Thema | Kulturation 2013 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Harald Dehne | Konsumieren oder untergehen -
Konsumversprechungen zwischen Planwirtschaft und Volksverlangen
| Wie
die wankelmütigen Konsumversprechungen der DDR-Führung regelmäßig
zwischen starrer Planwirtschaft und unbändigem Volksverlangen zerrieben
wurden
Als die DDR im Oktober 1949 gegründet wurde, hieß es, man wolle ein
neues, ein besseres, ein sozial gerechteres Deutschland schaffen. Doch
das sozialpolitische Abenteuer begann unter ungünstigen Vorzeichen und
erreichte dieses selbstgesteckte Ziel niemals. Den Ausgangspunkt
bildeten die politischen und wirtschaftlichen Ruinen des Dritten
Reiches. Gegründet durch Stalins Hand, blieb der Staat stets
eingeschränkt in der nationalen Selbstbestimmung. Und immer sah sich
die ökonomisch vergleichsweise schwache DDR auch einem unmittelbarem
Vergleich mit dem Gesellschaftsmodell des Westens und dem dort
ausgelebten Konsumstil ausgesetzt. Im Kräftespiel um die Vorherrschaft
innerhalb des Systemvergleichs hatte sich die westdeutsche Konsumkultur
nach 1949 rasch als die attraktivere von beiden erwiesen und war zum
hegemonialen Muster der individuellen Konsumtion geworden.
Das Experiment DDR begann als spürbare Diktatur, es litt unter der
Knappheit an materiellen Ressourcen ebenso wie unter der zögerlichen
Beteiligung der Bevölkerung. Auf die starken Repressionen des Regimes
bis Mitte der 50er Jahre folgten für die Ostdeutschen Hoffnungen und
Enttäuschungen im Wechsel. Verbesserungen in der Lebensmittelversorgung
wurden durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft teilweise
wieder zunichte gemacht, das (im Jahre 1958 groteskerweise wohl
tatsächlich ernst gemeinte) Versprechen von schlaraffenlandähnlichen
Zuständen blieb unerfüllt, stattdessen flüchteten Hunderttausende aus
der DDR in die BRD. Nach dem Mauerbau 1961 folgten sogar wieder vier
Jahre mit gewissen frühlingshaften Anzeichen. In den 70er Jahren
schließlich erfolgte eine starke Prägung der DDR-Gesellschaft mit
betont sozialistischen Vorzeichen, in deutlicher Abgrenzung zum anderen
deutschen Staat und von der gemeinsamen Geschichte, aber auch mit
gewissen Erfolgen des sozialpolitischen Programms nach dem 8. Parteitag
der SED im Jahre 1971. Ende der 1970er Jahre allerdings setzte die
endgültige Krise des Experiments DDR ein, und die Stagnation in der
gesellschaftlichen Dynamik wurde immer deutlicher erfahrbar. Diese
Krise aber war eine schleichend daherkommende, sie wurde von innen noch
schwächer wahrgenommen als von außen, und vor zwanzig Jahren
selbstverständlich viel weniger als in der historischen Rücksicht, in
der heute so vieles von vornherein klar gewesen zu sein scheint.
Hier ist von denjenigen Ostdeutschen die Rede, die nicht – wie es bis
zur „Wende“ im Jahre 1989 zehn bis fünfzehn Prozent von ihnen taten –
lieber in den Westen gingen, sondern die die Akteure des DDR-Alltags
blieben. Auch vor dem Mauerbau 1961 gab es für viele Menschen
hinreichende Motive, im Land zu bleiben: politische (eine
gesellschaftliche Vision) oder private Gründe (die Familie, ein Haus,
ein Gewerbe oder einfach die Hoffnung, es werde eines Tages wieder
anders kommen). Für die meisten Ostdeutschen lässt sich das Leben in
der DDR als „alltagpragmatisch“ beschreiben, d.h., die Mehrheit der
ostdeutschen Bevölkerung arrangierte sich mit den Verhältnissen und
nahm im DDR-Alltag sowohl „Konsenspunkte“ [1] als auch
„Konfliktpotentiale“ wahr. Dies trifft auch auf die Schwierigkeiten bei
der privaten Konsumtion zu. Hierbei gibt es allerdings wesentliche
Unterschiede je nach Zeitraum und Generation der Konsumenten.
Für die vier Jahrzehnte, die die DDR existierte, ist keine
kontinuierliche konsumpolitische Strategie, vergleichbar etwa mit der
zum „Wirtschaftswunder“ führenden Politik der sozialen Marktwirtschaft
in der BRD, erkennbar. Im Umgang mit den Konsumbedürfnissen der
Bevölkerung befand sich die Partei- und Staatsführung der DDR in allen
Phasen ihrer vierzigjährigen Herrschaft stets in mehreren Dilemmata
gleichzeitig. Sie bestanden in einem permanenten Mangel an materiellen
Ressourcen ebenso wie in einem Mangel an politischem Verständnis für
die kulturelle Bedeutung des privaten Konsums. In der
entbehrungsreichen Nachkriegszeit, in der Reparationslieferungen an der
schwachen Volkswirtschaft zehrten und zugleich durch den Wiederaufbau
der Produktion und der Infrastrukturen erst mal das Vorkriegsniveau
erreicht werden musste, ging es vor allem um die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigsten.
Alle weitergehenden Bedürfnisse galten nahezu als Luxus. Die Sehnsüchte
nach Annehmlichkeiten, die über die konsumtive Existenzsicherung
hinausgingen, konnte man den Menschen zwar nicht wirklich ausreden,
aber man versuchte, analog zum christlichen Paradiesversprechen, sie
auf die später einmal folgenden Beglückungen des Kommunismus zu
vertrösten. Diese folgenschwere Unterbewertung der individuellen
Konsumtionsbedürfnisse durch die DDR-Führung lässt sich nicht nur aus
den immer wiederkehrenden Mangelsituationen an Waren erklären, sondern
sie ist selbst auch ein Bestandteil der Ideologie der deutschen
Arbeiterbewegung. Darin wurde der private Konsum vor allem als ein
bürgerliches Phänomen verstanden, als eine ökonomische Notwendigkeit,
um das kapitalistische System am Laufen zu halten. Der Marxschen
Theorie zufolge würde in einer universell produzierenden Gesellschaft
nach der bürgerlichen nicht der Reichtum an Sachen zählen, sondern der
Reichtum an frei verfügbarer Zeit, die für die persönliche Entwicklung
der Individuen und für die Gestaltung ihres Beziehungsreichtums genutzt
werden kann. Daher rangierten in der politischen Propaganda vor den
materiellen Bedürfnissen stets die geistigen: „Wissen ist Macht“ hieß
bekanntlich das Ideal der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Dass
sich das Wohl der arbeitenden Menschen im späteren „Zukunftsstaat“
würde verbessert haben, das verstand sich angesichts ihrer unter den
kapitalistischen Verhältnissen miserablen Lebensbedingungen von selbst.
Insofern enthielt die Ideologie des Sozialismus ursprünglich kein
Konzept für eine Konsumkultur. So blieb es auch kulturwissenschaftlich
lange Zeit verdeckt, dass zur „allseitig entwickelten Persönlichkeit“,
dem kulturellen Ideal der sozialistischen Gesellschaft, nicht nur
geistige Ansprüche, sondern auch ein Reichtum an materiellen
Bedürfnissen gehören müsse. Erst im Laufe der siebziger Jahre wurde in
der DDR-Kulturtheorie[2] mit dem Blick auf Marx darauf verwiesen, dass
der universelle Mensch des Kommunismus nicht ohne universelle
Konsumtion vorstellbar sei und dass die massenhafte Entfaltung und
Weiterentwicklung von Konsumbedürfnissen durchaus ein immanentes
gesellschaftspolitisches Ziel des Sozialismus darstellt.
Als ein drittes Dilemma für die DDR-Konsumpolitik erwies sich der
Umstand, dass die ostdeutsche Bevölkerung jederzeit das ständig weit
vorauseilende Konsumverhalten der Westdeutschen vor Augen hatte. Es
waren immer die westlichen Konsumstandards, die die Maßstäbe setzten;
sie gaben das Tempo vor, und der DDR blieb bloß noch das – oftmals
hilflos daherkommende – Reagieren auf die Konsummuster des Westens.
Verheißung und Vertröstung – wie die schwache DDR Konsumbedürfnisse erfüllen wollte
Konsumgeschichtlich ging es in den ersten Jahren des Bestehens der DDR
fast ausschließlich darum, die Grundversorgung der Bevölkerung
sicherzustellen. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 führte jedoch zu einem
neuen konsumpolitischen Kurs, der nunmehr auch die materiellen
Bedürfnisse der Menschen zu akzeptieren bereit schien und eine bessere
quantitative Versorgung versprach. Aber die bekannten Mängel in der
kontinuierlichen und flächendeckenden Versorgung mit Lebensmitteln und
vor allem in der Qualität der Waren blieben bis in die 60er Jahre
hinein bestehen.
Die Losung „Alle sollen besser leben“, der Anfang der 50er Jahre die
soziale Marktwirtschaft in der BRD in Schwung bringen sollte, hätte
sich wohl genauso gut das SED-Politbüro ausdenken können. Aber in der
BRD wurde das Wirtschaftswunder jetzt tatsächlich Realität:
„Fresswelle“, private Motorisierung, Eigenheimbau, Auslandstourismus,
Kofferradio, später Fernseher – das alles setzte die DDR-Führung im
Laufe der fünfziger Jahre schon unter Druck. Aus Ostberlin und aus den
angrenzenden Brandenburger Kreisen der sogenannten „Zone“ fuhren
täglich Tausende zur Arbeit nach Westberlin und noch viel mehr
Ostdeutsche kauften dort trotz des „Schwindelkurses“ von fünf Ostmark
für eine D-Mark günstig Lebensmittel und andere Konsumgüter ein.
Vieles, was im Osten Mangelware war und blieb, gab es überhaupt nur in
den Westzonen. Der Westen hatte nicht nur den „guten Kaffee“, der in
der Tat wesentlich besser schmeckte als die Kaffeesorten in der DDR, er
hatte auch die demonstrativ billige Banane. Dass der zollfreie Import
dieser Südfrucht, den Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen
westdeutschen Landsleuten auch nach der Gründung der Europäischen
Gemeinschaft im Jahre 1957 geschickt zu sichern wusste, [3] auch als
ein politisches Signal an die „Brüder und Schwestern in der Ostzone“
gedacht war, um sie ein wenig neidisch zu machen, liegt nahe.[4] Der
groteske Umstand, dass die Banane in der Bundesrepublik jederzeit und
für wenig Geld verfügbar war, in der DDR jedoch höchst selten (mit
einer gewissen Zuverlässigkeit jedoch zum Weihnachtsfest) gekauft
werden konnte, führte dazu, dass der Banane eine absurde
politisch-symbolische Aufladung zukam. Sie wurde zu einem
„zeichenhaften Symbol der kleinen und wilden Begierden der DDR Bürger“,
„für die Luxusentbehrung lange Zeit kollektives Schicksal war.“[5]
Angesichts der strahlenden Konsumwelt des Westens, die in ihrer
demonstrativen Präsentation der Verlockungen auch in Richtung Osten
ihre Wirkung auf die an Glanz und Farbe eher arme DDR kaum verfehlte
und die immer mehr Begehrlichkeiten innerhalb der DDR-Bevölkerung
weckte, sah sich die SED zu Recht im Zugzwang. Zumindest im Versprechen von Konsum
wurde daraufhin im Jahre 1958 eine neue Offensive gestartet. Kaum waren
im Mai die letzten Reste der seit 1939 bestehenden
Lebensmittelrationierung aufgehoben, acht Jahre später als in der BRD,
sollte die kommunistische Gesellschaft nunmehr in
„Siebenmeilenschritten“ erreicht werden. Aus der Sicht von 1958 sollte
dies in 25 bis 40 Jahren der Fall sein, also innerhalb eines durchaus
überschaubaren Zeitraums, den nicht nur die Jugend noch erleben sollte.
Das Zaubermittel sollte das Chemieprogramm darstellen, das im November
1958 beschlossen wurde und das „Brot, Wohlstand und Schönheit“ geben
werde, wie die Losung der Partei verhieß. Unter dem Motto „Einholen und
überholen“ sollte die ökonomische Überlegenheit der sozialistischen DDR
gegenüber der kapitalistischen BRD unter Beweis gestellt werden.
Innerhalb weniger Jahre wollte man den Pro-Kopf-Verbrauch bei allen
wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern so steigern, dass die private
Konsumtion in der BRD nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen
werden sollte. Dieses überaus ehrgeizige Projekt entbehrte zwar
weitgehend der materiellen Basis, und einige gute industrielle
Wachstumsraten durften nicht über allgemeine Mangelwirtschaft und über
die anhaltenden Versorgungsprobleme der Bevölkerung mit
Grundnahrungsmitteln (Fleisch, Butter, Zucker usw.) und sogar den „1000
kleinen Dingen“, die für jede private Hauswirtschaft unentbehrlich,
aber so gut wie nicht erhältlich waren, hinwegtäuschen. Umso
begeisterter und farbenreicher fielen die propagandistischen
Erzählungen und Bilder von der kommunistischen Zukunft aus, auf die
sich die DDR im rasanten Tempo hinbewege.
Ihren Verheißungen nach würde in der klassenlosen Gesellschaft des
Kommunismus alles vorhanden sein, aber jeder nehme sich nur das, was er
tatsächlich brauche. Das Geld sei ohnehin abgeschafft. Jetzt erlaube
die Ankunft im Paradies die vollkommene Selbstverwirklichung der
Menschen, weil, wie Karl Marx und Friedrich Engels es sich bereits 1845
in ihrer Schrift „Die deutsche Ideologie“ vorstellten, „die
Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch
möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen,
nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu
kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt
oder Kritiker zu werden.“[6] Dieser Traum vom besseren Leben verwies
auf die Zukunft, die den Lohn für die heutige harte Arbeit und den
entbehrungsreichen Alltag bereithalten würde. Eine Konsumutopie, die
angesichts der Mühen und Frustrationen des alltäglichen Einkaufs, die
auch nach dem zehnten Geburtstag der DDR unvermindert anhielten,
geradezu grotesk erschienen sein muss. „Zu keinem anderen Zeitpunkt in
der vierzigjährigen Geschichte der DDR war die kommunistische Utopie
propagandistisch so aktuell und präsent wie Ende der fünfziger Jahre.
Die ungehemmte, vielfach naive, immer plastische und farbenfrohe, stets
über die Maßen euphorische Erzählung von der kommunistischen Zukunft
bediente sich freilich überwiegend technizistischer und arkadischer
Topoi, sozialutopische Erzählelemente sind in der Massenagitation kaum
vertreten.“ [7] Als Schulanfänger war ich damals von den Bildern in
meiner Kinderzeitschrift immerhin stark beeindruckt: riesige Kaufhäuser
mit lückenlosen Warenmustern (wie heute bei IKEA), mit endlosen
Laufbändern für die Besucher (wie heute auf modernen Großflughäfen) und
sogar mit Landeplätzen für die Lufttaxis (wie heute die Helikopter, die
wichtige Politiker transportieren). Was sollte da am Kommunismus, der
zwar erst ein wenig später, aber doch im Raketentempo eintreffen würde,
schlecht sein? Plötzlich schien sich hier ein Fenster zum Kommunismus,
der fast schon vor der Tür stünde, aufzutun. Ungefähr drei Jahre lang
verbreitete die sozialistische Propaganda eine solche gesellschaftliche
Utopie, die die unverzügliche Erfüllung aller konsumtiven Sehnsüchte
der Menschen in der DDR verhieß. Dann sorgten die nach wie vor
vorhandenen und unübersehbaren Schwierigkeiten der DDR-Volkswirtschaft
dafür, dass der hochtrabende Anspruch als nichts anderes als reines
Wunschdenken erkannt und stillschweigend revidiert werden musste.
In den Großstädten der DDR, vor allem in den Bezirkshauptstädten
und in den Industrieregionen, die bevorzugt mit Konsumgütern versorgt
wurden, genügte das Warenangebot weder quantitativ der Nachfrage noch
qualitativ den wachsenden Ansprüchen der Bürger. Doch einen noch
größeren Rückstand als in den Städten wies das Warenangebot auf dem Land auf.
Das Handelsnetz war in den dünner besiedelten Gebieten traditionell
nicht eben engmaschig geknüpft. Dieses Relikt der (kapitalistischen)
Vergangenheit versuchten die Konsumverantwortlichen der DDR-Führung
seit der Gründung der DDR zu überwinden und gerade und die Versorgung
der dörflichen Bevölkerung im Arbeiter- und Bauernstaat sichtbar zu
verbessern. Der Ausbau des Landhandels wurde der Konsumgenossenschaft
übertragen. Ein weiterer Schritt, um den Anschluss an das westdeutsche
Konsumniveau nicht zu verpassen, zugleich wohl auch, um die eine
Mangelwirtschaft stets konterkarierende Praxis der Hamsterkäufe
einzuschränken, [8] sollte 1956 die Einführung des Versandhandels
für die Landbewohner sein. Über zwanzig Jahre hinweg bereitete das
Projekt mehr Probleme als die Bedürfnisse des Massenkonsums zu
befriedigen, so dass man dem Desaster durch simple Abschaffung des
Versandhandels ein stilles Ende bereitete. Eine ähnliche Luftnummer
blieb die Idee des Jahres 1959, durch eine Anzahl von
Großraum-Landverkaufsstellen die Konsuminteressen der Dorfbewohner
komplex zu befriedigen.[9] Das Experiment scheiterte nicht nur an der
unzureichenden Baukapazität, sondern ebenso so sehr an der Warendecke,
die sich als viel zu knapp erwies. [10]
Eine durchaus ansehnliche Erfolgsgeschichte schrieb hingegen ein
anderes Konsumprojekt, indem es aus der Not eine Tugend machte. Weil
als Folge sowohl der Abschaffung der Lebensmittelkarten als auch der
mit massivem politischem Druck erreichten Vergenossenschaftlichung der
gesamten Agrarproduktion der DDR Ende der 50er Jahre eine neue
Versorgungskrise auftrat, die mit Schwankungen bis etwa 1966/67
andauerte, wurde in kurzer Zeit eine industrielle Hähnchenproduktion
aus dem Boden gestampft. Ihre Einrichtung durch einige engagierte
Wirtschaftsfunktionäre war ein Husarenstück gegenüber den Widernissen,
die die Bürokratie von Partei und Regierung ihnen bereitete. Ab Ende
1967 gab es schließlich ein Brathähnchen ostdeutscher Provenienz, das
man unter dem Namen „Goldbroiler“ nunmehr tiefgefroren kaufen oder in
einem der zunächst drei Berliner speziellen (fast so zu bezeichnenden) Schnellrestaurants,
die im Stil einer Bauernschenke eingerichtet waren, verspeisen konnte.
Mit der Einführung dieses eher banal erscheinenden Geflügelmastprodukts
war in der permanent versorgungsschwachen DDR am Ende der sechziger
Jahre ein kulinarischer Treffer gelandet worden, der nicht nur die
Ernährungssituation, sondern auch die Stimmungslage im Land entspannte,
zumindest für einige Zeit. Man kann diese Erfindung unter dem Aspekt
eines herrschaftssichernden Versorgungsauftrags einordnen, exemplarisch
für den Übergang von Gewalt zum Arrangement“.[11] Man kann aber auch
sagen, dass diese DDR-Kreation, vergleichbar mit dem Brathendl der
Wienerwald-Kette, einen Beitrag zur Entspannung des DDR-Konsumalltags
leistete. Inzwischen ist der Goldbroiler übrigens als eine sprachliche
Eigenart der DDR in den gesamtdeutschen Sprachgebrauch eingegangen.
Die Illusion zentralpolitischer Fürsorge: „Konsumsozialismus“ nach 1971
Es ist die wirklichkeitsfremde Anmaßung, vom Schreibtisch
aus für die „individuelle Konsumtion“ von siebzehn Millionen Menschen
eine totale Bedürfnisplanung und gönnerische Zuwendung praktizieren zu
können, die die siebziger und achtziger Jahre kennzeichnet.
Rückblickend betrachtet scheint der „Konsumsozialismus“ wohl auch ein
Coup[12] und eine voluntaristische Spielwiese Erich Honeckers gewesen
zu sein, der den neuen Kurs der „Einheit von Wirtschafts- und
Sozialpolitik“ weitgehend im Alleingang bestimmt hat. Der zur
Charakterisierung der DDR vor einigen Jahren vorgeschlagene Begriff der
„Fürsorgediktatur“ [13] beschreibt für den Zeitraum ab 1971 den
Anspruch der SED-Politik durchaus treffend. Der 8. Parteitag der SED,
mit dem Honecker als mächtigster Mann der DDR in die Weltgeschichte
eintrat, suggerierte einen Wandel hin zu den Interessen des Volkes und
leitete ein spektakuläres sozialpolitisches Programm ein. Es
akzeptierte nicht nur, dass konsumtive Bedürfnisse vorhanden waren und
befriedigt werden müssten, sondern es erkannte auch den gewaltigen
Nachholbedarf in diesem Punkt. Vollmundig versprach die Parteiführung,
das „materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes“ zu erhöhen und
löste damit große Erwartungen aus. Tatsächlich kam es rasch zu
sozialpolitischen Verbesserungen für die Familien, zu einer Erhöhung
der Arbeitseinkommen und vor allem zu einem Wohnungsbauprogramm. Aber
das „Geschenk“ der Sozialpolitik war materiell überhaupt nicht
abgesichert, die endgültige Bezahlung stand aus und hing ab von
erwarteten wirtschaftlichen Erfolgen, die jedoch ganz ungewiss waren
und letztlich auch weitestgehend ausblieben. „Anders als Ulbricht, der
zunächst mit einer gewaltigen Anstrengung die Effektivität und
nachfolgend den Lebensstandard erhöhen wollte, nahm Honecker einen
Wechsel auf die Zukunft. Die Erhöhung des Lebensstandards und
umfangreiche sozialpolitische Maßnamen sollten faktisch einen Anreiz
für erhöhte und verbesserte wirtschaftliche Leistung bieten. Dabei
wollte man die Bevölkerung mit Hilfe der propagandistisch noch
aufgewerteten Verbesserungen ihrer sozialen Lage auch stärker am System
interessieren und zugleich ruhigstellen.“ [14]
Dazu kam, dass es für die konkrete Ausgestaltung dieses
sozialpolitischen Programms nicht nur wenig praktische Erfahrung,
sondern auch so gut wie keine wissenschaftliche Fundierung gab.
Forschungen zur Sozialpolitik waren spätestens in den 60er Jahren zum
Erliegen gekommen. [15] Nun versuchte man verzweifelt, eine Forschung
zum Thema „Konsumtion und Lebensstandard“ zu etablieren, um dem
illusorischen Anspruch einer kompletten Bedürfnisplanung gerecht zu
werden. Es wurde eine „kennziffernmäßige Erfassung des sozialistischen
Lebensniveaus“[16] ausgearbeitet und eine Klassifikation von Faktoren
aufgestellt, die die sozialistische Lebensweise beeinflussen. Der
letzte konzeptionelle Versuch der DDR, eine „Konsumgesellschaft mit
sozialistischem“ Vorzeichen resp. eine konsumierende
„Kulturgesellschaft“ [17] zu entwickeln, scheiterte bereits wenige
Jahre später, als klar wurde, dass die versiegenden ökonomischen
Ressourcen dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machten und
Konsumversprechen und Volksverlangen angesichts des alltäglichen
Mangels immer mehr auseinander klafften. Am Machtanspruch der SED
änderte sich dadurch nichts, im Gegenteil, er wurde mit zunehmender
Verbissenheit behauptet, obwohl das Wachstum der Unzufriedenheit längst
nicht mehr aufzuhalten war.
Der instrumentalisierte Mangel – eine Gesellschaft am Rande der Massenkriminalität
Es ist üblich geworden, die DDR sowohl in den Medien als auch in der
wissenschaftlichen Literatur kurzerhand als eine „Mangelgesellschaft“
zu bezeichnen. [18] Natürlich reduziert dieser Begriff das Alltagsleben
der DDR-Bürger auf einen einzigen Aspekt: auf Engpässe und
Versorgungslücken, auf die Abwesenheit von Waren und Dienstleistungen,
die regelmäßig Ärger und „Beschaffungsarbeit“ gleichermaßen bedeutete,
und auf die häufige Nichtverfügbarkeit über die schönen Dinge
unbeschränkten Konsums. Natürlich spielt dieser Mangelbegriff mit den
unerfüllten Konsumsehnsüchten der Ostler, denn jeder weiß, dass
gegenüber diesen jahrzehntelangen Entbehrungen wenige Kilometer weiter
sich der Überfluss der schillernden Warenwelt des Westens auftürmte:
die wahre Konsumgesellschaft eben. Insofern hebt das Etikett
„Mangelgesellschaft“ ganz einseitig den alltäglichen Frust beim
Einkaufen und „Besorgen“ hervor und wird daher in den meisten Fällen in
eher denunziatorischer Absicht verwendet. Doch auch wenn das
Alltagsleben in der DDR selbst hinsichtlich der Schwierigkeiten beim
individuellen Konsumieren mehr war als der permanente sisyphoshafte
Versuch, irgendwie dem Mangel abzuhelfen, so lassen sich dem Ansatz der
Mangelgesellschaft dennoch auch anregende Fragestellungen unter zwei
Aspekten abgewinnen. Erstens: Könnte es vielleicht sein, dass ein nicht
unbeträchtliches Quantum an Mangel unter den Auspizien von
Machtsicherung durch die SED-Führung durchaus gewollt war? Und
zweitens: welche Formen des materiellen und des sozialen Gewinnziehens
veränderten die Schichtungen in der Gesellschaft, wer waren die
Nutznießer des Mangels?
Natürlich spricht auf den ersten Blick einiges für die These vom
Mangelerhalt als einem Herrschaftsinstrument. So funktionierte der
Mangel, so lange er nicht in eine akute versorgungswirtschaftliche und
somit sich auch politisch auswirkende Krise umschlug, durchaus auch
systemerhaltend, denn die aufwendige Suche nach Ersatzlösungen und
Improvisationen kosteten die Menschen extrem viel Zeit und Energie. Die
permanent notwendigen Aktivitäten zur Mangelabhilfe konnten also
Kreativität binden und sie zugleich auch kanalisieren, was die
persönlichen Kraftpotentiale für eine soziale Machtprobe mit der
Obrigkeit verringert haben dürfte. Aber war dieser Effekt tatsächlich
schon ein berechnetes Kalkül? Viel mehr spricht dafür, dass es
vielleicht eine gewollte Abhängigkeit der Konsumenten von den Wohltaten
der Herrschenden in der Weise gab, die Bittrolle des Volkes
aufrechterhalten, um die Macht und die gelegentliche Großzügigkeit des
Staates als Herrschaftsinstrument demonstrieren zu können. Das Volk
blieb angewiesen auf die Gunst der Obrigkeit, gezwungen zum
Wohlverhalten. Lässt sich daraus aber eine bewusst gewollte Knappheit
an Wohnungen, Telefonen oder Autos herleiten? Wären dann nicht die
negativen Begleitumstände eine zu große Gefahr gewesen? Der
schwunghafte Handel etwa mit Autoanmeldungen oder der Schwarzhandel mit
gebrauchten Autos, die nicht selten zum doppelten Neupreis verscherbelt
wurden – im gegenseitigen Einvernehmen von Verkäufer und Käufer. Diesem
kriminellen Handeln, das alle sozialen Gruppen praktizierten, stand die
Staatsmacht in den 70er und 80er völlig hilflos gegenüber. [19]
Zugleich produzierte der Mangel in der DDR im Volke verschiedenste
Varianten von Nutznießern dieser Situation, die in der glücklichen Lage
waren, begehrte Dienstleistungen oder materielle Tauschobjekte anbieten
zu können. Diese Mangelsituation verlieh zum Beispiel Handwerkern,
Verkäufern, Ärzten, Kellnern, Taxifahrern und vielen anderen einen
unverdienten Machtzuwachs. Eine privilegierte Position konnten darüber
hinaus diejenigen einnehmen, die über West-Mark verfügten. Damit
konnten sie sowohl in den sogenannten Intershops oder über den
Geschenkdienst Genex importierte Westwaren gegen D-Mark erwerben [20]
als auch die Versorgungslücken bei Konsumgütern und Dienstleistungen in
der DDR selbst überwinden.
Aber man sollte angesichts dieser Beispiele auch ehrbares
Alltagsverhalten nicht übersehen. Eine moralische Haltung, der zufolge
die Arbeit, die man macht, auch gut zu machen sei, war nicht so selten,
wie es heute in der Retrospektive oftmals aussehen mag. Die in den
DDR-Medien oftmals penetrant herbeigeredete „Arbeiterehre“ gab es auch
in der Wirklichkeit, und die Arbeitsethik von Ingenieuren, die bei
weitem nicht immer für diesen Staat eingenommen waren, aber für eine
praktische Aufgabenlösung eintraten, weil sie etwas Bleibendes
gestalten wollten, erst recht. Ihr Engagement resultierte aus der Sache
selbst, daraus, eine technische Herausforderung in eine praktische
Lösung umzusetzen, oftmals durch geniale Improvisation. Für mutige
„Schwarzentwicklungen“ gegen die herrschende Bürokratie, d.h.
ungenehmigte Konstruktionen von Maschinen, Anlagen oder Konsumgütern
durch erfinderische Ingenieure und Meister gibt es zahlreiche
Beispiele. [21]
Ein Spiel um soziale Konfliktbewältigung: Luftablassen und Drohgebärden gegen die Obrigkeit
Der kleine alltägliche Beschiss zum persönlichen Vorteil, sich den
einem „zustehenden“ Anteil am Volkseigentum einzufordern bzw. ihn sich
einfach „zurückzunehmen“, gehörte zu den selbstverständlichen Übungen
des DDR-Alltags. „Man machte gemeinsam Witze über den Sozialismus und
beklaute gemeinsam den Staat.“ [22] Viele hielten sich an den
Ressourcen des volkseigenen Betriebes schadlos, in dem sie brauchbare
Güter und Materialien aus dem Betrieb in die eigene Wohnung
„verlagerten“, werkseigene Transportkapazitäten für private Aufgaben
einsetzten oder einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit für
persönliche Gänge missbrauchten: für einen Besuch beim Arzt oder beim
Friseur, am häufigsten jedoch für’s Einkaufen.
Es waren dies persönliche Vorteilsnahmen aus der DDR-Gesellschaft ohne
Unrechtsbewusstsein, aber es waren keine Aktionen von Verweigerung und
schon gar nicht von Widerständigkeit, die in den späteren
Selbstreflexionen eine um so größere Überbewertung[23] erfährt, je mehr
Jahre seit dem Untergang der DDR vergangen sind. Die Mehrheit der
DDR-Bürger wandte die bekannten Spielregeln im vollen Bewusstsein an
und kostete ihren Spielraum aus. Dieses Verhalten kultivierten die
hofierten Theaterleute, deren kalkulierte Provokation in der Kunst eine
maßvolle Widersetzlichkeit zur Freude der intellektuellen Rezipienten
war, ebenso wie die Arbeiter, die sich zunehmend ihrer wachsenden
Machtposition in dieser „arbeiterlichen Gesellschaft“ [24] bedienten.
Zu den ausgiebig geübten Ritualen der Auseinandersetzung der
Bevölkerung mit der Staats- und Parteimacht gehörte es seit der
Gründung der DDR, Eingaben zu schreiben. Statistisch gesehen verfasste
zwischen 1949 und 1989 fast jeder DDR-Haushalt eine Eingabe.[25] Mit
dieser ausdrücklich zugelassenen Möglichkeit der Äußerung von
Vorschlägen und Wünschen zur Verbesserung des gesellschaftlichen
Systems holte sich die Herrschenden zugleich ihre Kritiker näher: es
war ein Brückenschlag voller Widersprüche. Handelte es sich dabei
anfänglich um das ausschließliche Verfassen von individuellen
Bittgesuchen an eine kaum nahbare Obrigkeit, so wandelte sich diese
soziale Praxis zu einem zunehmend erfolgreich ausgenutzten Spagat der
Eingabenschreiber zwischen gesellschaftlichem Engagement und
persönlicher Vorteilsnahme. An den zahllosen Eingaben war es kaum mehr
eindeutig ablesbar, ob sich das Schreibmotiv aus der engagierten
Mitbeteiligung der Bürger an der Regelung gesellschaftlicher
Angelegenheiten, die der Apparat unter dem Motto der „sozialistischen
Demokratie“ ständig und wortreich einforderte, ableitete, oder ob der
Schriftsatz lediglich den angestrebten Eigennutz verbrämte. Mit dem
Wunsch auf die definitive Lösung der zur Sprache gebrachten
individuellen Problemfälle verband sich vorwiegend die Erwartung
persönlicher Vorteile (Wohnung, Krippenplatz, ein Pkw oder andere
hochwertige Konsumgüter usw.), aber auch die aufrichtige Hoffnung,
durch Hinweise auf Unzulänglichkeiten des Systems den „real
existierenden Sozialismus“ in der DDR verbessern zu können. Insofern
war die Eingabenpraxis auch ein Versuch der Bevölkerung, durch
Eingaben, nicht zuletzt auch an Presse, Rundfunk und Fernsehen, für die
Versorgungsprobleme eine Öffentlichkeit herzustellen. [26] Auf diese
Weise hatte das Volk das gewissermaßen verbriefte Recht auf
Rückmeldungen – wenngleich genau darauf begrenzt – , diese konnte es
allerdings durchaus exorbitant ausüben, woraus ein Spiel für beide
Seiten wurde. Mit unzähligen Eingaben konnten sich die Bürger „Luft
machen“ und sich wahrgenommen fühlen, sie konnten einen beträchtlichen
Teil der Arbeitsfähigkeit der Bürokratie absorbieren, aber ebenso
gleichmütig und unisono auf später vertröstend fielen die Antworten der
Verwaltungsinstitutionen aus. Selbst die Drohung, nicht mehr
„mitmachen“ zu wollen, also nicht zur Wahl zu gehen oder einen
Ausreiseantrag aus der DDR zu stellen, nutzte sich als Drohgebärde
gegenüber der Obrigkeit allmählich. Was im Einzelfall herauskam, war
manchmal eine bessere Wohnung oder ein neues Auto, öfter jedoch der
Appell an die Einsicht, dass das angesprochene Problem derzeit leider
„noch nicht“ lösbar sei, oder aber auch, dass der Einspruch
bedauerlicherweise ungerechtfertigt sei. Das Schreiben von Eingaben
wurde als Ventil verschiedenartigster Unzufriedenheit gehandhabt, aber
am System und an den Versorgungsproblemen änderte diese Praxis unterm
Strich natürlich kein Jota.
Der Einzelhandel musste stets die undankbare Rolle einer Pufferzone spielen zwischen einem ihm von oben, d.h. vom Apparat,
diktierten „Versorgungsauftrag“, dem in der Praxis jedoch allzu oft die
Warendecke fehlte, und einem von unten vehement eingeforderten besseren
Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen. Der Bevölkerung wurde
einerseits permanent verkündet, dass die Führung alles tue, um die
Versorgungslücken zu schließen. Dem stand jedoch die regelmäßige
Erfahrung gegenüber, dass viele Waren in den Geschäften nicht vorhanden
waren oder dass die Qualität der erhältlichen Produkte unbefriedigend
war. Gute Chancen, ihre Position als Verbraucher aufzuwerten, hatten
die Konsumenten in der DDR durch die extensive Inanspruchnahme der
sogenannten „Rechte als Käufer“. Dieser als Gesetz veröffentlichte Text
war durchaus kundenfreundlich formuliert und stärkte die Ansprüche der
Kunden gegenüber dem Handel. Angesichts der leichten Darstellbarkeit von Produktmängeln,
denn die gab es zur Genüge, wuchs den Konsumenten damit ein machtvolles
Aktionspotential zu: Waren sie einerseits stets abhängig von den Gnaden
des Verkaufspersonals, das ihnen etwas zuwenden oder aber auch
verweigern konnte, so gab ihnen das Recht auf unkomplizierten Umtausch
und sogar auf die aufwendige, manchmal sogar fast aussichtslose
Wiederbeschaffung der Ware durch das Geschäft die Möglichkeit, auch
immer wieder Revanche an den Verkäufern nehmen und sie zumindest
hinsichtlich ihrer überbordenden Macht wieder in ihre Grenzen verweisen
zu können. So konnten sich die frustrierten Konsumenten mit dem
Einzelhandel, der als quasi gegnerische Instanz stellvertretend für die
Staatsmacht herhalten musste, zwar auch nicht viel mehr als ein
Scheingefecht liefern, aber der Kunde war oft wenigstens in diesem Akt
der König.
Ausbruchsverhalten auf Zeit und Weltoffenheit: Die Geister, die ich rief...
In den Medien und auch in der wissenschaftlichen Literatur wird die DDR häufig als eine Nischengesellschaft bezeichnet.
Damit sind Praktiken der Verweigerung und vor allem des individuellen
Rückzugs gemeint, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben. In
der Freizeit konnten die Ausstiegsziele innerhalb der DDR ebenso die
privaten Wochenendhäuser sein wie die kirchlichen Diskussionskreise.
Darüber hinaus formulierte der BRD-Fernsehjournalist Peter Merseburger
die These, dass jeden Tag mit dem Beginn des Abendprogramms des
Westfernsehens viele Bürger der DDR zumindest mental in den Westen
ausreisten. Bezogen auf die offensichtliche Orientierung der DDR-Jugend
an westlichen Moden, Musikrichtungen und Konsumstilen wird auch eine
„geistige Republikflucht“ beschrieben. [27] Demgegenüber praktizierten
gerade viele Jugendliche seit den 70er Jahren den regelmäßigen Ausbruch
aus dem Alltag als bewusstes Ausleben ihrer Vorstellungen von
Alternativkultur in der DDR. Während sie die Woche über brav und
unauffällig ihren Job verrichteten, scherten sie am Wochenende aus den
gesellschaftlichen Zumutungen aus und inszenierten sich ihre eigenen
Wochenendexzesse. Die „Jeans-und-Parka-Fraktion“[28] ist ein Beispiel
für selbstbestimmtes soziales Ausrasten in die Freiräume hinein, die
die DDR-Gesellschaft ließ.
Andere Möglichkeiten, sich den engen DDR-Alltag zu weiten, sind
eindeutig ambivalent hinsichtlich aktivem Konsens und passiver
Zustimmung. Während für Geschäftsleute und Funktionäre seit den 50er
Jahren die Leipziger Messe zweimal im Jahr ein kurzes Zeitfenster zur
Welt darstellte, entwickelte sich das Berliner „Festival des
politischen Liedes“ seit 1970 zu einem internationalen
Jugendkulturereignis, das regelmäßig eine Februarwoche lang als ein
„politischer Karneval“ (Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel) auch für
DDR-kritische Jugendliche attraktiv war. Mit einem Heer von
ehrenamtlichen Organisatoren, manche mit Karriereabsichten, andere mit
ehrlicher Überzeugung, wieder andere einfach nur mit dem Wunsch nach
abenteuerlichen Erlebnissen und internationalem Flair, wurde acht Tage
lang ein „Fenster zur Welt“ geöffnet, das „auch von Kulturfunktionären
genutzt wurde, um frische Luft ins Land zu lassen“. [29] Die
Polit-Kirmes etwa wurde ein Wochenendereignis für die ganze Familie.
Zweifellos waren diese Veranstaltungen weitgehend politisch
kontrolliert, aber dies wurde in der Regel in Kauf genommen, weil
dieses Festival eine der wenigen Möglichkeiten bot, um sich als Teil
der weltweiten Linken zu fühlen und – bevor es etwa einen Karneval der
Kulturen in Westberlin gab – am internationalen Kulturleben zu
partizipieren.
Zusammenfassend seien drei Gedanken hervorgehoben. In
verschiedenen Phasen der vierzigjährigen DDR-Existenz hat es für große
Teile der Bevölkerung diverse Motive dafür gegeben, den
Konsumverheißungen und den sozialpolitischen Versprechen, die die
Staatsmacht verkündete – und dies mit gelegentlich durchaus ernsthaften
Attitüden, zumindest teilweise und zeitweilig Glauben zu schenken. Die von der Bevölkerung nicht einlösbaren Konsumversprechen
der Herrschenden in der DDR hatten – und dies nicht zuletzt vor dem
Hintergrund des demonstrativen Konsums des Westens, den die
Ostdeutschen beständig mitverfolgen konnten – einen wesentlichen Anteil am Zusammenbruch dieses Staates. Und drittens gab es vielfältige Gründe, sich mit dem System zu arrangieren und manche Zumutungen mitzumachen,
auch in der Tat loyal zu sein, oft zweigeteilt in der Brust, bisweilen
sogar schizophren. Kritisches Mitmachen und partielle Verweigerung
lagen oft sehr dicht beieinander. Innerhalb dieses
„Gesellschaftsspiels“ bestanden gleichwohl auch Chancen, Lücken und
Nischen auszunutzen und sich durchzuschlängeln – in Kenntnis
und in Anwendung der allenthalben bekannten Regeln und unter Beachtung
der Grenzen, die nicht überschritten werden durften, wenn man eine
Bestrafung vermeiden wollte. Auf diese Weise ließen sich letztlich
viele, jedoch bei weitem nicht alle Konsumbedürfnisse befriedigen. Im
Bewusstsein der gegebenen Risiken erforderte diese pausenlose Jagd nach
den erstrebten Objekten zur Verschönerung des Alltagslebens allerdings
eine große Umsicht und war daher auch anstrengend. Insofern war in der
DDR das Einkaufen selbst dann noch zeitraubende Schwerstarbeit, als
Shopping im Westen schon längst dem Lustgewinn diente.
Anmerkungen
[1] Merkel, Ina (Hrsg.): „Wir sind doch nicht die Mecker-Ecke der
Nation.“ Briefe an das DDR-Fernsehen, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 9.
[2] Vgl. z.B. Mühlberg, Dietrich: Woher wir wissen, was Kultur ist.
Gedanken zur geschichtlichen Ausbildung der aktuellen Kulturauffassung,
Berlin (Ost) 1983.
[3] Vgl. Adenauers Zusatzprotokoll zu den Römischen Verträgen vom
25.3.1957: Mit Rücksicht auf „besondere Bedürfnisse bei der Einfuhr von
Bananen in die Bundesrepublik“. Warneken, Bernd Jürgen: Banane. in:
Bausinger, Hermann u.a. (Hrsg.): Wörter, Sachen, Sinne. Eine kleine
volkskundliche Enzyklopädie, Tübingen 1992, S. 24.
[4] Vgl. Seeßlen, Georg: Die Banane. Ein mythopolitischer Bericht. in:
Bohn, Rainer; Hickethier, Knut; Müller, Eggo (Hrsg.): Mauer-Show. Das
Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien, Berlin 1992, S. 56.
[5] Korff, Gottfried: Rote Fahnen und Bananen. Notizen zur Symbolik im
Prozess der Vereinigung von DDR und BRD. in: Schweizerisches Archiv für
Volkskunde, Band 86, Basel 1990, S. 147. [6] Marx/Engels: Die deutsche
Ideologie, MEW 3, S. 32 f. [7]
Gries, Rainer: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der
Produktkommunikation in der Bundesrepublik und in der DDR, Leipzig
2003, S. 229 f.
[8] Schindelbeck, Dirk: Marken, Moden und Kampagnen, Darmstadt 2003, S. 121.
[9] Kaminsky, Annette: Wohlstand. Schönheit. Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001, S. 56.
[10] Kaminsky, Annette: Kaufrausch. Die Geschichte der ostdeutschen Versandhäuser, Berlin 1998, S. 17.
[11] Poutrus, Patrice G.: Die Erfindung des Goldbroilers. Über den
Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der
DDR, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 225.
[12] Vgl. Skyba, Peter: Sozialpolitik als Herrschaftssicherung.
Entscheidungsprozesse und Folgen in der DDR. in: Vollnhals, Clemens /
Weber, Jürgen (Hg.): Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft
in der SED-Diktatur, München 2002, S. 44.
[13] Jarausch, Konrad H.: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur
begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B
20/1998, S. 33-46.
[14] Steiner, André: Zwischen Frustration und Verschwendung. Zu den
wirtschaftlichen Determinanten der DDR-Konsumkultur. in: Neue
Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.): Wunderwirtschaft.
DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln u.a. 1996, S. 35.
[15] Manz, Günter/ Sachse, Ekkehard/ Winkler, Gunnar (Hg.):
Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit, Berlin 2001. Siehe
dazu auch meine Rezension „Insider-Geschichte der Sozialpolitik in der
DDR“ im Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
www.kulturation.de 1/2003.
[16] Manz, Günter (Hg.): Das materielle und kulturelle Lebensniveau des
Volkes und seine volkswirtschaftliche Planung, Berlin (Ost) 1975, 41.
[17] Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln 1999, S. 12.
[18] Zum Diskurs über die Hintergründe dieser inzwischen weit
verbreiteten Begrifflichkeit siehe Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis,
a.a.O., S. 11 ff.
[19] Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien (Anm. 7), S. 272; Wolle,
Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR
1971-1989, Berlin 1997, S. 218 f.
[20] Vgl. dazu Böske, Katrin: Abwesend anwesend. Eine kleine Geschichte
des Intershops. in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.):
Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln u.a. 1996,
S. 214-222; Schneider, Franka: „Jedem nach dem Wohnsitz seiner Tante“.
Die GENEX Geschenkdienst GmbH. in: ebd., S. 223-232.
[21] Vgl. Thießen, Friedrich (Hg.): Zwischen Plan und Pleite.
Erlebnisberichte aus der Arbeitswelt der DDR, Köln/Weimar/Wien 2001.
[22] Wolle, Stefan: Sehnsucht nach der Diktatur? Die heile Welt des
Sozialismus als Erinnerung und Wirklichkeit. in: Vollnhals, Clemens /
Weber, Jürgen (Hg.): Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft
in der SED-Diktatur, München 2002, S. 37.
[23] Insofern dürfte auch ein wie auch immer begründeter bewusster
Verzicht auf Plastikerzeugnisse kaum als eine Form der Ablehnung des
Staates gewertet werden. Vgl. Eli Rubin in: Crew, David F. (Ed.):
Consuming Germany in the Cold War, Oxford 2003.
[24] Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen
Land, Berlin 1999, S. 200. Vgl. zur Rezeption des Begriffes Ders.: Die
Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2004, S. 73 ff.
[25] Vgl. Mühlberg, Felix: Eingaben als Instrument informeller
Konfliktbewältigung. in: Badstübner, Evemarie (Hg.): Befremdlich
anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 233.
[26] Vgl. Gries, Rainer: Produkte als Medien (Anm. 7), S. 264.
Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR
– Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S. 215.
[27] Vgl. Rauhut, Michael / Kochan, Thomas: Bye bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Berlin 2004.
[28 ] Herbst, Andreas /Ranke, Winfried /Winkler, Jürgen: So
funktionierte die DDR. Lexikon der Organisationen und Institutionen,
Reinbek 1994, S. 279.
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