Thema | Kulturation 2011 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Horst Groschopp | Warum aus Freidenkern Humanisten wurden
Neues zur Geschichte der Bewegungen von Konfessionsfreien in Ostdeutschland
| Aktueller Einstieg: "Vatikanischer Humanismus" / Humanismus-Definition
Vatican Radio verbreitete am 21. Mai 2011 zur Mittagszeit
unter der Überschrift "An der Gottesfrage entscheidet sich alles" die
Nachricht, dass Papst Benedict XVI. eine Abordnung der römischen
Universität Sacro Cuore empfangen habe und vor ihr den "Niedergang der
'humanistischen Kultur'" beklagt habe. Der menschliche Horizont werde
"auf das reduziert, was sich messen lässt". Es sei deshalb eine Aufgabe
der katholischen Universitäten und Fakultäten, für eine Renaissance des
"echten Humanismus" zu sorgen. Diese müssten wieder eine "Schule der
humanitas" sein. Das Evangelium setze kulturelle, humanistische und
ethische Energien frei und das Wissen des Glaubens erleuchte die
Menschen, entreiße sie "einem Denken des Kalküls".
Berechenbarkeit und Kalkül sind freundlichere und volkstümlicher
Ausdrücke als Aufklärung und Rationalismus, meinen das aber letztlich.
Das richtet sich gegen eine Auffassung vom "wissenschaftlichen
Humanismus", die auch im organisierten Humanismus strittig ist, worauf
am Ende des Vortrages eingegangen wird. Praktisch bedeutet die obige
Mitteilung, dass der Vatikan die vom Humanismus ausgehende Gefahr für
alle Religionen erkannt hat und ein Humanismus angestrebt und gelehrt
werden wird, der in die Dogmen der Kirche passt und in der
Mussolini-Zeit schon einmal entwickelt wurde.[1]
Diesem Humanismus steht dasjenige Verständnis entgegen, wie es
heute im Allgemeinen und in einem Satz ausgedrückt vorfindlich ist:
eine historisch gewordene Kulturauffassung von "Barmherzigkeit",
"Menschlichkeit" und "Bildung" verstanden, die weltanschauliche
Richtungen bündelt, die mit einem rationalen und historischen
Herangehen Würde definieren, damit verbundene Fragen anthropozentrisch
beantworten (nicht anthropozentristisch) und die ohne Transzendenzbezug
auskommen.
Humanismus wird oft verwechselt oder gleichgesetzt mit Humanität.
Das ist aber nicht identisch. Humanität verweist seit Herder auf eine
Haltung der Menschlichkeit. Diese kann auch religiös begründet werden.
Der "Ismus" jedoch verweist auf etwas anderes, auf historische und
kulturelle Bewegungen, auf Haltungen und Strömungen, auf
Ideenkonglomerate und Menschenbilder sowie auf pädagogische Annahmen
und Praxen.
Danach ist Humanismus ist eine besondere Kulturanschauung. In ihr
wird der Mensch vom Menschen aus betrachtet und in den Mittelpunkt
gestellt, also nicht von einem Gott oder einer Religion aus abgeleitet,
oder von der Rasse oder Nation her bestimmt. Es gibt gegenwärtig etwa
vierzig Humanismen, darüber später.
Kurze Geschichte der Freidenkerei
Die allgemeinste Definition der Freidenkerei stammt von Friedrich Nietzsche, der sie zu einem Zeitpunkt (1880/81) in dem Buch Morgenröthe formulierte, als die Brüsseler-Freidenker-Internationale und der Deutsche Freidenkerbund entstanden.
Interessanterweise verglich Nietzsche die Freidenker, denen "schon ein
Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen ... Befriedigung
giebt", mit den "Freithätern". Letztere seien gegenüber den Freidenkern
in einem doppelten Nachteil, zum einen, "weil die Menschen sichtbarer
an den Folgen von Thaten, als von Gedanken leiden"; und zum anderen,
weil jene, "welche durch die That den Bann einer Sitte durchbrachen",
stets als "schlechte Menschen", ja als Verbrecher gelten. Wenn aber das
vorhandene Sittengesetz umgeworfen werde, so ändere sich die Haltung
ihnen gegenüber. Die Geschichte, so schließt Nietzsche seine Sentenz,
"handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später
gutgesprochen worden sind!"[2]
Es versteht sich, dass zu Zeiten der Einheit von Thron und Altar
die Freidenkerei eine philosophische und zugleich antikirchliche
war.[3] Aus der Gemeinschaft der Protestantischen Freunde ("Lichtfreunde") von 1840/41 und den ab 1844 entstehenden Deutschkatholischen Gemeinden
("Deutschkatholiken") gehen im späten Vormärz verschiedene
freireligiöse und freie religiöse Gemeinden hervor, die nach 1848/49
teils verboten, teils geduldet, teils zugelassen werden.
Sie versuchen in der Folge verschiedene nationale bzw. regionale Zusammenschlüsse. Von diesen ist der 1859 gegründete Bund freier religiöser Gemeinden Deutschlands
der erfolgreichste und für die dissidentische Bewegung von gravierender
Bedeutung. Die gegen Ende des Jahrhunderts stark freidenkerisch
werdende Berliner Freireligiöse Gemeinde wurde bereits im Vormärz geboren.
Die radikaler religionskritischen Freireligiösen riefen 1881 den Deutschen Freidenkerbund ins Leben, eine nationale Seitenlinie des Internationalen Freidenkerbundes (1880), auch Brüsseler Internationale genannt. Einige Sozialdemokraten errichten 1905 eine Sterbekasse mit Namen Verein der Freidenker für Feuerbestattung, aus der nach 1920 eine Massenorganisation wurde und aus der 1993 der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hervorging. Eine zweite Geburtslinie ist ein kleiner bürgerlicher Kreis in der Berliner Freireligiösen Gemeinde, aus dem 1887 die Berliner Humanistengemeinde hervorging. Sie wurde zu einer Vororganisation der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur von 1892, 1893 Mitglied im Internationalen Bund ethischer Gesellschaften (auch: Internationaler Ethischer Bund).
Den angestrebten Weg zu einem Ersatz der Religion durch Ethik geht eine
Anzahl religiös motivierter Erneuerer nicht mit und gründet eigene
Vereine.
Nach der Jahrhundertwende nehmen allerlei Versuche einer Koordination der dissidentischen Strömungen zu. Erst das Weimarer Kartell
(1907, 1909) vermochte durch Wahrung der Selbständigkeit jeder
Spezialität die gemeinsamen Interessen halbwegs zu bündeln und örtliche
Allianzen anzuregen.
In den 1920er Jahren differenziert sich diese Verbandslandschaft bin hin zu Massenorganisationen wie dem Deutschen Freidenkerverband,
dies vor allem durch dessen Dienstleistungsangebot und hier wieder
besonders die Feuerbestattung. 1933 werden diese Organisationen
verboten und enteignet, einige in Südwestdeutschland gleichgeschaltet.
In der SBZ wurden Neugründungen der Freidenker nicht zugelassen, aber
es kam in der DDR durch die SED in den 1950ern zu einer
"Verstaatlichung" im Kirchenkampf mit Begründung der "sozialistischen
Kulturrevolution". In BRD erfolgte zunächst die Anbindung an SPD, dann
aber, nach dem Godesberger Programm und der Auflösung der
Arbeiter-Milieus erfolgte der Weg in die Marginalität. Nach 1990
erfolgten Versuche eines Neubeginns. Hinzu kam der Verein
"Jugendweihe".[4]
Humanistische Organisationen der Gegenwart, Gründe Annahme des Begriff "Humanismus" und Aktivitäten, Ost-West-Unterschiede
Es ist auf drei Organisationen zu schauen, die gegenwärtig
erfolgreich mit dem Namen "Humanismus" in kulturellen und politischen
Feldern operieren - die Humanistische Union (HU, gegründet 1961), der Humanistische Verband Deutschlands (HVD, gegründet 1993) und die Giordano Bruno-Stiftung (gbs, begründet 2004).[5]
1. Die Führung der ältesten deutschen Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union,
mit der Verfassungsjuristin Rosemarie Will an der Spitze, hat zwar
gerade vergeblich versucht, den Namen zu ändern, v. a. um
Verwechslungen mit dem weltanschaulich auftretenden HVD auszuschließen.
Aber die HU hat ein klares Profil juristisch begründeter humanistischer
Leitkultur.
"Humanismus" meint hier die universal aufgefassten Menschen- und
Bürgerrechte. Darin ist die Staat-Kirche-Trennung eingebettet. Sie wird
in der HU seit jeher laizistisch gedacht und ist in ihrem Programm fast
kongruent mit den Freiburger Thesen der FDP von 1971. Aktuell findet
zwar eine konsequente Lösung von letztlich atheistischen hin zu
bürgerrechtlichen Begründungen statt. Die HU hat vor Ostern einen
eigenen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen nach Art. 140
GG iVm Art. 138 Abs.2 WRV vorgelegt.
Der bürgerrechtliche Humanismus der HU ist von den zwei noch
vorzustellenden humanistischen Organisationen vor allem dadurch
unterschieden, als hier auch religiöse Personen aktiv an der
Meinungsbildung teilnehmen, z.B. ausgehend von einem christlichen
Humanismus und einem Christentum, das sich von staatlichen Einbindungen
lösen möchte.
2. Die Weltanschauungs- und Bekenntnisgemeinschaft Humanistischer Verband
widmet sich - so das Selbstbild - einem modernen und praktischen
Humanismus. Der HVD will auf dem Wege der Gleichbehandlung die
Staat-Kirche-Trennung und Menschen "von der Wiege bis zur Bahre"
erreichen. Er tritt kulturell auf, bietet Lebens- und Sterbebeleitung,
humanitäre bis humanistische Dienstleistungen (Stichworte: Kitas,
Lebenskunde, Jugendfeiern, Patientenverfügungen, Hospize). Der HVD hat
hier in Berlin etwa tausend Beschäftigte.
Der Begriff Humanismus wurde aus folgenden Erwägungen übernommen:
a) internationale Erwägungen: Große Verbände in den USA, Indien,
Sri Lanka, Holland, Belgien usw. haben die Bezeichnung "humanistisch"
übernommen und sind damit erfolgreich bis hin zu internationalen
Zusammenschlüssen in der IHEU oder EHF.
b) programmatische Erwägungen: Begriffe wie frei-geistig,
frei-religiös, frei-denkerisch wurden wegen zu großer Missverständnisse
und religiöser Vereinnahmungen abgelegt und zugleich, nach
Holländischem Vorbild eine vorrangig positive Arbeit an einem
humanistischen Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild, verbunden mit
einer entsprechenden Praxis, aufgenommen. Das war auch ein Abschied vom
"Kirchenkampf"
c) Änderungen der praktischen Konzeption: Der HVD bietet
Dienstleistungen an, vor allem in den Bedarfstrukturen
"nicht-kirchliche Feiern", "soziale Dienste, aktuell v. a. für die 5.
Lebensphase" und "Bildung sowie Kinder-Jugend-Familie, v.a. Kitas, und
Lebenskunde". Die alles wäre ohne Namensänderung schwer möglich
gewesen.
d) Notwendigkeit politischer und konzeptioneller Trennstriche: Das
betrifft sowohl die Distanz zu einer Freidenkerei, die die freie
Weltanschauung dogmatisch und sektiererisch an den Marxismus-Leninismus
zu binden versucht, als auch die klare Distanz nach rechts. Hier
betrifft die Abgrenzung eine freie Religiosität, die sich zwischen 1933
und 1945 als Teil des Nationalsozialismus verstand. In Zeiten, da
politisch Rechte auch "gottlos" auftreten, empfiehlt sich humanistische
Positionierung.
Der Humanistische Verband ist dem Laizismus belgischer
Prägung aufgeschlossen, tritt ansonsten "quasi-konfessionell" auf,6
denn er besteht als Weltanschauungsgemeinschaft auf Gleichbehandlung
mit den Religionsgesellschaften nach Art. 4 Abs. 1 GG und besonders 140
GG i.V.m. Artikel 137 Abs. 7 WRV: Gleichstellung mit den
Religionsgesellschaften durch gemeinschaftliche Pflege einer
Weltanschauung.
Alle neuere Rechtsliteratur - bis auf einen, noch älteren
Grundgesetz-Kommentar - bestätigt inzwischen die Gleichbehandlung von
Religionsgesellschaften mit Weltanschauungsgemeinschaften.[7]
Der HVD tritt zwar praktisch quasi-konfessionell auf, lehnt aber
offiziell den Begriff "Konfession" ab, der im Sinne von "dritte
Konfession" im Jahr 2000 vom katholischen Theologen Eberhard Tiefensee
eingeführt wurde, um den "ostdeutschen Volksatheismus" zu
charakterisieren.
Der HVD meidet den Konfessionsbegriff aber auch,
- erstens wegen des direkten Vergleichs mit den Kirchen;
- zweitens wegen der eigenen antikonfessionellen Freidenker-Geschichte;
- drittens wegen der Distanz zu einer drohenden Versäulung
der Gesellschaft wie bis vor kurzem in Holland (muslimische,
buddhistische usw. "Konfession");[8]
- viertens Vwegen der nichtkonfessionellen Strukturen der
Muslime, die dennoch jetzt staatlich bedient werden; und fünftens wegen
der vielen Irritationen im Wortgebrauch von "Konfession".
Deshalb ist auch das Verhalten des HVD in der Laizismus-Debatte
zurückhaltend, aber unbedingt von dem Wunsch geprägt, konkrete Probleme
von 35 % Konfessionsfreien in der Gesellschaft zu thematisieren, zwar
nicht "kulturkämpferisch", aber doch endlich einmal überhaupt.
3. Die Aktivitäten der noch jungen Giordano Bruno-Stiftung,
gruppieren sich um den Begriff des "evolutionären Humanismus". Die gbs
besitzt wie die HU ein Programm der humanistischen Leitkultur, das aber
insofern über das der HU hinausreicht, als es stärker religionskritisch
(nicht nur kirchenkritisch) und positiv naturalistisch
(soziobiologisch) ist. Ich halte die gbs in ihrem Kern für laizistisch
orientiert. Die Stiftung lässt aber für einen in seinem Wirkungskreis
konzeptionell begrenzten praktischen Humanismus in ihrem Programm Raum
für Gleichbehandlungsansätze. Mitglieder der gbs sind deshalb auch im
HVD aktiv und umgekehrt.
Der weltanschauliche Teil des im Umfeld der gbs gepflegten
Humanismus findet sich ebenfalls nicht nur in der gbs. Einige
derjenigen, die sich dem "neuem Humanismus" zurechnen, stehen
allerdings mitunter sehr kritisch zu Positionen etwa von Michael
Schmidt-Salomon.
Dies geschieht auf zwei Ebenen; zum einem lehnen die Kritiker die
radikale Haltung gegenüber Religionen und Kirchen ab, besonders die
damit verbundene Praxis (Stichworte: Fitna-Affäre, Buskampagne,
Heiden-Spaß-Festivals, Religionsfreie Zonen, "Evolutionstag" als
"Himmelfahrtstag"-Ersatz, "Violettbuch", Kirchenaustrittskampagnen);
zum anderen werden einige philosophische Positionen hinterfragt, die
hier nicht weiter interessieren.
Alle genannten Organisationen sind Westgründungen, an denen
Ostdeutsche teilgenommen haben. Außer in Berlin plus Speckgürtel sind
sie wenig, bis gar nicht vorhanden, was nicht Ableger ausschließt. Eine
originäre und erfolgreiche Ostorganisation ist bescheiden auf dem Weg
in den Westen: Jugendweihe e.V., diese versteht sich letztlich als
humanistisch-neutral, nicht als humanistischer Verein, gar als
Weltanschauungsgemeinschaft.
Hier wäre jetzt das ganze Feld der Konfessionsfreien zu behandeln,
einschließlich einer Konfessionsfreienpolitik und einer Aufarbeitung
der Geschichte des Verständnisses von Humanismus in der DDR:
Diskussion.
Renaissance der Humanismus-Debatten, Diskussionsrichtungen
Wer einen Blick in aktuelle Humanismus-Debatten wirft, wird auf
viele Humanismen stoßen. Es gibt danach (in alphabetischer Reihenfolge)
folgende: abendländischer, afrikanischer, alter, anthropologischer,
anthropozentrischer, anthropozentristischer, antiker, arabischer,
atheistischer, bürgerlicher, christlicher, deutscher, dritter, erster,
ethischer, evolutionärer, indischer, interkultureller, islamischer,
jüdischer, klassischer, konfuzianischer, kritischer,
lateinamerikanischer, multikultureller, naturalistischer, ökologischer,
pädagogischer, philosophischer, praktischer, proletarischer, realer,
sozialistischer, super-humanistischer, trans-humanistischer, wahrer,
weltanschaulicher, weltlicher (bzw. säkularer), wissenschaftlicher,
zeitgenössischer, zweiter ... Sogar von einem sexuellen Humanismus ist
die Rede in einem Buch, 1988 von weiblichen Prostituierten
veröffentlicht.
Schon diese (unvollständige) Liste zeigt: Humanismus ist wieder ein
lebendiger Begriff, geht weit über traditionelle Antike-Diskurse im
Verständnis etwa der "Humanismus heute"-Stiftung in Baden-Württemberg
oder des "Humanistischen Gymnasiums hinaus. Er ist in der Renaissance,
auch einer wissenschaftlichen, obwohl es in Deutschland keine einzige
Professur für Humanismus gibt.
Aus dem bisherigen geht hervor, dass es hierzulande im Wesentlichen
um drei Diskussionsrichtungen geht: (1) Humanismus als Kultur und (2)
Humanismus als Weltanschauung.[9] Daneben ist in den letzten Jahren
unter Naturwissenschaftlern und Religionskritikern eine dritte Richtung
neu aufgelebt, die des "wissenschaftlichen" oder "neuen" Humanismus.
Diese sucht einen "wissenschaftlichen" Zugang zur Welterklärung.
Dieser geht - auch wenn dies den Vertretern des "neuen Humanismus" oft
nicht bekannt ist -, in seinem Kern zurück auf Positionen des Wiener
Kreises von Rechtswissenschaftlern und Philosophen (1922-1936). Dort
kam der Begriff des "wissenschaftlichen Humanismus" Ende der 1920er
Jahre in Gebrauch.[10] Er wurde von Rudolf Carnap eingeführt,[11] ohne
dass er bei den "logischen Empiristen" - wie sie sich nannten - um den
Verein Ernst Mach bereits allgemein üblich wurde. Es ging dem Wiener
Kreis darum, Recht und Moral rein wissenschaftlich zu untersuchen und
die traditionelle Philosophie, die generell als Metaphysik galt,
letztlich durch einen "logischen Empirismus" zu ersetzen.[12]
Carnap selbst konstatierte rückblickend beim Wiener Kreis drei
Annahmen als unhinterfragbare Voraussetzungen des Denkens im Sinne
eines "wissenschaftlichen Humanismus":[13]
1. Die "Ansicht, daß der Mensch weder übernatürliche Beschützer
noch übernatürliche Feinde hat und daß deshalb alles, was zur
Verbesserung des Lebens getan werden kann, Aufgabe des Menschen ist".
2. Dass "die Menschheit fähig ist, ihre Lebensbedingungen so
umzugestalten, daß viele der heutigen Leiden vermieden und die äußere
und innere Lebenssituation für den einzelnen, die Gemeinschaft und
schließlich die ganze Menschheit wesentlich verbessert werden könnte".
3. Dass "jede überlegte Handlung Welterkenntnis voraussetzt, daß
die wissenschaftliche Methode die beste Methode ist und die
Wissenschaft deshalb als eines der wertvollsten Instrumente zur
Verbesserung des Lebens betrachtet werden muß."
Es gibt Kulturkritik an diesem "neuen Humanismus" sowohl von
religiösen wie humanistischen Positionen ausgehend. Der - nennen wir
ihn einmal so - "kulturelle Humanismus" wirft dem "wissenschaftlichen"
vor, nicht kulturhistorisch zu argumentieren, keine Gefühle zu zeigen,
keine Rituale zu haben, also eigentlich Religion nicht dort zu
begegnen, wo sie als Lebenspraxis stattfindet.
Damit könnten wir wieder auf den Papst Bezug nehmen und zum
Ausgangspunkt zurückkehren, und die Frage formulieren, ob es sich für
Konfessionsfreie gelohnt hat, die alte Freidenkerei aufzugeben und ein
humanistisches Konzept zu entwickeln.
Anmerkungen
[1] Vgl. Guiseppe Toffanin: Geschichte des Humanismus. Holland 1941.
[2] Friedrich Nietzsche: Gedanken über die moralischen Vorurtheile.
Chemnitz 1881, zit. nach: Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg.
v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Fünfte Abt., Erster Bd., Berlin,
New York 1971, S.28/29.
[3] Vgl. das Folgende bei Horst Groschopp: Dissidenten.
Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Berlin 1997. - Neuauflage 2011
in Vorbereitung.
[4] Eine Auflistung aller Verbände findet sich hier:
http://www.horst-groschopp.de/sites/default/files/saekulare_organisationen_heute%20[2009].pdf
(Zugriff: 27. Mai 2011). - Zur Geschichte der Konfessionslosen und
ihrer aktuellen Strategiedebatte vgl. Horst Groschopp: Von den
Dissidenten zu den Religionsfreien. Zur Konzeption einer
Konfessionsfreienpolitik in Deutschland. In: "Lieber einen Knick in der
Biographie als einen im Rückgrat", Festschrift zum 70. Geburtstag von
Horst Herrmann, hrsg. von Yvonne Boenke, Münster 2010, S. 395-412.
[5] Das Folgende vgl. Vgl. Horst Groschopp: "Neuer Humanismus" -
eine neue Konfession? In: Zeitschrift für Kultur und Weltanschauung,
Online-Ausgabe, Berlin 2011, 2. [14.] Jg., H. 1, Text 22.
[6] Vgl. Horst Groschopp: Humanismus - eine (gottlose) Konfession.
Die Weltanschauung hinter der Humanistischen Schule Bremen. In:
humanismus aktuell online, Text 8, Berlin 27. September 2010. - Einige
Passagen dieses Textes sind dem dortigen entnommen.
[7] Vgl. Thomas Heinrichs: Die rechtliche Stellung der säkularen
Weltanschauungsgemeinschaften. In: Konfessionsfreie und Grundgesetz,
hrsg. von Horst Groschopp, Aschaffenburg 2010, vor der Auslieferung
(Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 3).
[8] Durch die Anti-Islam-Politik des Rechtspopulisten Wilders ist dieser Konsens wird dieser Konsens derzeit zerstört.
[9] Vgl. hier die Debatten in "humanismus aktuell". - Vgl.
Humanismusperspektiven. Hrsg. von Horst Groschopp Aschaffenburg 2010
(Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Bd. 1). - Vgl.
auch die Schriftenreihen der Humanistuschen Akademie Bayern und Berlin.
[10] Vgl. Wissenschaftlicher Humanismus. Texte zur Moral- und
Rechtsphilosophie des frühen logischen Empirismus. Hrsg. und mit einem
Anhang versehen von Eric Hilgendorf. Freiburg und München 1998.
[11] Hilgendorf führt in Wissenschaftlicher Humanismus, S. 412 als
Beleg an Moritz Schlick: Fragen der Ethik. Wien 1930, hrsg. und
eingeleitet von Rainer Hegselmann, Frankfurt a.M. 1984, S. 199.
[12] Vgl. Eric Hilgendorf: Zur Philosophie des frühen logischen
Empirismus. Ein Problemaufriß. In: Wissenschaftlicher Humanismus, S.
379 ff.
[13] Vgl. Hilgendorf: Zur Philosophie, S. 409 (= Rudolf Carnap:
Mein Weg in die Philosophie. Übersetzt und mit einem Nachwort sowie
einem Interview hrsg. von Willy Hochkeppel. Stuttgart 1993, S. 130).
|
| |