Thema | Kulturation 2/2007 | Film- und Fernsehgeschichte | Lutz Haucke | Kinofilmkunst und Sozialismus 1960 – 1970:
Nouvelle Vague in Ostmittel- und Südosteuropa?
| In einer
Reihe von europäischen sozialistischen Ländern fand in den sechziger
Jahren ein Aufbruch einer neuen Generation von Spielfilm- und
Dokumentarfilmregisseuren statt. Im Zuge der Modernisierungsprozesse
des Sozialismus entwickelten sich Intellektuellenkulturen, die
Hochkunstentwicklungen des Kinofilms mit neuen Ansprüchen – kritischen
und utopischen - an die Öffentlichkeit und die sozialistische
Demokratie verbanden. Diese Entwicklungen – so spezifisch sie auch mit
den sozialistischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern
verknüpft waren – haben oftmals am Anfang Impulse von den
westeuropäischen „Neuen Wellen“ angenommen. Der Filmhistoriker sieht
sich heute mit einem reichen Material zu Ostmittel- und Südosteuropa
konfrontiert, das den Schluss zulässt, dass es hierbei nicht nur um
Rezeptionen von Stilen, Besetzungsstrategien und Inszenierungsmethoden
ging, sondern um einen tief greifenden Wandel von
Intellektuellenkulturen in West- und in Osteuropa.
„Neue Wellen“ – ein gesamteuropäisches Phänomen der Intellektuellenkulturen verschiedener Staats- und Gesellschaftssysteme?
Für die neuere europäische Filmgeschichte ist bedenkenswert,
dass eine kurzzeitige Periode der Hochkunstentwicklung zwischen 1959
und 1963 in Frankreich (Nouvelle Vague), zwischen 1963 und 1969 in der
ČSSR - auch in Ungarn - zwischen 1962 und 1964 in England (Free
cinema), 1966-1968 in der BRD (Neuer deutscher Film) auszumachen ist.
Dem war vorangegangen seit 1956 die Polnische Schule (Andrzej Wajda,
Andrzej Munk), die in den 60er Jahren durch eine neue Generation
Zuwachs erfuhr (Roman Polański, Jerzy Skolimowski, Krzysztof Zanussi,
Krzysztof Kieślowski u.a.). Unabhängige Gruppen in den 60er Jahren wie
die Genfer Group de 5, die Scorpio-Gesellschaft Amsterdam, die Kestrel
Films von Ken Loach in England oder die Filme von Bo Widerberg und Jan
Troell in Schweden, Dušan Makavejev in der Belgrader Schule und andere
sind Ausnahmen. Trotzdem können wir an ihrer Sensibilität und
Innovationskraft Indikatoren für Wandlungen im Modernediskurs in Europa
in den 60er Jahren erkennen. Filmgeschichtliche Phänomene „Neuer
Wellen“ sind auch in den südlichen cross-cultural-Zonen in Europa zu
dieser Zeit auszumachen(Griechenland: Theo Angelopoulos; Türkei: Yilmaz
Güney; Israel: Uri Zohar, Yitzhak Yeshurun, Avraham Haffner; Ägypten:
Yussef Chahine; Maghreb: Mohamed Lakhdar-Hamina, das algerische „Sinima
Djidid“; Georgien: die Tifliser Schule mit Sergej J. Paradshanow und
Tengis Abuladse, im Iran Darius Mehrjuis).
In diesen 60er Jahren beginnt das Fernsehen in Europa als eine
neue Institution der Massenkultur die Zuschauer zu umwerben. Der
TV-Journalismus und seine Konventionen in Magazinen, die Shows und
Talks bilden eine Ergänzung der Massenkultur der Genres des
kommerziellen Kinofilms in Westeuropa. Die Fernsehfilmproduktion bringt
in Osteuropa ein Aufleben propagandistischer Funktionen und eine
weitere kulturpolitische Vulgarisierung des sozialistischen
Realismuskonzepts. Die Gegensätze zwischen dem politischen
Gebrauchswert journalistischer Sendungen und dem Kunstwert des neuen
Dokumentarfilms (cinema vérité, cinema direct und ihre Rezeption im
Ostblock) beeinflussen auch die weitere Entwicklung des
Spielfilmschaffens in Ost- und Südosteuropa.
M. Hendrykowski schreibt deshalb: „In Ostmitteleuropa lässt
sich besonders der Spielfilm durch dokumentarische Präzision sowie
Realitätsnähe charakterisieren, auf deren Basis er dann als Instrument
sozialer Diagnose fungieren kann.“/1/
Junge europäische Regiegenerationen beginnen in diesen Jahren
die Erneuerung des Cinema, seiner intermedialen Techniken, seiner
Dramaturgien, seiner Öffentlichkeits- und Kritikpotentiale.
Re-Episierung, Dialogisierung und ein freier Umgang mit der epischen
Literatur, mit der misé-en-scéne des Theaters, mit Zeitstrukturen der
Erzählung waren charakteristische Merkmale dieser Entwicklung.
Während in Westeuropa die Nouvelle Vague bereits die Krise der
Moderne signalisierte, waren die Neuen Wellen in Osteuropa der Versuch
von Intellektuellen in den 60er Jahren, das klassische Moderneprojekt
mit dem Beharren auf dem Humanismus und einer Reform des Sozialismus zu
verbinden. Das intermedia screening der osteuropäischen Neuen Wellen
folgte zu diesem Zeitpunkt weitgehend einem Hochkunstkonzept - im
Rahmen einer Kultur für die Massen, einer Massenkultur, die eine Utopie
war und die letztlich als Gegenentwurf zu westlichen Modellen der mass
culture verstanden werden sollte.
I. Welche Publikationen liegen vor?
Für den Stand der Forschung in Europa kann festgestellt werden, dass
einzig Pierre Sorlins Versuch einer übergreifenden europäischen
Darstellung vorliegt(1991) /2/, der aber eine eingegrenzte europäische
Geschichts- und Länderdarstellung geltend macht. Sorlin folgt dem
überkommenen Blickfeld der Entwicklung klassischer Filmländer
Westeuropas (vor allem Italien, Frankreich und die Wirkung Hollywoods
auf Westeuropa). Nach wie vor dürfte davon ausgegangen werden, dass die
europäische Filmgeschichte 1960 bis 1970 defacto von europäischen
Filmzeitschriften und ihren Autoren geschrieben wurde (Cahier de cinem; positif, Sight and Sound; filmschnitt Blimp; Filmkritik u. a.).
Führend in Bezug auf die osteuropäische Filmgeschichte ist seit
den siebziger Jahren die angloamerikanische Literatur, die sich durch
umfassende Überblicksdarstellungen der Regieentwicklungen und Werke
auszeichnet und sowohl den politischen als auch institutionellen
Rahmenbedingungen viel Aufmerksamkeit schenkte./3/
Ein übergreifender Versuch zur ost- und südosteuropäischen
neueren Filmgeschichte wurde seitens der italienischen
Filmgeschichtsschreibung unternommen (1987)./4/
Eine erste deutschsprachige Bestandsaufnahme zu neueren
Entwicklungen in den Balkanländern ist von der Edition Blimp (Graz,
1996) initiiert worden./5/
Allerdings sind bedeutende angloamerikanische
Übersichtsdarstellungen zu einzelnen Balkanländern seit den achtziger
Jahren erschienen./6/
Insgesamt haben - befördert durch den 100.Jahrestag der
Kinematografie (1995) - national orientierte Forschungen Ende der 80er
und in den 90erJahren zu bedeutenden Gesamtdarstellungen geführt, wobei
in Bezug auf die Neuen Wellen die Aufmerksamkeit für die
westeuropäischen Länder – insbesondere Frankreich auch Italien und BRD
bislang in der BRD stärker ausgeprägt ist als für Ost- und
Südosteuropa. Fast nichts ist bekannt im Westen über filmgeschichtliche
Forschungen seit den neunziger Jahren in Bulgarien, ČSSR, Polen,
Rumänien und Ungarn sowie in Bosnien-Herzogowina, Kroatien, Serbien,
Slowenien.
Der Stand der publizierten Forschungen zur neueren
europäischen Filmgeschichte (seit 1959 im Westen) weist folgende offene
Felder aus:
(1) Die französische Nouvelle Vague erfuhr die meiste Aufmerksamkeit, aber ihre Rezeption in Gesamt-Europa ist kaum erforscht.
(2) die kulturelle Komparatistik, die für die
Filmhistoriographie notwendig wäre, ist nur in vereinzelten
motivgeschichtlichen Studien zu entdecken./7/
Einen ersten Anfang in Bezug auf eine Gesamtschau der
europäischen Neuen Wellen der sechziger Jahre versuchte die
Retrospektive der Berlinale 2002./8/
Allerdings ist der Fortschritt von der Bestandsaufnahme der
Regisseure und Werke zur vergleichenden Untersuchung der Entwicklungen
in verschiedenen europäischen Kulturzonen (Nord-, Süd-, West- und
Osteuropa) bislang nicht vollzogen worden. Eine Öffnung der
filmwissenschaftlichen Fragen zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen wäre
dazu notwendig. Eine Vorgehensweise, die in der deutschen
Filmwissenschaft beispielsweise eine Annäherung an die Cultural Studies
einschließen könnte, was aber noch weitgehend vermieden wird, da die
allgemeine Wende zur Medienwissenschaft in Deutschland seit den
endneunziger Jahren die filmhistoriographische Forschung ins Abseits
gedrängt hat..
(3) Es gibt publizierte Forschungsergebnisse und Kataloge von
Retrospektiven zu einzelnen ost- und südosteuropäischen Neuen Wellen
(Tschechische Neue Welle /9/, Novi film /10/ u. a.), aber eine
gesamteuropäische Sicht auf den Aufbruch neuer Regiegenerationen an der
Schwelle der 60er Jahre ist bislang noch nicht angegangen worden. Um
der Vielfalt der Entwicklungen gerecht zu werden, ist ein „weiter“
Europa-Begriff notwendig. Von den Gruppenentwicklungen und Schulen her
ist es angebracht, auch den Randzonen Europas (insbesondere des
mediterranen Gebietes, auch des Schwarzmeergebietes bis Georgien)
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Völlig ausgeklammert in Bezug auf Ost- und
Südosteuropa sind bisher Bestandsaufnahmen für Albanien, die Baltischen
Republiken (Estland, Litauen, Lettland), Moldawien, Ukraine,
Weißrussland.
Die von Kristin Thompson und David Bordwell veröffentlichte
FILM HISTORY. AN INTRODUCTION (1994) /11/ berücksichtigt einzelne
Regisseure der osteuropäischen und südosteuropäischen Filmgeschichte
des Ostblocks nach 1945 und seit den 60er Jahren, wertet aber die
Entwicklung der UdSSR als bedeutendste Studioproduktion im Osten ohne
die Entwicklungen nicht weniger kleiner Länder des Ostblocks zu
berücksichtigen. Ein weiteres Beispiel – krasser - ist FISCHERS
FILMGESCHICHTE(1992), dessen Werkauswahl Band 4 unter der Überschrift
„Zwischen Tradition und Neuorientierung (1961-1976)“ Bulgarien, ČSSR,
Jugoslawien, Polen, Rumänien, Ungarn in diesem Zeitraum ignoriert. /12/
Zugespitzt kann festgestellt werden, dass der Mainstream der
filmwissenschaftlichen Forschung und der Publikationen in der BRD im
letzten Jahrzehnt die Neuen Wellen in Ost- und Südosteuropa in den
sechziger Jahren weitgehend dem Vergessen anheim gegeben hat.
Als Versuche, dem entgegen zu steuern, können meine Publikationen angesehen werden:
Lutz Haucke: Projektplanung zur „Europäischen Filmgeschichte“.
In: Film- und Fernsehwissenschaftliche Mitteilungen der Gesellschaft
für Film- und Fernsehwissenschaft e.V. Nr.1/’96, S.25-27.
Lutz Haucke: Europäische Regiegenerationen im Aufbruch. Neue
Wellen in Europa in den 60er und 70er Jahren in Ost und West. In: Lutz
Haucke: Film – Künste – TV-Shows. Film- und fernsehwissenschaftliche
Studien 1978-2004.
Rhombos: Berlin 2005, S.83-103.
Lutz Haucke: Europäische Rückblendendramaturgien in den 60er Jahren in Ost und West. Ebd., S.105-131.
II. Gesamteuropäische Sicht und Neue Wellen in Ost- und Südosteuropa -
Modernisierung und filmhistoriographische Komparatistik
Die französische Nouvelle Vague wurde zum Modell, zum
Bezugspunkt, obwohl sie selbst sehr unterschiedlich war (und außerdem
A. Resnais zum „Rive gauche“ zählte, zur Gruppe der Cineasten, die aus
dem Pariser Verlagswesen hervorgegangen war).
Die Viennale hat in den 90er Jahren bedeutende Retrospektiven
veranstaltet, die neben der Nouvelle Vague auch den Neuen deutschen
Film der sechziger Jahre berücksichtigten:
- Frieda Grafe (Hg.): Nouvelle Vague. Ein Projekt von hundertjahrekino, Viennale und Filmcasino, Wien 1996.
- Viennale special (Hg.): Filme aus der BRD 1964-76. Nicht versöhnt. Ein Projekt von VIENNALE und Filmcasino Wien, Wien 1997.
- That magic Moment. 1968 und das Kino. Eine Filmschau. Ein Projekt von VIENNALE und Stadtkino, Wien, 26.Mai bis 9.Juni 1998.
- Jean-Luc Godard. Eine Retrospektive der VIENNALE in
Zusammenarbeit mit dem österreichischen Filmmuseum.1.-31.Oktober 1998.
Eine Textauswahl zusammengestellt von Astrid Ofner, Wien 1998.
Es ist außerdem das Verdienst der Viennale, Retrospektiven zum
jugoslawischen Film (1993) und zu den Filmen des Prager Frühlings
(1998) durchgeführt zu haben.
Der französischen „film-noir“ - Rezeption der Nouvelle Vague
wird im Ostblock nur bedingt gefolgt. Wichtig dürften folgende
Besonderheiten im Osten sein:
- die Entwicklung einer Kinokonzeption des Autorenfilms
(„cinéma des auteurs“), d.h. eine relative Abgrenzung von der
Entscheidungsmacht in den Hierarchien großer Studios seitens der
Regisseure, die oftmals auch die Drehbücher selbst entwickelten;
- die modifizierte Übernahme der für die französische
Entwicklung charakteristischen Nähe zur Literatur, zur Epik aber in je
nationalen Literaturrezeptionen osteuropäischer Kinematographien;
- neue Kameratechnologie, das Arbeiten mit lichtempfindlichem
Filmmaterial, improvisierte Lichtgestaltung; andererseits bei größeren
Studioproduktionen Übergang zum Magnettonverfahren und Cinemascope;
Erneuerung des Farbfilms;
- neue Stars und Figurenkonzepte für „drop-outs“
- wenn auch nicht in Frankreich so insbesondere in der BDR, der
DDR und in Ostblockstaaten: Generationskonflikte, Wandel der
Rollenbilder von Mann und Frau und im Zuge des Modernisierungsschubes
durch die wissenschaftlich-technische Revolution kritische Sicht auf
Rollendefinitionen in der Wirtschaft, in der Justiz und im
Parteiapparat.
- Die ästhetischen Prämissen divergieren zwischen Ost und West
beträchtlich (nicht die Hollywood-Auseinandersetzung in der Genrefrage,
striktere Nähe zur Nationalgeschichte, zu öffentlichkeitsrelevanten
Themen im Osten, darauf bezogene Literaturverfilmungen; wobei im Osten
zwei Dinge verflochten sind: Generationskonflikte und Staatsfrage).
Deshalb ist es sinnvoll, dass die Gemeinsamkeiten in den, wenn auch von
den Rahmenbedingungen verschiedenen Staatssystemen, in kulturellen
Wandlungen gesucht werden - also im Modernisierungsschub (der in West-
und Osteuropa unterschiedlich bewältigt wurde).
In den siebziger Jahren wurde die westeuropäische Entwicklung
in der filmhistoriographischen Literatur favorisiert. Eine etwas
modifizierte Ansicht war die von James Monaco (1976): „Die Regisseure
der Nouvelle Vague brachten einen verschiedenen kulturellen Hintergrund
in ihrem Werk zum Tragen ebenso wie eine hoch entwickelte Filmtheorie.
Das Phänomen der Nouvelle Vague würde nicht möglich gewesen sein, wenn
sie nicht zusammengetroffen wäre mit einer Revolution der
Filmtechnologie. Es war – nach alledem - eine technologische
Möglichkeit mit der ‘schreibenden Kamera’(‘Caméra-Stylo’), dem
Instrument ihrer Kunst, die dazu führte, dass von der Praxis der
Theorie in den 50er Jahren eine Wende hin vollzogen wurde zu einer
Theorie der Praxis in den 60er und 70er Jahren. Schnelle filmstocks,
lichtempfindliche Kameras, neue Licht-Equipments und die Befreiung von
Hollywood hatte dies alles impliziert und machte den Caméra-Stylo zu
einer Realität in den späten 50er und frühen 60er Jahren- nicht nur in
Frankreich, aber insbesondere hier. Diese Bewegung war errichtet worden
in Schweden (Bergman), in Italien (Fellini und Antonioni), in England
(wo die zornigen jungen Männer vom Theater zum Film drängten und das
Free Cinema gründeten...).“ /13/
In der Filmhistoriographie der 90er Jahre hat sich die
Erkenntnis immer mehr durchgesetzt, dass die Ausschließlichkeit der
französischen Nouvelle Vague nicht verabsolutiert werden sollte. Es ist
das Verdienst von Kristin Thompson und David Bordwell, dass sie in
ihrer „Film History. An Introduction“ (1994) eine gesamteuropäische
(und außerdem Japan einbeziehende) Sicht für die Neuen Wellen
(1958-1967) geltend gemacht haben. /14/
Der Herausgeber der Oxforder Filmgeschichte (1996) Geoffrey
Nowell-Smith verfolgt mit seinem Darstellungsprinzip in erster Linie
nationale Entwicklungen und betont nicht das gesamteuropäische Phänomen
der Neuen Wellen bzw. die Unterschiede zwischen Ost und West. Die
Modernisierungsschübe in den west- und osteuropäischen Staaten werden
mit den Neuen Wellen nicht im Zusammenhang gesehen. /15/
Die Nouvelle Vague und Chris Markers cinema verité haben den
Aufbruch der neuen Regiegenerationen in der ČSSR (M. Forman, V.
Chytilová, J. Menzel u.a.), in Ungarn(A. Kovacz, I. Szabó), Polen (R.
Polanski, J. Skolimowski, K. Zanussi), in Rumänien (L. Pintiliei) und
partiell in der DDR (J. Böttcher, E. Günther u.a.) befördert. Die
italienischen Entwicklungen der 60er Jahre (P. Pasolini, B. Bertolucci,
F. Fellini) haben auf die Ungarn (M. Janscó), auf die Bulgaren (Christo
Christow, Bianka Sheljaskowa) gewirkt.
Die These ist die, dass in Ost und West der Aufbruch neuer
Generationen (die neuen Regiegenerationen inbegriffen) einherging mit
einem tief greifenden Prozess der Modernisierung (dies betraf den
Wandel der Wirtschaftsstrukturen im Zuge der
wissenschaftlich-technischen Revolution, dies betraf politische
Systemstrukturen: Demokratie im Osten und im Westen Wandel der
Geschlechterbeziehungen, Wandel des Bildungssystems und um 1968/69 der
Versuch einer „linken Revolution“ quer durch die Institutionen der
parlamentarischen Demokratien). Diese Prozesse des
Modernisierungsschubs wurden in dem dynamischeren westlichen
Gesellschaftssystem progressiver gelöst als im Ostblock. Klassische
Eckdaten im Osten sind: die erneute Bürokratisierung in der
Breshnew-Ära nach 1964/65 und ihre Auswirkungen auf den Ostblock, das
11.Plenum der SED in der DDR, auf dem politische Machtfragen gegen die
Demokratisierungstendenzen der Künste ausgetragen wurden, und die
militärische Repression des „Prager Frühlings“ (1968). Das trifft auch
die Beograder Schule der 60er Jahre , die im Zuge der Verschärfung der
Zensur des Titosystems in den 70er Jahren endete (1971: innenpolitische
Krise im Gefolge einer nationalistischen Welle in Kroatien, Aufstand
der Studenten von Zagreb und Tito ließ den Partei- und
Regierungsapparat säubern. 1972/75 setzte im Filmwesen eine strengere
Zensur ein. Regisseure z.B. D. Makavejew u.a. verließen Jugoslawien,
andere erhielten Berufsverbote z.B. B. Cegić in Sarajewo.).
Deshalb ist die Frage berechtigt, ob es neben den
Legitimationsdiskursen in sozialistischen Ländern für die Massen im
Ostblock auch subversive Ästhetiken und Dramaturgien, „gegenkulturelle“
Analysen der Geschichte gab, die
a) entweder mit „klassischen“ Genres (Parabeln, Tragödien,
Satiren, Komödien) und hochstilisierten Erzähltechniken (M. Jancsó, S.
Paradshanow, I. Szabó, J. Nemeč, J. Menzel, R. Polanski, J.
Skolimowski, D. Makavejev, L. Pintilei; die Apfeltrilogie der V.
Chytilová u.a.) operierten
b) oder die aus folkloristischen Traditionen und ethnischen
bzw. dörflichen Lebensformen ihre Stories und Bilderwelten schöpften
(z.B. Tifliser Schule mit T. Abuladse, O. Josseliani; die slowakischen
Regisseure St. Uher, D. Hanák, J. Jakubisko; J. Iljenko; der Bulgare M.
Andonow u.a.) oder
c) die sogenannten „Gegenwartsfilme“, die eine operative
öffentlichkeits-funktionale Dramaturgie mit Themen, Stoffen, Figuren
und Konflikten anstrebten, um Entfremdungsphänomene zu kritisieren und
um eine demokratische Erneuerung anzustreben (die Prager Schule mit M.
Forman, J. Jireš, aber auch mit Drahomira Vihanová (*1930), deren
erster Spielfilm EIN TOTGESCHLAGENER SONNTAG / ZABITÁ NEDĚLE,1969,
verboten wurde, Zdeněk Sirový (*1932) und sein verbotener erster
Spielfilm
BEGRÄBNISRITEN 1969; die Beograder Schule; polnische
Gegenwartsfilme wie der verbotene REJS/AUSFLUG von M. Piwoski, 1968/70
oder die ersten von K. Zanussi; die soziologische Schule in Ungarn mit
P. Bascó; einige DEFA-Filme von 1965/66 z.B.: F.Beyers SPUR DER STEINE,
1966).
Man findet alle drei Tendenzen ausgeprägt in der Prager Neuen Welle der 60er Jahre.
Das Verständnis für die Entwicklungen im Ostblock dürfte durch
eine für westliche Kulturen charakteristische Prämisse des Kinos schwer
erschließbar sein: geht man von der Priorität der Marktmechanismen aus,
wird man die Funktionen des Kinos im Ostblock kaum verstehen.
Marktmechanismen und andererseits zentralistisch-demokratische
Kontrolle und Orientierung der Filmproduktion - das sind Gegensätze,
aber anders lässt sich die Bedeutung der Filmkunst als Massenkunst und
ihre Stellung im Öffentlichkeitsverständnis der Ostblockstaaten - bei
aller Verschiedenheit nationaler Bedingungen - nicht erklären.
Einige filmhistoriographische Problemfelder der Neuen Wellen
in Europa in den sechziger Jahren, die komparatistische Studien als
notwendig ausweisen, sollen im Folgenden skizziert werden.
Ausgangspunkt für diese Vorgehensweise ist die Hypothese, dass die
Neuen Wellen in Europa in den sechziger Jahren - insbesondere in
Osteuropa - ohne die Interdependenzen mit verschiedenen Künsten,
insbesondere mit wandelnden Strukturen und Funktionen des Romans, auch
der Bildenden Künste und ihrer medialen Transformationen und der
darstellenden Künste (Dramatik/Schauspiel) nicht ausreichend erfasst
werden können. Das Problem der Intermedialität erwies sich als eine
Folge dieser neuen Wechselbeziehungen der Künste.
Dabei wird der Standpunkt vertreten, dass die Neuen Wellen in
Ost- und Westeuropa nicht in ihren kulturellen Kontexten ausreichend
bestimmt werden, wenn man mit einem von der Literatur- und
Kunstgeschichtsschreibung geprägten Modell des Moderne-Diskurses an
diese Entwicklungen herangeht. Keinesfalls dürften die Entwicklungen in
den ehemaligen sozialistischen Ländern mit der Dichotomisierung von
Avantgarde und Massenkultur bestimmbar sein. Eher handelte es sich um
Aufbrüche neuer Generationen, die Ästhetiken „gegenkultureller
Diskurse“ in einem weit gefächerten Spektrum von Idealen und Werten,
neuen Dramaturgien bis zu neuen Öffentlichkeitsstrategien in Bezug auf
die emanzipatorischen Utopiepotentiale von (Hoch-)Kunst in der
sozialistischen Gesellschaft anstrebten (also keineswegs eingegrenzt
werden können auf experimentelle Avantgarden).
Problemfeld I:
Modernisierung und die Unterschiede zwischen ost- und westeuropäischem Autorenfilm
Ausgangspunkt soll die These sein, dass die Neuen Wellen in
Ost- und Westeuropa im Rahmen eines von der Literatur- und
Kunstgeschichte auf die Filmgeschichte übertragenen Modells der Moderne
nicht ausreichend zu bestimmen sind. Statt des evolutionistischen
Konzepts, also eines Fortschrittskonzepts der Künste wird der
Gesichtspunkt geltend gemacht, dass Modernisierungs-Schübe -
insbesondere bestimmt durch die in den 60er Jahren einsetzende
wissenschaftlich-technische Revolution - in den westeuropäischen
kapitalistischen Staaten und in den osteuropäischen sozialistischen
Staaten und neue Konzepte (Themen, Stoffe; Dramaturgien;
Öffentlichkeitskonzepte) neuer Generationen von Filmregisseuren in
Interdependenz zueinander betrachtet werden müssen.
Es ist folglich notwendig, den sozialökonomischen Hintergrund
des strukturellen Wandels von Produktionsformen, Dramaturgien und
Öffentlichkeitskonzepten des Autorenfilms in Ost- und Südosteuropa mit
zu bedenken.
Beginnend Ende der 50er Jahre in Polen (Wirtschaftstheoretiker
Oskar Lange) setzten Versuche der „Dezentralisierung“ und
„Liberalisierung“ der Wirtschaft ein. Dazu zählte in der Ära
Chrustschows das Konzept von J. G. Liberman (SU), die Versuche in der
DDR zum Neuen Ökonomischen System in der 2.Hälfte der 60er Jahre, das
Konzept des tschechischen Nationalökonomen Ota Šik 1967/68.
Die ungarische Rezeption solcher Wirtschaftskonzepte führte
1967-1970 zu einem Aufschwung der ungarischen Volkswirtschaft. In der
DDR wurden das NÖS und die Reformbereitschaft im wirtschaftspolitischen
Bereich 1971/72 zurückgenommen. Es wäre nicht richtig, zwischen diesen
Reformversuchen der Volkswirtschaften und den Entwicklungen von
Regiekonzepten und Öffentlichkeitsstrategien direkte Beziehungen
herstellen zu wollen. Aber es entwickelten sich neue
Demokratiekonzepte. Neue Denkfiguren und Mentalitätsmuster, neue
soziale Konfliktfelder und festgefahrene Rollendefinitionen wurden in
den Öffentlichkeiten hinterfragt, woran die neue Regiegeneration
maßgeblichen Anteil hatte. Man beachte, dass in einigen verbotenen
DEFA-Filmen von 1965/66 das Scheitern junger Pädagoginnen, der Zynismus
von Staatsanwälten, die Schwierigkeiten von Betriebsleitern verhandelt
wurden, d.h. drei staatstragende Institutionen - Erziehungswesen,
Gerichtsbarkeit, Betriebswesen - wurden unter dem Aspekt des sozialen
Wandels angegangen.
Für die Entwicklungen in den osteuropäischen Staaten in den 60er Jahren sind einige Faktoren bedenkenswert:
- die Wandlung der zentralistischen Produktionssysteme der
Filmindustrie durch Versuche der Dezentralisierung (Arbeitsgruppen in
Polen, bei der DEFA und die erste Experimentalstudiogründung: B.
Balázs-Studio in Budapest); auch der westeuropäische Autorenfilm
versucht in dieser Zeit durch die Gründung eigener Produktionsfirmen
marktbeherrschenden Studiounternehmen zu entgehen,
- die Öffentlichkeitsfunktion der Gegenwartsliteratur (Ungarn,
DDR, ČSSR, aber auch die Parabeln und Grotesken der polnischen Dramatik
von Mrożek, Rożewicz, Iredyński) wurde von den Neuen Wellen geteilt und
es wurden „Gegenöffentlichkeiten“ der Intellektuellen zur staatsnahen
Repräsentanz-Öffentlichkeit gestartet oder diese ergaben sich durch die
Konfrontationen mit Dogmatikern (vgl. hierzu die Entfremdungsdebatten
in der ČSSR nach der Kafka-Konferenz von 1963; die politische
Verurteilung der DEFA-Gegenwartsfilme auf dem 11. Plenum der SED,
Dezember 1965); diese Prozesse leiteten einen Wandel des
Demokratieverständnisses ein bzw. zwangen die „Zensoren“ zu neuer
Ideologisierung von Konzepten der „sozialistischen Demokratie“;
- in diesen Modernisierungsprozessen, die widersprüchlich
ausgetragen wurden und die Ende der 60er Jahre in der ČSSR, aber auch
mit der Verschärfung der Zensur in Jugoslawien 1970/72 endeten,
entwickelten sich auch Generationskonflikte. Eine junge Generation
begann die Fragwürdigkeit von sozialistischen Werten und Idealen, ihre
Erstarrung zu kritisieren, indem sie sich der Realität des Alltags
zuwandten. D.h. die Modernisierung der osteuropäischen Gesellschaft
wurde vom Kritikpotential der jungen Intellektuellen wesentlich
vorangetrieben, was dazu führte, dass trotz der höherrangigen
Wirtschaftsprobleme zeitweise die ideologische Zensur der
Kunstentwicklung in einigen osteuropäischen Ländern Priorität erlangte
(DDR 1965; ČSSR 1969/70). Dieser Stellenwert der jungen Intellektuellen
ergab sich auch aus einer soziostrukturellen Besonderheit
sozialistischer Staaten, den man nicht übersehen darf. Die soziale
Umschichtung war gekennzeichnet von einer hohen sozialen Mobilität in
diesen Staaten: Unterschichten erhielten Privilegien im Erziehungs- und
Bildungssystem und konnten - im Vergleich zum Klassensystem der Zeit
vor 1939/45- sozial leicht aufsteigen. Weiterhin wurden die
Bevölkerungsüberschüsse der Agrarstaaten durch städtische
Wanderungsbewegungen beträchtlich verändert (z.B. Polen 1956-68/70).
- Die Autorenfilmer der Neuen Wellen in Westeuropa und in
Osteuropa hatten oftmals durch die Internationalisierung die gegebenen
nationalen Schranken durchbrechen können. Dies beförderte aber in
Osteuropa angesichts der nationalen Umschichtungen die Suche nach
nationaler Identität (kennzeichnend für Ungarn, Polen, Tschechen,
Rumänen). Bezeichnenderweise umging die neue Generation, die zur DEFA
drängte, diese Frage, indem sie sich auf den Alltag in der DDR
konzentrierte.
Mein Ausgangspunkt ist deshalb die Hypothese, dass der
Modernisierungsschub der 60er/70er Jahre kulturelle Konflikte in den
west- und in den osteuropäischen Gesellschaftssystemen auslöste. Im
Westen waren es die Kinder von Marx und Coca-Cola, die auf die Straße
gingen. Im Osten ging es um ökonomische Reformen und um einen
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.
Die filmgeschichtlichen Entwicklungen führten
- in westeuropäischen Autorenkonzepten(I. Bergman, L. Buñuel,
J.-L. Godard, A. Kluge, F. Truffaut, B. Widerberg, C. Saura, J. Troell,
T. Richardson u.a.) zu „gegenkulturellen und ästhetischen Diskursen“.
Der sozialökonomische Status der Autorenfilmer im Westen war bestimmt
von der Marktwirtschaft. Dies vorausgesetzt verbanden in Frankreich
Godard und Truffaut die Visualität der Großstadtkultur mit einer
dekonstruktiven Lektüre der Filmgeschichte. Die Beziehung zu
literarischen Werken verschiedener Nationalität, Qualität und Genres
war den französischen jungen Regisseuren wichtiger als
nationalliterarische Bezüge. Krimis, Science-Fiction-Literatur,
erotische Romane wurden verfilmt von der Nouvelle Vague. Man parodierte
und ironisierte diese Literatur. Statt der klassischen Auffassung von
werkgetreuen Literaturadaptionen setzte ein freier Umgang mit
literarischen Texten ein. Roloff betont: „...die oft ironische,
spielerische Aufnahme und Dekonstruktion literarischer Traditionen,
Themen, Gattungen und Mythen, die Formen der Verfremdung, der z. T.
grotesken Fragmentarisierung und Surrealisierung von Prätext und
Vor-Bildern, die oft in programmatischer Weise im Sinne einer neuen
Ästhetik der Intermedialität eingesetzt werden.“ /16/
Man hatte den italienischen Neorealismus endgültig
verabschiedet. Man hatte den realistischen Roman des 19.Jahrhunderts
verabschiedet. Die Simulation und die Konstruktion wurden wichtiger als
die Mimesis, die Nachahmung der Realität. Die Nouvelle Vague wurde in
dieser Frage bereits zu einem Vorläufer des Postmodernismus der
70er/80er Jahre.
- In den osteuropäischen Neuen Wellen war die Situation anders:
(1) die Autorenfilmer mussten sich in staatlichen
Produktionsverhältnissen und gegen die politische Zensur der Partei-
und Staatsbürokratien emanzipieren. Von den literarischen Vorarbeiten
über die Produktion bis zu den Auseinandersetzungen mit der staatlich
reglementierten öffentlichen Meinung fand ein ständiger ideologischer
und kulturpolitischer Diskurs statt.
Der tschechische Filmkritiker Jan Zalman betonte deshalb für
die Neue Welle in der ČSSR, dass nicht Stiladaptionen sondern mentale
Dispositionen für diese Generation wichtig waren wie das Erlebnis des
2.Weltkrieges, Dogmatismus und der Sinn für Demokratie. Er schrieb
1967: „Darum scheint es mir viel nötiger, nach den Zielen zu fragen als
nach den dramaturgischen Prinzipien oder dem Stil.“ /17/
Das Ziel seien neue Utopien, „weil die Vorstellung ...
begraben wurde, das revolutionäre Ziel wäre dasselbe wie revolutionäre
Institutionen. Indem Maße wie sich die Beziehungen zu diesen
Institutionen normalisierte und die Demokratie im gesellschaftlichen
Leben vertiefte, gewann auch das revolutionäre Ideal neue Kraft ... Im
großen und ganzen haben wir eine Stufe der Entwicklung erreicht und vor
uns, in der die in den einzelnen Kunstwerken enthaltene Kritik einen
bedeutsamen positiven Faktor darstellt.“/18/
Die Emanzipation einer neuen Generation von Regisseuren und
Autoren war in den sozialistischen Ländern politischer und ästhetischer
Natur. Dies erklärt auch, weshalb nahezu alle neuen Wellen der 60er
Jahre in Osteuropa letztlich der staatlichen Zensur unterlagen (1966:
10 DEFA-Filme von einer Jahresproduktion von 16 wurden in der DDR
verboten; 1968/69: Stopp der tschechischen Filmproduktion und viele
Arbeits- und Aufführungsverbote; 1968/69 Reorganisation des polnischen
Filmwesens; 1970/71 Verschärfung der Zensur in Jugoslawien).
(2) Der osteuropäische Autorenfilm konnte sich weitgehend an
der Nationalliteratur und einer sich erneuernden nationalen
Gegenwartsliteratur orientieren. M. Hendrykowski nennt die Literatur
als entscheidende Quelle der Inspiration: „Das ostmitteleuropäische
Kino greift oft auf die Literatur als Hauptquelle für Thema, Stil und
Weltanschauung zurück.“ /19/
Vergleiche ergeben, dass in Osteuropa die Nationalliteraturen
für die nationalen Neuen Wellen wichtiger waren als in Westeuropa. Wenn
nationale Literaturen bedeutsam waren, dann moderne Strömungen in
Frankreich wie sie vertreten wurden durch A. Robbe-Grillet und die M.
Duras und in Großbritannien einige kritische Realisten und die Dramatik
der „zornigen jungen Männer“. Die Internationalität der Nouvelle Vague
im Westen wird von den Literaturverfilmungen belegbar z.B.: F. Truffaut
verfilmte Ray Bradburys FAHRENHEIT 451 (1953;1966), JULES UND JIM nach
Henri-Pierre Roché (1961). J.-L. Godard verfilmte A. Moravias DIE
VERACHTUNG (1963), PIERROT LA FOU, 1965, lag zugrunde Lionel Whites
OBSESSION, NANA S.,1962, der Bericht von Marcel Sacotte ON EN EST LA
PROSTITUTION.
In Tschechien waren Milan Kundera, Bohoumil Hrabal und Ludvik
Aškenazy von grundsätzlicher Bedeutung, aber außer ihnen wurde eine
Vielzahl von Gegenwartsautoren verfilmt. Als Beispiele seien genannt:
eine Novelle von Krenik wurde von Drahomira Vihanová (*1930) unter dem
Titel EIN TOTGESCHLAGENER SONNTAG/ZABITÁ NEDĚLE (ČSSR, 1969) verfilmt.
Zu dem Film von Jan Nemeč DÉMANTY NOCI/ DIAMANTEN DER NACHT, ČSSR 1964,
schrieben das Buch: Arnošt Lustig und Jan Nemeč nach Arnošt Lustigs
Erzählung „Die Dunkelheit hat keinen Schatten“ aus dem Band „Diamanten
der Nacht“. Der reportagenhafte Film DER ANGEKLAGTE von Elmar Klos und
Jan Kadár entstand nach einer Novelle von Lenka Hasková, 1964. Zoltan
Fabri verfilmte in Ungarn den Reportageroman ZWANZIG STUNDEN, 1964, von
Ferenc Sánta. In der DDR waren Gegenwartsautoren wie Christa Wolf (DER
GETEILTE HIMMEL, 1963), Franz Fühmann (DAS SCHLIMME JAHR, 1963), Erik
Neutsch (SPUR DER STEINE, 1964) und viele andere wichtig für die DEFA.
Der Georgier Tengis Abuladse ging soweit, dass er zwei Poeme des
chewsurischen Dichters Washa Pschawela (1861-1915) der eigenwilligen
Verfilmung MOLBA/DAS GEBET, 1967, zugrunde legte.
Es gab oppositionelle literarische Öffentlichkeiten in allen
sozialistischen Ländern. Die Literaten befragten die Utopien und die
Ideale des Sozialismus und sie entdeckten mit neuen ästhetischen
Konzepten die Phänomene der Entfremdung. Das hatte auf die
Filmentwicklung entscheidenden Einfluss.
(3) In den Filmen der osteuropäischen Neuen Wellen wurden die
Entfremdungen im Sozialismus als Krisen des Individuums im Staatswesen
hinterfragt (V. Chytilová, J. Jireš, J. Menzel, J. Nemeč, I. Szabó; A.
Wajda, R. Polanski, K. Zanussi, K. Kieslowski; D. Makavejev; L.
Pintilei; F. Beyer u.a.).
Das westeuropäische Autorenkino suchte nicht diese
thematischen Konfrontationen mit der politischen Staatszensur. Es
favorisierte die Erneuerung der Sprache des Films, indem es die
sexuelle Metaphorisierung /20/
der Klassenkonflikte thematisierte. Es schuf Parodien auf die
Genrestereotypen Hollywoods, Cinécittas und auch der einstigen UFA.
Ausbrüche aus der Väter-Ordnung haben J.-L. Godard, das britische free
cinema, A. Kluge und der Neue deutsche Film erzählt.
Während in Westeuropa die Nouvelle Vague bereits die Krise der
Moderne signalisierte, haben die Intellektuellen in Osteuropa versucht,
das klassische Projekt der Moderne fortzuführen. Ihre Forderungen nach
einer Reform des Sozialismus waren begründet in der Überzeugung, dass
an einer menschheitsgeschichtlichen Perspektive des Fortschritts
festzuhalten sei und dass die Humanität und die Demokratie
wiederherzustellen wären. Aus dieser Sicht wird verständlich, warum
klassische Genres wie das der Tragödie weitergeführt wurden oder warum
Abuladse Epen aus der vorindustriellen archaischen Zeit Georgien
philosophisch erzählt. Aus dieser Sicht ist auch erklärbar, dass die
flash backs im Osten eine so reiche Differenzierung erfahren haben. Die
Historie wurde dekonstruiert aus der Sicht individueller Lebensläufe.
Diese sollten Warnschilder sein im Diskurs um die Zukunft.
Problemfeld II:
Avantgarde oder Utopien einer sozialistischen Massenkunst?
Die Neuen Wellen der 60er Jahre sind kurzfristige Phasen einer
Erneuerung des Kunstanspruchs des Films. Sie können nicht als
Entwicklungen einer neuen Avantgarde bezeichnet werden, obwohl ältere
Avantgardekonzepte diese Entwicklungen partiell beeinflusst haben.
Ältere Avantgardekonzepte gewinnen in diesen Jahren eine neue
„Klassik“ in Westeuropa (z.B.: L. Buñuels surrealistische Methode; I.
Bergmans Strindberg-Rezeption; die Auseinandersetzung mit Wertows
Montageästhetik durch Godard um 1968/69). Die Abgrenzung von den neuen
massenkulturellen Ästhetiken (Werbung, TV, Design) gelingt nur
zeitweise. Auf die polnischen Regieentwicklungen wirkt die Dramatik der
zweiten Avantgarde, des absurden Theaters der 50er/60er Jahre (S.
Mrożek, T. Różewicz). Ähnliche Wechselwirkungen sind für die
Tschechische Neue Welle wichtig (V. Havels Parabeln).
Der neu formulierte Kunstanspruch der Neuen Wellen in
Osteuropa basierte aber nicht primär auf einem klassischen Verständnis
künstlerischer Avantgarden. Wichtig wurden andere Gesichtspunkte:
Demokratisierung und die Repräsentationskultur des
sozialistischen Staates für die Massen sind Gegenpole. Der Gegenpol war
nicht eine kommerzielle Massenkultur - wie im Westen - sondern die
popularisierte Staatskultur (eine Idealisierung des Sozialismus mittels
erstarrter Konventionen und Rituale: Massenaufmärsche und -musik,
politische Phraseologien, illusionäre Gleichheits- und
Gemeinschaftsdiskurse). Ich vertrete deshalb die Hypothese, dass die
osteuropäischen Neuen Wellen neue Stars und stilistische Erneuerungen
durch die Auseinandersetzung mit Phänomen der Populärkultur im
Sozialismus gewannen.
Für diese Populärkultur als „Gegenkultur“ waren
charakteristisch der Humor des Volkes, Ironie, Parodie und absurde
Komik (als literarischer Kopf der Tschechischen Neuen Welle galt in
diesem Sinne Bohumil Hrabal, dessen Erzählungsband PERLICKY NA
DNE/PERLEN AUF DEM GRUNDE,1963, Ausgangspunkt wurde für einen
programmatischen Episodenfilm von 1965 /21/).
Andererseits schloss diese Populärkultur ein philosophische Weisheiten und allegorische Gestaltungen.
Populärkultur bestand in den ost- und südosteuropäischen
Staaten in den 60er Jahren aus vielen Schichten: aus vorindustriellen
ethnischen Bräuchen und Ritualen, aus den Ikonographien vom Sieg der
sozialistischen Revolution, aus der Massenkultur des Fernsehens und des
Rundfunks (TV-Gameshows,TV-Mehrteiler), aus Kundgebungen und
Massenfesten (Massenaufmärschen, Sportfesten), aus
Kneipengeschichten(B. Hrabal: PÁBITELÉ / DIE BAFLER, 1964) /22/ , aus
Witzen der Arbeiter und Bauern, aus Witzen des Parteiapparates. Die
Neuen Wellen in Osteuropa mussten eine völlig andersartige
Auseinandersetzung mit der Populärkultur ästhetisch bewältigen als die
in Westeuropa.
Problemfeld III :
Wandel der Dramaturgien: Re-Episierung und De-Dramatisierung
Die Hochkunstphase wurde getragen von einer Demontage
überkommener Dramaturgien. Die Ästhetik der Neuen Wellen der 60er Jahre
kann mit den Stichwörtern „Dedramatisierung“, „offene Strukturen“,
„Re-Episierung (Re-Literarisierung)“ charakterisiert werden. Hierfür
ist ein Zusammenhang von Intermedialität und Reflexivität des
osteuropäischen Cinema nachweisbar.
Der Einfluss des „Nouveau roman“ auf die französische Nouvelle
Vague war weit reichend, aber das darf nicht den Blick versperren für
die Tatsache, dass zwischen West und Ost eine sehr unterschiedliche
Ausrichtung des Spielfilms auf Gegenwartsromane und -erzählungen (von
England über die DDR, die ČSSR bis Ungarn) bestand. Im Osten
dominierten traditionelle kompositorische Muster - auch der
Rückblendenerzählung - und eine Nähe zum reportagehaften Sujet (z.B.
Zoltán Fabris ZWANZIG STUNDEN/ HÚSZ ÓRA, 1964, nach dem Reportageroman
von Ferenc Sánta, 1964), auch zur Novelle (DER ANGEKLAGTE von Elmar
Klos und Jan Kadár nach einer Novelle von Lenka Hasková, 1964) und zur
Erzählung (z.B.: Christa Wolf DER GETEILTE HIMMEL, 1963).
Für die von Literatur und Kinofilm gleichermaßen vertretene
Wachheit für Öffentlichkeit war kennzeichnend, dass zwischen dem
Erscheinen der Romane und der Verfilmung oftmals nur ein oder zwei
Jahre lagen (Milan Kundera DER SCHERZ/ ŽERT, 1968, Erik Neutsch SPUR
DER STEINE, 1964). Im Westen waren es die Marguerite Duras, Alain
Robbe-Grillet oder Volker Schlöndorffs Auseinandersetzung mit Robert
Musil oder Jean-Marie Straubs verfremdende Adaption von Heinrich Bölls
BILLARD UM HALBZEHN (1959/1964-65). Eine Ausnahme bildete in der ČSSR
die Wirkung des 1960 von Ludvík Aškenazy herausgegebenen Fotobandes DIE
SCHWARZE SCHATULLE, in dem gleichsam in Fragmenten und fotografischen
Splittern Alltagsleben und Weltsichten mit Balladen, Songs und
Gedichten montiert und reflektiert wurden. Die Auflösung linearer
Story-Dramaturgien und die episodische Analyse des Alltages, die bei
Jaromil Jireš, Jan Nèmeč u.a. immer mit einer humanistisch bestimmten
Weltsicht - sei es durch montiertes Wochenschaumaterial oder durch
stilistisch überhöhende Fotografien und Parabelanklänge - verbunden
war, hat in der tschechoslowakischen Neuen Welle von diesem
Bild-Text-Band, aber auch von den Polyekran- und
Laterna-Magica-Experimenten Impulse gewinnen können.
Wir entdecken bei Jancsó (DIE HOFFNUNGSLOSEN, 1965), aber
auch bei Menzel (SCHARF BEOBACHTETE ZÜGE, 1966) im Vorspann Grafiken
und Fotos, Aškenazys Lyrikband baute auf Collagen von Fotos und
Gedichten auf und vielleicht hat dies auf seine Szenarien Einfluss
gehabt (DER SCHREI/KRIK, R: Jaromil Jireš, 1963). Eine Intermedialität
wie bei Godard oder bei Kluge wird man in den damaligen osteuropäischen
Regieentwicklungen nicht entdecken.
In Westeuropa wurde strikter die Auseinandersetzung mit den
formalen Qualitäten der Schriftsprache geführt (Schriftcollagen u. ä.).
In Westeuropa fand eine Auseinandersetzung mit Hollywood und dem film
noir statt (F. Truffaut, J.-L. Godard). Die nationale und die
internationale Filmgeschichte ist für die aus der Gegenwart schöpfenden
Osteuropäer zu diesem Zeitpunkt kein Anlass für Auseinandersetzungen -
wie dies in Westeuropa der Fall war.
Die durch Intermedialität bedingte Reflexivität im
osteuropäischen Kino baute oftmals auf authentischen (und inszenierten)
Dokumenten des Kollektiv-gedächtnisses, wie es in Wochenschauen, in
Dokumentarfilmen, Fotos , Grafiken überliefert vorlag, auf - nicht auf
Modellen der Spielfilmgeschichte ( letzteres war prägend für einige
Vertreter der französischen Nouvelle Vague so der film noir Hollywoods
für Truffaut ). Sie nutzte aber auch die medialen Übersetzungen
bildender Kunst.
Die Abkehr von dramatischen Erzählschemas und die
Re-Episierungen in den Neuen Wellen sind für den Wandel der
Dramaturgien in diesen Jahren kennzeichnend.
Kluge machte 1964 darauf aufmerksam, dass ohne die
literarische Tradition die Filmsprache nicht zu entwickeln wäre. Er
schrieb: „Es gibt keine Gedanken, es sei denn, sie seien in Sprache
gefasst. Solange es keine eigene visuelle Filmsprache gibt, bleibt
immer auch der Film auf literarische Sprache angewiesen. Der
Filmbereich muss einen Traditionsmangel ausgleichen. Der Film befindet
sich in einer anderen Situation als die klassischen Künste, denen es
darum geht, einer Tradition zu entkommen. Er braucht zunächst einmal
ein Bewusstsein von dem ungeheuren Vorsprung, den die literarische
Tradition heute vor den Ausdrucksformen der Massenmedien hat.“ /23/
Dies ist in mehrfacher Hinsicht für das Verständnis der
widersprüchlichen Übergänge von der Tradition zur Moderne in den 60er
Jahren aufschlussreich. Warum erweist sich die Episierung - die
Rückblendendramaturgien der 60er Jahre sind nur ein, wenn auch
vielleicht der wichtigste Beleg dieser Übergangssituation - als
„Literarisierung“ des Spielfilms anfangs der 60er Jahre? Warum erfolgt
der Bruch mit der traditionellen kontinuierlichen Kinofilmstory über
eine an der Literatur orientierte kurzzeitige Hochkunstphase des
Spielfilms?
Angebracht ist eine generell neue Sicht auf die
Widersprüchlichkeit dieser Entwicklung: am Anfang steht in Westeuropa
nicht nur der „Nouveau roman“. Es ist auch die Neuentdeckung von Ibsens
Dramaturgie und die Strindbergrezeption Ingmar Bergman, die mitzudenken
wären. Es ging um das Erben von Brecht und es ging um die Demontage der
europäischen Tragödientradition. Es ging um eine Auseinandersetzung mit
Dramaturgien und literarischen Erzählweisen, die seit dem
19.Jahrhundert den Paradigmenwechsel der bürgerlichen
Hochkunstentwicklungen trugen.
In den 60er Jahren setzt in der Spielfilmdramaturgie eine
Demontage der Tragödienstruktur ein. Sie fällt zusammen mit einer
Re-Episierung der Story-Dramaturgie. Sie trifft zusammen mit Wandlungen
der Romankomposition und mit den neuen Dokumentarfilmästhetiken (cinéma
vérité, cinema direct). An allem arbeitet ein faszinierender
Widerspruch: die philosophisch-reflexiven Herausforderungen der
versteinerten Vergangenheit und die dynamisierte Gegenwart in Ost und
West im Zuge des Modernisierungsschubes.
Auffallend ist, dass mit Rückblendendramaturgien in den neuen
Spielfilmen tragische Konflikte und tiefgehende soziale Widersprüche
erzählt werden. Warum folgte der Aufbau von Resnais MURIEL (1963)
streng dem Aufbau der 5-Akte-Tragödie? Hatte Wajda, der in den 50er
Jahren in der Spielfilmdramaturgie der aristotelischen
Tragödiendramaturgie und der Katharsis verpflichtet war, mit DER MANN
AUS MARMOR, die gleichnamige Filmerzählung von Aleksander Scibor-Rylski
lag bereits 1963 vor, einen weiteren Schritt weg von der europäischen
Tragödientradition vollziehen können? Auf tragische Kollisionen, auf
Kämpfe zwischen Untergang und Selbstverteidigung zwischen Bauern im
Jahre 1956, stoßen wir in Fabris ZWANZIG STUNDEN (1964). Nur ist
auffallend, dass die Dramaturgie der Episierung historisch-sozialer und
individueller dramatischer Kollisionen auf spezifische Weise tragische
Strukturen umbricht: in der Spanne zwischen dem Dokumentaren,
einschließlich solcher Genres wie Bericht, Reportage und tragischen
Konstellationen in der Historie entfaltet sich eine epische Dramaturgie
(Fabri nutzte 1964 in der Komposition seines Spielfilms bewusst den
Kontrast zwischen Dokumentarfilm und Reportieren einerseits - der Film
beginnt mit einem Berichtsfilm über zur Arbeit ausfahrende Mitglieder
einer Kooperative und mit dem philosophischen Monolog des Gutsbesitzers
über die Ameisennatur der Menschen andererseits - ehe allmählich eine
dramatische Kollisionsszenerie zwischen Varga, dem Stalinisten, und
Joska, dem Genossenschaftsvorsitzenden aus der Recherche des Reporters
erwächst). Auch Wajdas Szenarium MANN AUS MARMOR (1963/1976) episierte
mit der Kontrapunktik mehrerer Ebenen des dokumentaren Materials bzw.
der stilistisch-dokumentaren Inszenierung (zensuriertes Schnittmaterial
der frühen 50er Jahre, Realitätsausschnitte, die einst der Zensur
anheim fielen; Material aus monumentalästhetischen Dokumentarfilme, die
die Aufbauerfolge demonstrierten; die dokumentar-inszenierten
Erzählungen der Befragten). Der Weg zur episierenden
Rückblendendramaturgie führte in den 60er Jahren über montiertes
Dokumentarmaterial, aber Wajdas dramaturgisches Verfahren unterschied
sich von dem der Westeuropäer. Diese Verschiedenheit des Materials der
Rückblenden ist zugleich eine kritische Auseinandersetzung zwischen
Generationen mit dem, was als Überlieferung und dem, was dem Vergessen
anheim gegeben werden soll. Bausteine des kollektiven Gedächtnisses
einer Nation, eines Volkes wurden von Wajda hinterfragt: auf der Ebene
der Dokumentarfilme und der mündlichen Überlieferung.
Und Tarkowskij, der eine Ästhetik der Zeit in der
Kameraeinstellung favorisierte, hat unmittelbar beim Übergang zu
offenen und episodischen Fabelstrukturen im ANDREJ RUBLJOW (1966/69) in
einem Hörspiel POLNYI POVOROT KRUGOM/VOLLE KRAFT ZURÜCK! nach William
Faulkners Erzählung TURN ABOUT (verfilmt bereits 1933 von Howard Hawks
unter dem Titel TODAY WE LIVE) die Möglichkeiten der auditiven Montage
in der Rückblendenstoryerzählung erprobt.
Die flash backs wurden in stilistischer Vielfalt in diesem Jahrzehnt in Europa entwickelt.
Folgende Typen der flash-back-Dramaturgie der Neuen Wellen in Europa in den 60er Jahren können unterschieden werden:
TYP 1
Realistische oder imaginative Begegnungsstory-kausale Verknüpfungen
von Gegenwart und Vergangenheit (A. Resnais/ M. Duras; M. Forman; M.
Jireš/M. Kundera; J. Nemeč; V. Chytilová).
TYP 2
Dramatische Protagonistenfabeln in der Gegenwartsebene und
Erzählung der Motive der Figuren mit episierten Handlungslinien in der
Vergangenheit (L. Anderson; T. Richardson).
TYP 3
Gerichts- und Tribunalstories mit Rückblenden - zwischen
informativen Inserttechniken und epischer Vielfalt von Handlungslinien
(E. Klos; J. Kadar; F. Beyer; A. Kovács).
TYP 4
Reporter- und Rechercheurstories mit Rückblenden - episierende
Lösungen des Dokumentarmaterials(Z. Fabri/A. Santá; A.
Scibor-Rylski/A.Wajda; Sonderfall: F. Fellini ROMA,1972).
TYP 5
Grenzfälle der Rückblendendramaturgie - Differenzierungen zwischen
Autoren-und Figurenperspektiven in Montagelösungen (V. Chytilová; A.
Kluge; J. Nemeč; I. Szabó; Sonderfall: Kamerasequenzen des Th.
Angelopoulos).
Erinnerungen, Träume, Alpträume bevölkerten die Leinwand. Die
europäischen Autorenfilmer wollten ein Kino der Reflexionen. Das
widersprach linearen, chronologischen Stories. Die neuere moderne
Literatur hatte die Diskontinuität des Erzählens statt der Kontinuität
neu entdeckt. Die Wechselbeziehung zum „Nouveau roman“, A.
Robbe-Grillets Fragmentarisierungen, die Erzählweise der M. Duras, ihr
Konzept der Dialogsprache - all das bildete einen scharfen Kontrast zum
Dialog- und Starfilm der 50er Jahre. Die Duras strebte in HIROSHIMA MON
AMOUR(1959) eine Sprache an, die das Entstehen von Gedanken gestaltete.
Bei dieser Sprache kam es weniger an auf die Informationen als auf
Klang, Melodie, Rhythmus. In osteuropäischen Neuen Wellen wurde die
Verssprache neu entdeckt, aber auch die Kritik der gesprochenen Sprache
wird in das ästhetische Programm genommen z.B. sezierte A. Wajda in
UNSCHULDIGE ZAUBERER/ NIEWINNI CZAROZIEJE, 1960, die Maskierung in
Sprechakten.
Es bleibt die Frage, warum gerade in den osteuropäischen Neuen
Wellen die flash backs favorisiert wurden. Lange Zeit hatten die
glorreichen Legenden vom antifaschistischen Widerstandskampf und vom
siegreichen Aufbau des Sozialismus und die sozialistischen Agentenfilme
die tragischen Dimensionen für das Individuum, auch die fatalen Folgen
der Parteidisziplin verdrängt. Die flash backs wurden die
Erzähltechnik, mit der die Deformationen, die Zerstörungen von Menschen
und Idealen in der Geschichte des Sozialismus - und im weiteren Sinne
im Faschismus, in ethnischen Gemeinschaftshierarchien neu entdeckt
wurden. Das kollektive Gedächtnis und die Erinnerung wurden in den
osteuropäischen Neuen Wellen sensibilisiert, um Warnschilder für die
Zukunft aufzustellen. Dies dürfte der tiefere Grund sein, weshalb die
Neuen Wellen im osteuropäischen Staatssozialismus der 60er Jahre eine
andersartige Stilistik der flash backs entwickelten.
Problemfeld IV:
Intermedialität und Intertextualität
Der Moderne-Diskurs der 60er Jahre wird geprägt von intermedialen Innovationen in den Künsten. Meine Hypothese lautet:
Intermedialität bedeutete nicht nur, dass verschiedene mediale
Materialien die Gegenstände, die Komposition, die Art und Weise des
Umgangs mit dem Kunstwerk verändern - also was galt z.B. für Luigi
Nonos Komposition von authentischem Tonmaterial und Gesangsstimme (z.B.
LA FABBRICA ILLUMINATA, 1964), Warhols Übernahme des Werbedesigns u. ä.
Die intermedialen Techniken der Nouvelle Vague in Westeuropa
und der osteuropäischen Neuen Wellen dienten in erster Linie dazu, eine
neue visuelle Ästhetik der Hybridisation (Kreuzung oder Synthese) von
schriftsprachlicher Kultur und Bildkultur zu realisieren. In der
europäischen Kulturtradition standen sich gegenüber die Macht und die
Ästhetik der Schriftsprache, der Lesekultur einerseits und die
ästhetische Macht der visuellen Bilder der bildenden Künste und des
Kinos. Diese wurden durch das Fernsehen, dem neuen elektronischen
Medium, herausgefordert. Die Filmkunst beschritt zwei Wege - ich sehe
von technologischen Entwicklungen der Kinematographie wie Breitwandfilm
und Ton- und Kameratechnik [Viermagnettonfilm, Zoomobjektive] ab - :
(1) Neue intermediale und intertextuale Techniken gehen aus
von einer neuen Ästhetik des Dokumentarfilms (cinema direct in den USA,
cinéma vérité in Frankreich). Die Einheit von Bild- und Tonaufnahme der
Kameras war 1960 erstmals technisch möglich geworden. Die Verwendung
lichtempfindlichen Filmmaterials auch. Dies ermöglichte Inszenierungen
außerhalb der Studioateliers ohne großen Aufwand. Spontaneität und
Improvisation wurden wie nie zuvor in der mise-en-scène (im Arrangieren
der Szenen) möglich. Eine ästhetische Neuentdeckung der
Großstadtstraßen war eine Konsequenz.
Der Einfluss der Nouvelle Vague, aber auch die Differenz der
osteuropäischen Regieentwicklungen lässt sich beispielsweise belegen,
wenn man das Motiv der Straßenszene vergleicht.
In Godards AUSSER ATEM(1959) treffen sich Michel Poiccard
(Jean-Paul Belmondo) und Patricia Franchini (Jean Seberg) auf den
Champs Élysées. Godard betont die ungestellte, die
authentisch-dokumentare Boulevard-Atmosphäre und in ihr dieses Paar. Es
ereignet sich szenisch wenig, aber die visuelle Opulenz der Champs
Élysées schafft Bewegung, Lebendigkeit, Esprit.
In einem seiner ersten Kurzfilme TE/DU (1961), den er in dem
einzigen unabhängigen Experimentalstudio Osteuropas, dem
„Béla-Balázs-Studio“, 1961 produzierte, hat István Szabó m. E. dieses
Godardsche Prinzip auf seine Weise stilisiert. Szabó zeigt das
Schweben, die jugendliche Anmut einer jungen Frau, die durch Budapester
Straßen eilt. Der Film weist Motive aus Godards AUSSER ATEM auf. Als
ein anderes Beispiel soll eine kurze Sequenz aus D. Makavejevs EIN
LIEBESFALL/ LJUBAVNI SLUCAJ ILI TRAGEDIJA SLUBENICE PTTa (Beograd,
1967) angeführt werden. Makavejevs Kamera verfolgt wie in welchen
Straßen eine junge Frau nach Arbeitsschluss schlendert. Er dokumentiert
Ikonographien der Staatskultur und er montiert ein dröhnendes
Marschlied. Ich nenne in diesem Zusammenhang diese Eingangssequenz,
weil sie deutlich macht, dass die intermediale Verknüpfung von Spiel-
und Dokumentarfilm auch intertextuale Möglichkeiten erschloss, die
„gegenkulturellen Diskursen“ dienstbar gemacht wurden. Diskurse, die
gegen die „Repräsentationskultur“ des Staates gerichtet waren.
Wir entdecken in dieser Zeit auch avantgardistische Versuche
in der Tschechischen Neuen Welle, das dokumentare Prinzip durch Farb-
und andere Collagen aufzubrechen. Vera Chytilová, die Szenografin Ester
Krumbachová und der Kameramann Kucera haben in dem ersten Film der
„Apfeltrilogie“ der Chytilová TAUSENDSCHÖNCHEN / SEDMIKRÁSKY (1966)
dies versucht.
Der zweite wichtige Impuls zur Entwicklung intermedialer Techniken
ergab sich aus einer Schwierigkeit. Einerseits benutzten die
jungen Regisseure in Ost- und Südeuropa die Nationalliteratur und
gewannen Gegenwartsautoren für ihre Projekte. Andererseits waren die
komplizierten Zeitstrukturen und die Sprachbilder der Epik,
insbesondere die Stilistik der Metaphern in Sätzen, oftmals nicht
übertragbar in die visuelle Sprache des Films. Aus diesem Widerspruch
entstanden intermediale Techniken der Literaturverfilmung.
Während die Komparatistik bisher in der
filmhistoriographischen Forschung nicht verfolgt worden ist, sind von
den deutschen Romanisten Franz-Josef Albersmeier (1992) /24/ und Volker
Roloff (1995) mit der These, dass die Nouvelle Vague auch als Phänomen
des Medienwechsels und der intermedialen Diskurse zu erschließen sei,
neue Wege beschritten worden. Roloff schrieb:
„Die Nouvelle Vague bezeichnet eine Aufbruchsphase des französischen Kinos
seit 1959, eine Periode filmästhetischer Experimente und
Reflexionen, deren intermediale Dimension bisher, gemessen an der
Vielzahl filmtheoretischer und filmgeschichtlicher Publikationen, nur
ansatzweise diskutiert wird. Es gehört zu den Paradoxien der Nouvelle
Vague, dass ihre Filme vor allem unter dem Aspekt der Rückbesinnung auf
die dem Film eigenen künstlerischen Ausdrucksweisen gewertet wird,
obwohl gerade die wichtigsten ästhetischen Innovationen und Experimente
nur im Rahmen der Wechselwirkungen und zunehmenden Konkurrenz der
Medien, der Literatur, des Theaters, aber auch des Fernsehens,
verständlich sind.“ /25/
Problemfeld V:
Abgrenzung vom Schauspiel - aber: Welche Bedeutung besaßen die „Neuen Theaterwellen“ in den sozialistischen Ländern?
Obwohl die Wiederentdeckung der Kameraerzählung Ende der 50er
Jahre eine zunehmende Abgrenzung und Distanz zum Schauspiel gebracht
hatte - auch durch den Wandel der Ästhetik des Dokumentarfilms - hat
die Öffentlichkeitsfunktion des Schauspiels, des Theaters aufgrund
neuer Entwicklungen in der ČSSR und in Polen (z.B. S. Mrożek in Polen,
V. Havel in der ČSSR) auf die junge Regiegeneration und ihre Konzepte
vom Kinofilm gewirkt.
Auch die Tatsache, dass A. Wajda 1960 sich erstmals der
Gegenwart in UNSCHULDIGE ZAUBERER zuwandte und dabei mit den
Absolventen der Filmhochschule Łodz R. Polanski und J. Skolimowski
zusammenarbeitete und theatrale Mittel verwandte, ist in diesem
Zusammenhang aufschlussreich.
Ein anderes Beispiel, dass deutlicht macht, dass nicht
Dramenadaptionen sondern Theatralitätskonzepte in neuer Weise von
jungen Regisseuren entdeckt wurden ist der von dem aus Paris nach
Rumänien zurückgekehrten Rumänen L. Pintilei produzierte Spielfilm
REKONSTRUKTION(1968-70). Er nutzte die erzählerische Möglichkeit des
Rollenspiels, eines theatralen Urelements überhaupt für die Story.
(Ähnlichkeiten mit diesem Verfahren in REKONSTRUKTION entdeckt man in
N. Oshimas Film KOSHIKEI/TOD DURCH ERHÄNGEN, 1968). Der Film von L
Pintilei erzählt die Geschichte zweier Studenten, die einen Kneipier
unter Alkoholeinfluss zu Tode prügelten und das Lokal demolierten. In
einer Gerichtsverhandlung wird eine Rekonstruktion „gespielt“, bei der
einer der Studenten verstirbt.
Der Tschechischen Neuen Welle gingen institutionelle Wandlungen
des Theaters voraus und eine neue Dramatikergeneration war bereits
angetreten.
Beispielsweise sind Menzels Komödien-Inszenierungen wie
überhaupt die Interdependenz von Musik, Songs, Episoden und disponiblen
Schauspielern für die tschechische Neue Welle nicht ohne den Wandel des
Theaters erklärbar.
In Prag entwickelten sich das Divadlo na zabradli (Theater am
Geländer) und der Cinoherni klub. Eine Besonderheit der Tschechischen
Neuen Welle bestand darin, dass es vor der Neuen Welle im Filmschaffen
eine „neue Theaterwelle“ seit den fünfziger Jahren gab.
Problem 1
Die Bedeutung der Prager Kleinbühnen
„In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre kommt es zur
spontanen Gründung von Kleinbühnen mit amateurhaftem bis
halbprofessionellem Charakter ... in diesem Zusammenhang beginnt die
Kritik von einem Gegensatz zwischen Theater der Elite und dem ‘Theater
für alle’ zu sprechen.“ /26/
Die Kleinbühnen tendierten nicht nur zu Aufführungen der
Dramatik, sondern entwickelten Komödienformen und modifizierte Revuen,
die vor allem disponible Darsteller hervor brachten (Gesang, Pantomime,
Rezitation, Tanz).
Für die Differenzierung des Theaterwesens steht auch die
Prager LATERNA MAGICA, die einen neuen Typ des technifizierten Theaters
schuf wie auch das SCHWARZE THEATER, eine besondere Richtung des
Pantomimetheaters.
In Prag entwickelte sich die Parabel durch das
„Modelldrama“(modelove drama). V. Havel, I. Klima, O. Danék verfolgten
Ähnliches wie F. Dürrenmatt mit seinem Konzept des Paradoxen und der
Komödie (BESUCH DER ALTEN DAME, 1956, DIE PANNE, 1957, DIE PHYSIKER,
1961).
Problem 2
Die Entwicklung der Parabel durch das „Modelldrama“(modelove drama)
Auf den besonderen Stellenwert der Parabel in der
osteuropäischen Spielfilmentwicklung generell hat M. Hendrykowski
hingewiesen, indem er feststellt: „Die Verwendung der Parabel als
Filmsprache beruht auf der unerbittlichen Strenge der Zensur von Kunst
und Film in den Ostblockländern. Jahrzehntelang konnten Filmemacher mit
ihrem Publikum erfolgreich an der Zensur vorbei kommunizieren, indem
sie von Metaphern, Symbolen, Anspielungen, Subtexten und
Untertreibungen geschickt Gebrauch machten.“ /27/
Die Entwicklung der Dramatik in der ČSSR, auch in Polen hat
hierzu wesentliches geleistet, was auch Einfluss auf die
Spielfilmentwicklung nahm.
Frage 1: Dürrenmatt-Rezeption
F. Dürrenmatt brach mit der Zukunftsdimension im bürgerlichen
Fortschrittsverständnis(einschließlich der technisch-zivilisatorischen
Fortschrittsgläubigkeit und religiöser Zukunftsgläubigkeit). Eine
Ansicht, die von den Autoren der „Modelldramen“ geteilt wurde.
F. Dürrenmatt wählte aus diesem Grunde historische
Schnittpunkte der Kulturgeschichte wie Untergang der Reiche (Römisches
Reich, Drittes Reich), Turmbau zu Babel (das Scheitern bzw. der
Irrglaube an einen vollkommenen Staat), Wiedertäuferstories, aber auch
mit der Zukunft (DAS UNTERNEHMEN DER WEGA, 1954 mit einer Gegenwart
2255).
Seine Figuren sind oftmals Anwälte bzw. Vertreter von
Gerechtigkeit und Humanität (Naturwissenschaftler wie Physiker,
Mediziner) oder Juristen, Detektive, Polizeikommissare.
In Dürrenmatts Weltsicht ist die Bedrohung der Individuen
durch Katastrophen und selbst erzeugte Mächte präsent (Extrem: die
Atombombe; Normalität: die Käuflichkeit der Moral und des Lebens durch
Geld). Dies mache nicht mehr gesellschaftliche Lösungen sondern nur
noch die individuelle Lösung möglich und die wird getragen von der
verzweifelten Verteidigung des Ichs in einer entfremdeten Welt.
Karel Diviš schreibt in seiner Untersuchung der
Kommunikationsstrukturen des tschechischen Dramas: „Als Wesenszüge der
Themen vieler Stücke der neuen Welle werden angegeben: Entfremdung,
Unterwerfung des Menschen durch wuchernde Mechanismen, Verlust der
Identität, Unzulänglichkeit der Sprache, Absurdität des Lebens...“ /28/
Er nennt als Vertreter: V. Havel, M. Kundera, I. Klíma, M.
Uhde u.a.). Als Reaktion auf die Entfremdung im Sozialismus wurde nicht
Brechts Kausalitätskonzept rezipiert sondern Dürrenmatts Konzept des
Modells.
Frage 2: Absurdes Theater?
Karel Diviš schreibt, dass infolge der Deformation
zwischenmenschlicher Beziehungen und Verluste der Identität nicht nur
die Nähe der Dürrenmattschen Komödie zur Paradoxie(was bei Dürrenmatt
nicht zum Absurden führe /29/)
naheliegend sei, sondern generell zum absurden Theater: „Eine
Strömung, die anderswo nur eine Nebenströmung war, wurde in der
Tschechoslowakei zur Hauptströmung. Es war das Theater des Absurden,
welches das Schaffen der tschechischen Dramatiker besonders
beeinflusste.“ /30/
Karel Diviš unterscheidet mit Bezug auf tschechische
Dramatiker zwischen „östlicher“ und „westlicher“ Absurdität. Er betont,
dass im Osten (im Vergleich zu Beckett, Ionesco) der Glaube von der
Veränderbarkeit der Welt noch geltend gemacht wurde. /31/
Die Kritik richte sich in Ost und West gegen
- die Mechanisierung der Lebensformen
- die Philosophie des kleinbürgerlichen Alibismus.
Karel Diviš zieht den Schluss:
„Die skeptische bis zynische Betrachtungsweise der menschlichen
Beziehungen ist allen untersuchten Stücken gemeinsam. Insbesondere die
störenden Elemente auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen werden
hyperbolisiert. Es werden keine scheinbar realistischen Bilder der Welt
präsentiert...“ /32/
Das Sinnlose aber als Begleiterscheinung der Macht der
Institutionen, das ist bei Havel eine irrationale Maßnahme – z .B. die
Einführung einer fremden Amtssprache Ptydepe genannt in DIE
BENACHRICHTIGUNG. Sie soll rational verarbeitet werden, was ein Paradox
hervorbringt. Menschen passen sich an und beginnen, sich im Rahmen der
absurden Regeln der Kommunikation in der Interaktion logisch zu
benehmen.
Die tschechische Dramatik wendete sich den Phänomenen des
Identitätsverlusts zu, indem die totale Anpassung an die von der
hegemonialen Klasse aufgestellten institutionellen Praktiken und die
absurden Kommunikationsweisen in diesen frames verhandelt wurden. Das
Gewaltmonopol des Staates wurde von V. Havel als pervertiert gegeißelt
und als grotesk-hyberbolisch dargestellt. Die parodierten Details, die
grotesk-hyberbolische Enthüllung der sozialen Mythen, die Übertreibung
führt zur Vertauschung der Logik durch Unlogik. Es ist ein Humor am
Rande der Angst, des Horrors und des Todes (nahe F. Kafka, M. Camus, J.
Joyce).
Lachen und Grauen funktionieren so als Elemente einer
Verfremdung. In der tschechischen Neuen Welle sind ähnliche Denkfiguren
entdeckbar. Verwiesen sei auf J. Menzels LERCHEN AM FADEN(1969) und auf
Karel Kachynas DAS OHR (nach Jan Prohaska, 1970). Letzteres eine Story
über die absurde Situation eines Staatsangestellten, der mit seiner
Frau eine Nacht in der Angst verbringt, ständig abgehört worden zu
sein, aber am Morgen in eine neue Funktion berufen wird. Ein Film wie
VOM FEST UND DEN GÄSTEN/ O SLAVNOSTIA A HOSTECH, 1966 von Jan Némeč
wäre ebenfalls nicht ohne solche tschechischen Denkfiguren des Absurden
und der Groteske denkbar. Bezeichnenderweise ist an dieser grotesken
Parabel über Brutalität und die Unterwerfung unter diese zu entdecken,
dass die szenische Inszenierung schauspielhaft - wenn auch im Exterieur
- ist und das weniger ein Montagefilm als vielmehr ein Dialogfilm
entstand.
Frage 3: Das „poetische Drama“
Im Gegensatz zur „Aufbaudramatik“ erfolgte bereits Ende der
50er Jahre eine Rückbesinnung auf die Psychologisierung mittels einer
Tschechow-Rezeption. /33/
Diese Richtung der Dramatik beförderte einerseits die
Zuwendung zu existentiellen Situationen in Alltagssituationen und
andererseits zu symbolischen Bildern. Als Vertreter muss Josef Topol
genannt werden (Stücke
„Konec masopustu“ / „Faschingsende“ und „Kočkana kolejích“/
„Katze auf dem Gleis“), der aber auch zu den „Absurden“ gezählt wurde.
Problem 3:
Polnische absurde Dramatik und die neue Regiegeneration in Polen (1963/64-67/69)
Kennzeichnend für die polnische Dramatik um 1960 ist der
Übergang vom Geschichtsdrama zur absurden und grotesken Parabel, was
von Dürrenmatts Dramatik bis zu Beckett und von Mrożek und Rożiewicz zu
den polnischen Filmregisseuren des schwarzen Humors (Polański,
Borowczyk) führte.
Die Dritte Welle der polnischen Spielfilmregisseure von 1963/64
bis 1967/69 brachte einen Skeptizismus der geschichtslosen Generation
hervor. Auf sie wirkte die Dramatik in Motiven der „Verkleidung der
Gefühle“, der Maskeraden des „wahren“ Ichs, des Verlorenseins. Das
klassische Beispiel hierfür in der Spielfilmentwicklung ist A. Wajdas
UNSCHULDIGE ZAUBERER, 1960, gemeinsam entstanden mit Polański und
Skolimowski, die zu diesem Zeitpunkt nach Studenten der Filmhochschule
in Łodz waren.
Während in diesen frühen 60er Jahren in Prag die Regiedebüts
die Wertekrise des Sozialismus und die Zivilisationskrise mit einer
dramaturgischen Neusichtung der Alltagssujets angingen und die
Budapester Regisseure eine Zuwendung zur nationalgeschichtlichen
Identität (M. Jancsó, I. Szabó) vollzogen, findet einerseits in Polen
eine Konfrontation mit historischen Superproduktionen der Regisseure
der ersten und zweiten Welle statt (A. Ford KREUZRITTER, 1960; J.
Kawalerowicz PHARAO, 1965; Wojciech Has DIE HANDSCHRIFT VON SARAGOSSA,
1965; A. Wajda LOTNA, 1959, ASCHE, LEGIONÄRE, 1965) und einer neuen
Regiegeneration, die zu Beginn der 60erJahre von der Filmhochschule in
Łodz kamen wie J. Skolimowski (Ende 50erJahre bis 1963), R.
Polański(1953-60), Witold Lesczyński (1959 Kameraabschluss; ab 1962
Regisseur).
Diese neuen Regisseure wurden getragen von mentalen und sozialen Wandlungen in Polen:
- eine kurzzeitige Phase der „Marktwirtschaft“ Anfang der 60er
Jahre mit strikter Ausrichtung auf den westlichen Konsum, auf die
Dominanz der Karrieren und die Verluste traditioneller Werte. Sie wird
in Parabeln auf dem Theater verhandelt (Różewicz UNSERE KLEINE
STABILISIERUNG, 1961 -eine Entsprechung zu Becketts WARTEN AUF GODOT).
Hinzu kommen bei den Polen die grotesken Parodien auf Wahlen und
Parlamentarismus in den 60erJahren wie in Mrożeks AUF HOHER SEE, 1961:
der Dicke(skrupelloser Mächtiger), der Mittlere(Opportunist), der
Schmächtige(hilfloser Intellektueller) sind Schiffbrüchige auf einem
Floß und einer von ihnen muss sich opfern damit die anderen weiterleben
können. Sie verzichten auf Auslosen denn der „Parlamentarismus hat sich
überlebt“. Mrożek unterläuft in diesem Stück die Rhetorik von
Wahlkampfreden.
Die polnischen Grotesken arbeiten mit Paradoxa, deren kritisches Potential nicht zu übersehen ist.
Paradoxa sind geeignet, tradierte Betrachtungsweisen, Normen
des Denkens in Frage zu stellen. Es handelt sich um Denkfiguren, die
bislang feststehende Grundsätze in Politik, Moral/Sitten außer Kraft
setzen und dadurch
a) veränderte soziale und kulturelle Verhältnisse und
Verhaltensweisen signalisieren aus der Perspektive der Kritik und der
Befragung von Denk- und Verhaltenscodes,
b) Grenzen und Widersinn aufzeigen, d.h. die Sinnlosigkeit von
normierten Regeln und deren Einhaltung und die zu Denkspielen werden,
wofür sich die Groteske besonders eignet und das Verfahren der Parabel.
Mrożeks TANGO (1964/Aufführung Warschau 1965) ist als
Familiendrama und die Familie als ein Symbol der polnischen
Gesellschaft konzipiert. „In unserer Zeit ist nur noch die Farce
möglich,“ so Artur in TANGO. Das Hochzeitsmotiv wird mit einem
Hamlet-Motiv in der Groteske verknüpft, aber nicht nationale Ohnmacht,
sondern opportune Unterwerfung und Totentanz sind Gegenstand in den
Symbolisierungen. Zum besseren Verständnis sei die Story erzählt.
Artur, Student der Medizin, protestiert gegen die chaotische
Situation der Eltern, Großeltern, Verwandten (Anachronismus und naiver
Enthusiasmus der Eltern und die Unfähigkeit zu geschichtspraktischem
Handeln). Er beschließt, der Familie durch seine Heirat mit seiner
Cousine Ala eine neue Ordnung zu geben, d.h. die Familie soll zu ihrer
alten Form zurückgeführt werden.
Durch die bevorstehende Heirat tritt ein Wandel ein,
Akkuratesse zieht in der Wohnung ein. Artur vollzieht eine Wandlung: er
beginnt nach einer ordnenden Idee zu suchen, nicht Gott und Fortschritt
sondern Macht über Leben und Tod - also die tyrannische Herrschaft wird
zum Endzweck in der Hochzeit.
Die lächerliche Wendung im Stück: die Braut hat ihn betrogen
mit dem primitiven Edek. Und Edek erschlägt ihn, um die Macht zu
perfektionieren - über die Familie. Er tanzt Tango mit den
opportunistischen Verwandten Arturs auf der Leiche.
Mrożeks Kritik richtet sich gegen das in der polnischen
Nationalgeschichte anzutreffende messianisches Sendungsbewusstsein,
dass in der Groteske durch den Fall in die niedere Tyrannei ad absurdum
geführt wird.
In der Spielfilmentwicklung sind groteske und Parabelanklänge
zu entdecken in der Komödie DER AUSFLUG/REJS (Marek Piwowski,1968/70),
die anfangs von der Zensur verboten wurde. Eine herrschaftskritische
Komödie, in der eine Gesellschaft auf einem Vergnügungsdampfer auf der
Weichsel fährt. Es sind die Privilegierten, die die Unprivilegierten am
Ufer beobachten, die ihr Leben auf dieser „Insel“, auf diesem Dampfer,
organisieren, ein Kulturreferent, der eine Gruppendiskussion über
Demokratie organisiert und ein Programm einstudiert während andere ihre
Entdeckungen an Bord machen.
Die neue Generation der Dramatiker und der Regisseure prägte
ihre Distanzen zur Generation des „Widerstandes“ gegen die Okkupation
der 40er Jahre aus (und - so bei Polańskis MESSER IM WASSER, 1962 -
auch gegen die neuen „Etablierten“).
Während in der Dramatik ein strikter Neuansatz des Absurden
und der Groteske (Różewicz, Mrożek und die 1961er Parabeln), der die
polnische Antwort auf die westeuropäische Tendenz des absurden Theaters
mit der Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens war, erfolgt in den
Spielfilmen A. Wajda DIE UNSCHULDIGEN ZAUBERER, 1960
(Szenarienmitarbeit von J. Skolimowski) und R. Polańskis MESSER IM
WASSER, 1962 (wiederum Mitarbeit von J. Skolimowski) eine Besinnung auf
Alltagssituationen, in denen aber die Maskierungen der Figuren betont
werden.
Ein Sonderfall dürfte der Spielfilmregisseur Skolimowski
insofern sein als er von den polnischen Theaterentwicklungen
unbeeinflusst zu sein scheint. Er entwickelt sich von der Mitarbeit an
den Szenarien von Wajda(1960) und Polański(1961/62) hin zu einer
Filmästhetik, die in völliger Distanz zum Theater, zur Dramatik sich
entfaltet und vor allem mit einer fast schnittlosen Montagekonzeption
ästhetische Möglichkeiten des Spielfilms ausreizt.
III. Zur Periodisierung
Abschließend muss meine Entscheidung für den Zeitraum 1960/61-1970/71 begründet werden.
D. Bordwell und K. Thompson (1994) geben für die Neuen Wellen
in Europa den Zeitraum 1958 bis 1967 an, aber ihre Periodisierung ist
sehr an der französischen Nouvelle Vague als Leitbild orientiert. /34/
Direkte Einflüsse der französischen Entwicklung lassen sich im Ostblock
1961 in Jugoslawien nachweisen (Boštjan Hladnik, Aleksandar
Petrović) – auch bei jungen Regisseuren des Béla-Balázs-Studios in
Ungarn werden diese Tendenzen aufgegriffen (z.B.: TE/ DU, István Szabó,
1963), partiell auch in der Tschechischen Neuen Welle in der ersten
Hälfte der 60er Jahre. Aber da die Rahmenbedingungen der Filmproduktion
im Ostblock völlig andere waren als in Westeuropa, ist man gut beraten,
den Aufbruch einer neuen Regiegeneration
in dem Jahrzehnt 1960/61 – 1970/71 aus der Sicht der kulturpolitischen Rahmenbedingungen zu verfolgen.
1960 gliedert sich Albanien aus dem Verbund der europäischen
sozialistischen Länder politisch, wirtschaftlich und kulturell aus.
1960 findet auch die letzte gemeinsame Spielfilmkonferenz der
sozialistischen Länder statt. Ich nehme dies zum Anlass, die
Aufmerksamkeit ausschließlich auf die osteuropäischen Länder Bulgarien,
ČSSR, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Ungarn zu richten – also nicht die
sowjetische Filmproduktion und auch nicht die DEFA-Filmproduktion der
DDR in diesem Kontext zu behandeln (die DDR-Produktion und
-filmkommunikation war weitgehend von den Entwicklungen in den meisten
der oben genannten Länder isoliert und stellt aufgrund der Spaltung der
deutschen Nation einen Sonderfall im Ostblock in Bezug auf nationale
Identität dar). Der Versuch von 1960, die verschiedenen nationalen
Kinematografien im Ostblock im Namen des sozialistischen Realismus,
einer ideologischen Programmatik, die vor allem von den Vertretern des
sowjetischen Verbandes der Kinematographie im Rahmen einer Offensive
nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Ostblock eingefordert wurde, zu
einen, scheitert an den Entwicklungen in Polen, aber auch bereits an
den ersten Auseinandersetzungen in der ČSSR (zwischen dem Verbot aller
neu produzierten Filme auf dem 1. Festival des tschechoslowakischen
Films in Banská Bystrica 1959, dem offeneren Nationalen Festival von
Ostrava 1961 und dem generellen Liberalisierungskurs der KPČ mit dem
XII. Parteitag im Dezember 1962) und insbesondere an den andersartigen
Konzepten in Jugoslawien (Dezentralisierung des Filmwesens 1962) sowie
den neuen Tönen, die auf dem 1.Ungarischen Kurzfilmfestival (1960)
angestimmt wurden.
Von diesen kulturpolitischen Rahmenbedingungen her leite ich die Zäsur von 1960 ab, nicht von künstlerischen Entwicklungen.
Man kann bei der Periodisierung der ost- und südosteuropäischen
Neuen Wellen von 1961 als dem Startjahr des „novi film“ in Jugoslawien
ausgehen (aber beachte die Phase des jugoslawischen „schwarzen Films“
setzt 1966 ein) und generell das Jahr 1963 als den großen Einschnitt in
der Filmgeschichte der meisten osteuropäischen Länder sehen, wie das
Mira und Antonín J.Liehm (1979) tun. /35/
Setzt man mit den Regieentwicklungen von 1961/63 ein,
vernachlässigt man allerdings das filmpolitische Vorfeld dieser
Entwicklungen im Ostblock. Deshalb wird von mir das Jahrzehnt zwischen
1960 und 1970 als Bezugsrahmen gewählt, auch wenn zeitliche
Differenzierungen in den einzelnen Ländern in Rechnung zu stellen sind
(Jugoslawien bis 1971/72, Polen die politische Zäsur von 1968 im Lande
u. a.). Für das filmpolitische Vorfeld von 1960 sind überdies folgende
Entwicklungen bedenkenswert.
Die seit 1957 wieder begonnenen Festivals von Moskau
(zweijährig im Wechsel mit Karlovy Vary, dem seit 1954 wichtigsten
internationalen Festival im Ostblock) setzten Akzente in der
Filmauswahl (1957 wurde aufgeführt M. Kalatazovs DIE KRANICHE ZIEHEN,
der 1958 einen 1.Preis in Cannes erhielt). Erwähnenswert ist auch, dass
in West- und in Osteuropa 1955 mit der FIAF-Ausstellung „60 Ans d’Art
Cinèmatograph 1895-1955“, die gekoppelt war mit der Ausstellung “300
Années de Cinèmatografie 1655-1955“(gewidmet dem 125.Geburtstag von J.
E. Marey), eine erneute Besinnung auf die Geschichte der
Kinematographie einsetzte. Die Ausstellung wurde 1958 in beiden
deutschen Staaten gezeigt, aber mit unterschiedlichen Präsentationen.
Die Ausstellung im Berliner Zeughaus war mit den Franzosen erarbeitet
worden und die Parallelausstellung in München sparte wichtige Kapitel
aus (Filmgeschichte des Ostblocks, das Thema des antifaschistischen
Widerstandskampfes im Film). Weiterhin bedenkenswert dürfte sein, dass
Problemfilme der Dritten Welt und nationaldemokratischer
Befreiungsbewegungen - so die in Ägypten und die Algeriens - vorrangig
auf Ostblockfestivals gewürdigt wurden (z.B. der Ägypter J. Chahin mit
HAUPTBAHNHOF KAIRO, 1958, aber auch DJAMILA, DIE ALGERIERIN, 1958,
fanden auf dem Moskauer Festival 1959 Beachtung).
Während beginnend mit dem Festival von Cannes 1959, das zum
Start der Nouvelle Vague in Frankreich wurde, in Westeuropa ein Wandel
im bisherigen Produzentenverständnis sich abzeichnete und
marktwirtschaftlich neue Konzepte mit der neuen Regiegeneration
angestrebt wurden (einschließlich der angestrebten staatlichen
Filmförderung), setzte im Ostblock eine filmpolitische Offensive ein.
Politische Eckpunkte hierfür waren der XX. Parteitag der KPdSU und die
begonnene Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, der politische
Führungswechsel in Polen mit Gomulka (Oktober 1956) und der ungarische
Aufstand (Oktober bis November 1956). Zwischen 1957 und 1960 fanden
drei Konferenzen der Filmschaffenden sozialistischer Länder statt, auf
denen der letztlich gescheiterte Versuch zu einer gemeinsamen politisch
fundierten Realismusprogrammatik gemacht wurde:
1.Konferenz in Prag/ČSSR (12. 12. - 18. 12. 1957) /36/
2.Konferenz in Sinaia/Rumänien (3. - 20. 12. 1958 mit Beteiligung von Delegationen der VR China und der VR Korea) /37/
3.Konferenz in Sofia/Bulgarien (15. - 20. 11. 1960).
In diesen Jahren vollzog sich seitens der Ostblockländer ein
Aufbruch. Es ging um die Befreiung von falschem Heroismus. Der
bulgarische Drehbuchautor Angel Wagenstein formulierte: „Wir befreien
uns von dem falschen Heroisieren, wobei wir in dem Wunsch, die
Schönheit der tatsächlich bei uns existierenden heldenhaften Menschen
zu zeigen, sie auf einen so hohen Sockel erheben, dass sie der Umwelt
entfremdet werden, die sie geschaffen hat, ihre menschlichen Umrisse
verlieren und infolgedessen, nachdem sie auf der Leinwand die
Verbindung zu den Massen verloren, auch keine Fühlungnahme mit den
Massen im Vorführungssaal haben ... Wir befreien uns überhaupt von dem
Schematismus, dem Lack, dem Pomp, der gleichzeitigen Behandlung
zahlreicher Themen, der Konfliktminderung und der Deklaration.“ /38/
Es ginge um „neue Gedanken, neue Leidenschaften, neue Charaktere.“ /39/
Es ging anfangs um neue Filmheldenkonzepte, die das Ausmaß der
im 2. Weltkrieg, in den Katastrophen der nationalen Geschichte
erbrachten Opfer weiter tragen sollten und es ging um konfliktreiche
Gegenwartsprozesse. Im Zuge dieser Entwicklungen wurden neue
filmpolitische Standortbestimmungen des sozialistischen Realismus als
notwendig erkannt. (Anmerkung: In der angloamerikanischen Literatur
findet sich dagegen eine vereinfachte Sicht im Sinne einer Frontbildung
zur sozialistischen Realismusprogrammatik in den osteuropäischen
Ländern, die ausschließlich im Kontext und Weiterwirken der
stalinistischen kulturpolitischen „Sprache“ verstanden wurde. Diese
vereinfachte Sicht auf Konzepte des sozialistischen Realismus
unterscheidet nicht zwischen a) den Doktrinen einer stalinistischen
Kulturpolitik mit den Forderungen Parteilichkeit, Volksverbundenheit,
Typisierung, Wahrheit und
b) der tatsächlichen Weite und Vielfalt von Kunstkonzepten
der Künstler im Umgang mit der Realität der sozialistischen
Gesellschaft und entsprechenden kunsttheoretischen Vorstößen zu neuen
Positionen einer Theorie des sozialistischen Realismus. /40/ )
In der Abgrenzung von der Ära des Personenkultes betonte man ab 1957/58
- die Überwindung des Schematismus und die Zuwendung zur Lebenswahrheit
und
- die Befreiung von falschem Heroismus und eine kritische
ästhetische Debatte mit falschen nationalen Mythen (letzteres war
insbesondere nach 1956 ein Verdienst der polnischen Entwicklung)
Es ist bedenkenswert, dass einige Innovationen preisgekrönter
sowjetischer Spielfilme bereits in polnischen Spielfilmen zu entdecken
waren. So sind außergewöhnlich lange Kamerafahrten, wie die in KRANICHE
ZIEHEN, auch in Wajdas KANAL (UA: 20. 4. 1957) zu entdecken. DER MANN
AUF DEN SCHIENEN war die erste Auseinandersetzung mit dem Personenkult
um 1956 überhaupt - wenn auch aus spezifisch polnisch nationaler Sicht.
Als A. Tarkowskij 1961 mit seinem Diplomfilm DIE WALZE UND DIE
GEIGE antrat, da lag der 1958 in Łodz fertig gestellte Diplomfilm von
R. Polański ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK bereits vor. Allerdings
startete in der ersten Hälfte der sechziger Jahre parallel zu den
osteuropäischen Neuen Wellen in der SU eine neue Regiegeneration (Igor
Talankin, Larissa Schepitko, Andrej Tarkowskij, W. Schukschin, Andrej
Michalkow-Kotschalowski, Alexander Mitta u.a.). Generationsbrüche der
Regieentwicklungen, wie sie in Polen oder in der ČSSR oder in Ungarn
oder in Jugoslawien ( partiell auch in Bulgarien und Rumänien) in
dieser Zeit zu beobachten sind, waren in der UdSSR nicht so ausgeprägt.
Dass die sowjetische Seite der Verbandsfunktionäre bemüht war,
der auseinander fallenden Einheit im Ostblock mit Kritik entgegen zu
treten, wird an der auf der II. Konferenz der Filmschaffenden
sozialistischer Länder (1958) gestarteten Kritik der sowjetische
Delegation mit dem Referat von Alexej Speschnew an der polnischen
Entwicklung deutlich. Man reagierte auf die Feststellung der
französischen Zeitschrift ‚Cinéma 58’ , wonach die neuere polnische
Filmentwicklung ein Alarmsignal im Ostblock sei, mit einer
prinzipiellen Kritik: „Leider ziehen manche unserer polnischen Kollegen
statt des sozialistischen Neurertums auf dem Gebiete von Inhalt und
Form faktisch Epigonentum, kleinbürgerlichen Subjektivismus, banale
Dramen von Einsamkeit, Verzweiflung und Nihilismus vor, das heißt, sie
suchen im Neuen das Alte, längst vom alten Europa Überdachte und
Überlebte ... Düstere, einseitige Weltanschauung, mangelnder Glaube an
den Menschen, brennendes Interesse für den Tod und gleichzeitig ein
Ausweichen vor den sozialen Problemen sind außerordentlich bezeichnend
für einige polnische Filme der letzten Zeit. Und wir nehmen an, dass
unsere polnischen Kollegen das Erscheinen eines Artikels in der
französischen Zeitschrift ‚Cinéma 58’ unter dem Titel ‚Photogenie du
desespoir’ nicht ruhig hinnehmen können. Die Zeitschrift schreibt, dass
viele der neuesten polnischen Filme die Bildhaftigkeit der Gewalt und
Grausamkeit als Rezept benützen, das erstaunliche künstlerische
Resultate zeitigt, aber sie gleichzeitig mit den Fäulniserregern des
Nihilismus infiziert.“ /41/
Zu diesem Zeitpunkt wagte die polnische Delegation, deren
Standpunkt Prof. Jerzy Toeplitz vortrug, dieser Kritik in diesem
Gremium noch nicht zu widersprechen. /42/
In den frühen sechziger Jahren ändert sich das.
Der Grund hierfür ist nicht so sehr in der Filmpolitik der
herrschenden sozialistischen Parteien zu suchen als vielmehr in der
Tatsache, dass sich in den genannten sozialistischen Ländern
eigenständige Intellektuellenkulturen konstituierten – zuerst in
Zeitschriften, in der Literatur und im Theater – also in
Öffentlichkeiten, die gerade die Differenzierung gegen die
kulturpolitische Homogenisierung mobilisierten. In Jugoslawien waren
auch Zirkel von Philosophen Wegbereiter einer Identitätssuche von
Intellektuellen, die auf ihre – als soziale Schicht – Eigenständigkeit
pochten. Der Aufbruch neuer Regiegenerationen im Spielfilm in Osteuropa
in den sechziger Jahren ist nur mit dieser Konstituierung neuer
Intellektuellenkulturen erklärbar und sie hatte in Polen, in der
Tschechoslowakei, in Ungarn und insbesondere in Jugoslawien
oppositionelle Züge, war aber in der Mehrzahl der Spielfilme an der
Realität und den sozialen Fragen im Sozialismus orientiert.
Der Franzose Marcel Martin hat 1960 hervorgehoben, dass die
Nouvelle Vague in Frankreich ausschließlich eine Kultur junger
französischer Intellektueller gewesen sei. Für Frankreich betonte er
die Schwierigkeit, angesichts des Algerienkrieges gegen die Zensur
bestehen zu können. Er schrieb: „Die positive Seite des Phänomens ´Neue
Welle´ ist, dass es für die Jungen jetzt leichter ist, mit einem Film
zu debütieren. Seine betrübliche Seite ist es, dass die Mehrzahl dieser
Filme außerhalb des wirklichen Lebens bleibt, und dass sie nur den
Standpunkt junger bürgerlicher Intellektueller darlegen – bisweilen
ehrlich, oft herausfordernd und immer verworren.“ Man würde sich „auf
humanistische Themen beschränken, ohne soziale Fragen eindeutig zu
behandeln.“ /43/
Martins Feststellungen lassen den Schluss zu, dass in der
Frage nach der Nähe zu sozialen Fragen in der Gesellschaft
beträchtliche Unterschiede zwischen den ost- und den westeuropäischen
Intellektuellenkulturen und ihren Neuen Wellen bestanden.
Diese Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa als ein
Underground-Phänomen zu bezeichnen, trifft nicht ausreichend die
entstandene Situation. Abgesehen davon, dass der Begriff „underground“
für Konzepte der Subkulturen bestimmend ist.
Insbesondere die führende Entwicklung der Tschechischen Neuen
Welle von 1963 bis 1968/69 spricht gegen eine solche Auffassung. Sie
war getragen von einer breiten Demokratieentwicklung im Lande, von
einer intellektuellen Entfremdungsdebatte und von einem strikten Bezug
zur Nationalliteratur.
Es ging in der ČSSR, in Jugoslawien und in Polen und Ungarn in
modifizierter Weise um sich konstituierende Intellektuellenkulturen von
jungen Generationen, die ihre eigenen (schichten- und
mentalitätsspezifischen) Sichten auf den Sozialismus entwickelten und
die Herrschaftskritik an Partei und Staat geltend machten. Diese neuen
Intellektuellenkulturen verstanden sich oftmals als gegenkulturelle
Entwicklung zu den dogmatisch erstarrten Repräsentations- und
Legitimationsdiskursen der „Staatskultur“.
Diese Intellektuellenkulturen forderten oftmals mehr die
Werte eines „menschlichen Sozialismus“ ein als die Realität sie in
diesen Ländern, die von den Repräsentationsinteressen und den
politischen Legitimationsabsichten des Staates und der Partei bestimmt
waren, bereits zuließen (krass in der Tschechischen Neuen Welle und im
jugoslawischen Novi film). Sie konnten in der überwiegenden Mehrzahl
neben den älteren Generationen ihre oppositionelle Stimme erheben – an
den Filmhochschulen, in den Studios und in der Öffentlichkeit. Sie
verstanden sich auch nicht als avantgardistische Experimentalfilmer,
weshalb die Annahme von Underground-Enklaven unsinnig ist. Vereinzelt
gab es Filme – so in Jugoslawien -, die sich in Enklaven von
Subkulturen zurückgezogen hatten und die dabei in Konflikt mit der
Zensur gerieten. Solche Einzelfälle berechtigen aber nicht, von den
Neuen Wellen als „Underground“ - Entwicklungen in der Filmkultur der
sozialistischen Länder zu sprechen.
In der DEFA der DDR war die Allmacht der kulturpolitischen
Führung so strikt, dass auch der Aufbruch im so genannten
Gegenwartsfilm zwischen 1963 und 1965 nicht mit einer Opposition gegen
die SED in Verbindung gebracht werden kann. Vom Fehlen einer
oppositionellen Intellektuellenkultur und von der Allmacht der
Kulturpolitik sind auch die Entwicklungen in Bulgarien und Rumänien
gekennzeichnet, wenn auch interessante Regisseure wie L. Pintilei in
Rumänien Beachtung finden müssen.
Grenzfälle, die mehr auf das kulturelle Erbe der Neuansätze
von jungen Regisseuren im Prozess der Modernisierung im Ostblock
zurückgeführt werden müssen als auf oppositionelle
Intellektuellenkulturen und Auseinandersetzungen mit einer wie auch
immer gearteten normativen Ästhetik des sozialistischen Realismus sind
in der Tifliser Schule bei Tengis Abuladse (Georgien) und in Moldawien
bei S. Paradshanow in interessanter Weise auszumachen.
Einen Sonderfall bildet die Entwicklung des jungen
polnischen Spielfilms zwischen 1960 und 1970. Nach der bedeutenden
Phase einer geschlossenen Polnischen Schule von 1956 bis 1961 verläuft
die Entwicklung in den 60er Jahren diskontinuierlicher und weist nach
1962/63, nach dem Weggang von Polański, einen Bruch auf, denn es
entstehen in diesen Jahren nur vereinzelte Filme einer jungen
Generation (Jerzy Skolimowski mit RYSOPIS, 1964 und WALKOVER, 1965;
sein Film BARRIERE, 1966, soll nach seinen Angaben von Jean-Luc Godards
PIERROT LA FOU, 1965, beeinflusst worden sein; Krzystof Zanussis
Diplomfilm SMIERC PROWINCJALA/ TOD EINES PROVINZLERS, 1966). Ein Bruch,
der erst mit den Filmen von Witold Leszynski (ZYWOT MATEUSZA/ DAS LEBEN
DES MATTHÄUS, 1966/67), Henryk Kluba (CHUDY I INNY/ DER DÜNNE UND DIE
ANDEREN, 1967), Marek Piwoski (REJS/ DER DAMPFER, 1968), Krzystof
Zanussi (STRUKTURA KRYSZTALU, 1969) überwunden wird. Zanussi wird dann
zum Leitbild einer Gruppe jüngerer Regisseure, die in den 70er Jahren
antreten werden. Allerdings wies in den 60er Jahren Kazimierz Kutz eine
kontinuierliche Filmografie auf (KRZYZ WALEZNYCH/ TAPFERKEITSMEDAILLE,
1962; MILCZENIE/ DIE SCHULD, 1963; KTOKOLWIEK WIE…/ WER KENNT DIESE
FRAU, 1966; SOL ZIEMI CZARNEJ/ DAS SALZ DER SCHWARZEN ERDE, 1970).
Für die polnische Situation in diesem Jahrzehnt ist auch
benennenswert, dass in der ersten Hälfte der 60er Jahre die neue
Wirtschaftspolitik die Konsumvorstellungen in der Bevölkerung
beförderte und andererseits – außer den nach wie vor bestehenden
Einflüssen der Werte des Katholizismus – keine mit den
Intellektuellenkulturen in der ČSSR oder in Jugoslawien oder auch in
Ungarn vergleichbaren gesamtgesellschaftlich verbindlichen
sozialistischen Wertediskurse festzustellen sind. An der Schwelle der
60er Jahre dominierte in einigen Filmen eher ein resignativer
Skeptizismus (Andrzej Wajda NIEWINNI CZARODZIEJE/ DIE UNSCHULDIGEN
ZAUBERER, 1960, als symptomatische Bestandsaufnahme der jungen
Generation; Roman Polański MESSER IM WASSER, 1962).
1968 wird zum einschneidenden Jahr eines Wandels des
kulturpolitischen Klimas in Polen: es gibt eine antisemitische Welle,
die auch Filmschaffende ( z.B. A. Ford, den Historiker J. Toeplitz)
zwingt, ins Ausland zu gehen, und es gibt Versuche, die
Produktionsstrukturen der Filmwirtschaft zu verändern.
Im Zentrum der ungarischen Neuen Welle steht die
nationalgeschichtliche Identitätsfindung nach 1956, die in den 60er
Jahren möglich wird (M. Jancsós Ideenstreit-Parabeln, die getragen sind
von geschichtlichen Erfahrung des Irrationalismus von Diktaturen -
ungarischer Militärfaschismus, stalinistische Phase - und des
Nichtentrinnenkönnens, aber im Gegensatz zu den Tschechen und Polen
wird das nationale Befreiungsmotiv der Ungarn geltend gemacht).
Ungarn ist das einzige Ostblockland, in dem eine Neue Welle
über ein unabhängiges Studio sich entwickeln kann: das Béla - Balázs -
Studio
(1960/61: die sogenannte Máriassy-Klasse mit 26 Mitgliedern/
die Starter: Sándor Sara (ZIGEUNER), Judith Elek, István Gaal
(zeitweise in Rom), I. Szabó, Z. Huszárik u.a.).
Es werden wichtige Neuerungen der Rückblendendramaturgien möglich (1966: I. Szabó VATER; András Kovács KALTE TAGE).
Bedeutende Neuerungen der Arrangementinszenierungen betreffen
Gruppen-und Massenarrangement mit neuartigen Bewegungsmotiven, wobei
Einflüsse der Traditionen des Tanztheaters nationalkulturellen
Ursprungs sind (Theatergruppe von Elemér Muharay, 1901-60, mit ihrer
folkloristischen Tanztheatertechnik).
Genre- und Gattungssynthesen sind festzustellen: Schauspiel-
und Tanztheater und Dokumentarfilm, Komödie, Parabeln und die
Dramaturgie des Ideenstreits - letzteres bei M. Janscó (SCHIMMERNDE
WINDE, 1969).
Für die ungarische Neue Welle wird - völlig anders als in
Polen und in der ČSSR- die Entdeckung von „Bewegungssprachen“, von
choreografischen Arrangements für Regiestilistiken wichtig. Auch das so
genannte „Bartok-Motiv“ der Regiegeneration der ersten Hälfte der
sechziger Jahre verweist auf den nationalkulturell bedingten Einfluss
moderner Musik auf die „Sprache der Filmkunst“. Wichtig an diesen
audiovisuellen Einflüssen ist, dass eine Provokation der Dialog-Sprache
im Spielfilm bewirkt wird.
Neuorientierungen gehen von der Fotografie der Kamera und den
neuen Produktionsbedingungen aus (z.B. choreographische Kamerastilistik
von Lajos Koltai; S. Sarás dokumentarer Stil /44/).
Die Ungarn zeichnen neue Generationsmentalitäten aus, die aus
der Bewältigung der nationalen Krise von 1956 und im weiteren der
Krisen in der ungarischen Nationalgeschichte von 1848, 1863, 1918/19
erwachsen. Hinzukommt Ungarns Nähe zu Italien (Janscó zu Pasolini,
Bertolucci - beachte auch das Motiv der Nacktheit bei Janscó als Motiv
der Demütigung und des Ausgeliefertseins; Szabó zu Fellini).
Im Vergleich zur ČSSR und zu Polen fällt auf, dass die
Überwindung der nationalen Depression nach 1957 zu den Motiven
„Demütigung/ Ausgeliefertsein“ und „Mensch und Macht“ (in den
Janscó-Filmen) führt, die als nationalgeschichtliche Chiffren mit dem
Topoi des „Erwachsenwerdens und der Befreiung“ verbunden werden – so
klassisch in Szabós APA/ VATER (1966).
Von einer Neuen Welle in Bulgarien in den sechziger Jahren kann
nicht gesprochen werden, aber es tritt eine neue Generation mit ihren
Debütfilmen an.
Einigen dieser Generation gelingt in den siebziger Jahren, in
einer Zeit der Modernisierung der bulgarischen Gesellschaft
(Industrialisierung der Landwirtschaft, zunehmende Verstädterung mit
tief greifenden Wandlungen der Lebensweise), der Durchbruch.
Einige Debütfilme in den sechziger Jahren signalisieren Talente.
Dazu zählen der Debütfilm von Binka Sheljaskowa A BIACHME
MLADI/ WIR WAREN JUNG (DB: Christo Ganev) (UA: 13.3.1961), von Ljubomir
Scharlandshiev CHRONIK DER GEFÜHLE (DB: Todor Manov) (UA 9.4.1962), der
Film von Eduard Sachariev WENN DER ZUG NICHT KOMMT (DB: Georgi Mischev)
(UA: 21.6.1967). Als Durchbruch wird bezeichnet OTKLONENIJE/ DER UMWEG;
R: Todor Stojanov/Grischa Ostrowski (1967). Das Jahr 1969 signalisiert
einen Aufbruch mit Christo Christow/Todor Dinov: IKONOSTASAT/ DIE
ALTARWAND und der im gleichen Jahr herausgekommenen Auseinandersetzung
mit der Zeit des Stalinismus (allerdings formal traditionell) mit
Metodi Adonovs: BJALATA STAIA/ DAS WEISSE ZIMMER.
Das Fehlen einer Filmhochschule in den sechziger Jahren hat die Herausbildung einer nationalen Neuen Welle in Bulgarien gehemmt.
„Vor allem besitzen wir keine spezielle Hochschule zur
Heranbildung von Kadern für die Filmkunst. Lediglich an der
Theaterhochschule haben die Studenten der theoretischen Fachrichtungen
das Recht, Vorlesungen über Filmtheorie und -geschichte zu hören und
sich auf die Filmwissenschaft zu spezialisieren, wenn sie eine
entsprechende Dissertation verteidigt haben. Diese Vorlesungen über
Filmkunst werden natürlich auch von anderen Studenten besucht, doch
bildet die Hochschule weder profilierte Filmschauspieler(unserer
Ansicht nach ist das auch nicht nötig) noch Filmregisseure heran. Die
bulgarischen Filmregisseure erhalten ihre Ausbildung im Ausland.
Nebenbei gesagt, trifft all das auch auf die schöpferischen Kader zu,
die vom Fernsehen benötigt werden.“ /45/
In Rumänien, das 1965 mit dem Machtantritt von Ceauşescu (1965
Generalsekretär, 1967 Staatsoberhaupt) in eine Phase der verschärften
film- und kulturpolitischen Restriktionen ging, entwickeln sich in den
sechziger Jahren vor allem zwei international sich durchsetzende
Regisseure: Lucian Pintilei und Liviu Ciuelei.
Obwohl Lucian Pintilei (*1933) in seiner Entwicklung von Paris
beeinflusst war, gilt, dass die beiden Regisseure der Erneuerung des
rumänischen Kinofilms in den 60er Jahren von einer langjährigen
Bühnenregietätigkeit zur Spielfilmregie übergingen. Debüts: L.Ciuelei:
DIE ERUPTION, 1959; ein internationaler Erfolg wurde WALD DER
GEHENKTEN, 1965; L. Pintilie: SONNTAGS UM 6UHR, 1965. Sein Spielfilm
DIE REKONSTRUKTION (1968-70) erregte durch seine Ästhetik und
Dramaturgie des Rollenspiels und der „Spiegel“ - Axiomatik
international Aufsehen. Pintilei dazu:
„Zwischen uns und die Wirklichkeit schieben sich oft
verzerrende Spiegel. Heute muss die Losung lauten: diese Spiegel gilt
es mit allem Zorn zu zerbrechen. Dann kann man der Realität
gegenübertreten.“ /46/
IV. Schlußbemerkungen
Nachdem der Weg der Demokratisierung in der ČSSR beginnend mit
dem Einmarsch des Militärs der SU und anderer Ostblockstaaten am
21.8.1968 jäh abgeschnitten wurde, setzte auch das Ende der
Tschechischen Neuen Welle ein und die entstandene Intellektuellenkultur
wurde durch Verbote aller Art demontiert und in die Emigration
abgedrängt. Repressionen setzten auch 1971/72 in Jugoslawien ein.
Dies nehme ich als Anlass für die Zäsur 1970, denn nahezu
alle Generationsaufbrüche verflachten erst einmal nach diesen
Ereignissen. Dass in der ungarischen und in der polnischen
Kinematografie und vereinzelt auf dem Balkan dann in den 70er Jahren
eine Neubesinnung einsetzte, die der künstlerischen Entwicklung
kräftige Impulse im Rahmen eines je nationalen Verständnisses gab, ist
unbestritten, aber diese Entwicklungen sind nicht mehr vergleichbar mit
dem Phänomen der Neuen Wellen der sechziger Jahre, da sich die
Rahmenbedingungen gewandelt hatten und neue Generationen mit neuen
Konzepten auf den Plan traten.
Nicht in allgemeinen „tiefen Gemeinsamkeiten“ der Neuen Wellen
/47/
in West- und Ost-, Süd- und Nordeuropa ist das europäische Kulturerbe,
das die Filmgeschichte der 60er Jahre uns in Retrospektiven bedeutet,
festzuschreiben, wenn auch der Aufbruch neuer Generationen von
Intellektuellen in Modernisierungsprozessen der sozialistischen und der
kapitalistischen Staaten die entscheidende Gemeinsamkeit war.
Es ist die Vielgestaltigkeit und es sind die nationalen
Differenzierungen, die einen Reichtum der Themen, Stoffe,
Gestaltungsmittel, Charaktere und Stars in dieser filmgeschichtlichen
Ära hervorgebracht haben. Einer Ära, die als eine der wenigen
Hochkunstperioden in der europäischen Filmgeschichte des
20.Jahrhunderts angesehen werden kann und die diesen Rang durch eine
Vielzahl von Wechselbeziehungen im Ensemble der Künste errungen hatte,
wobei Gegensätze zwischen den Neuen Wellen in den sozialistischen
Staaten Ost- und Südosteuropas und in den Demokratien Westeuropas nicht
übersehen werden sollten.
Auf die eingangs aufgeworfene Frage „Nouvelle Vague in
Osteuropa?“ wäre so zu antworten: Es gab eine Rezeption der Nouvelle
Vague, ihrer Arbeitsmethoden, Stilistiken und Schauspielerkonzeptionen
in ost- und südosteuropäischen Ländern vorrangig zwischen 1961 und
1964, aber die Bindungen zu den jeweiligen Nationalliteraturen und auch
Theaterwellen und die oftmals herrschaftskritischen Funktions- und
Öffentlichkeitskonzepte unterschieden sich in Ostmittel- und
Südosteuropa grundsätzlich von denen der Neuen Wellen in Westeuropa. In
Ost- und Südosteuropa waren sie ein Versuch oppositioneller
Intellektuellenkulturen in Modernisierungsprozessen, eine demokratische
Filmkunst für die Massen im Sozialismus gegen die erstarrten
Repräsentations- und Legitimationsdiskurse der Herrschaftsapparate von
Staat und kommunistischer Partei zu schaffen. Diese Versuche
scheiterten schließlich an den politischen Modernisierungsbarrieren in
den sozialistischen Staaten.
Anmerkungen
1 Marek Hendrykowski: Veränderungen in Ostmitteleuropa. In:
Geoffrey Nowell – Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films,
Metzler: Stuttgart/Weimar 1998, S.592.
2 Pierre Sorlin: European Cinemas - European Societies.1939-1990, Routledge: London, New York 1991.
3 Insbesondere als bis heute gültiges Schlüsselwerk: Mira
Liehm/ Antonín J. Liehm: The most important Art. Eastern European Film
After 1945, University of California Press, Berkeley, Los Angeles,
London 1979, Part IV: The Possibilities of Art and the Art of the
Possible, p.273-432; außerdem: Nina Hibbin: Eastern Europe: an
illustrated Guide. London: Zwemmer 1969, Alistair White: New Cinema in
Eastern Europe. London: Studio Vista 1971, Encyclopedia of European
Cinema ed. By Ginette Vineendean. London: BFI 1995 (Mitarbeit
zahlreicher ost- und südosteuropäischer Filmwissenschaftler).
4 Opacita e Transparenze. Bulgaria, Cecoslovaccia, Polonia,
Republica Democratia Tedesca, Romania, Ungheria.Venezia: Marsilio 1987.
5 Die siebte Kunst auf dem Pulverfass. Balkan-Film. Hrsg. Bogdan Gribić, Gabriel Loidolt, Rossen Milev, Graz: ed. blimp 1996.
6 Ronald Holoway: The Bulgarian Cinema. Rutherford, Madison,
Teaneck: Fairlegh Dickinson University Press, London, Toronto
Associated University Press 1986; Daniel J. Goulding: Liberated Cinema:
the Yugoslaw Experience. Bloomington: Indiana University Press 1985;
auch nennenswert: Judith Roof: “Romania”. In: Thomas J. Slater (ed.):
Handbook of Soviet and East European Film and Filmmakers. New York and
London: Greenwood Press 1992.
7 Z.B. Georg Hofer: Die Jagd im Film. Aufsätze zu Film und
Fernsehen Band 2, Copi Verlag, Coppengrave 1994; ein Versuch zur
Komparatistik der flash-back-Dramaturgien ist: Lutz Haucke: Europäische
Rückblendendramaturgien in den 60er Jahren in Ost und West. In: Lutz
Haucke: Film – Künste – TV-Shows. Film- und fernsehwissenschaftliche
Studien 1978-2004. Rhombos: Berlin 2005, S.105-131.
8 Rolf Aurich/ Wolfgang Jacobsen (Hg.): Europeen 60s. Revolte,
Phantasie & Utopie. Mit einem Essay von Jörg Becker, Berlin 2002.
9 Vgl. Peter Hames: The Czechoslovak New Wave. Berkeley
California: University of California Press 1985; Die Filme des Prager
Frühlings 1963-1969. KINEMATHEK 79, 29.Jg., September 1992;
Hans-Joachim Schlegel (Hg.): Filmkultur im Umbruch. Beispiel Slowakei.
Edition Blimp: Graz 1993; Intime Beleuchtung. Die Spielfilme des Prager
Frühlings. Wien: Verlag filmarchiv austria: Graz 1998; Lutz Haucke: Die
Tschechische Neue Welle (1963-1969) und die Konstituierung einer neuen
Intellektuellenkultur in den 60er Jahren in der ČSSR. In: Lutz Haucke:
Film – Künste – TV-Shows. Film- und fernsehwissenschaftliche Studien
1978-2004. Rhombos: Berlin 2005, S.133-145.
10 Daniel J. Goulding: Liberated Cinema: the Yugoslav
Experience. Bloomington: Indiana University Press 1985; Abschied von
Jugoslawien. Schatten und Licht tanzen Tod. Filme aus den Jahren
1946-1992. Retrospektive der Viennale ´93, Wien 1993.
11 Kristin Thompson und David Bordwell FILM HISTORY. AN
INTRODUCTION, McGraw Hill 1994, vgl. die Beachtung der Neuen Wellen in
der SU und anderen Ostblockländern in den 60ern, S.536-548; der Prager
Frühling und die Dissidenten in der UdSSR, S.634-38; die Entwicklung
der 70er und 80er Jahre im Ostblock, S.744-53.
12 Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.): FISCHERS FILMGESCHICHTE, Bd.4(1961-1976), Ffm 1992.
13 James Monaco: The New Wave. Truffaut, Godard, Chabrol, Rohmer, Rivette. Oxford University Press, New York 1976, p.10.
14 Vgl. Kristin Thompson/David Bordwell: Film History .An Introduction, McGRAW-Hill,Inc.: New York... 1994, p.517- 557.
15 Vgl. Geoffrey Nowell-Smith (Hrsg.): Geschichte des
internationalen Films, Verlag J.B. Metzler: Stuttgart, Weimar 1998,
III. Der moderne Film ab 1960, S.421-710; allerdings gesondert zu
Ostmitteleuropa S.591- 600.
16 Vgl. hierzu: Volker Roloff: Film und Literatur. Zur Theorie
und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut,
Godard und Antonioni. In: Peter V.Zima: Literatur intermedial,
Darmstadt 1995, S.285
17 Jan Zalman: Filmprofile. Orbis: Prag 1967, S.13.
18 Ebd., S.15.
19 Geoffrey Nowell – Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Metzler: Stuttgart/Weimar 1998, S.592.
20 Ich übernehme diesen Begriff von Thomas Elsaesser, der ihn
im Zusammenhang mit dem Melodrama entwickelte als er darauf hinwies,
dass soziale Klassenkonflikte ins Sexuelle metaphorisch übertragen
werden können.
Vgl. Thomas Elsaesser: Tales of Sound and fury. Anmerkungen
zum Familienmelodram. In: Christian Cargnelli/ Michael Palm(Hrsg.): Und
immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen im Film,
Wien 1994, S.96/97.
21 Dieser Film besteht aus folgenden Episoden:
(1) SMRT PANA BALTAZARA/DER TOD DES HERRN BALTHASAR
Regie: J.Menzel.
(2) PODVODNICI/DIE SCHWINDLER.
Regie: Jan Nemeć.
(3) DUM RADOSTI / HAUS DER FREUDE.
Regie: Ewald Schorm.
(4) STEHIMBISS WELT / AUTOMAT SVET.
Regie: Vera Chytilová.
(5) ROMANCE / EINE ROMANZE.
Regie: Jaromil Jireš
22 Emanuel Frynta führt die Erzähltechnik das „Pábeni“, das
„Bafeln“ des tschechischen Erzählers B. Hrabal zurück auf die Prager
Kneipengeschichte:
„Legen wir die Texte von Hrabal und Hašek nebeneinander...dann
können wir einen fundamentalen Vorgang nicht übersehen, dass nämlich
der lebendige Kern der Wortkunst des einen wie des anderen ein und
dasselbe Element ist: das kennzeichnende Genre der Großstadtfolklore,
der Kneipengeschichte...Die Kneipengeschichte erfüllt hier jene überaus
wichtige Funktion, den Stoff des Lebens von der existentiellen in die
komödiantische Sphäre zu transportieren.“
Emanuel Frynta: Kneipengeschichte und Surrealismus. In: Susanna Roth (Hrsg.): Hommage á Hrabal, Ffm: Suhrkamp, 1989, S.178.
23 Alexander Kluge: Die Utopie Film. In: Rudolf Denk(Hrsg.):
Texte zur Poetik des Films, Philipp Reclam jun.: Stuttgart 1978, S.145.
24 Vgl. Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film, Literatur in
Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S.165f, 212f.
25 Volker Roloff: Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis
der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und
Antonioni. In: Peter V. Zima: Literatur intermedial, Darmstadt 1995,
S.284.
26 Wolfgang Friedrich Schwarz/Nina Gütter: Sowjetrussisches
und Tschechisches Drama von 1964 bis zu den 70er Jahren. Reihe:
Slavische Sprachen und Literaturen in der Typoscript-Edition
Hieronymus, Neuried 1984, S.70.
27 Geoffrey Nowell – Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Metzler: Stuttgart/ Weimar 1998, S.593.
28 Karel Diviš: Kommunikative Strukturen im tschechischen Drama
der 60er Jahre. Symbolae Slavicae hrsg. v. Wolfgang Gesemann und Helmut
Schaller, Bd.16, Lang: Ffm/Bern 1983, S.17.
29 Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den PHYSIKERN. In: Friedrich Dürrenmatt: Komödien, Volk und Welt: Berlin 1966, S.337-338.
30 Karel Diviš, a.a.O., S.15.
31 Ebd., S.187.
32 Ebd., S.16.
33 Wolfgang Friedrich Schwarz/Nina Gütter: Sowjetrussisches und
Tschechisches Drama von 1964 bis zu den 70er Jahren. Reihe: Slavische
Sprachen und Literaturen in der Typoscript-Edition Hieronymus, Neuwied
1984, S. 87.
34 Vgl. Kristin Thompson/David Bordwell: Film History. An Introduction. Mc Graw-Hill, Inc.: NY…, London.., 1994, p. 517 f., 522.
35 Mira Liehm, Antonín J. Liehm: The most important Art.
Eastern European Film after 1945, University of California Press:
Berkeley, Los Angeles, London 1979, p.275f.
36 Vgl. Sonderbeilage zur „Deutschen Filmkunst“, Heft 2, 1958.
37 Vgl. Sonderbeilage zur „Deutschen Filmkunst“, Heft 4, 1959.
38 Angel Wagenstein: Entwicklungsprobleme des bulgarischen Filmschaffens. In: „Deutsche Filmkunst“, Heft 2, 1958, S.17.
39 Ebd., S.18.
40 Vgl. hierzu insbesondere Michel Jon Stoil: Cinema Beyond the
Danube: The Camera and the Politics. The Scarecrow Press, Inc.
Metuchen, New York 1974. Auch Paul Coates: The Red and the White. The
Cinema of People’s Poland. London: Wallflower Press 2005 geht nur der
„Sprache der Kulturpolitiker“ in Polen nach und hinterfragt nicht, ob
es nicht auch in Polen Kunstkonzepte eines sozialistischen Realismus im
Sinne von Realitätssinn und Realismusprogrammatik der Künstler in der
sozialistischen Gesellschaft gegeben hat. Der sozialistische Realismus
wird ausschließlich auf einen Forderungskatalog der „Apparate“
reduziert.
41 Alexej Speschnew: Die heutige Welt und die Kunst der
Gegenwart (Referat der sowjetischen Delegation). In: „Deutsche
Filmkunst“ , Heft 4, 1959, S.8-9.
42 Prof. Jerzy Toeplitz: Es gibt nur einen Weg (Aus dem Referat der polnischen Delegation), ebd., S.30-31.
43 Marcel Martin: „Neue Welle“ ohne Perspektive. In: „Deutsche Filmkunst“,8.Jg., 12/1960, S.425.
44 Vgl. Teresa Kriedemann: Die ungarische neue Welle. Start
einer Regiegeneration im Béla Balázs Studio. Kurzfilme von István Szabó
und Sárá Sándor. Humboldt Universität Berlin, Institut für
Theaterwissenschaft/Kulturelle Kommunikation, MA-Arbeit vom 22.08.1995.
45 Quelle: Basismaterial BULGARIEN, Materialien des Symposiums
„Film-Fernsehen-Zuschauer-Publikum-Gesellschaft“ der Verbände der Film-
und Fernsehschaffenden der sozialistischen Länder in Berlin vom
24.-29.3.1969, S.27 (unveröffentlicht).
46 Zitat nach: Lino Micchichè: Il nuovo cinema gegli anni ‘60, Turin 1972, S.69.
47 Vgl. Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hrsg.): European 60s. Revolte, Phantasie & Utopie, Berlin 2002, S.100.
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