweist die hohe
Teilzeitquote unter westdeutschen Frauen auf die Dominanz des
bisherigen Geschlechtervertrages. Für die ostdeutschen Frauen und
Männer lässt sich schließen, dass durch hohe Arbeitslosigkeit und
unerwünschte Teilzeittätigkeit die Realisierung des
Doppelverdiener-Modells zunehmend schwieriger wird. Bevor ich auf
diesen Aspekt genauer eingehe, möchte ich die Erwerbsintegration der
16-34jährigen Männer und Frauen betrachten, sie wurden zwischen 1972
und 1990 geboren, ein großer Teil von ihnen hat die Jugend bereits in
Gesamtdeutschland verlebt.
Die insgesamt niedrigere Erwerbsbeteiligung resultiert daraus, dass
ein hoher Anteil dieser Altersjahrgänge noch eine schulische Ausbildung
oder eine Berufsausbildung absolviert. Für die Männer ist
festzustellen, dass die Integration in eine Vollzeittätigkeit deutlich
geringer ist als in den älteren Generationen und der Anteil Teilzeit
arbeitender Männer stark zugenommen hat. 2006 sind im Westen 9% und im
Osten 10% der Männer in den bisher von Frauen dominierten
Arbeitsverhältnissen tätig. Wiederum unterschieden sich die
Erwerbsmuster der Männer wenig, erneut ist die Arbeitslosigkeit in
Ostdeutschland höher.
Während die Erwerbsintegration von jungen Frauen 1996 zwischen Ost-
und Westdeutschland sehr ähnlich war, dies gilt auch hinsichtlich der
Verteilung von Teilzeit und Vollzeit, ist die Erwerbsbeteiligung junger
ostdeutscher Frauen 10 Jahre später deutlich gesunken. Dies verweist
jedoch nicht auf eine abnehmende Erwerbsorientierung, nur 4% der Frauen
sind nicht an einer Erwerbstätigkeit interessiert (ebd., S. 123),
sondern auf die schlechte Arbeitsmarktlage. Insgesamt, so das
Statistische Bundesamt (ebd.), hat die Erwerbsarbeit an Bedeutung
gewonnen, insbesondere junge westdeutsche Frauen integrieren sich
zunehmend in das Erwerbssystem, gleichen sich also dem ostdeutschen
Muster an.
In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob sich auch in
Westdeutschland allmählich ein Doppelversorger-Modell herausbildet.
Eine Studie des Max Planck-Instituts für demographische Forschung in
Rostock zeigt anhand einer qualitativen Interviewstudie zwei Muster der
Familiengründung auf (Lippe/ Bernardi 2006). Befragt wurden 150 Männer
und Frauen des Geburtenjahrganges 1975 und die Auswertung der
Interviews zeigt, dass in Ost und West zwei unterschiedliche
„kulturelle Modelle der Familienplanung“ (ebd., S. 2) verbreitet sind.
Bei jungen westdeutschen Männern und Frauen dominiert das Modell
„beruflicher Gradlinigkeit und sorgfältiger Planung“ (ebd.). Zunächst
wird eine erfolgreiche Berufslaufbahn verbunden mit den Werten von
materieller Absicherung und Erfolg realisiert, der Kinderwunsch
schließt sich daran an. Eine Familiengründung wird nur vor dem
Hintergrund einer erfolgreichen beruflichen Etablierung in Erwägung
gezogen, wobei die berufliche Karriere des Mannes im Vordergrund steht.
Dies verweist auf die weitere Gültigkeit des modernisierten
Versorgermodells, auch wenn junge Frauen in Westdeutschland ebenso wie
die ostdeutschen Frauen, Beruf und Familie vereinbaren wollen (vgl.
Gille 2009). Hat sich das Paar und insbesondere der Mann beruflich
etabliert, erfolgt meist die Geburt von zwei und mehr Kindern in kurzer
Folge aufeinander. Die Kinderbetreuung erfolgt bis zum Alter von 3
Jahren weitgehend privat. Der Datenreport 2008 zeigt, dass im Jahr 2007
nur 9,9% der Kinder eine Tagesbetreuung in Anspruch nehmen
(Statistisches Bundesamt 2008, S. 40). Diese zahlen verweisen darauf,
dass in Westdeutschland immer noch das Leitbild der privaten
Kinderbetreuung dominiert.
In Ostdeutschland rekonstruierten v. d. Lippe und Bernardi hingegen
ein „paralleles Modell“ (ebd.). Vor der Familiengründung muss nicht
zwingend ein hoher beruflicher und materieller Status erreicht worden
sein, wichtiger ist, dass beide Partner in einer ausbalancierten Form
erwerbstätig sind. Unter einer Balance verstehen die jungen
Ostdeutschen insbesondere einen Ausgleich zwischen Arbeits- und
Freizeit, aber auch zwischen den Arbeitsbelastungen der Partner.
Prinzipiell sehen sich Männer und Frauen als gleichberechtigte und
gleich verpflichtete Partner für das Familieneinkommen an. Deutlich
wird hier die Vorstellung eines Doppelverdiener-Modells. Haben sie eine
solche Balance erreicht, steht der Familiengründung nichts im Weg, die
durchschnittlich zweieinhalb Jahre eher erfolgt als im Westen. Diese
angestrebte Ausbalanciertheit muss jedoch zwischen den Partnern immer
wieder hergestellt werden, was angesichts der prekären
Erwerbsbedingungen in Ostdeutschland schwierig ist. So erklärt sich,
warum der Geburt des ersten Kindes erst sehr viel später eine zweite
folgt oder auf weitere Kinder verzichtet wird. Während 55% der
westdeutschen Paare innerhalb von fünf Jahren nach der ersten Geburt
ein zweites Kind bekommen haben, sind es nur 30% der ostdeutschen
Paare. Die Kinder werden zu einem hohen Anteil in öffentlichen
Einrichtungen betreut. Im Jahr 2007 nahmen 41% der Kinder eine
Tagesbetreuung in Anspruch. Hier schreibt sich bei einem großen Anteil
der Paare das DDR-Modell fort, allerdings hat sich auch die Anzahl der
Paare, die ihre Kinder unter 3 Jahren privat betreuen erheblich erhöht.
3. Der Aufstieg der Familienernährerin
Wie die Zahlen zur Erwerbsintegration bereits nahe legen, können
eine zunehmende Anzahl von Männern und Frauen die jeweiligen Lebens-
und Integrationsformen des Geschlechtervertrages nicht mehr
realisieren. Seit den 1990er Jahren entsteht das Phänomen der
weiblichen Familienernährerin, diese Konstellation war weder im
Geschlechtervertrag West, aber auch nicht im moderneren
Geschlechtervertrag Ost vorgesehen, historische Vorläufer lassen sich
freilich finden. Als Familienernährer wird die Person verstanden, die
mehr als 60% des Haushaltseinkommens beträgt (Klenner/ Klammer 2008).
Der Aufstieg der Familienernährerinnen beruht auf zwei
Entwicklungen. Dies ist zum einen die Zunahme alleinerziehender Mütter
und zum anderen die veränderte Erwerbssituation in den Paar- oder
Familienhaushalten. Im Folgenden beziehe ich mich auf ein
Forschungsprojekt von Christine Klenner und Uta Klammer, die dieses
Phänomen erstmalig systematisch in den Blick nehmen. Die Anteile
alleinerziehender Mütter sind in ihrem Sample in Ost- und
Westdeutschland überraschend ähnlich. Der Anteil der alleinerziehenden
Frauen betrug 1991 in Westdeutschland 6,5%, in Ostdeutschland 6,6%. Er
hat sich in Westdeutschland bis 2006 auf 9,0% erhöht, in Ostdeutschland
auf 9,2%. Zum Vergleich: Der Anteil alleinerziehender Väter ist in
Westdeutschland in dem Zeitraum von 1,6% auf 1,2% gesunken, in
Ostdeutschland von 0,6% auf 1,9% gestiegen. Anzumerken ist, dass diese
Zahlen deutlich von denen im Datenreport 2008 angegebenen differieren.
Dort ist das Phänomen der Alleinerziehenden insgesamt stärker
verbreitet und die Ost-West-Differenz größer: in Westdeutschland leben
bezogen auf alle Familienformen 2006 17% Alleinerziehende und in
Ostdeutschland 25% (Statistisches Bundesamt 2008, 34). Da es sich um
unterschiedliche Datensätze können diese Widersprüche hier nicht
geklärt werden.
Im Folgenden betrachte ich die Veränderungen der Einkommenssituation zwischen 1991 und 2006 in Paar- oder Familienhaushalten.
Bereits 1991 waren nur noch knapp 60% der Männer Familienernährer,
davon deutlich weniger in Ostdeutschland als in Westdeutschland. Dem
entspricht, dass in Ostdeutschland in 44% der Paar-/Familienhaushalte
Mann und Frau zu etwa gleichen Anteilen zum Familieneinkommen
beigetragen haben, während das in Westdeutschland nur in 23,9% der
Fälle so war. Frauen waren in 8,6% der Beziehungen die
Familienernährerin, auch hier zeichnet sich eine erhebliche
Ost-West-Differenz ab: 6,9% im Westen und 11,2% im Osten. Der Anteil
der Familienernährerinnen ist in den vergangenen 15 Jahren um 3%
gestiegen, vor allem in Westdeutschland hat dieser Haushaltstyp
deutlich zugenommen. Entsprechend ist der Anteil der männlichen
Familienernährer um insgesamt 3% gesunken, stärker im Westen als im
Osten, und auch der Anteil der egalitären Einkommenssituation ist im
Westen leicht gestiegen. Dennoch besteht weiterhin eine erhebliche
Ost-West-Differenz: So fungieren in Ostdeutschland nur noch 40,7% der
Männer als Familienernährer gegenüber 61,5% im Westen. Auch stehen
44,5% der Paare, in denen eine egalitäre Einkommenserwirtschaftung
erfolgt, nur 27,9% der Paare im Westen gegenüber.
Betrachtet man beide Formen von Familienernährerinnen zusammen, so
ist mittlerweile in fast jedem fünften westdeutschen Haushalt (18,5%)
und in deutlich mehr als jedem fünften ostdeutschen Haushalt (22,3%)
eine Frau hauptverantwortlich für den Lebensunterhalt. Dabei handelt es
sich bei den Familienernährerinnen keineswegs um hoch gebildete Frauen
mit höheren Erwerbseinkommen, sondern ein beträchtlicher Anteil der
Familienernährerinnen hat mittlere Bildungsabschlüsse und
überdurchschnittlich viele Familienernährerinnen gehören zum
Niedriglohnbereich. Die Position als Familienernährerin ist in den
Paar- oder Familienhaushalten nicht freiwillig gewählt, sondern sie ist
meist Resultat des „Ausfalls“ (ebd., S. 16) des männlichen
Erwerbslohnes. Hier zeichnen sich wiederum zwei Konstellationen ab: Im
ersten Fall ist der Mann sogar vollerwerbstätig, dennoch liegt sein
Einkommen so deutlich unter dem der Frau, dass sie über 60% des
Einkommens beiträgt (45% der Fälle in Westdeutschland und 48,5% in
Ostdeutschland). Im zweiten Fall ist der Mann erwerbslos (18,3% der
Fälle in Westdeutschland und 42% in Ostdeutschland). Insgesamt handelt
es sich bei Paar- oder Familienhaushalten mit Ernährerinnen um
Haushalte, die – nicht in allen aber doch in vielen Fällen – zu den
einkommensschwachen Haushalten zählen. 37,3% gehören zu den ärmsten 20%
aller Haushalte.
4. Verunsicherung von Männlichkeit
Vor dem Hintergrund, dass die bestehenden Geschlechterverträge
weiterhin hohe Zustimmung erfahren, muss man konstatieren, dass vor
allem in Ostdeutschland ein „unfreiwilliges Einverdiener-Modell“ (ebd.,
S. 8) entsteht. Wie gehen Männer, deren Vorstellung von männlicher
Identität in Industriegesellschaften, wie sie die DDR eine war,
normativ an Erwerbsarbeit gebunden war, mit dieser Situation um? Wie
schlägt sie sich in der individuellen Konstruktion von Männlichkeit
nieder? Im Folgenden beziehe ich mich auf verschiedene qualitative
Studien.
In einer biographischen Studie über ostdeutsche Männer, die ich im
Rahmen meiner Dissertation durchgeführt habe (Scholz 2004), hatte der
größte Teil der Interviewten diskontinuierliche Erwerbsbiographien.
Dennoch konstruierten die befragten Männer kontinuierliche
Berufsbiographie, die von außen betrachtet als paradoxe Konstruktionen
angesehen werden können. So etwa, wenn einer der Interviewpartner, der
in der DDR als Lehrer arbeitete, sich heute immer noch als ein solcher
versteht, obwohl er bereits seit vielen Jahren als Autoverkäufer
arbeitet. Aus seiner Perspektive lehrt er seine Kunden, die richtigen
Entscheidungen hinsichtlich des Autokaufs zu treffen. Diese
widersprüchlichen Identitätskonstruktionen können als
Bewältigungsstrategien des Umgangs mit den diskontinuierlichen
Erwerbsbiographien angesehen werden und ermöglichen den Männern eine
ins sich schlüssige männliche Identität zu entwerfen. Wenn die
Berufsbiographie jedoch mehrjährige Lücken aufwies, griff dieser
Bewältigungsmodus nicht mehr.
Einer meiner Interviewpartner, der in den 1990er Jahren eine
ausgesprochen diskontinuierliche Erwerbsbiographie hatte und zum
Interviewzeitpunkt mit 46 Jahren eine Frühverrentung anstrebte, begann
seine biographische Erzählung mit dem überraschenden Satz: „Mein Name ist Jürgen Bruns, Mädchennamen habe ich keinen“
(Name geändert, ebd.: 174 ff.). Man könnte dies zunächst für einen
Scherz halten, aber die Fallrekonstruktion zeigt, dass sich dahinter
eine Verunsicherung von Männlichkeit verbirgt. Bruns rekonstruierte
männliche Identität in seiner Erzählung über die Positionen des
Ehemannes und Vaters von zwei Töchtern. Da die Familie aber der
Erwerbsarbeit im männlichen Lebensentwurf nachgeordnet ist, ist seine
Position brüchig, was noch dadurch verstärkt wird, dass die Ehefrau die
Familienernährerin ist. Stabilisierend auf seine Situation in der
Familie wirkt sich aus, dass er sich nie als Familienernährer
verstanden hat, denn es war selbstverständlich, dass beide Partner
arbeiten und Geld verdienen. Indem die Ehefrau aber gegenwärtig die
Alleinverdienerin ist, funktioniert das Geschlechterarrangement nicht
mehr. Der Verweis am Beginn des Interviews, das er keinen Mädchennamen
habe, lese ich als Zurückweisung seiner feminisierten Position in der
Familie. Zwar ist Bruns derjenige, der zu Hause und auf das Geld der
Ehefrau angewiesen ist, dennoch ist er ein Mann, denn, so die Logik, er
hat keinen Mädchennamen. Insofern zeigt das Interview, dass der Verlust
von Berufsarbeit zu einer Verunsicherung von Männlichkeit führen kann,
die sich durch die Familienposition nur zum Teil kompensieren lässt.
Susanne Völker (2008, auch 2006) hat in ihrer Untersuchung über
Frauen und Männer im Einzelhandel im Land Brandenburg gezeigt, wie die
Situation der weiblichen Familienernährerin in den Paarbeziehungen be-
und verarbeitet wird. Das Ehepaar Gerstner weist eine recht ähnliche
Erwerbsintegration auf wie die Familie Bruns. Frau Gerstner, die Anfang
50 ist, geht einer familienernährenden Teilzeitbeschäftigung im
Einzelhandel nach, ihr Partner ist seit drei Jahren durchgängig
arbeitslos. Der Verlust der Erwerbsarbeit hat in Herrn Gerstners Leben
eine Leerstelle hinterlassen, die er selbst nicht zu füllen vermag.
Diese Situation wird von beiden bewältigt, indem seine Frau als
„Ersatzarbeitgeberin“ (Völker 2008, 19) fungiert. Er übernimmt unter
ihrer Anleitung eine Reihe von Unterstützungsaufgaben wie den Einkauf
von Sonderangeboten, die Betreuung der Eltern, Wohnungsrenovierungen,
dennoch obliegt die Führung des Haushaltes weiterhin Frau Gerstner,
denn dies entspricht ihrem weiblichen Selbstverständnis. Zugleich
wertet sie in ihren Erzählungen die Tätigkeiten ihres Ehemannes auf und
ihre eigenen Erwerbsarbeit ab. Diese Erzählungen verweisen auf „die
ganze Fragilität der männlichen Position, deren sozialer Wert offenbar
begründungsbedürftig geworden ist und sich nicht mehr von selbst
versteht (ebd., 20).
In Bezug auf die Verunsicherung von Männlichkeit durch prekäre
Beschäftigung sei an dieser Stelle auf die Untersuchungen von Klaus
Dörre (2005, 2007) über ostdeutsche Leiharbeiter in der
Automobilindustrie verwiesen. Dörre argumentiert, dass der Bezugspunkt
für die geschlechtlichen Entwürfe die vollzeitliche Erwerbsarbeit
bleibt, während „eine prekäre oder nicht qualifikationsgerechte
Erwerbsarbeit […] gleichbedeutend mit dem Verlust von Männlichkeit
[ist]“ (Dörre 2007, 297). Ich würde angesichts der Lektüre seiner
Untersuchung eher von einer Verunsicherung sprechen. Was jedoch
deutlich geworden sein dürfte, ist, dass trotz stärkerer Verwerfung auf
dem Arbeitsmarkt männliche Identität im Kern mit
Vollzeiterwerbstätigkeit, also dem ‚klassischen’ männlichen
Normalarbeitsverhältnis verknüpft bleibt. Dies wirft die Frage nach
alternativen Männlichkeitskonstruktionen auf.
Zu konstatieren ist, dass bisher kaum Studien zu dieser Frage
existieren. Hingegen liegen durchaus einige Untersuchungen zu
alternativen Lebensmodellen in Ostdeutschland vor (vgl. Dietzsch/
Bauer-Volke 2003; Links/ Volke 2009). Schaut man sich die Texte an,
welche sich mit prekären Lebensverhältnissen von Männern beschäftigen,
so ist festzustellen, dass die Orientierung an einer Erwerbstätigkeit
zentral für die Lebenssinn bleibt. Beispielsweise wollen Hendrik Mayer
und Martin Keil, beide um 1970 geboren, das bisherige Modell von Arbeit
und Leben mit ihrer „Reinigungsgesellschaft“ transformieren (vgl.
Sattler 2003). Zentrales Anliegen ist eine Vermittlung zwischen Kunst
und Erwerbsarbeit, Künstler sollen in Unternehmen integriert werden und
diese durch ihr kreatives Potential verändern. Ihre Tätigkeit verstehen
die beiden Künstler nicht als eine künstlerische Freizeitbeschäftigung:
„Das ist unser Beruf, davon ernähren wir uns. Im Grunde sind wir eine
gelungene unternehmerische Existenzgründung. […] Eigentlich leben wir
das vor, was wir anderen anraten“ (ebd., S. 181). Trotz des hohen
avantgardistischen Anspruches bleibt also die Orientierung an einem
sinnerfüllten, die Existenz sichernden Berufsleben letztendlich
ungebrochen.
Michael Hofmann zeigt, dass sich seit Mitte der 1990er Jahre in
Ostdeutschland ein neues Sozialmilieu konstituiert, welches er als
„aufstiegsorientiertes Pioniermilieu“ (Hofmann 2003) bezeichnet. Seine
Träger sind jüngere und mittlere Jahrgänge mit höheren
Bildungsabschlüssen. Diese Männer (und Frauen) wollen aus ihrem Leben
etwas machen, suchen Herausforderungen, sind risikobereit und wollen
ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Sie sind oftmals in
prekären Verhältnissen selbständig. Erwerbsarbeit soll die Existenz
sichern, ein Aufstieg in Institutionen wird hingegen nicht angestrebt,
wichtiger ist es einen Bereich zu finden, indem man nach seiner Fasson
selbst bestimmt existieren kann. Möglich ist, dass sich in diesem neuen
Sozialmilieu auch neue männliche Identitätsmuster konstituieren, in
denen nicht mehr eine lebenslange vollzeitliche Erwerbsarbeit den
zentralen Stellenwert einnimmt, sondern auch diskontinuierliche
Berufsbiographien in Verbindung mit einem Ethos der
Selbstverwirklichung identitätsstiftend sein können. Dies scheint, so
legen auch andere Untersuchungen nahe (vgl. Scholz 2005), vor allem im
sogenannten kreativen Milieu der Fall zu sein.
4. Fazit
Insgesamt zeigt die Analyse, dass auch 20 Jahre nach der
politischen Wende in Ostdeutschland die Geschlechterbeziehungen durch
das Doppelverdiener-Modell bestimmt sind. Männer und Frauen streben
nach wie vor eine vollzeitliche Erwerbsarbeit an, auch die Muster der
Familiengründung, die auf eine rasche Reintegration der Frauen in das
Erwerbsystem setzen, scheinen von einem großen Teil der jüngeren Männer
und Frauen weiter bevorzugt zu werden. Im Vergleich dazu dominiert im
Westteil Deutschlands immer noch das modernisierte Ernährermodell. Zwar
streben die jüngeren Frauen eine Integration in das Erwerbssystem an
und wollen Beruf und Familie vereinbaren, wird jedoch eine Familie
gegründet, so steigen die Frauen zunächst für einen längeren Zeitraum
aus dem Erwerbssystem aus, um die Kinder privat zu betreuen. Die hohe
Teilzeitrate und die geringe Inanspruchnahme öffentlicher
Kinderbetreuung bestätigen die Fortexistenz des bisherigen
Geschlechtervertrages. So kann man auch für die Gegenwart von zwei
differenten Geschlechterverträgen in Deutschland sprechen.
Jedoch stehen immer mehr – sowohl ostdeutsche als auch zunehmend
westdeutsche – Männer und Frauen vor der Herausforderung, dass die
angestrebten Geschlechtermodelle aufgrund der Umstrukturierung des
Erwerbssystems nicht mehr realisiert werden können. Sowohl Frauen als
auch Männer werden zeitweise oder dauerhaft vom Erwerbslohn des
Partners bzw. der Partnerin abhängig. Insbesondere die Konstellation
der Familienernährerin stellt die bisherigen Geschlechtermodelle Ost
und West in Frage. Dies betrifft immerhin knapp jeden fünften west- und
bereits mehr als einem Fünftel der ostdeutschen Haushalte. Diese
Umstrukturierungsprozesse bringen für Männer und Frauen neue, komplexe
Anforderungen mit sich. Man geht aber sicher nicht fehl in der Annahme,
dass die Situation für Männer schwieriger zu be- und verarbeiten ist.
Es ist insbesondere das immer noch dominante industriegesellschaftliche
Männlichkeitskonstrukt, das Männlichkeit an eine gesicherte
Erwerbsposition bindet, welches sich in den sozialen Praxen zunehmend
nicht mehr realisiert werden kann. Frei nach Christoph Links und
Kristina Volke (2009) gilt es nicht nur hinsichtlich der Lebensmodelle
im deindustrialisierten Ostdeutschland die Zukunft neu zu erfinden,
sondern auch in Hinsicht auf die Leitbilder von Männlichkeit und
Weiblichkeit.
Literatur
Aulenbacher, Brigitte/ Funder, Maria/ Jacobson, Heike/ Völker,
Susanne (Hg.) 2007: Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen
Gesellschaft. Forschung im Dialog, Wiesbaden
Bauer-Volke, Christina/ Dietzsch, Ina (Hg.) (2003): Labor
Ostdeutschland – kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel.
Berlin.
Dölling, Irene (2005): Ostdeutsche Geschlechterarrangements in
Zeiten des neoliberalen Gesellschaftsumbaus. In: Schäfer, Eva et al.
(Hg.): Irritationen Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse seit der
Wende. Münster, S. 16-34.
Dölling, Irene (2003): Zwei Wege gesellschaftlicher Modernisierung.
Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements in Ostdeutschland in
gesellschafts-/modernisierungstheoretischer Perspektive. In: Knapp,
Gudrun-Axeli/ Wetterer, Angelika (Hg.): Achsen der Differenz.
Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster, S. 73-100.
Dölling, Irene (1993): Gespaltenes Bewußtsein – Frauen- und
Männerbilder in der DDR. In: Helwig, Gisela/ Nickel, Hildegard Maria
(Hg.): Frauen in Deutschland 1945 - 1992. Bonn, S. 23-53.
Dölling, Irene (1991): Über den Patriarchalismus
staatsozialistischer Gesellschaften und die Geschlechterfrage im
gesellschaftlichen Umbruch. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die
Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25.
Soziologentages in Frankfurt am Main 1990. Frankfurt am Main, S.
407-417.
Dörre, Klaus 2007: Prekarisierung und Geschlecht. Ein Versuch über
unsichere Beschäftigung und männliche Herrschaft in nachfordistischen
Arbeitsgesellschaften. In: Aulenbacher, Brigitte et al. (Hg.): Arbeit
und Gesellschaft im Umbruch moderner Gesellschaften. Forschung im
Dialog. Wiesbaden, S. 269-302.
Gille, Martina (2009): Familien- und Lebensmodelle junger Männer.
In: Jurczyk, Karin/ Lange, Andreas (Hg.): Vaterwerden und Vatersein
heute. Gütersloh, S. 97-120.
Hofmann, Michael (2003): Soziokulturelle Milieus einer
Industriegesellschaft im Wandel. In: Bauer-Volke, Christina/ Dietzsch,
Ina (Hg.): Labor Ostdeutschland – kulturelle Praxis im
gesellschaftlichen Wandel. Berlin, S. 145-155.
Klenner/ Klammer (2008): Weibliche Familienernährerinnen in West-
und Ostdeutschland. Tagungsdokumentation einer BMFSFJ-Tagung in der
Villa Vigoni Oktober 2008. Erscheint in der entsprechenden
Tagungsdokumentation.
Links, Christoph/ Volke, Kristina (hg.): Zukunft erfinden. Kreative Projekte in Ostdeutschland. Berlin 2009.
Lippe, Holger v./ Bernardi, Laura (2006): Zwei deutsche Ansichten
über Kinder und Karriere. In: Aus erster Hand. Demographische
Forschung, Jg. 3, H. 3, S. 1-2
Lohr, Karin/ Nickel, Hildegard M. (2005), Hg.: Subjektivierung von Arbeit – Riskante Chancen, Münster.
Merkel, Ina (1995): Modernisierte Gesellschafts-“Bilder“ in den
DDR-Printmedien der fünfziger Jahre. In: Fischer-Rosenthal, Wolfram/
Alheit, Peter (Hg.): Biographien in Deutschland. Opladen, S. 171-176.
Nickel, Hildegard M. (1993): Gespaltenes Bewußtsein – Frauen- und
Männerbilder in der DDR In: Helwig, Gisela/ Nickel, Hildegard M. (Hg.):
Frauen in Deutschland 1945 - 1992. Bonn, S. 23-53.
Netzwerk und Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung (2006): Zur
Lage in Ostdeutschland. In: Berliner Debatte Initial, Jg. 17, H. 5, S.
3-96.
Pfau-Effinger, Birgit (1993): Macht des Patriarchats oder
Geschlechterkontrakt? Arbeitsmarkt-Integration von Frauen im
internationalen Vergleich. In: Prokla. Zeitschrift für kritische
Sozialwissenschaft, 23. Jg., H. 4, S. 633-663.
Pfau-Effinger, Birgit (2000): Kultur und Frauenerwerbstätigkeit in Europa. Opladen, S. 68-73
Sattler, Karl-Otto (2003): Aufbruch zu neuen Ufern. In: .
Bauer-Volke, Christina/ Dietzsch, Ina (Hg.): Labor Ostdeutschland –
kulturelle Praxis im gesellschaftlichen Wandel. Berlin, S. 176-182.
Schenk, Sabine (1995): Neu- oder Restrukturierung des
Geschlechterverhältnisses in Ostdeutschland? In: Berliner Journal für
Soziologie, 5. Jg., H. 4, S. 475-488.
Schochow, Maximilian (2009): Der „Familienvater“. Von der
Produktion einer DDR-Männlichkeit im Kontext demographischer
Wissensbestände und sozialpolitischer Praktiken. In: Nagelschmidt,
Ilse/ Wojke, Kristin (Hg.): Typisch männlich!?, Berlin: Peter Lang
Verlag, S. 77-98.
Scholz, Sylka 2004: Männlichkeiten erzählen. Lebensgeschichtliche Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer, Münster.
Scholz, Sylka (2005): Die „Show des Scheiterns“ und der „Club der
Polnischen Versager“. Der (neue) Diskurs der Gescheiterten. In:
Zahlmann, Stefan/ Scholz, Sylka: Scheitern und Biographie. Die andere
Seite moderner Lebensgeschichten. Gießen, S. 267-289.
Scholz, Sylka (2008): Sozialistische Helden. Hegemoniale
Männlichkeit in der DDR. In: Scholz, Sylka/ Willms, Weertje (Hg.):
Postsozialistische Männlichkeiten in einer globalisierten Welt.
Münster, S. 11-35.
Scholz, Sylka (2010): Von starken Helden zu zärtlichen Vätern?
Männlichkeit und Emotion in der DDR. In: Manuel Borutta / Nina Verheyen
(Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotionen in der
Moderne. Bielefeld (Im Erscheinen).
Statistisches Bundesamt (2008): Datenreport 2008. Ein Sozialbericht über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn.
Völker, Susanne (2006): Praktiken der Instabilität. Eine empirische
Untersuchung zu Prekarisierungsprozessen. In: Aulenbacher, Brigitte et
al. (Hg.): FrauenMänner-Geschlechterforschung. State of the Art.
Münster, S. 140-154.
Völker, Susanne (2008): Entsicherte Verhältnisse –
(Un)Möglichkeiten fürsorglicher Praxis. In Berliner Journal für
Soziologie, 18. Jg., H. 2, S. 183-238.
Winkler, Gunnar (Hg.) (2002): Sozialreport 2001. Daten und Fakten zur Lage in den neuen Bundesländern. Berlin.
Zachmann, Karin (1997): Frauen für die technische Revolution.
Studentinnen und Absolventinnen Technischer Hochschulen in der SBZ/DDR.
In: Budde, Gunilla-Friedericke (Hg.): Frauen arbeiten. Weibliche
Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945. Göttingen, S.
121-156.
|
| |