Thema | Kulturation 2015 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Frank Thomas Koch | Über die sozialen Träger von Staat und Gesellschaft in der Endphase der DDR (1989-1990)
| Jede
rückblickende Verständigung über die Kulturgeschichte der ostdeutschen
Teilgesellschaft zwischen 1945 und 1990 kommt auf einige grundlegende
Tatbestände zurück. Dazu gehört, wie man die "sozialen Träger" dieses
Gesellschaftsexperiments bestimmt und wie die gestaltenden und
tragenden sozialen Kräfte dieses deutschen Sonderwegs gesehen werden.
Unser Autor Thomas Koch geht der Frage nach, ob die DDR in der Endphase
ihre sozialen Träger verloren hatte.
Kulturation eröffnet damit eine neue Debattenreihe zur jüngsten Kulturgeschichte der Deutschen.
Hatte die DDR als Staat und Gesellschaft in ihrer Endphase (1989-1990)
keine sozialen Träger mehr oder wie ist es sonst zu erklären, dass
diese „ihre Macht“, „ihre“ Gesellschaft so gut wie widerstandslos
preisgegeben oder aufgegeben haben? Haben die sozialen Träger der DDR
sie tatsächlich so widerstandslos preisgegeben? (Es geht dabei nicht um
eine abermalige Erörterung der eher abgeleiteten und sekundären Frage,
dass und warum kein Schuss fiel. Denn eine wirksame „Verteidigung“ der
DDR konnte sich ja nicht auf den Einsatz von militärischer Gewalt
stützen, sondern nur auf Bemühungen, die politische Hegemonie in . der DDR und eine Perspektive für die DDR . zu
gewinnen.) Was bedeutet die Aufgabe in kulturgeschichtlicher
Perspektive? Handelt es sich bei diesem "Aufgeben" um eine Singularität
oder um ein schon zuvor praktiziertes Muster? Sind die einstigen
sozialen Träger der DDR nach 1990 von der geschichtlichen Bühne
abgetreten oder auf sie zurückgekehrt?
Damit ist zugleich gesagt, dass bei der Beantwortung der Frage sich der
Zeithorizont sich nicht auf die letzten Jahre der Eigenstaatlichkeit
der DDR beschränkt, sondern einen Bogen bis in die Gegenwart zu spannen
sucht.
Zum Terminus (sozialer) Träger in seiner Anwendung auf die DDR und über (un-)sichtbare Dritte
Wenn es darum geht, soziale Phänomene – seien es Ideen, Interessen,
Institutionen, Lebensformen, soziale Einheiten oder was auch immer – zu
beschreiben, zu analysieren, zu vermessen, ist es sehr wichtig, nach
den Personengruppen. zu fragen, die hinter einem sozialen Phänomen stehen und es gleichsam tragen. Eben darauf zielt der . Terminus. Träger. .
Er ist nicht zuletzt von Hegel, Lorenz von Stein, Marx und Engels,
Oswald Spengler, Hilferding, Carl Schmitt verwendet worden (vgl.
Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto
Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Studienausgabe Stuttgart 2004,
Bd. 8/2 Register [Stichwort Träger, S. 1148f]).
Hier wird nun nach den Personengruppen gefragt, die die DDR getragen
haben und wie sie sich in deren Endphase verhielten. Dabei muss
zunächst auf die erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf die
Großgruppenstruktur der DDR-Gesellschaft (wie auch der heutigen
bundesdeutschen Gesellschaft) verwiesen werden, die mein
Diskussionsbeitrag weder beheben noch kaschieren kann. Der Terminus . Träger.
scheint mir angesichts dieser Unsicherheit und für die Zwecke dieses
Aufsatzes angemessener zu sein, eine weniger aufwendige und doch
hinreichende Annäherung an die Wirklichkeit zu verschaffen als etwa die
BegriffeKlasse. , Schicht oder aber Milieu. .
Am Kampf in der DDR und um die DDR waren (un-)sichtbare Dritte so oder
so massiv beteiligt. Zu diesen gehörten Akteure und Institutionen der
Bundesrepublik, der Westmächte und der Sowjetunion. Es ist natürlich
eine unzulässige Vereinfachung, wenn diese Dritten in der Darstellung
weitgehend ausgeblendet werden.
Zur Rolle der Sowjetunion nur so viel. Ihr Anteil am
Werden und Wachsen wie Vergehen des deutschen Teilstaates war
erheblich. Haben denn nicht schon die Gründer der DDR ihre Macht von
der sowjetischen Besatzungsmacht übertragen, gleichsam geschenkt
bekommen? Insbesondere Egon Bahr hat immer wieder daran erinnert, dass
sowohl die Alt-Bundesrepublik als auch die DDR Staaten mit eingeschränkter Souveränität
waren, wobei der Handlungsfähigkeit der DDR seitens der sowjetischen
Vormacht engere Grenzen gesetzt worden sind als der Bundesrepublik
durch die Westmächte. Die Sowjetunion hat im Verlaufe der
DDR-Geschichte wiederholt gegen innen- wie außenpolitische und
außenwirtschaftliche Weichenstellungen der DDR interveniert, sie an
ihren Interessen ausgerichtet. Die Hand Moskaus war für die Partei und
Staatsführung der DDR weitaus stärker fühl- und spürbar als für viele
Regierte. Dieser Umstand spielte auch in der Endphase der DDR für das Handeln, Dulden und Unterlassen der
noch zu kennzeichnenden sozialen Träger des zweiten deutschen
Teilstaates eine gewichtige Rolle, als sie vor der Herausforderung
standen, die DDR zu verteidigen und zu erneuern. Sowohl Akteure der
DDR-Opposition als auch große Teile der Partei- und Staatsführung der
DDR teilten eine Grundüberzeugung. Erstere hatten immer auch
die Präsenz der sowjetischen Streitkräfte in der DDR sowie die unter
Waffen stehenden Formationen des deutschen Teilstaates im Blick. Daher
beschworen sie sich selbst und ihre Anhänger, keine Gewalt auszuüben.
Maßgebliche Teile der Partei- und Staatsführung der DDR waren aus dem
gleichen Grunde von der unerschütterlichen wie trügerischen Gewissheit geleitet, die Sowjetunion würde sie und die DDR niemals fallenlassen oder preisgeben. .
Anders ist die erstaunliche Passivität nicht rational zu erklären
(Altersstarrsinn und Ignoranz mögen auch dazu beigetragen haben). Diese
subjektive handlungsleitende Gewissheit war zwar auf historische
Erfahrung gestützt, jedoch nicht auf eine zutreffende Analyse der
Interessen der Sowjetunion in den 1980er Jahren. Hier bestätigt sich
erneut die alte soziologische Wahrheit, dass soziales Handeln auf
Interpretationen aufbaut, mögen sie noch so schief und unbegründet
sein.
Kann, ja muss man nicht die UdSSR selbst zu den sozialen Trägern rechnen, wenn nicht gar als den sozialen Träger der DDR. herausstellen?
Soweit möchte ich mit Blick auf den Eigenanteil, die Eigenleistung, den
Eigensinn, das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der zwischen
Oder und Werra handelnden deutschen Akteure dann doch nicht gehen.
Der vorliegende Text blendet nun aus Darstellungsgründen das Agieren der (un-)sichtbaren Dritten nahezu völlig aus, er tut so, als ob
über das Schicksal der DDR allein zwischen Oder und Werra von den hier
lebenden Menschen entschieden worden wäre. Leser und Autor wissen es
indes besser. Doch die Leitfrage 1 zielt eben auf das Handeln, Dulden
und Unterlassen der zu definierenden deutschen Träger der DDR.
Wer waren die sozialen Träger der DDR?
Die DDR als Staat, Gesellschaft und System hatte zu allen Zeiten ihrer
Existenz − also auch in ihrer finalen Phase − soziale Träger,
Unterstützer, Sympathisanten, Anhänger, die sie mit Abstufungen teils
dennoch, teils trotz alledem als „ihre“ Gesellschaft wahrnahmen. Sodann
sind m.E. soziale Träger. im engeren und im weiteren Sinne zu unterscheiden.
In Anlehnung an Marx lässt sich festhalten, dass die Menschen einer
gegebenen Gesellschaft nicht nur Produkte, Güter reproduzieren, sondern
auch die Bedingungen, Verhältnisse und Verhaltensweisen unter denen sie
produzieren. In diesem Sinne bringt das System die Voraussetzungen
seines eigenen Weiterbestandes hervor. Und von daher könnten all. e
in der DDR zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Menschen als soziale
Träger der DDR als Staat, Gesellschaft und System angesehen werden.
Diese weite Auffassung von sozialen Trägern ist jedoch mit Blick auf
die Leitfrage 1 nicht sinnvoll. Die Frage zielt vielmehr auf das
Handeln und Unterlassen eingrenzbarer Gruppen innerhalb der
DDR-Bevölkerung.[1]
Als soziale Träger der DDR im engeren Sinne werden hier Personenaggregate gefasst, für die als verbindende Gemeinsamkeit galt,
- dass sie ihre Hoffnungen und handlungsleitenden Dispositionen mit dem
sozialistischen Projekt und seiner Realisierung im deutschen Teilstaat
verbanden, worauf immer auch die Verbindung beruhen mochte
- dass sie sich in ihrem Denken, Fühlen und Agieren positiv bzw.
produktiv-kritisch auf die DDR als Staat, Gesellschaft und System
bezogen.
Innerhalb dieser Personenaggregate lassen sich drei Segmente, wenn auch nicht sehr trennscharf, voneinander abheben.
Als soziale Träger der DDR rücken große Teile der Funktionseliten aller Ebenen der DDR in den Blick.
Als soziale Träger der DDR sind weiterhin sozialistisch orientierte Bildungsbürger in den Farben der DDR zu klassifizieren. Der Akzent liegt hier auf der sozialistischen Orientierung. dieser Personengruppe und ihrer Ausstattung mit Bildungs- und kulturellem Kapital. (Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu), weniger auf Bürger oder gar Bürgertum. Die sozialistisch orientierten Bildungsbürge. r
der DDR traten zwar in spezifischer Weise Erbschaften des deutschen
Bildungsbürgertums an, sie gehörten indes nicht zu dem so genannten
Restbürgertum [2] des deutschen Teilstaates. Die meisten Angehörigen
dieser Personengruppe hatten eine ähnliche soziale Herkunft wie die
neuen Funktionseliten der DDR. >>Sozialistisch orientierte
Bildungsbürger<< gehörten in einigen Feldern und Bereichen selbst
zu den Funktionseliten, unterschieden sich aber von diesen graduell,
wenn nicht deutlich in ihrem Habitus, in ihrer Ausstattung mit
kulturellem Kapital und in ihrem Distinktionsverhalten.
Schließlich gehörten zu den sozialen Trägern der DDR so
genannte einfache Leute (Arbeiter, Bauern, Angestellte), d. h.
Personen, die weder als Angehörige der Funktionseliten noch als
sozialistisch orientierte Bildungsbürger angesehen werden konnten.
Soziale Träger der DDR im skizzierten Sinne waren unter Männern und
Frauen, in nahezu allen Alters- und Berufsgruppen, unter Angehörigen
aller Parteien der DDR und unter parteilosen, konfessionsfreien wie
konfessionell gebundenen DDR-Bürgern zu finden. Sie bildeten keine
eigenständige Klasse, sondern gehörten verschiedenen Klassen,
Schichten, sozialen Gruppen und Milieus an.
Die soziale Trägerschaft der DDR - als Personenaggregat gefasst − wies im Zeitverlauf gleichermaßen eine hohe Stabilität wie Instabilität
auf. Man kann sich das Ganze als einen lange Zeit stets ziemlich gut
ausgelasteten, mit Fahrgästen gefüllten Bus vorstellen. An Haltepunkten
stiegen weitere Fahrgäste zu und andere stiegen aus. Die Ein- und
Ausstiege besagen in unserem Bus-Gleichnis, dass Personen zu sozialen
Trägern der DDR wurden, die es vorher nicht waren und andere ihre
Trägerschaft aufkündigten, ad acta legten, still oder laut als Irrtum
quittierten. Ferner ergaben sich Ein- und Ausstiege im Zuge der
Aufeinanderfolge von Generationen. Die Bus-Fahrgäste wechselten, aber
der Bus selbst war weiterhin relativ gut frequentiert. Das
Personenaggregat − mit dem verbindenden Merkmal sozialer Träger der DDR
zu sein − hatte Bestand.
Wie groß oder klein aber war das Trägerpotential der DDR? Auch hier
können nur eher provisorische Anhaltspunkte referiert werden.
Annäherungen an das Trägerpotential der DDR in quantitativer Hinsicht
Die westdeutsche „DDR-Forschung durch die Besuchertür“ vermittelt eine
gewisse quantitative Vorstellung über Träger der DDR. Hierbei wurden ab
1968 bis zur Wende alljährlich 1200 Westdeutsche über die von ihnen
zuvor besuchten DDR-Bürger befragt. Natürlich sind die nachfolgenden
quantitativen Angaben problematisch, doch eine schlechte, fragwürdige,
problematische Zahl ist allemal besser, als gar keine Vorstellung
darüber zu haben, wie soziale Phänomene in der sozialen Landschaft
dimensioniert sind.
Die westdeutschen Demoskopen operierten bei den auf diese indirekte
Weise gewonnenen Aussagen über die DDR-Bevölkerung mit drei Kategorien.
Sie unterschieden Anhänger des Systems; Angepasste/Indifferente und
Gegner. Demnach waren 1973 26 Prozent der DDR-Bürger Anhänger; . 55 Prozent Angepasst. e und 20 Prozent Systemgegner. . 1988 galten noch 23% als Anhänger. ; 52 Prozent als Indifferente. und 25 Prozent als Gegne. r.
Ähnliche Kategorien verwendete der einstige sowjetische Diplomat
Valentin Falin, wobei seiner Einschätzung nach auf jede der Kategorien
etwa ein Drittel der DDR-Bürger entfiel (vgl. Fabian Lambeck:
DDR-Forschung durch die Besuchertür, in: Neues Deutschland vom 19.
Februar 2015, S. 2.). Lambeck bezieht sich auf folgende Quelle:
Herausgeber BMWI: Deutschland 2014. 25 Jahre friedliche Revolution und
deutsche Einheit – öffentliche Vorstellung eines Forschungsprojekts.
Sind wir ein Volk? Kurzusammenfassung der Ergebnisse. Februar 2015,
Abbildung 2, S. 38 von 51).
In der Endphase der DDR gehörten mithin 20 bis 30 Prozent der
DDR-Bürger zu den sozialen Träger des deutschen Teilstaates. Und doch
gab es keinen nachhaltigen Widerstand, keine wirksame Verteidigung,
oder wie verhielt es sich?
Die Sicht und Antwort des Jörn Schütrumpf im Prüffeld
Im Diskurs befinden sich verschiedene Deutungen, wobei die von mir hier
näher herangezogene von Jörn Schütrumpf einen Vorzug vor anderen hat.
Sie nimmt aus einer historischen Perspektive die einstige
sozialistische Welt in den Blick und geht dabei explizit auf die DDR
ein.
Jörn Schütrumpf meint, dass sich die sozialen Träger der DDR in
der Endphase primär in bestimmten Altersgruppen konzentrierten –
nämlich in der so genannten Aufbaugeneration der DDR. Ferner verweist
er auf Mängel in der subjektiven politischen Kultur jener
Generationslage. Seine Antwort auf unsere Leitfrage 1 ist eingebettet
in eine kritische Reflexion der Oktoberrevolution und der Geschichte
des realen Sozialismus. Dieser Kontext soll zumindest bei der Skizze
seiner Position verkürzt aufscheinen:
„ …In der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik akkumulierte die
Bauernschaft wirtschaftliche Macht, die Bolschewiki duldete sie
lediglich. So entstand eine sozial entwurzelte Herrschaft; sie sollte
zum Signum des >>real existierenden Sozialismus<< werden.
Die Uhr lief für die Bauernschaft… Allerdings hatten unterdessen die
Bolschewiki eine neue Klasse hervorgebracht, und die saß an den Hebeln
der Macht… Sozialismus in den Farben der Bolschewiki bedeutete nicht
die solidarisch-kollektiv erkämpfte Emanzipation…, sondern das Angebot
an Willige, individuell sozial aufzusteigen. Mit diesen
Funktionsträgern vollzogen die Bolschewiki ab 1927… eine >>zweite
Revolution<<: die Beendigung der Neuen Ökonomischen Politik und
die Unterwerfung der >>Kulaken<<, Kollektivierung geheißen…
In ihrem im Krieg eroberten neuen Einflussbereich achteten die
Bolschewiki darauf, dass nirgends ein Sozialismus entstünde, der ihre
eigene Herrschaft desavouiert. Und wieder raste der Terror – dieses Mal
durch Bulgarien, Ungarn, die Tschechoslowakei, durch Rumänien und Polen.
Im deutschen Teilstaat – auch wenn hier wie überall sonst galt: wo
gehobelt wird, da fallen Späne – verlief die Entwicklung ein wenig
anders. Da sich die deutschen >>Eliten<< aller Stufen
beinahe vollständig in die Arme der Nationalsozialisten geworfen und ab
1944 auf die Flucht gen Westen begeben hatten, gab es – wohl einmalig
in einer Industriegesellschaft – plötzlich deutlich mehr
>>gehobene Stellen<< als Bewerber. Für Vertriebene,
Umgesiedelte und (vornehmlich sächsische) Arbeiter – vor allem für
Jugendliche aus diesen Gruppen – bot diese Trümmergesellschaft wenn
auch nicht eine kollektive Emanzipation, so doch einen großen Raum für
individuellen sozialen Aufstieg, der mit lebenslanger Dankbarkeit
vergolten wurde. Nicht zuletzt deshalb spielte, anders als in allen
anderen Ländern des >>real existierenden Sozialismus<<, in
der DDR Korruption fast keine Rolle. Diese Generation hat die DDR
weitgehend selbstlos aufgebaut und ging dann – in die bundesdeutsche
Rente. Verteidigt hat diese Generation 1989 das System nicht, denn
dieses System hatte sie vereinzelt gehalten und so für jeden
kollektiven Gedanken unfähig gemacht, selbst für einen reaktionären.
Und: Anders als in allen anderen ehemaligen Ostblockstaaten – die
Bolschewiki unter Boris Nikolajewitsch Jelzins Führung voran – konnten
die DDR-Funktionseliten nicht einmal überlaufen. Denn die Söhne und
Enkel der 1944 ff. Geflüchteten kehrten auf die alten Plätze zurück“ (Jörn Schütrumpf: Der rote Oktober, in: Neues Deutschland Sonnabend/Sonntag, 1./2. November 2014, S. 21).
In systematischer Perspektive lassen sich dem Text von Schütrumpf folgende Antworten entnehmen:
1. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks entstand überall eine mehr oder weniger sozial entwurzelte Herrschaft. . [Dies könnte. erklären, warum allerorten ab Ende der 1980er Jahre dem System- und Regimewechsel wenig Widerstand entgegengesetzt wurde.]
2. Die charakteristische Bewegungsform der Funktionseliten in den
Ländern des ehemaligen Ostblocks war Ende der 1980er, Anfang der 1990er
Jahre nicht die Verteidigung des Systems, sondern das Überlaufe. n.
3. Der deutsche Teilstaat DDR wies gegenüber allen anderen Staaten des
einstigen Ostblocks indes einige fundamentale Besonderheiten auf. Hier
war erstens die soziale Verankerung des realen Sozialismus.
größer als andernorts, zweitens fiel der Terror geringer aus; und es
gab drittens auch vergleichsweise weniger Korruption. Viertens hatten
die Funktionseliten der DDR aus den von Schütrumpf ebenfalls genannten
Gründen in weit geringerem Maße als in anderen Ländern realistische
Chancen, durch Überlaufe. n eine neue nicht mitsinkende soziale Position zu gewinnen. (Dennoch hat es auch zwischen Oder und Werra Überläufe. r
gegeben). Immerhin bedenkenswert halte ich die Aussage über die
Aufbaugeneration der DDR und mit Abstrichen den Verweis auf das
Unvermögen der Träger der DDR zu kollektiver Aktion. Es trifft sicher
zu, dass die Träger der DDR in der Aufbaugeneration
überproportional vertreten waren. Doch gab es soziale Träger der DDR
auch in der so genannten zweiten Generation Ost bzw. unter Angehörigen
jüngerer Altersjahrgänge, wenngleich in geringerem Maße.
4. Mir scheint zudem, dass Schütrumpf im Interesse der Konsistenz und
Stringenz seiner Argumentation einige historische und empirische
Sachverhalte unterbelichtet. Denn die Quintessenz seines Artikels
lautet:
„Die Stahlbäder, durch die die sozialistische Idee seit 1917 gezogen
wurde, haben vor allem eines bewirkt: Bei den Unterdrückten,
Ausgebeuteten Entrechteten, und Gedemütigten löst die Idee des
Sozialismus alles Mögliche aus, nur zweierlei nicht: − Hoffnung und
Sehnsucht… Wir sollten uns eingestehen, dass das Ganze noch einmal neu
zu durchdenken ist“ (Schütrumpf: Der rote Oktober, 2014 a.a.O.).
Die Schlussfolgerung ist ganz sicher richtig, doch ist die Idee des
Sozialismus in Ostdeutschland und auch andernorts in der Welt, so
scheint es mir, weniger diskreditiert und verbrannt als es der zitierte
Artikel nahe legt. Immerhin, um nur von Deutschland zu sprechen,
glaubten 2014 „fast „60 Prozent der Ostdeutschen, das der Sozialismus
im Grunde eine gute Idee sei, die nur schlecht ausgeführt wurde“. Im
Westen der Bundesrepublik sind rund 30 Prozent dieser Ansicht (vgl.
Herausgeber BMWI: Deutschland 2014. 25 Jahre friedliche Revolution und
deutsche Einheit – öffentliche Vorstellung eines Forschungsprojekts.
Sind wir ein Volk? Kurzusammenfassung der Ergebnisse. Februar 2015,
S.25).
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: die DDR als Staat und
Gesellschaft und die sozialistische Idee hatten Ende der 1980er Jahre
relativ starke soziale Trägerpotentiale. Im Vergleich der einstigen
Länder des Ostblocks gilt das auch noch 25 Jahre danach. Ferner legt
der historisch wie international vergleichende Blick auf System- und
Regimewechsel wie auch auf „Kultur(en) der Niederlage“ (vgl. W.
Schivelbusch 2001) die Schlussfolgerung nahe, dass das Überlaufen.
von Entscheidungsträgern (Funktionseliten) keine Spezialität der
Gesellschaften des real existierenden Sozialismus war oder ist, sondern
sich zu allen Zeiten ereignete, sofern die jeweiligen Sieger dies
zuließen oder sich davon etwas versprachen. Große Teile der
Funktionseliten der DDR hatten diese Option indes nicht. Daher ist es
sicher angebracht, in Anlehnung an Schivelbusch zu fragen, welche
weiteren Verhaltensmöglichkeiten und Verarbeitungsformen von
Niederlagen Verlierer. neben dem Überlaufen. hatten
und haben, welche davon als „Verteidigung der DDR nach ihrem Untergang“
gewerteten werden können. Diese Fragen sollen weiter unten diskutiert
werden.
Wenn aber die sozialen Träger der DDR als Staat und Gesellschaft und
die Anhänger der sozialistischen Idee Ende der 1980er Jahre, wie hier
von mir behauptet, relativ stark waren, wie kommt es dann, dass diese
den Gang der Dinge bei der Gestaltung der deutschen Einheit wenig
beeinflussen konnten und ihre Verteidigung eher verhalten ausfiel?
Revolutionäre Situation zwischen Oder und Werra
Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, dass in der Endphase der DDR eine
„ revolutionäre Situation“ bestand: Eine gesellschaftliche Situation
ist nach Lenin dann revolutionär, wenn die da oben nicht mehr können
wie bisher und die da unten nicht mehr wollen wie bisher und sich die
Aktivitäten der Massen steigern, sie „zu selbständigem historischen
Handeln gedrängt werden.“ (Lenin, Der Zusammenbruch der II.
Internationale, Werke, Band 21, Seite 206).
Die sozialen Träger der DDR als Staat und Gesellschaft waren teils
demoralisiert, in Schockstarre verfallen, gelähmt, passiv; teils
empört, aktivistisch, im Aufbruch zu neuen Ufern befindlich.
Demoralisiert und gelähmt waren sie infolge der vielen Menschen, die
ausgereist waren und der vielen, die auf die Bewilligung ihrer
Ausreiseanträge warteten, aufgrund des unglücklichen Agierens der
Partei-Staatsführung in dieser Hinsicht wie beim Umgang mit den
Widersprüchen, Konflikten des Landes. Demoralisierend waren für sie die
Bilder von den Botschaftsflüchtlingen in Prag, Warschau, Ostberlin, die
Enthüllungen tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher Doppelmoral der
Funktionäre… Die gesteigerte Aktivität großer Massen zeigte sich in
einer Vielzahl von Demonstrationen, in denen Tausende „Wir sind das
Volk!“ skandierten. Die Sprechchöre signalisierten jenem Teil der
Träger der DDR, der von sich glaubte, er hätte sich für das Volk
selbstlos aufgerieben und alles im Interesse des Volkes getan, dass die
verfolgte Politik und Praxis Interessen und Bedürfnisse des Volkes
nicht wirklich berücksichtigt und respektiert habe. Demoralisierend
waren die endlosen Kolonnen der Trabis, die nach der Maueröffnung gen
Westen fuhren.
Soziale Träger der DDR unter Demonstrierenden wie Nichtdemonstrierenden
Im Jahre 2009 hat Gunnar Winkler in einer repräsentativen Umfrage
Bürgern der neuen Bundesländer im Alter ab 35 Jahre u.a. die Frage
gestellt: Haben Sie 1989 an Demonstrationen/Protestaktionen
teilgenommen?" 40 Prozent der Befragten gaben zu Protokoll, sie hätten
1989 demonstriert. Das ist ein sehr hoher Anteil an der
Gesamtbevölkerung (vgl. G. Winkler (SFZ): 20 Jahre friedliche
Revolution 1989-2009. Die Sicht der Bürger der neuen Bundesländer,
2009, S. 15). Wie die Durchsicht politischer Biographien von Gestalten
und Gewalten der Wende und des Umbruchs zeigt, befanden sich die
soziale Träger der DDR sowohl unter den Demonstranten wie jenen, die
sich an solchen Aktionen nicht beteiligten.
DDR-Parteienlandschaft: Altparteien in Bewegung und Neugründungen
Überdies geriet infolge der revolutionären Situation die
Parteieilandschaft der DDR in Bewegung. Das betraf sowohl alle
„Altparteien“, darunter nicht zuletzt die SED, die im Vergleich zu 1988
knapp 900 000 ihrer Mitglieder durch Austritt verlor und auch die
Beziehungen der „Altparteien“ untereinander. Zudem formierten sich neue
politische Zusammenschlüsse und begannen zu agieren. In der Endphase
der DDR setzte die Transformation von der SED zur PDS ein (vgl. Die
Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, hrsg. von G-R.
Stephan u. A. Herbst, C. Krauss, D. Küchenmeister, D. Nakath, Berlin
2002; Die SED. Geschichte-Organisation-Politik. Ein Handbuch, hrsg. von
A. Herbst, G-R. Stephan, J. Winkler, Berlin 1997).
Wiederum waren soziale Träger der DDR in den „Altparteien“ wie in den
Neuformierungen vertreten. Bei näherem Blick zeigt sich zudem, dass die Träger der DDR in der Endphase des zweiten deutschen Teilstaates in mindestens zwei Großgruppen zerfielen,
zwischen denen es zwar Übergänge und Überschneidungen, mehr aber noch
Spanungsfelder, Widersprüche, Gegensätze, Unvereinbarkeiten und
Animositäten gab.
Zwei Großgruppen unter den sozialen Trägern der DDR
Die eine dieser beiden Großgruppen unter den sozialen Trägern der DDR war von der Vision einer ganz anderen DDR. geleitet als es sie bislang gegeben hat. Diese Vision fand ihren konzentrierten Ausdruck im Aufruf „Für unser Land. Ein Aufruf von 31 DDR- Bürgern, die für den Erhalt der DDR plädieren“ .
Der Aufruf wurde am 28.11.1989 auf einer Pressekonferenz von Stefan
Heym verlesen. Die Endfassung des Textes stammt von Christa Wolf. Bei
den 31 Erstunterzeichnern handelte es sich größtenteils, aber nicht nur
um Intellektuelle. Der Text wurde unter anderem im Neuen Deutschland
vom 29.11.1989, S.2 veröffentlicht. Binnen kurzer Zeit wurde der Aufruf
von rund 1,2 Millionen Bürgern der DDR unterzeichnet.
Zu den frühen Unterzeichnern gehörte auch Egon Krenz, der eher der
zweiten Großgruppe von Trägern der DDR zuzurechnen war. Unter den
Unterstützern des Aufrufes Für unser Land.
entbrannte eine Debatte über die Zulässigkeit der Unterschrift von
Krenz und seinesgleichen. Ein Teil der Erstunterzeichner quittierte die
Unterschrift von Krenz mit Empörung und hielt den Aufruf gleichsam für
politisch verbrannt und obsolet.
Die zweite Großgruppe von Trägern der DDR trat zwar auch für
Reformen ein, aber ihrer Vision von einer reformierten DDR war stärker
als die der ersten Gruppe dem Status quo ante − der Verfasstheit der
DDR vor Ausbruch der finalen Krise – verpflichtet. Aus der Sicht
der Unterstützer des Aufrufes für unser Land war das zu wenig an
Reform, bloß gemäßigter Fortschritt im Rahmen des bestehenden Systems.
Eine der Scheidelinien: (Nicht-)Akzeptanz des . Otto-Reinhold-Axioms.
In der Sache lief der Aufruf „Für unser Land“ auf eine ihre
Eigenstaatlichkeit behaltende, demokratisch und marktwirtschaftlich
verfasste DDR mit der Option hinaus, künftig eine sozialistische
Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Obwohl kein Wort des
Aufrufs selbst dies nahelegte, blitzte immerhin als denkbare (!)
Möglichkeit am Horizont auf, dass sich die DDR bei fortbestehender
Eigenstaatlichkeit doch noch gleichsam zur Nation konstituieren und es
zu einem Nebeneinander zweier deutscher kapitalistischer Staaten kommen
könnte. Aus der Perspektive der zweiten Großgruppe von sozialen Trägern
der DDR war diese tendenziell angelegte Vorstellung und
Entwicklungsoption Unsinn. Sie hielt mit dem Otto-Reinhold-Axiom dagegen.
Otto Reinhold, seinerzeit Rektor der Akademie für
Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hatte am 19. August 1989
folgenden Gedanken (hier als Axiom bezeichnet), entwickelt:
Im Unterschied zu den anderen sozialistischen Staaten, deren
Staatlichkeit "nicht in erster Linie von der gesellschaftlichen
Ordnung" abhänge, sei "die sozialistische Identität für die DDR die
Kernfrage". Die DDR, so Reinhold damals, "ist nur als
antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische
Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine
kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben?
Natürlich keine. Nur wenn wir diese Tatsache immer vor Augen haben,
wird klar erkennbar, wie wichtig für uns eine Gesellschaftsstrategie
ist, die kompromisslos auf die Festigung der sozialistischen Ordnung
gerichtet ist."
Neben dieser und anderen Scheidelinien, die die beiden Großgruppen
unter den sozialen Trägern der DDR trennten und eine Einheit der Aktion
unter ihnen verhinderten, waren sie jeweils auch für sich genommen,
nicht recht handlungsfähig.
Inkonsistenzen, konzeptionelle Defizite
„Aus Stroh Gold spinnen“
Dieter Klein, einer der Erstunterzeichner des Aufrufes „Für unser Land“
und einer der konzeptionellen Theoretiker im Umfeld der PDS, hat
mehrfach die Herausforderung beschrieben, vor der er selbst und seine
Mitstreiter immer wieder standen, nämlich „aus Stroh Gold zu spinnen“.
Dies gelingt nur im Märchen. Nun war es bei Lichte besehen mehr als nur
Stroh, was Klein und seine Mitstreiter aus ihren Schubladen an
Konzepten hervorholten oder neu erarbeiteten. Doch eines ist sicher:
die Träger und Unterstützer des Aufrufes „Für unser Land“ hatten kein
realistisches, zur Mobilisierung von Massen taugliches Konzept für die
Verteidigung der Eigenstaatlichkeit und für den Umbau der DDR. [Es
stellt sich die Frage, ob das eher an subjektiven Unvermögen oder aber
eher daran lag, dass es objektiv unmöglich war, für die DDR noch eine
Perspektive zu gewinnen.] Auch aus diesem Grund erodierte die
beeindruckende Zahl der Unterstützer von immerhin 1,2 Millionen
Menschen, die der Aufruf zwischen November 1989 und Januar 1990
gefunden hatte, zumal die politische Konkurrenz im Kampf um die DDR ja
keineswegs schlief und untätig war. Nicht wenige, die zu den
Unterzeichnern gehörten, sprangen ab und avancierten zur Vorreitern und
Unterstützern des Gegenentwurfs − der Allianz für Deutschland, so etwa Lothar de Maizière.
Erhebliche Schwierigkeiten und Defizite hatte indes auch die zweite
Großgruppe von sozialen Trägern der DDR, eine realistische, zur
Mobilisierung von Massen taugliche Verteidigungsposition aufzubauen.
Diese Schwierigkeiten brachte das Schürer-Papier konzentriert zum Ausdruck.
Zum Schürer-Papier
Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR,
legte Ende Oktober 1989 dem Politbüro der SED eine „Analyse der
ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen" vor. Der Bericht war
geheim, also zunächst nur relativ wenigen Menschen zugänglich. Er
stützte sich auf eine nicht vollständige Datenbasis. Denn der von
Schalck-Golodkowski − einem der Koautoren des Schürer-Papiers −
geleitete Bereich der Kommerziellen Koordinierung, der erhebliche
wirtschaftliche Transaktionen umfasste, ging seltsamerweise nicht in
die Analyse ein. Das Schürer-Papier signalisierte der neuen
Parteiführung, dass die DDR mittelfristig am Rande der
Zahlungsunfähigkeit stände.
In dramatisierender Weise wurde die Verschuldung der DDR gegenüber dem
NSW hervorgehoben. (Tatsächlich betrug die Verschuldung gegenüber dem
Westen nicht 49 Mrd. Valuta-Mark, sondern weniger als die Hälfte).
"Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung
des Lebensstandards um 25-30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar
machen", so Schürer und Koautoren in ihrem Bericht. Von der Sowjetunion
sei keine Hilfe zu erwarten, daher müsse sich die DDR im Extremfall an
den Internationalen Währungsfonds wenden. Das aber müsse unter allen
Umständen vermieden werden, denn dieser würde den Verzicht des Staates
auf Eingriffe in die Wirtschaft, Privatisierungen und den Abbau von
Subventionen einfordern. Besser wäre es, die Bundesregierung um neue
Kredite zu ersuchen und ihr im Gegenzug anzubieten, die Mauer
mittelfristig abzubauen.
Die Debatte über die Bedeutung des Schürer-Papiers und über die Frage,
ob die DDR 1989/90 bankrott war, hält bis heute an (vgl. Ulrich Busch:
Die Evidenz finanzwirtschaftlicher Fakten. Der drohende Staatsbankrott
der DDR im Spiegel der Kreditbilanz für 1989, in: Berliner Debatte
Initial 3/2014, S. 135-150). Es ist klar, dass die an der
De-Legitimierung der DDR arbeitenden Institutionen und Akteure das
Schürer-Papier für bare Münze nehmen und als Bankrotterklärung werten.
Schürer selbst und seine Mitautoren hatten eher eine pädagogische
Absicht. „Dieses Papier hatte einen Zweck", erinnert sich Edgar Most:
"Wir wollten dem Erich-Honecker-Nachfolger Egon Krenz Druck machen und
ihm vermitteln, dass wir völlig neu denken müssen."
Realiter war die ökonomische Lage der DDR keineswegs rosig, aber ihre Zahlungsfähigkeit war bis zuletzt gegeben.
Für die handelnden Akteure, für diejenigen, die darauf gebaut hatten,
dass sich das Ganze durch mehr oder weniger gemäßigten Fortschritt im
Rahmen des Bestehenden noch stabilisieren ließe, schwand mit dem
Schürer-Papier die Gewissheit, sie wurden genötigt auf Experimente zu
setzen. Die ökonomische Lage des Landes wurde noch einmal durch den
Fall der Mauer verschärft.
„Die Finanzdaten reflektieren, was in der Wirtschaftsordnung und im
politischen System grundsätzlich falsch angelegt war. Eine
konsolidierende Reform des Bank- und Kreditwesens allein hätte deshalb
wenig bewirkt. Die Lösung wurde deshalb in der Transformation der
administrativ-zentralistischen Planwirtschaft in eine demokratisch
verfasste kapitalistische Marktwirtschaft gesucht (Ulrich Busch: Die
Evidenz finanzwirtschaftlicher Fakten. Der drohende Staatsbankrott der
DDR im Spiegel der Kreditbilanz für 1989, in: Berliner Debatte Initial
3/2014, S.147).
Damit entfiel aber letztlich in den Augen der Anhänger der zweiten Hauptgruppe von Trägern der DDR die im Otto-Reinhold-Axiom . fixierte Existenzberechtigung des deutschen Teilstaates.
Ausdruck dessen war der im Februar 1990 von Hans Modrow, seinerzeit
Ministerpräsident der DDR, vorgelegte >>Plan für Deutschland
einig Vaterland“. Mit diesem Plan signalisierte er sich selbst und den
sozialen Trägern der DDR (insbesondere denen der zweiten Hauptgruppe),
es sei nunmehr angezeigt, sich von der Idee einer auf Dauer angelegten
Eigenstaatlichkeit der DDR zu lösen.
Erosion der sozialen Träger der DDR in beiden Großgruppen
Im Spiegel der Umfrage- und Meinungsforschung zeigt sich zweierlei. Bis
November 1989 waren überwältigende Mehrheiten von 86 Prozent für einen
Fortbestand der DDR, für eine reformierte DDR. Wenige Wochen später war
ein Meinungsumschwung eingetreten.
Waren im November 1989 noch 86 Prozent der von Gunnar Winkler Befragten
für den Fortbestand der DDR als souveräner Staat als reformierte DDR,
so waren es im Dezember 1989 nur noch 24 Prozent (vgl. G. Winkler
(SFZ): 20 Jahre friedliche Revolution 1989-2009. Die Sicht der Bürger
der neuen Bundesländer, Berlin 2009, S. 16). Nach der angegeben Quelle waren im Dezember 1989:
für künftige Föderation beider deutscher Staaten: 40 Prozent
für den Erhalt zweier deutscher Staaten: 24 Prozent
für einen neuen gemeinsamen deutschen Staat: 20 Prozent
(Quelle. : G. Winkler (SFZ): 20 Jahre friedliche Revolution 1989-2009. Die Sicht der Bürger der neuen Bundesländer, Berlin 2009, S. 16).
Im Dezember 1989 bevorzugten die sozialen Träger der DDR zwei
Antwortvorgaben. Sie votierten entweder für eine künftige Föderation
der beiden deutschen Staaten (40 Prozent) oder traten für den
Fortbestand zweier deutscher Staaten ein (nur oder immerhin noch 24
Prozent).
Nimmt man beide Antworten zusammen, so war die Zahl der Bürger, die für
die Eigenstaatlichkeit einer reformierten DDR eintraten, im Verlaufe
eines Monats von 84 Prozent auf 64 Prozent gefallen. Die Idee der
Konföderation erledigte sich bald, weil dies von der Bundesrepublik
politisch nicht gewollt wurde, so dass in der ersten Hälfte des Jahres
1990 ein abermaliger Wandel der Agenda eintrat. Die
Auseinandersetzungen in und um die DDR verschoben sich für alle
kollektiven und individuellen Akteure auf die Frage, wie die deutsche
Einheit vollzogen werden solle.
Der Weg in die Einheit: Optionen und Realprozess
Nachdem die Idee einer Konföderation vom Tisch war, sah das Grundgesetz
der Bundesrepublik (GG) zwei deutlich unterscheidbare Varianten vor,
die deutsche Einheit zu vollziehen:
Übersicht 1:
zwei alternative Wege zur deutschen Einheit– nach § 146 GG oder § 23 GG
§ 146: GG wird durch neue Verfassung ersetzt (mehr gleichberechtigte Vereinigung)
§ 23 Beitritt der neuen Länder (= Länder in DDR) zum Geltungsbereich des GG: Das gemeinsame Haus ist fix und fertig
Realisiert wurde der bedingungslose Beitritt nach § 23 zum 03.10.1990.
Die sozialen Träger der DDR waren für eine Einheit nach § 146. Sie unterlagen bei. oder . kurz nach der Volkskammerwahl. im Zuge des Umschwenkens der Sozialdemokraten und Liberalen.
Übersicht 2:
Ergebnisse Volkskammerwahl 18.03.1990 in DDR
Allianz für Deutschland (CDU + Partner): 48,15% [ für Beitritt nach § 23, vor der Wahl artikuliert]
Sozialdemokraten: 21,9% [ für § 23; Position ab 12.04.90 ]
Partei des dem. Sozialismus: 16,4% [ für § 146]
Liberale: 5,3% [ für § 23; Position ab 12.04.90]
Bündnis 90+ Grüne: 4,9% [ für § 146]
Man kann aber nicht sagen, dass im Zeitraum zwischen 1988 und 1990
die sozialen Träger der DDR „ihre“ Gesellschaft widerstandslos
aufgegeben haben. Nur sind sie bei dem Versuch, die Eigenstaatlichkeit
der DDR zu bewahren und die DDR zugleich zu erneuern, unterlegen.
Zur „Kultur“ und Verarbeitung der Niederlage unter den einstigen sozialen Trägern DDR
Von Wolfgang Schivelbusch stammt eine instruktive Untersuchung über Die Kultur der Niederlage.
aus dem Jahr 2001, erschienen im Alexander Fest Verlag (Berlin). Nicht
nur der Klappentext verdeutlicht, dass der Zusammenbruch des
sozialistischen Weltsystems den Autor zu seiner Studie motivierte.
Untersucht werden indes der amerikanische Süden nach 1865, Frankreich
nach 1871 und Deutschland nach 1918. Erkennbar werden übergreifende
Regularitäten der Verarbeitung von Niederlagen, für die sich in vieler
Hinsicht Entsprechungen im Falle der DDR/Ostdeutschlands seit 1989/90
finden.
In dem Maße, wie die Weichen ab 1989/90 in Richtung deutsche Einheit gestellt waren, kam es zu einer weiteren Erosion unter den einstigen sozialen Trägern der DDR.
Etliche orientierten sich in ihrem Erwartungshorizont rasch vorab auf
den ab Oktober 1990 gültigen neuen sozialen Rahmen. Spätestens mit der
deutschen Einheit trat für alle ein. Rahmenwechsel
ein: „Wenn sich die Wirklichkeit um einen herum wandelt, dann liegt
nichts näher, als dass alles das in Vergessenheit gerät, was in der
früheren Wirklichkeit Geltung hatte. Denn es gerät nun in Gegensatz zu
den äußeren Verhältnissen und wird von ihnen nicht mehr bestätigt und
getragen“ (Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 2000: 224).
Unter sozialen Trägern der DDR (und primär von diesen ist in diesem Artikel ja die Rede) kam es zu einer
ambivalenten Mischung aus Verliererdepression, Abrechnung mit Gestalten
und Gewalten des alten Regimes und einer gewissen Euphorie.
Um bei letzterer zu beginnen: auch die einstigen Träger der DDR nahmen
Wende und Einheit zumindest ein Stück weit als Befreiung, Erlösung und
Entlastung von obsolet gewordenen Regeln, Revieren und Ritualen, wenn
nicht gar als Chance für ein neues Beginnen wahr.
Die Niedergeschlagenheit auf der Verliererseite äußerte sich auf
verschieden Weise: Einige, wenn auch wenige, wählten den Freitod wie
Johanna Töpfer. Manche Personen, die zu DDR-Zeiten in der
Öffentlichkeit präsent waren, verstummten völlig, enthielten sich
nunmehr jeder politischen öffentlichen Äußerung (so etwa Otto
Reinhold). Nicht wenige erfassten die Gelegenheit – auf der Suche nach
einer neuen, nicht mitsinkenden sozialen Position – oder/ und weil sie
sich der neuen Gesellschaft nicht mehr verpflichtet fühlten, um für
einige Zeit oder auf Dauer im Ausland zu leben. Das Ausland bot vielen
von ihnen Chancen, die sie in der deutschen Gesellschaft nicht hatten
oder nicht sehen konnten.
Wende und deutsche Einheit waren von einem inneren Umsturz, von
Abrechnung mit Gestalten und Repräsentanten der DDR begleitet. Ein
solcher innerer Umsturz ist, wie Schivelbusch zeigt, organischer
Bestandteil jedweder Kultur der Niederlage. .
Die Abrechnung wurde nicht nur von den Siegern und ihren Kombattanten
betrieben. Auch unter einstigen sozialen Trägern der DDR selbst wurde
Schuld und Versagen, Amtsmissbrauch von Personen ebenso ein Thema wie
Systemfehler, Deformationen, Strukturen des untergegangenen Staates und
Systems. Die Abrechnung unter den Trägern der DDR fiel dabei nicht
weniger unerbittlich aus als sonst zwischen Kap Arkona und Fichtelberg.
Es gab Parteiausschlüsse, Amtsenthebungen, Verhaftungen und
Gerichtsverfahren. Von der Unerbittlichkeit zeugt exemplarisch das
Schicksal der Honeckers. Das Ehepaar Honecker war 1990 wohnungslos und
allseits geächtet; es fand nur noch Aufnahme bei der evangelischen
Kirche, in den Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal.
Die große Masse der einstigen Träger der DDR fühlte sich gleichsam
heimatlos, war aber nicht verschwunden. Zwar trifft es zu, dass die
Älteren unter ihnen in großer Zahl in „die bundesdeutsche Rente“
(Schütrumpf) gingen, doch schieden sie damit nicht zwangsläufig aus dem
politischen Leben aus. Soweit die einstigen Träger der DDR, Ältere wie
Jüngere, parteipolitische Bindungen und Präferenzen aufwiesen,
konzentrierten sie sich primär in der PDS und im Umfeld der PDS.
Natürlich kamen einstige soziale Träger der DDR auch bei anderen
Parteien unter oder wählten sie, doch hier befanden sie sich bis auf
wenige Ausnahmen mit ihrer politischen Biographie oder ihrem Blick auf
die DDR außerhalb des jeweiligen parteipolitischen Mainstreams.
Auf dem Weg von der SED zur PDS hatte es zeitweilig innerhalb der
Partei Intentionen gegeben, die SED aufzulösen und anderen linken
Parteien, insbesondere der ostdeutschen Sozialdemokratie beizutreten.
Diese Bestrebungen scheiterten zweifach. Zum einen waren sie in der PDS
nicht mehrheitsfähig. Zum anderen waren die tragenden sozialen Milieus
der Ost-SPD (aus dem protestantisches Pfarrhaus) − anders als manche
westdeutsche Berater wie etwa Egon Bahr − entschieden dagegen. Sie
befürchteten eine feindliche Übernahme und eigene Marginalisierung.
Diese Entscheidung trug maßgeblich dazu bei, dass sich links von der
SPD eine Partei auf Dauer zunächst im Osten etablieren konnte. In der
Endphase der DDR kam es so zu einer auch kulturgeschichtlich bedeutsamen Symbiose zwischen der Partei PDS und einstigen sozialen Trägern der DDR, die für knapp zwei Jahrzehnte anhielt und für beide Seiten nicht ohne Ambivalenzen blieb (siehe dazu den Exkurs weiter unten).
Überdies waren die anderen Parteien im Osten längere Zeit nicht bereit,
mit der SED-Nachfolgepartei in irgendeiner Form zu kooperieren, sei es
in den Parlamenten oder außerhalb. Die Ablehnung betraf gleichermaßen
die Partei wie die sie tragenden sozialen Milieus, weil und insofern
sie zu den einstigen Trägern der DDR gehörten. Die Ausgrenzung wiederum
festigte die symbiotische Struktur zwischen PDS und einstigen sozialen
Trägern der DDR. Erstmals 1994 kam es mit dem Magdeburger Modell in
Sachsen-Anhalt zu einer Erosion der Ausgrenzungspraxis.
Auf der Ebene der Sinngebung gehört zu den Grundelementen dessen, was
Schivelbusch als Niederlagedenken oder Verliererphilosophie
gekennzeichnet hat, die „… Überzeugung, dem Sieger an Einsicht und Wissen mindestens einen Schritt… voraus zu sein“
(Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage 2001: 32), oft auch die
Gewissheit eigener kultureller oder moralischer Überlegenheit. Im
ostdeutschen Fall entsprechen dem etwa Wolfgang Englers „Die
Ostdeutschen als Avantgarde“(2002) oder die Vorstellung vom doppelten Umbruch in eine andere Moderne.
(Dieter Klein; in anderer Weise Rainer Land oder Rolf Reißig), vor dem
Ostdeutschland wie die Alt-Bundesrepublik stehe. In diese Rubrik
gehören das „Unbehagen in der Einheit“ der Daniela Dahn (als Autorin,
Antifaschistin, als Linke, als gewesene DDR-Bürgerin, als Frau und als
Neubundesbürgerin wie auch ihr „Behagen als Citoyenne“) (vgl. Daniela
Dahn: Westwärts und nicht vergessen, Berlin 1996). Des Weiteren die von
der AG Ost der Bundestagsfaktion der Linken verbreitete und Widerstände
in der Fraktion hervorrufende These vom ostdeutschen Erfahrungsvorsprung. (Roland Claus u.a.).
Eherner Bestandteil jeder „Verliererphilosophie“, so auch in dem hier interessierenden Fall, sind Erneuerung, Vom Sieger lernen und Einsprüche nach dem Modell Wehe dem Sieger! (Schivelbusch). Zwischen Oder und Werra zeigte sich dies in praktisch-geistigen Distanzierungen vom Aufbau Ost als Nachbau Wes. t, im produktiv-kritischen Aufgreifen des Slogans „Überholen ohne einzuholen“, im Aufzeigen von ausgeschlagenen oder/und möglichen Alternativen.
Einstige Träger der DDR verweigern den Siegern das „Protocol of Defeat”, die „moralisch-spirituelle Kapitulation“
Der bundesdeutsche Mainstream in Politik, Wissenschaft, Medien und
Gesellschaft verstand den Sieg des Westens im Kalten Krieg und
insbesondere das Votum ostdeutscher Mehrheiten für den Beitritt zur
Bundesrepublik in zweifacher Weise. Zum einen als Totalabsage der
einstigen Bürger des deutschen Teilstaates an die DDR. Von daher wurde
insbesondere von den einstigen sozialen Trägern der DDR etwas
gefordert, was Schivelbusch „symbolträchtige Unterwerfung“ nennt,
deutliche Signale einer „spirituell-moralischen Kapitulation“ als
„Protocol of Defeat“ (vgl. Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage
2001: 42). Zum anderen verstand der bundesdeutsche Mainstream den
Beitritt als äußeren und inneren Auftrag, den Aufbau Ost als Nachbau
West zu betreiben.
Im Zuge dieser mit großer Entschiedenheit vorangetriebenen Operationen
von Privatisierung, Stilllegung, Abwicklung von Betrieben und
Institutionen sowie der Installierung des bundesdeutschen Rechts- und
Institutionensystems trat bei weiten Teilen der ostdeutschen
Bevölkerung nach dem 3. Oktober 1990 eine Ernüchterung und
Verunsicherung an die Stelle der Einheitseuphorie. Es kam zu einer
deutlich positiveren Neu- und Umbewertung von Regelungen und Praxen der
DDR im Rückblick.
Das Unbehagen in der Einheit im Bundesgebiet Ost äußerte sich weniger
in entschiedenem und nachhaltigem Widerstand [3], sondern eher in der
Umfrage- und Meinungsforschung und in einem wachsenden Wählervotum für
die PDS.
Zudem attestierten manche westdeutsche oder ausländische Wissenschaftler der DDR, sie hätte in einigen Bereichen Modernisierungsvorsprünge. gegenüber der Bundesrepublik gehabt (exemplarisch Rainer Geißler 2001).
Manche Intellektuelle der Siegergesellschaft ließen eine gewisse
Empathie mit den Verlierern erkennen (exemplarisch Günter Gaus) und
warnten vor der Hybris. Andere Vertreter des westdeutschen
Establishments nahmen die deutsche Einheit als große Chance wahr,
mithilfe des Ostens Verkrustungen und Fehlentwicklungen im Westen
aufzubrechen und zu korrigieren (so Kurt Biedenkopf oder Lothar Späth).
Die skizzierten Entwicklungen und Diskurse, insbesondere die
Neubewertung der DDR im Rückblick seitens weiter Teile der ostdeutschen
Bevölkerung und die der DDR in einigen Feldern attestierten
„Modernisierungsvorsprünge“ stabilisierten das Selbstbewusstsein der
einstigen Träger der DDR, ja verliehen ihm neue Impulse.
„Es gibt verschiedene Grade des Unterliegens und des Am-Ende-Seins“
(Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage 2001: 42). „Solange Verlierer
über ein intaktes Selbstbewusstsein verfügen“, so fügt der zitierte
Autor hinzu, „… sind sie nicht bereit, der Forderung nach
moralisch-spiritueller Kapitulation (Reue, Bekehrung, Re-Education) zu
entsprechen. Das ändert sich erst, wenn neben der physischen auch die
spirituell-moralische Grundlage…zerstört ist. Soweit waren die
Verlierer von 1865,1871 und 1918 noch nicht“ (Schivelbusch: Die Kultur
der Niederlage 2001: 42). Ich möchte dem hinzufügen: auch die einstigen
Träger der DDR nach 1990 wollten und konnten sich zu einer „spirituell-
moralischen Kapitulation“ nicht verstehen.
Insofern hat schon so etwas wie die „Verteidigung der DDR“ seitens
ihrer einstigen Träger auch nach dem Untergang des deutschen
Teilstaates stattgefunden. Die Achse verschob sich nach 1990 von
der Verteidigung der Eigenstaatlichkeit als Rahmen für das Verfolgen
eines gesellschaftlichen Projekts hin zur Identifikation von
bewahrenswerten Komponenten am abgebrochenen gesellschaftlichen Projekt
DDR, die für die Bewältigung von Herausforderungen und Gefahren der
Gegenwart tauglich sein könnten.
Exkurs: Ambivalente Symbiose zwischen der PDS/ der Linken und einstigen sozialen Trägern der DDR für knapp zwei Jahrzehnte
Die einstigen sozialen Träger der DDR wählten überproportional die PDS
oder/und engagierten sich in ihr und bescherten ihr so nach 1990 – im
Osten – Wähleranteile zwischen 20 und 30 Prozent – je nach Region. Sie
machten sie sie zur Volkspartei. Die PDS vertrat dafür ihre Interessen
und sorgte für ein schrittweises Ankommen einstiger sozialer Träger der
DDR in der bundesdeutschen Gesellschaft. Sie beförderte zudem, dass sie
sich auf diese Gesellschaft praktisch-geistig einstellten. Die
skizzierte Symbiose erschwerte allerdings zugleich das ohnehin
schwierige Fußfassen der Partei im Westen erheblich, weil in der
westdeutschen Bevölkerung, auch unter den realen und potentiellen
Wählern und Mitglieder der PDS in aller Regel alles, was mit der DDR
verbunden war, negative Assoziationen auslöst(e).
Die Symbiose zwischen der PDS und einstigen sozialen Trägern der DDR
befeuert(e) und beeinflusst(e) – vor dem Hintergrund der Niederlage −
die von der Partei und ihrem Umfeld selbst ausgehende DDR-Aufarbeitung.
Dabei ging es zwangsläufig nicht zuletzt um Themen, Bereiche, Prozesse
und Strukturen, die Scham und Schuld auslösen und anerkennen. „Die
Herausforderung besteht dabei darin, Züge einer Außenperspektive in das
eigene Selbstbild aufzunehmen. Sich an etwas, was man lieber vergessen
möchte, zu erinnern, entspricht keinem… identitätssichernden
Bedürfnis…“ ( Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis, München
2007:26).
Die Symbiose zwischen der PDS und einstigen sozialen Trägern der DDR
sowie die erkennbare Neubewertung der DDR im Rückblick sorgt(e) ebenso
für eine Verstetigung der Konjunktur der offiziellen, gut alimentierten
DDR-Aufarbeitungsindustrie gleichermaßen und verändert sie. Zwar ist
vieles an DDR-Realien abgeräumt, abgewickelt, verschüttet worden, aber
eben nicht alles. Zwar kann weiterhin alles und jedes, auch der größte
Unsinn, über die DDR behauptet werden, aber eben nicht ohne Ein- und
Widerspruch zu finden. Die im inneren und äußeren Auftrag an der
DDR-Aufarbeitung Tätigen sehen sich mehr und mehr genötigt, auf
Positionen, Deutungen ihrer potentiellen Rezipienten einzugehen.
Das politische Klima in Ostdeutschland ist auch(!) aufgrund der skizzierten Symbiose.
anders als etwa in Polen, wo es eine solche Symbiose zwischen der
Nachfolgepartei der PVAP und einstigen sozialen Trägern der
Volksrepublik nicht, bzw. nicht mehr gibt. Die Nachfolgepartei der PVAP
ist Mitglied der sozialistischen Internationale geworden. Und sie hat
Teil am gesamtpolnischen politischen Grundkonsens: sie ist in ihrer
Politik und Praxis stramm „transatlantisch“ orientiert, in
überschüssigem Maße „antirussisch“, mit der „Kommune“ (der Zeit der
Volksrepublik Polen) hat man nichts mehr am Hut, der katholischen
Kirche erweist man seine Reverenz. Soweit das polnische Linksbündnis
die Chance hatte nach 1989 das Land zu regieren, folgte es neoliberalen
Lehren. Die Rochade der PVAP-Nachfolger hat weder der polnischen
Gesellschaft noch der Partei besonders gut getan, so scheint es dem
auswärtigen Beobachter. Die polnische Gesellschaft hat keine
organisierte Linke, der Platz ist unbesetzt. Und der SLD ist
gegenwärtig politisch fast bedeutungslos.
Auf dem Weg von der SED zur PDS und zur Linken hat die Partei sich
erheblich verändert. Diese Lern- und Neuorientierungsprozesse
tangierten auch die Parteibasis und das soziale Umfeld, doch sind sie
an der Basis sowie im sozialen Umfeld in unterschiedlichem Maße nach-
und mitvollzogen, getragen worden. (Bereits der Blick in die
Leserbriefspalten etwa des ND lässt deutliche Unterschiede in der
subjektiven und politischen Kultur der sich zu Wort meldenden Personen
erkennen.) Zu konstatieren ist ein gewisser cultural lag, ein
kulturelles Nachhinken.
Die einstigen sozialen Träger der DDR haben zwar vielfältige
Interessen, sie sind aber in beachtlichem Maße an der Einlösung von
Positionen und Paragraphen des Einigungsvertrages interessiert. Dies
erschwert ihnen mitunter die angemessene Einordnung, Gewichtung,
Wahrnehmung neuer Herausforderungen und Gefahren. So mag die skizzierte
Symbiose zuweilen als Segen wie als Fessel oder Schranke erscheinen,
die die Partei über Gebühr in die Pflicht nimmt, „alte Ansprüche“
abzugelten, statt „Zukunftsthemen“ angemessen zu bearbeiten und in das
Zentrum zu stellen. Aus der Perspektive von einstigen Trägern der DDR
wiederum wird manchen Repräsentanten oder auch Gliederungen der Partei
eine überschüssige und opportunistische Bereitschaft zum Grüßen von
Geßlerhüten (in jüngster Zeit etwa die Anerkennung der DDR als
Unrechtsstaat in Thüringen im Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen
Koalition) angekreidet. Zudem hat man vielfach von
Regierungsbeteiligungen der PDS bzw. der LINKEN, roten Landräten oder
Bürgermeistern mehr erwartet, als sie tatsachlich leisten konnten oder
können.
Die Zeiten der Symbiose zwischen der Partei PDS/Die LINKE und einstigen
sozialen Trägern der DDR im Osten, die keineswegs spannungsfrei oder
ohne Ambivalenzen waren, gehen nunmehr ihrem Ende entgegen. Schon aus
demographischen Gründen. Die einstigen sozialen Träger der DDR sind
älter geworden und ihre Reihen lichten sich. Zeitlich fällt die
beginnende Erosion der Symbiose zwischen der Partei und einstigen
sozialen Trägern der DDR in etwa mit der Etablierung der Linken als
gesamtdeutsche Partei zusammen.
Mit der Formierung der Linkspartei relativiert(e) sich nicht nur die
Bedeutung der ostdeutschen Landesverbände innerhalb der Gesamtpartei,
es werden überhaupt die Karten neu gemischt. In der Bundestagsfraktion
wie unter den Mitglieder und Wählern der Linken gib es ein
vielstimmiges, einander an- wie einander ausschließendes
Meinungsspektrum in der Frage, wie die DDR im Rückblick wahrgenommen
wird.
Auch im Rahmen der Linken finden Ost-West-Konflikte über zu vergebende
Positionen und Ressourcen, die Bewertung von Themen, Strategien,
politischen Kulturen, über zu fördernde Projekte und über Konzepte
statt.
Unabhängig von Ost-West-Querelen in der Linken war es in den
zurückliegenden Jahren bereits nicht immer leicht, in programmatischen
Texten oder Wahlplattformen einen Block zu Ostdeutschland zu
platzieren. Hinzu traten konzeptionelle Schwierigkeiten, den
thematischen Block mit konsistenten wie kohärenten Aussagen und
Orientierungen im Lichte einer zukunftsfähigen „Strategie“ zu füllen.
Daher meinten konzeptionelle Vordenker der Partei, es sei in
entsprechenden Dokumenten „ zu viel [vom] Osten“ die Rede, etwa Michael
Brie. Andere (so die AG Ost) wiederum meinten, die Entwicklung und die
Perspektiven des Ostens würden in der Linken zu wenig thematisiert,
bisweilen vernachlässigt.
Da die Linke bei zurückliegenden Wahlen nicht zuletzt im Osten an
Wählerzuspruch verlor, wird bei der Suche nach den Ursachen in
ostdeutschen Landesverbänden auch die Frage kritisch diskutiert, ob die
Partei nicht an ihrer „Ostkompetenz“ zu arbeiten habe, sie neu
begründen und wieder stärker ins Spiel bringen müsse. Reflektiert wird
der demographisch bedingte allmähliche Abgang der einstigen Träger der
DDR als geschichtsmächtige Kraft und seiner mittelfristigen Folgen für
die Linke.
Die Schwierigkeiten bei der Neujustierung von „Ostkompetenz“ der Linken
sind großen Teils objektiv bedingt. Der Soziologe Heinz Bude hat wohl
Recht, wenn er konstatiert, ganz Deutschland sei in den vergangenen 15,
20 Jahren ein anderes Land geworden (vgl. Du bist nicht allein. Der
Soziologe Heinz Bude über die Gründe, die gerade in Ostdeutschland
Pegida in Schwung halten, in: Berliner Zeitung, 17.Februar 2015, S. 19
f.). Das gilt auch für den Osten. In etlichen Regionen Ostdeutschlands
hat es einen erheblichen Bevölkerungsaustausch durch Abwanderung und
Zuzug gegeben. Die Lebensverhältnisse in Teilen West- und
Ostdeutschlands sind inzwischen vergleichbar − insbesondere in
Krisenregionen. Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich weiter
ausdifferenziert, in kleinräumige Fragmente mit oft deutlich
unterscheidbaren Entwicklungsdynamiken oder Abwärtsspiralen zerlegt. In
der fragmentierten ostdeutschen Gesellschaft treten Sozialstrukturen
und Lebenswelten derart auseinander, dass von gemeinsamen Ideen,
Interessen oder Identitäten zwischen Oder und Werra – im Vergleich etwa
mit den 1990er Jahren – weniger denn je die Rede sein kann.
Mit dem sich abzeichnenden allmählichen Abschied der einstigen sozialen
Träger der DDR aus dem politischen Leben geht nicht nur etwas zu Ende,
sondern es ist auch ein neues Beginnen zu vermuten. Die Frage was die
DDR war und ob sich aus ihrer Geschichte etwas für die Bewältigung von
gegenwärtigen Herausforderungen und Gefahren entnehmen lässt, wird sich
wohl neu stellen. Dazu trägt die offizielle DDR-Aufarbeitungsindustrie,
so unterstelle ich einmal, unfreiwillig das Ihre bei. Denn „ohne
bewussten Bruch gibt es keine Wiederanknüpfung“ (Aleida Assmann).
Anmerkungen
[1] Ich sehe hier davon ab, dass die DDR auch im Ausland nicht nur
Gegner und Feinde, sondern im beachtlichem Maße Freunde und
Sympathisanten hatte. Zuweilen haben ausländische Freunde
DDR-Geschichte mitgeschrieben. So soll die Anregung zu dem Aufruf
>>Für unser Land…<< (siehe dazu weiter oben) von einem
niederländischen Pfarrer ausgegangen sein.
[2] In der westdeutschen Rezeption von Tellkamps Roman der Turm spielte das DDR-Restbürgertum eine Rolle.
[3] Die Schwäche des kollektiven und organisierten Widerstandes in den
neuen Bundesländern hat vielfältige Irritationen, Reflexionen und
Interpretationen ausgelöst. Manche (siehe Jörn Schütrumpf oben) sehen
darin eine Erbschaft der DDR, andere führen die mangelnde
Organisations- und Konfliktfähigkeit eher auf die Fragmentierung und
Vereinzelung nach 1990 zurück. Für Volker Braun war sie Impuls für
seine Erzählung „Die hellen Haufen“: „Der Aufstand, von dem hier
berichtet wird, hat nicht stattgefunden…Wenn er seine Wahrheit hat, so
nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist. Man glaubt
die Geschichte zu kennen, aber sie hat mehr in sich, als sich
ereignet…“ (Volker Braun: Die hellen Haufen, Berlin 2011:9).
|
| |