Thema | Kulturation 2011 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Gerlinde Irmscher | Kulturgeschichte des DDR-Tourismus – zwei Vorschläge und ein Versuch
| 1.
Ein kritischer Blick in die Literatur
In einem kürzlich via Internet veröffentlichten Forschungsüberblick
resümiert der Historiker Rüdiger Hachtmann mit Blick auf den Stand der
deutschen Tourismusgeschichte, sie sei „ein Mauerblümchen mit Zukunft“.
„Mauerblümchen“, das meint das Desinteresse der Zeithistoriker an einem
Phänomen, das „selbst seit langem in das Zentrum aller modernen
Gesellschaften gerückt ist“.[1]
In der Tat, in Standardwerken wie der zur deutschen
Kulturgeschichte von Axel Schildt und Detlef Siegfried oder in
Forschungen zur Konsumgeschichte spielen die deutschen
„Reiseweltmeister“ kaum eine Rolle. Immerhin war es Hasso Spode
vergönnt, den „Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert“ in
einem neueren Handbuch zur Entwicklung der Konsumgesellschaft in
Deutschland zu skizzieren.[2] Doch nicht nur Zeithistoriker, auch
Soziologen verweisen Forschungen zu Urlaubsreisen in ein kleines
Reservat, in dem man wesentlich unter sich ist. Die Lebensstil- bzw.
Milieuforschung hat das Urlaubsverhalten bisher kaum berücksichtigt –
vielleicht wirkt hier die von Touristen und der Mehrheit der
Tourismusforscher geteilte Vorstellung forschungsleitend, beim Urlaub
handele es sich gerade um das „Andere“ des Alltags, eine „Gegenwelt“.
Erst für 2012 planen die Forscher der "Forschungsgemeinschaft Urlaub
und Reisen e.V." (FUR) das Reiseverhalten in die vom Sinus-Institut
erstellten Milieus einzuarbeiten.
Woher rührt nun Hachtmanns Optimismus, das „Mauerblümchen“ habe
„Zukunft“? Größter Lichtblick ist eine 2003 veröffentlichten
Dissertation von Cord Pagenstecher zum bundesdeutschen Tourismus von
1950-1990. Hier liege eine Art von Standardwerk vor, „auf dem eine
künftige Geschichte des bundesdeutschen Tourismus der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts aufbauen“ könne. Das gelte aber nicht für die DDR.
Das „Standardwerk zum Tourismus im ostdeutschen Staat steht weiterhin
aus.“[3]
Diese Einschätzung mag verwundern, ist doch 2009 die umfängliche
Dissertation von Heike Wolter mit dem Titel „Ich harre aus im Land und
geh, ihm fremd“ erschienen. Im Untertitel wird die Geschichte
des Tourismus in der DDR angekündigt. Dieser Anspruch wird allerdings
sofort relativiert, die Autorin will sich aus guten Gründen auf die
Zeit zwischen 1971 und 1989 konzentrieren. Ihre Absichten erläutert sie
folgendermaßen: „In der Publikation wird von der staatlichen
Einbindung, Organisation und Kontrolle des Tourismus zunächst im
idealen Anspruch des Staatssystems ausgegangen, um danach im Vergleich
mit realen Gegebenheiten die Modifikationen seitens des Systems zu
verstehen und schließlich die verbleibende private Seite – gemeint sind
die kaum oder nicht kontrollierten Aspekte in Fragen des Ausmaßes von
Freiheit, empfundener Einschränkung und aktivem Handeln gegen die
Einschränkungen des Systems – zu untersuchen.“[4]
In seiner Rezension kritisiert Hachtmann, die Arbeit sei letztlich
vor allem aus einer Perspektive von „oben“ geschrieben, der Blick „von
unten“ käme zu kurz. „Der Tourismus im ostdeutschen Staat gerinnt
Wolter unter der Hand zu einem Idealtypus, dem jegliche historische
Dynamik abgeht – obwohl er diese zweifelsohne besessen hat.“[5] Zudem
sei das Ganze teleologisch ausgerichtet, also vom Ende der DDR her
betrachtet. Die Chance zu prüfen, ob Pagenstechers Konzeption auch für
eine Tourismusgeschichte der DDR fruchtbar zu machen sei, sei vertan
worden.
Tatsächlich war es wohl missverständlich, eine „Geschichte“ des
Tourismus in der DDR zu annoncieren, wo doch so etwas wie ein
„Handbuch“ vorgelegt wurde. Heike Wolter hat akribisch die wichtigsten
zugänglichen Quellen und zahlreichen bisher veröffentlichten
Einzelstudien ausgewertet und wer sich darüber informieren möchte, wer
in der DDR als Reiseveranstalter auftrat, wann welche
Reiseverkehrsmittel genutzt wurden und welche zeitgenössischen
Institutionen Reiseforschung betrieben, wird hier gut bedient. Was den
Historiker wohl eben so zur Kritik herausfordert wie die
Kulturwissenschaftlerin, ist aber die disziplinäre und theoretische
Unentschiedenheit. Heike Wolter zieht sich aus der Affäre, indem sie
untypischerweise erst am Ende ihrer Arbeit mögliche Theorien und
Forschungsstrategien benennt, die für die Tourismusgeschichte der DDR
bisher nutzbar gemacht wurden und zukünftig ertragreich werden könnten.
Christopher Görlich, der am Institut für Zeitgeschichtliche
Forschung in Potsdam eine noch nicht veröffentlichte Dissertation mit
dem Titel „Urlaub vom Staat. Zur Geschichte des Tourismus in der DDR“
verfasst hat, kündigt an, er wolle Urlaub als „alltagsweltliches
Interpretationsmuster“ auffassen und hinsichtlich seiner „Bedeutung für
die Stabilität politischer Herrschaft“ befragen.[6] „Der Ruf nach
Reisefreiheit und die Reisewellen, die nach 1989 aus Ostdeutschland
über Italien hereinbrachen“, werden von Görlich als Nachweis gedeutet,
dass der Versuch, „gleichwertige Urlaubsziele östlich des eisernen
Vorhangs zu etablieren“[7] misslungen sei. Zur Kritik an dieser
Einlassung später mehr. Mit dem Einbau einer „Mikroebene“, in der
Rezeption und „Verarbeitung“ des Urlaubs durch die Reisenden untersucht
werden, kommt diese Arbeit aber der sinnvollen Forderung von Hachtmann
nach Verflechtung von Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte entgegen.
Um die Literaturschau fortzusetzen - neben diesen Perspektiven auf
den Tourismus in der DDR stehen andere im Raum. War der Feriendienst
des FDGB „Lockmittel, schöner Schein und Hauptbestandteil der
DDR-Sozialpolitik“, wie es in der Ankündigung für eine Arbeit von
Thomas Schaufuß zum DDR-Sozialtourismus heißt?[8] War der Tourismus ein
Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse werktätiger Menschen, wie es
mehrheitlich in der DDR kolportiert wurde?[9] War das Reisen ein von
SED und Stasi beherrschtes Feld, wie kürzlich im „Deutschland Archiv“
dargestellt?[10] Oder handelte es sich um eine Art „schöner, heiler
Welt“, wie es Sönke Friedreich anhand von Zeitzeugenberichten in seiner
volkskundlichen Arbeit zu Urlaubsreisen während der DDR-Zeit
beschrieben hat?[11]
Die Entscheidung für ein bestimmtes Konzept, etwa
Modernisierungstheorie oder Totalitarismustheorie, ist zugleich eine
Entscheidung über Quellen, Methoden und Ergebnis. Damit wird schon in
gewisser Weise vorweggenommen, was denn der Tourismus in der DDR (und
die DDR überhaupt) nun gewesen sein soll. Das erzeugt einen mehr oder
weniger unterschwellig mitlaufenden Diskurs, der nicht anders als
„politisch-ideologisch“ zu qualifizieren ist. Es gibt Kämpfe um die
Deutungshoheit über die DDR und auf dem Gebiet des Reisens sind sie
geradezu mit den Händen zu greifen, geht es doch um die
„Reisefreiheit“. Natürlich haben diese Kämpfe inzwischen eine
Geschichte, die zunächst von Diskussionen darüber geprägt war,
inwiefern der Alltag in der DDR überhaupt ein legitimer
Forschungsgegenstand sei. Wird dies zugegeben, wird die
Alltagsforschung sogar ins Zentrum gerückt, finden sich häufig
Überlegungen, der SED-Staat habe nicht alles „beherrscht“, es habe
durchaus „individuellen Eigensinn“ gegeben. Ein dauernder Dissens von
Herrschenden und Beherrschten wird unterstellt.
Das kulminiert in vielen Darstellungen zum DDR-Tourismus in der
geradezu gebetsmühlenartig wiederholten, aber deshalb noch lange nicht
belegten Behauptung, gerade im Camping oder im individuellen
Auslandstourismus habe der DDR-Bürger seine kleine „Freiheit“ vom Staat
verwirklicht.[12] Nur nebenbei: Für die Bundesrepublik scheinen
kulturkritische Zeitgenossen in den 1960er und 1970er Jahren die
Entwicklung des Campings als eine Absage an die aufsteigende
Tourismusindustrie interpretiert zu haben. Gehen in die
Interpretationen heutiger Betrachter der DDR-Entwicklung unbewusst
ähnliche Vorstellungen vom „richtigen“ Reisen ein – nämlich „frei“ und
„individuell“, hier vom Staat, dort vom Markt? Zeitzeugen bestätigen
solche Befunde. Sie wissen, was sie sich und den Interviewern schuldig
sind. Zudem werden schon zur DDR-Zeit präsente Diskurse, nun medial
wirksam verstärkt, fortgeführt. Wer sein Leben in der DDR aus welchen
Gründen auch immer als lebenswert empfunden hat oder es heute so
darstellen will, äußert sich auch ungefragt – ein Blick ins Internet
lehrt dies. Kritiker der DDR berichten dagegen kaum über einen
„normalen“, wenn auch von kleinen Abenteuern geprägten Urlaubsalltag.
2.
Erster Vorschlag: Veränderung der Blickrichtung
Als 1990 aus Wandlitz über den Lebensstil des Politbüros berichtet
wurde, habe ich als Kulturwissenschaftlerin die teilweise geradezu
hysterischen Reaktionen des Publikums weniger als Ausdruck für einen
Dissens interpretiert. Eine anderer Aspekt schien mir viel
interessanter: Was sagt diese Erregung über ein durchweg ernüchternd
hässliches Interieur (trotz oder gerade wegen des West-Fernsehers) über
die von Herrschenden und Beherrschten möglicherweise geteilten
Geschmackspräferenzen, über gemeinsame Vorstellungen von einem guten
Leben aus? Aus solch veränderter Blickrichtung könnte ein Gewinn auch
für die Tourismusgeschichte der DDR gezogen werden. Unbestritten waren
die Rahmenbedingungen des Reisens von den politischen und ökonomischen
Entscheidungen der entsprechenden Institutionen abhängig. Konzeptionen
und Pläne wurden aber von konkreten Personen ausgearbeitet, von
Akteuren, die übrigens selbst Touristen waren. Sie repräsentierten
mentale Muster und verbreiteten kulturelle Wertvorstellungen, für die
sich bisher kaum jemand interessiert hat. Warum, fragt Hasso Spode seit
Jahren, hatte Herbert Warnke als „FDGB-Chef“ keine „Berührungsängste
mit dem KdF“[13] und installierte nicht nur einen Feriendienst, sondern
auch eine „rote KdF-Flotte“, wie sie seinerzeit im Westen genannt
wurde. Liegt es nur daran, dass beide „Diktaturen … im Sozialtourismus
ein vorzügliches Mittel zur Produktion von Loyalität und
Leistungskraft“ sahen? Dagegen könnte man auf das Motorkabinenschiff
„Baldur“ verweisen, mit dem 1930 „proletarische Gesellschaftsreisen“
durchgeführt wurden.[14] Gibt es vielleicht eine "nazifreie" Tradition
des „Traumschiffs“? Wie dem auch sei, es ist noch zu prüfen, wo die
Linien von Übereinstimmung und Differenz im Feld des Tourismus
verliefen, um das entsprechende Konzept von Bourdieu aufzugreifen. Das
betrifft die politischen und ökonomischen Verhältnisse genauso wie die
mentalen Prägungen und kulturellen Wertvorstellungen der Akteure. Sie
wären in konkreten historischen Kontexten aufzusuchen, deren
Kräftefelder es herauszuarbeiten gilt. Dabei ist mit einer Vielfalt
solcher kulturellen Muster zu rechnen, deren Genese, biografisch
gesehen, bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht.
3.
Zweiter Vorschlag: Plädoyer für einen synchronen und diachronen Vergleich
Vielleicht gelingt es gerade im eher übersichtlichen Bereich der
Tourismusgeschichte, Forschungsstrategien zu entwickeln, durch die in
einem sorgfältigen synchronen Ost-West-Vergleich auf die Entwicklung beider
Gesellschaften ein neues Licht fällt. Das hieße, nicht die DDR an der
Bundesrepublik zu messen, wie es meistens geschieht oder auch
umgekehrt, was seltener passiert.
Zunächst zur diachronen Einordnung des Reisens im ostdeutschen
Staat. Hier können die Forschungsergebnisse von Hasso Spode ins Feld
geführt werden. Er favorisiert eine Tourismusgeschichte des „langen
Atems“. Die Nachkriegsgeschichte, das Zeitalter des Massentourismus,
erscheint als Nachklang des Eigentlichen, der Entstehung des „Homo
touristicus“ im Schoße der Moderne, die ihn um 1900 schon mit allem
ausgestattet hatte, was heute teilweise sehr wortreich als neue
Entwicklung buchstäblich verkauft wird, wenn man an die Reiseanalysen
diverser Anbieter denkt.
Schon für die Zeit um 1800 entpuppt sich der Tourist „als Prototyp
des modernen Menschen, empfindsam und fordernd, schwankend zwischen
Bewährung und Veränderung, eingespannt zwischen der Sehnsucht nach
Freiheit und Einfachheit einerseits und dem Beharren auf Komfort und
Sicherheit andererseits.“[15] Im 19. Jahrhundert habe dieser
bürgerliche Typus nicht nur seine touristische Infrastruktur erhalten,
die bequemes, sicheres Reisen ermöglichte, sondern im Gefolge der
industriellen Entwicklung habe sich zugleich der
Begründungszusammenhang geändert, in dem über das Reisen geredet wurde.
Reisen wurde nun geradezu als lebensnotwendig betrachtet und zwar vor
allem zur Rekreation der Arbeitskraft. Der Jahresurlaub entwickelte
sich zu einer neuen Urlaubsform. Die Pointe ist, dass er am Ende des
19. Jahrhunderts vor allem Geistesarbeitern, ihren Frauen und Kindern
zugestanden, gewährt und verordnet wurde. Zunächst blieb er also ein
bürgerliches Phänomen, „…erst in der Zwischenkriegszeit zerbricht das
Begründungssystem des bürgerlichen Urlaubsprivilegs unter dem Druck der
industriellen Rationalisierung und der politischen Anerkennung der
Arbeiterbewegung. Ein universeller Anspruch auf die Urlaubsreise rückt
in den Horizont. Das Dogma, Reisen diene der Erholung und sei daher
keineswegs ein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, wurde dabei nicht
angetastet. Im Gegenteil, es wurde auf alle Menschen ausgedehnt und
prägt bis heute sowohl die arbeitsrechtliche Sicht als auch des
Selbstbild de Homo touristicus.[16] Zu betonen ist, weil das vielleicht
in der Eile nicht ganz deutlich wurde, das Zusammengehen von Urlaub und
Reise. Wenn beide heute in der Vorstellung ein Syndrom bilden, kann
darauf geschlossen werden, dass dies habitualisiert ist (nichts anderes
meint ja die Rede vom „Selbstbild“). Dabei bleiben alle Begründungen
letztendlich nebensächlich. Die Urlaubsreise hat ihren Sinn in sich
selbst.
Folgt man Spode, so wäre es sinnvoll, nun synchron zu untersuchen,
wie sich das Phänomen Urlaubsanspruch und Urlaubsreise in verschiedenen
Gesellschaften in der Zwischenkriegszeit darstellte, für die
Sowjetunion, Schweden, Italien, Deutschland und die Schweiz etwa. Zu
letzterer liegt eine schöne, bisher zu wenig gewürdigte Arbeit mit dem
schlichten Titel „Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines
Bedürfnisses“ vor, die manche ideologisch aufgeladenen Diskussion über
den „Arbeiterurlaub“ im „Dritten Reich“ und in der DDR entschärfen
könnte.[17] Auch im Sinne einer Vorgeschichte des Nachkriegstourismus
kann dieser Blick über den deutschen Tellerrand hinaus fruchtbar
gemacht werden.
Ein wichtiges Indiz für die Habitualisierung der Urlaubsreise, wenn
auch noch nicht für ihre konkreten Ausformungen, ist zweifellos die
Reiseintensität in Deutschland. Sie lag nach begründeten
Schätzungen[18] vor dem 1. Weltkrieg bei 11%, 1929 bei ca. 15% und 1937
bei etwa 18%. Für die Nachkriegszeit in der Bundesrepublik liegen
verlässlichere Zahlen vor. Danach stieg die Reiseintensität von etwa
25% im Jahre 1954 auf 52% im Jahre 1972. Danach liegt sie im Mittel bei
76%.[19] Für die DDR scheint sie Anfang der 1950er Jahre und Ende der
1980er Jahre höher gelegen zu haben.
Was den synchronen Vergleich der beiden Deutschländer angeht, so
wäre das überkommene kulturelle Erbe zu sichten. Dazu gehört nicht nur
die Ausprägung der Reiselust. Sehe ich es richtig, so argumentiert die
gegenwärtige westdeutsche Tourismusgeschichte auch eher „vom Ende“, dem
Sieg des kommerziellen Massentourismus. Eine genauere Untersuchung
wären wohl die Anstrengungen verschiedener Institutionen nach 1945 in
Westdeutschland wert, das unterstellte Bedürfnis nach einer
Urlaubsreise zu bewerten, zu unterstützen oder abzulehnen. Hier traten
Gesetzgeber, Gewerkschaft, Kirchen, Reiseveranstalter, Jugendfürsorger
auf den Plan, um nur einige zu nennen. Bis heute wird das Feld des
Reisens weder diskursiv noch praktisch dem Kommerz überlassen.[20] Ein
Vergleich mit der DDR könnte nicht nur helfen, das Phänomen des
„Sozialtourismus“ bis in die Begrifflichkeit hinein neu aufzurollen,
sondern Gemeinsamkeiten wie Unterschiede beim „take-off“ des
Massentourismus der Nachkriegszeit über den Vergleich von Zahlen und
offiziellen Verlautbarungen hinaus herauszuarbeiten. Was in den beiden
Deutschländern geschah, ist aber letztlich nur aus europäischer
Perspektive angemessen zu interpretieren, wobei die Grenzlinien nicht
nur zwischen West und Ost verliefen, wie bisher unterstellt wird.
Über die Mentalitäten von Arbeitern und ihre Sicht auf die
Urlaubsreise ist ernüchternd wenig bekannt. Warum reisen sie bis heute
seltener und anders als studierte Menschen? Was Christine Keitz schon
für die Zwischenkriegszeit herausgearbeitet hat, wirkt nach 1950 fort
und zwar in West und Ost. So lag nach Berechnungen von Cord
Pagenstecher die Reiseintensität von Angestellten um 1960 bei 52% und
war damit fast doppelt so hoch wie die von Facharbeitern (von den
damals zahlenmäßig noch relevanten Landwirten mit etwa 5% gar nicht zu
reden). Erst nach 25 Jahren erreichten Facharbeiter die Reiseintensität
der Angestellten von 1961, wobei letztere schon seit Mitte der 1970er
Jahre zu zwei Dritteln verreisten.[21]
Auch für die DDR liegt der Anteil der Reisenden (bezogen auf eine
mindestens einwöchige Urlaubsreise ins Inland) Mitte der 1980er Jahre
bei Menschen mit Hoch- und Fachschulabschluss bei rund 68%,
Facharbeiter (und Meister) hatten eine 11% geringere Reiseintensität,
von den Un- und Angelernten über 16 Jahre verreisten 37,4%. Mindestens
eine Woche im Ausland verbrachten 31,1% der Akademiker, 20,5% der
qualifizierten Arbeiter (und 14,8% der Un- und Angelernten). Von
letzteren hatten 37% noch nie eine Urlaubsreise ins Ausland gemacht,
während es bei den Hoch- und Fachschulabsolventen nur 17,4% waren.[22]
In ihrer Reiseintensität lag die Bundesrepublik übrigens 1970
hinter vielen westeuropäischen Ländern noch deutlich zurück, etwa
Schweden, Norwegen, Großbritannien, den Niederlanden oder der
Schweiz.[23]
4.
Zwischen „Goldstrand und Teutonengrill“? Ein Versuch über den Ruf nach Reisefreiheit und den Slogan „Visafrei bis Hawai“
„Goldstrand und Teutonengrill“, das ist der Titel eines bis heute
viel zitierten Sammelbandes, zu dem Hasso Spode Beiträger aus Ost und
West eingeladen hatte.[24] Der Titel suggeriert eine These: in beiden
Deutschländern hätten die Reisenden nur außerhalb des Landes finden
können, was sie suchten: einen Sonnenstrand am warmen Wasser. Praktisch
ist es letztlich bei der Behauptung geblieben, die ich im Folgenden
wenigstens andeutungsweise beim Wort nehmen möchte.
Zunächst zu den geschichtlichen Zäsuren. War der Mauerbau für den
Osten entscheidend? Wann wurde er für Urlaubsreisen wirklich zum
Problem? Vor 1961 waren Reisen in Richtung Westen (und ich meine nicht
nach Westdeutschland) für Ostdeutsche politisch in dem Maße möglich,
wie das auch für die westdeutsche Bevölkerung galt. Das wurde bisher
ebenso wenig erforscht wie rein touristische Reisen in die
Bundesrepublik. Da diese Touristen nicht in der Bundesrepublik lebten,
wurden sie auch bei Umfragen nicht erfasst. Quantitativ liegt also
alles im Dunkeln. Andererseits: Derlei Reisen waren an knappes Westgeld
gebunden. Knapp nicht nur im Osten, sondern auch im Westen selbst. Als
typische Westreise gilt für diese Zeit der Verwandtenbesuch, was
selbstverständlich eine touristische Nutzung nicht ausschließt. Die
Möglichkeit, in Westdeutschland herumzureisen, Freunde und Verwandte zu
sehen und sich touristische Destinationen zu erschließen, war nach 1961
abgeschnitten.
Das würde ich als erste Zäsur in der Rede von der Reisefreiheit
ausmachen, der Ruf „Visafrei bis Hawai“ hätte aber noch anachronistisch
gewirkt. Zeitzeugen können hier wenigstens qualitativ Licht ins Dunkel
bringen. Aus ihnen rekrutieren sich auch die ersten Generationen mit
Reise- und Auslandserfahrung in der DDR. Es ist aber auch mit einem
hohen Anteil jener zu rechnen, die weder oft im Urlaub verreisten und
eine Auslandsreise erst recht nicht im Visier hatten. Um anzudeuten,
worum es geht, werde ich mich jetzt selbst als teilnehmende
Beobachterin und Zeitzeugin einführen. In unserer Familie gab es
Verwandtschaft, aber nicht allzu nahe, in den Alpen, in Regensburg und
im Spessart. Aus touristischer Sicht wären das geradezu klassische
Destinationen gewesen: Hochgebirge, waldige Hügellandschaft im
Binnenraum, mittelalterliche Stadt. Genutzt wurde diese
Reisemöglichkeit ein einziges Mal 1956 für einen Besuch in Regensburg,
jedoch nicht im Sinne einer touristischen Reise. Was waren
Hinderungsgründe? Zunächst waren sie finanzieller Art – auch
Urlaubsfahrten in der DDR scheiterten in meiner Familie auf den ersten
Blick am Finanzbudget. Doch solche Aussagen sind nicht einfach
hinzunehmen. Die Tourismusforschung vermutet dahinter ein Bündel von
Ursachen, etwa die, dass Urlaub und Reise noch nicht ineinander fielen.
Entscheidungen über mögliche Ausgaben sind sozial und kulturell
geprägt. Auch hierzu ein Beispiel aus meinem Umfeld: zwei Brüder, beide
Angestellte, Einkommen etwa gleich. Der eine unternahm schon in den
dreißiger Jahren mit seiner Freundin eine äußerst preiswerte
Paddelboottour. Übernachtet wurde im Zelt. Die Frau des anderen
erwartete ein ordentliches Bett, das, typisch für kleine und mittlere
Angestellte bis weit in die 1960er Jahre hinein, in einer Pension
stand. Falls sich die Gelegenheit bot - und um nun in die Zeit nach
1945 überzuwechseln - konnte das Bett auch in einer FDGB-Pension
stehen. Zelturlaub blieb aber ausgeschlossen. Eine Auslandsreise gar
stand nicht auf dem Plan, es sei denn eine Tour nach Paris, wenn „die
Deutschen den Krieg gewonnen hätten“. Deshalb war auch nach 1990 eine
Busreise nach Österreich, die von einem örtlichen Reiseunternehmen
durchgeführt wurde und bei der alle Mitreisenden einschließlich des
Busfahrers bekannt waren, das größte Wagnis in Sachen Auslandstourimus.
Das war vor dem Euro und gezahlt wurde auch in Wien mit DM.
Doch zurück in die Zeit bis 1961. Auch in Westdeutschland
verbrachte in den 1950er Jahren die Mehrheit ihren Urlaub nicht im
Ausland, die letzte Urlaubsreise hatte für viele vor dem Krieg
stattgefunden. Wer sich doch auf den Weg machte, übernachtete häufig
bei Verwandten und Bekannten. Das ging aber nur, wenn dort intakter
Wohnraum vorhanden war, der nicht von Flüchtlingen aus dem Osten belegt
war. Die steigenden Löhne und Gehälter wurden vorrangig für ein Dach
über dem Kopf und die Wohnungsausstattung ausgegeben.[25] Die von den
Medien immer noch in die erste Hälfte 1950er Jahre verlegte
„Reisewelle“ suggeriert zugleich „Reisefreiheit“. In dieser Verbindung
bleibt die Reisefreiheit, die ja schon seit längerem zu den
bürgerlichen Freiheiten gehörte, nicht mehr nur ideell, sie wird real,
wird Praxis. Mit Hilfe von Neckermann soll sie vor allem in Italien
verwirklicht worden sein, wohin die Reisewelle schwappte. Genauer
besehen handelt es sich jedoch um einen ideologisch ambitionierten
Mythos. Unklar ist, ob er seinerzeit in Ost und West im
Alltagsbewusstsein das erhoffte Ergebnis hatte. (Hier gibt sicher die
kürzlich erschienene Dissertation von Till Manning Aufschluss, die mir
aber noch nicht zugänglich ist.[26]) Auf jeden Fall wurde dieser Mythos
aber auf beiden Seiten dankbar kulturkritisch aufgegriffen.
Erst in späterer Zeit, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, haben
sich jene materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen
entwickelt, die Reisefreiheit und Auslandsreise für die Ostdeutschen
miteinander verklammerten. Damit war eine neue Qualität erreicht und
eine zweite, entscheidende Zäsur. Aber sollte es wirklich gleich „bis
Hawai“ gehen? „Hawai“ scheint nicht nur wegen des Reims gut zu passen.
Es gehört zu jenen Destinationen, die durch Meer, Strand und Sonne
überzeugen. Als pazifische Insel ist es seit langem Sehnsuchtsziel der
Fernweh-Geplagten, zumal es heute ein US-Bundesstaat ist.
Äußerungen von Zeitzeugen wie Statistiken für die Zeit nach 1990
legen jedoch nahe, dass auch 1989 nur wenige an Hawai dachten. Zunächst
wollte man mal mit eigenen Augen sehen, wie es „drüben“ ist. Diese
Wendung ist oft zu hören. Das konnte, aber musste nicht
Verwandtenbesuche einschließen. Sowohl für Kurzreisende wie
Urlaubsreisende aus dem Osten wurden die „alten Bundesländer“
unmittelbar nach dem Beitritt ein beliebtes Reiseziel. So unternahmen
1994 71% der Ostdeutschen (aber nur 62% der Westdeutschen) eine
Kurzreise innerhalb des Landes, wobei 65% der Ostler zu einem Besuch
bei Verwandten und Bekannten aufbrachen (gegenüber 48% der
Westdeutschen).[27]
Bei den Haupturlaubsreisen bescherten 1990 vermutlich vor allem die
Ostdeutschen dem Inlandstourismus einen Anstieg auf 40% (nachdem dessen
Anteil 1989 noch bei 29% gelegen hatte).[28] Genaueres ist den
Berechnungen von Heike Bähre zu entnehmen. Danach reisten 1990 33,7%
und 1991 34,7% Ostdeutsche während des Urlaubs in die alte
Bundesrepublik (Anteil an allen Reisen). Das waren um die 4 Millionen
Menschen, eine Zahl, die nach 10 Jahren auf 1,8 Millionen gesunken war.
Diesem Negativsalto steht ein Positivsaldo bei den Westdeutschen
gegenüber (und zwar zu Lasten des Inlandstourismus mit Zielen im
Westen). So verbrachten im Jahre 2000 2,4 Millionen Ostler, aber 3,2
Millionen Westdeutsche einen Urlaub auf dem ehemaligen Gebiet der
DDR.[29] Geradezu dramatisch war der Rückgang der inländischen
Reiseziele für die Ostdeutschen (von 9,9 Millionen im Jahre 1990 auf
6,3 Millionen im Jahre 1991 und 4,3 Millionen im Jahr 2000).
Was sagt uns das über das Reiseverhalten der Ostdeutschen und den Ruf nach Reisefreiheit?
Ein vergleichender Blick auf die Urlaubsreisen vor 1990 könnte
Aufschluss geben. Danach reisten bekanntlich 1968 zum ersten Mal mehr
Bundesbürger zum Urlaub ins Ausland als in heimische Gefilde. Bis 1989
verloren Reiseziele im Inland ständig an Attraktivität und lagen um
30%.[30] Ein Blick auf die Berechnungen von Heike Bähre zeigt, dass die
DDR-Bürger dagegen ihren Urlaub mehrheitlich im Inland verlebten.[31]
Auch die folgende Kritik dieser Zahlen ändert daran grundsätzlich
nichts.
Zunächst einige Ergänzungen. Seit Jahrzehnten, auch schon in der
DDR, wurde versucht, den Anteil von gesellschaftlich und individuell
organisierten Reisen zu erfassen und zu quantifizieren. Von der
Statistik nicht erfasste Privatreisen wurden dabei durch Umfragen
erhoben, allen voran vom Leipziger Institut für Marktforschung, von der
Verkehrshochschule Dresden und dem Leipziger Institut für
Jugendforschung. Im Ergebnis gibt es mehr oder weniger begründete
Schätzungen über das Ausmaß des Auslandsurlaubs.
Cornelia Dahrendorf spricht in ihrer Dissertation für 1980 von 6, 2
Millionen Inlandsurlaubern und 1,2 Millionen Auslandsurlaubern. Von
letzteren seien 44% organisiert gereist, knapp 56% auf eigene
Faust.[32] Die Möglichkeiten, pauschal oder individuell ins RGW-Ausland
reisen zu können, unterlagen ökonomischen und politischen Konjunkturen.
So brach nach 1968 der Reiseverkehr mit der CSSR und nach 1981 mit
Polen für einige Zeit ein. Bezogen auf den Zeitraum nach 1965 machten
sich aber vor allem ökonomische Probleme bemerkbar. So erreichte der
Bulgarien-Tourismus 1975 mit 31 000 Pauschalreisen einen Höhepunkt, der
bis 1988 nicht mehr erreicht wurde. Stattdessen lockte der „europäische
Badestrand von seltener Schönheit“ westliche Urlauber an, die „große
Preisvorteile durch besonders günstigen Wechselkurs“ genießen konnten,
wie es schon in den sechziger Jahren in einem Werbeprospekt hieß.[33]
Dagegen verzehnfachten sich Reisen in die UdSSR. Schon 1965 reisten 450
000 Urlauber pauschal in die CSSR, die wichtigstes Reiseziel blieb. Für
den RGW insgesamt gelang in 24 Jahren nur eine Verdopplung der
Reisezahlen, die vor allem auf Zuwächsen zwischen 1970 und 1975
beruhte.[34] In dieser Hinsicht verlief die Entwicklung in Ost und West
parallel. Mit anderen Worten, interpretiert man die erwähnten
Steigerungsraten im Auslandstourismus als Reaktion auf wachsende
Bedürfnisse, so konnten die Ostdeutschen zu Beginn der 1970er Jahre
noch eine ständige Ausweitung der Möglichkeiten erleben.[35] Trotz der
folgenden relativen quantitativen Stagnation verfügten 1989 die
jüngsten Kohorten über vielfältige Erfahrungen mit Auslandsreisen. So
gaben in einer Untersuchung des Leipziger Instituts für Jugendforschung
nur 2% der befragten Studenten an, ihre Ferien noch nie im Ausland
verbracht zu haben (im Gegensatz zu 25% der jungen Facharbeiter).
Immerhin ein Viertel der Studierenden hatte schon 10mal und mehr Urlaub
im Ausland verlebt, bei den Facharbeitern 50% zwischen zwei- und
5mal.[36]
Eine vorsichtige Interpretation dieser und anderer Daten ergibt,
dass die kulturellen Lernprozesse[37] in Bezug auf den
Auslandsaufenthalt schon in der DDR stattfanden (ich folge hier der
Einschätzung von Heike Wolter). Reisen in die CSSR gehörte, wenn man
Tagesfahrten und Kurzreisen einbezieht, zum Alltagstourismus, auch für
Reisen in die Sowjetunion oder nach Ungarn, Polen und Bulgarien dürfte
das gegolten haben. Diese Lernprozesse begann schon Ende der 1950er
Jahre, erreichten ihre erste Hochphase aber wohl erst Anfang der 70er.
Mit anderen Worten, waren (wenn man die seltenen und teuren Ziele wie
Ägypten, Kuba oder Vietnam vernachlässigt), gegen Ende der DDR die
Destinationen für viele „ausgereizt“? War es langweilig geworden, zum
fünften Mal nach Bulgarien oder Ungarn zu reisen? Zeitzeugen bestärken
diese Vermutung. Sie wollten mal woanders hin.
Gegen eine solche Interpretation spricht ein Blick auf die
westdeutschen Hauptreiseländer wie auch auf Reisegewohnheiten.[38] Der
Kreis der beliebtesten Urlaubsländer ist klein, lagen 1970 Österreich
(15%), Italien (12%) und Spanien (5%) vorn, so waren es 1988 Spanien
(12%), Italien (11%), Österreich (8%) und Frankreich (7%). Fernreisen
hatten 1970 einen Anteil von 1%, 1988 von 10%.[39]: Bis weit in die
70er Jahr war Ausland wesentlich deutschsprachiges Ausland, wenn die
hier nicht genannte Schweiz hinzugefügt wird und mit Südtirol eine in
Italien gelegene deutschsprachige Region. Vergleicht man das nun mit
der DDR, dann könnte neben der mythologisierten Rede von der
Reisefreiheit, die ja nicht nur die Urlaubsreise meinte, eine andere
Entwicklung bedeutsamer gewesen sein. Das Reisebüro der DDR war
schlicht nicht in der Lage, den Bedarf an Pauschalreisen zu
befriedigen. Der große „Run“ auf die Pauschalreise begann in
Deutschland nicht mit Neckermann, sondern mit dem Aufstieg des
Spanienurlaubs. Die „Haupturlaubsreise“ wurde 1970 noch von 87% als
Individualreise organisiert, bis 1978 war dieser Anteil auf 75%
gesunken. Im Jahre 1988 waren schon 39% „Veranstalterreisen), 1994 war
mit 47% fast Parität zu den Individualreisen erreicht.[40] Billiger
Pauschalurlaub, Hotelaufenthalt, Flugreise und die „Germanisierung“
Mallorcas bildeten wohl ein Syndrom, dessen Auswirkungen auf die
Vorstellungen vom „richtigen Urlaub“ noch zu prüfen sind. Jedenfalls
wünschten sich 1977 in der DDR 58 % der Befragten für ihren
potentiellen Auslandsurlaub eine organisierte Reise, nur 27 %
präferierten eine individuelle.[41] Man wollte ohne großen Aufwand
reisen, auch der Auslandsurlaub war ein normales Konsumgut geworden,
für das gelten sollte: Geld gegen Ware. Auch das war mit „Visafrei nach
Hawai“ gemeint. Zudem bedeuteten sprachliche Barrieren ein zusätzliches
kulturelles Hindernis für private Reisen, doch darüber ist bisher wenig
bekannt.
Zu klären ist auch, inwieweit für die Perspektive der Ostdeutschen
und den Wunsch, nun endlich mal andere Länder zu sehen, das Bewusstsein
bedeutsam gewesen ist, bisher nicht an den „richtigen“ Destinationen
gewesen zu sein. Das hat eine eindeutig distinktive Komponente. Der
Ärger der Ostdeutschen in Bulgarien könnte so eine Erklärung finden.
Zwar werden entsprechende Äußerungen von Zeitzeugen immer am Geld
festgemacht. Viel wichtiger dürfte aber gewesen sein, dass ein
DDR-Lehrer mit einem westdeutschen Arbeiter nicht nur konkurrieren
musste und verlor, sondern dass man sich überhaupt am selben Ort
aufhalten musste.
Die in der Literatur kolportierte Vorstellung, Italien sei das
Sehnsuchtsziel der Ostdeutschen könnte hier ihre Wurzel haben. Bestärkt
wird sie durch Menschen wie Klaus Müller, der 1988 auf den Spuren
Seumes nach Syrakus „wanderte“.[42] Verallgemeinerbar ist das
allerdings nicht. Zumindest für die überwiegende Mehrheit gehörte
Italien (auch nicht seine Mittelmeerküste) nicht zu den geplanten
Reisezielen. Prozentual nur jeweils halb so viele Ostdeutsche wie
Westdeutsche äußerten 1994 Interesse daran, „ziemlich sicher“ oder
„“wahrscheinlich“ in Italien am Mittelmeer, in den Alpen oder im
Binnenland Urlaub machen zu wollen. Italien lag für die Ostdeutschen
etwa gleichauf mit den Balearen, Griechenland, Ungarn und der
ehemaligen CSSR.[43]
Seinen mythischen Überschuss und die damit intendierten Bilder hat
der Topos von den durch Reisefreiheit in Gang gesetzten Reisewellen
allerdings bis heute nicht verloren. Auch im wissenschaftlichen Feld
zeigt er seine Macht - wie ist die oben zitierte Überlegung von
Christopher Görlich sonst zu verstehen. Danach hätten die DDR-Bürger ab
1990 nachgeholt, was schon für die Westdeutschen nicht nachweisbar ist:
nämlich Italien zu überschwemmen. Nun sind aus kulturgeschichtlicher
Sicht nicht nur Fakten, sondern auch Wahrnehmungen interessant. Doch
auch Wahrnehmungen bewegen sich nicht im Ungefähr. Für die Wirksamkeit
des Mythos, für die alltägliche Vorstellungswelt der Menschen könnte
das Stereotyp oder Phantasma von Italien als „Sehnsuchtsland“ eine
Rolle gespielt haben und spielen. Auch die Rede vom „Land, wo die
Zitronen blühen“ ist älteren Bildungsbürgern noch gegenwärtig. Doch ist
nicht erwiesen, ob sie jemals über enge soziale Grenzen hinaus bekannt
und wirksam gewesen ist. Die Mehrheit der westdeutschen Italienurlauber
bewegte sich ja nicht auf den klassischen Reiserouten, sondern sonnte
sich am Strand von Rimini, eben am „Teutonengrill“. Sie bereiteten
jenes „sun, sand, sea and sex“ vor, mit dem Reiseveranstalter heute
nicht mehr eine Destination, sondern ein Syndrom aus Urlaubswunsch und
Realisierung bezeichnen, dass an jeder warmen Küste stattfinden könnte.
Das schwebte wohl auch vielen Ostdeutschen vor, die sich diesen Wunsch
allerdings nur am „Goldstrand“ erfüllen konnten.
Anmerkungen
[1] Hachtmann, Rüdiger: Tourismusgeschichte – ein Mauerblümchen mit
Zukunft! Ein Forschungsüberblick,
hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-10-001, S.1.
[2] Spode, Hasso: Der Aufstieg des Massentourismus im 20.
Jahrhundert, in: Haupt, Heinz-Gerhardt; Torp, Claudius (Hg.): Die
Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch,
Frankf.a.M./New York 2009, s. 114-130.
[3] Hachtmann, Rüdiger, a.a.O., S. 21.
[4] Wolter, Heike: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die
Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankf.a.M./New York 2009, S. 46.
[5] Hachtmann, Rüdiger, www.sehepunkte.de/2010/05/17252.html.
[6] Görlich, Christopher: Urlaub vom Staat. Zur Geschichte des
Tourismus in der DDR, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische
Studien, Nr. 38/39 Dezember 2007/Januar 2008, S. 64.
[7] Ebd.66.
[8] Schaufuß, Thomas: Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR. Sozialtourismus im SED-Staat, Berlin 2011.
[9] Dahrendorf, Cornelia: Die Befriedigung des Bedürfnisses nach
Urlaubstourismus in der sozialistischen Gesellschaft,
Martin-Luther-Universität Halle/S.-Wittenberg 1983, Dissertation A, 150
Blatt.
[10] Appelius, Stefan: Das Reisebüro der DDR, Deutschland Archiv
Online (2011)7, www.bpb.de/themen/49F9X5,0,Das Reisebüro_ der_ DDR.html
[11] Sönke Friedreich: Urlaub und Reisen während der DDR-Zeit.
Zwischen staatlicher Begrenzung und individueller Selbstverwirklichung,
Dresden 2011.
[12] So in den einschlägigen Beiträgen in „Endlich Urlaub“. Die Deutschen reisen, Bonn 1996.
[13] Spode, Hasso: Der Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 123f..
14 Hobusch, Erich: Proletarische Gesellschaftsreisen mit dem
Motorkabinenschiff „Baldur“ um 1930, in: Spode, Hasso (Hg.): Zur Sonne,
zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991, S. 71-78.
[15] Spode, Hasso: Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003, S. 36.
[16] Ebd, S. 72.
[17] Schumacher, Beatrice: Ferien. Interpretationen und
Popularisierung eines Bedürfnisses Schweiz 1890-1950, Wien/Käln/Weimar
2002.
[18] Keitz, Christine: Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München 1997, S. 336.
[19] Wiegand, Guido; Schrader, Rolf und Lohmann, Martin: RA 2011. Erste Ergebnisse, ITB Berlin, März 2011.
[20] Stellvertretend hierzu die langjährigen Forschungen von Dieter
Kramer: Tourismus-Politik. Aufsätze aus 12 Jahren Tourismus-Diskussion,
Münster 1990.
[21] Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu
einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben
1950-1990, Hamburg 2003, S. 129.
[22] Grundmann, Siegfried: Der DDR-Alltag im Jahre 1987.
Dargestellt auf der Grundlage der soziologischen Untersuchung
‚Sozialstruktur und Lebensweise in Städten und Dörfern’ aus dem Jahre
1987, in: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR- Analysen eines
aufgegebenen Staates, Berlin 2001, S. 151.
[23] Scheuch, Erwin K.: Soziologie der Freizeit, in: König, René
(Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 11: Freizeit,
Konsum, Stuttgart 1977, S. 125.
[24] Spode, Hasso (Hg.: Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- Und
Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989, Berlin
1996
[25] Siehe die entsprechenden Kapitel bei Pagenstecher (a.a.O.).
[26] Manning, Till: Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren. Göttingen 2011.
[27] Aderhold, Peter: Urlaub und Reisen. Die Reiseanalyse.
Urlaubsreisen 1970-1994. Ausgewählte Zeitreihen, Forschungsgemeinschaft
Urlaub und Reisen e.V. 1996, Tabelle 15.
[28] Ebd., Tabelle 3.
[29] Bähre, Heike: Tourismuspolitik in der Systemtransformation.
Eine Untersuchung zum Reisen in der DDR und zum ostdeutschen Tourismus
im Zeitraum 1980 bis 2000, Berlin 2003, Tabelle 6.3, S. 430.
[30] Siehe z.B. die schon zitierte RA 2011.
[31] Bähre, Heike, a.a.O., S. 270.
[32] Dahrendorf, Cornelia, a.a.O., S. 111.
[33] Endlich Urlaub, a.a.O., S. 81.
[34] Wolter, Heike, a.a.O., S. 147.
[35] Immer wieder ist darauf hinzuweisen, dass diese organisierten
Reisen nur einen Teil der Auslandsreisen ausmachten. So wird für 1983
eine Zahl von fast 4,4 Millionen Individualtouristen mit Reiseziel CSSR
und knapp 108 000 mit Reiseziel Ungarn angegeben. Das wären für die
CSSR das 5-6fache der Pauschaltouristen, nach Ungarn wären genauso
viele Urlauber pauschal wie individuell gereist. Allerdings sind die
Zahlen nicht wirklich vergleichbar, da bei den Individualtouristen
nicht angegeben wird, wie lange ihre Reise dauerte. Für die CSSR kommen
allerdings Tagesfahrten und Kurzreisen eher in Betracht als für Ungarn.
Zu den Zahlen siehe: Müller, Claudia Andrea: Teure Touristen, in:
www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2008-2009/heft-64/06408/.
[36] Schmidt, Harald: Der deutsche Jugend-Tourist.
Jugendsoziologische Studien über Reiseinteressen und –tätigkeiten
junger Leute aus Ost- und Westdeutschland 1989/90, Berlin 1990.
[37] Zu den genannten Lernprozessen gehörte auch ein gewachsenes
Qualitätsbewußtsein. Lärm und Dreck am Urlaubsort wollten auch die
DDR-Bürger nicht mehr hinnehmen. Hier entwickelte sich ein Potential
für Unzufriedenheit (möglicherweise mit der Erwartung, im „Westen“ gebe
es so etwas nicht), das bisher ebenfalls kaum untersucht ist. [38] Auf letztere kann ich hier nur hinweisen. Zahlreiche
Urlauber fahren oft über Jahre, ja sogar Jahrzehnte in dieselbe Region,
auf denselben Campingplatz, in dieselbe Pension. [39] Aderhold, Peter, a.a.O., Tabelle 5.
[40] Ebd., Tabelle 10.
[41] Dahrendorf, Cornelia, a.a.O., S. 111.
[42] Großmann, Margita: „Boten der Völkerfreundschaft“?
DDR-Urlauber im sozialistischen Ausland, in: Endlich Urlaub, a.a.O. S.
91f.
[43] Aderhold, Peter, a.a.O., Tabelle 8.
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