Thema | Kulturation | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Dieter Segert | Ist der Westen nach 1989 unter Druck des Ostens geraten?
Eine postsozialistische Perspektive auf die Demokratie |
Dieser hier erstmals publizierte Text wurde von mir für einen Vortrag
am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg im
Sommer 2012 vorbereitet. Er konnte nur geschrieben werden, weil ich im
Jahr vorher an der Universität Wien an einem Antragsverfahren für einen
Forschungsverbund beteiligt war, an der HistorikerInnen aus
verschiedenen Teildisziplinen, der Sozial-, Kultur- und
Wirtschaftsgeschichte, aber auch PolitikwissenschaftlerInnen und eine
Ethnologin teilgenommen hatten. Diesen intensiven Debatten verdanke ich
viele Anregungen und insofern möchte ich zumindest einige der daran
beteiligten Kollegen und Kolleginnen namentlich erwähnen: Thomas
Lindenberger, Tina Olteanu, Philipp Ther, Tatjana Thelen, Rudolf Kucera
und Ulf Brunnbauer.
Einleitung: 1989 als Beginn der Verwandlung des Ostens in den Westen?
1989
kann als „Sieg des Westens“ über den Osten interpretiert werden. Nach
1989 verwandelte sich der Westen für einige Hundert Millionen
Osteuropäer zum gelobten Land. Er war das bereits vorher für einen Teil
der Bevölkerungen, der Intellektuellen und der Eliten gewesen. Nachdem
die Legitimation der alternativen Ordnung, des Staatssozialismus
zusammengebrochen war, verallgemeinerte sich diese Erwartung.
Es war selbstverständlich klar, dass es etwas dauern würde,
bevor sich der Osten endgültig an den Westen adaptiert hatte. Eine
Frage aus Umfrageforschungen der ersten Jahre in Ostdeutschland war
dann auch: wie lange dauert es bis zur Vollendung der Einheit? Anfangs
war die Zahl derer, die einen schnellen Erfolg (innerhalb weniger
Jahre) erwarteten, sehr groß, später verschob sich der allgemeine
Erwartungshorizont nach hinten. Für die Länder Osteuropas war es
ähnlich. 2005 rechneten die Ökonomen für ganz Osteuropa aus, dass es
durchschnittlich 55 Jahre dauern würde, bis die betreffenden Länder
wirtschaftlich zum Westen aufgeschlossen haben würde. (Kornai 2006, p.
238) Damit war klar, dass das Konzept einer bloßen Verdopplung des
Westens nicht funktionieren würde. Eine Adaption, die erst nach zwei
Generationen gelingt, ist am üblichen menschlichen Maß gemessen kein
wirklicher Erfolg.
In der politikwissenschaftlichen Debatte aber wurde die
Adaptionsthese zumindest ein Jahrzehnt lang, in den 1990ern, zum
herrschenden Konzept. Die Demokratiedebatte wurde durch das Paradigma
der „transition to democracy“-Schule geprägt. Nach diesem Modell wurde
angenommen, dass eine Realisierung der Institutionen liberaler
Demokratien in allen Ländern möglich wäre, in denen die vorangegangenen
Diktaturen in eine Krise geraten waren. Dem liegt offenkundig die
Vorstellung zugrunde, dass es so etwas wie einen unaufhaltsamen
Fortschritt hin zur liberalen Demokratie gäbe.
Ob das für die ganze Welt stimmte, soll hier nicht geprüft
werden. Für Osteuropa jedenfalls wurde das mit Verweis auf die
empirische Realität in einem Beitrag in der Zeitschrift „Initial“
bezweifelt, der 2004 erschien. Im postsozialistischen Osteuropa hätten
sich liberale Demokratien, konsolidierte autoritäre Regime und
verschiedene Arten hybrider Regime herausgebildet.
(Beichelt/Bönker/Wielgohs 2004, 6) mit ganz unterschiedlichen
Entwicklungstrends herausgebildet.
Trotzdem prägte das Angleichungsparadigma den „Zeitgeist“
(die Debatte in den Medien) und die Transformationsforschung, bevor es
in der Finanzwirtschaftskrise nach 2008 an Einfluss verlor.
Im folgenden Text soll versucht werden - statt mittels jener
Adaptionsthese - die Wechselbeziehung von Ost- und Westeuropa nach 1989
genauer als Ko-Evolution zweier unterschiedlicher Typen von
Gesellschaften zu begreifen. Dabei soll in der Betrachtung dieser
offenkundigen Wechselbeziehung der Gesellschaften des „Westens“ und des
„post-sozialistischen“ Ostens vornehmlich dem Einfluss des letzteren
auf den ersten nachgegangen werden.
[Das wurde durch den Autor das erste Mal einem Buch zur
Parteienentwicklung versucht. (Bos/Segert 2008) Dort wurde die
Entwicklung im Osten (im Feld seiner Parteien, der dort gegebenen Form
von repräsentativer Demokratie) als „Trendsetter“ (für den Westen)
interpretiert.]
Um aber falsche Erwartungen von
vornherein zu vermeiden, muss angemerkt werden, dass es sich bei den
nachfolgenden Thesen um nichts weiter als eine erste Begründung einer
Forschungsfrage handelt, nicht schon um Ergebnisse einer vollzogenen
Analyse.
Der komplexe Prozess der Rückwirkung des postsozialistischen Ostens auf den Westen nach 1989
In
den Geschichtswissenschaften wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten
solche komplexen Wechselwirkungen über die Grenzen von Nationalstaaten
hinaus intensiv diskutiert. In den 1990er Jahren wurden hier die
Konzepte von „Transfer“, „entangled history“ und „histoire croisée“
diskutiert. (siehe Kaelble 2005) Diese Debatten dienten dazu, die
vorher dominierende Fixierung auf die Geschichte einzelner Nationen
aufzubrechen. In jenem Jahrzehnt waren Historiker in spezifischen
Forschungsfeldern wie den „Cold-War-Studies“ oder den
„Post-Colonial-Studies“ ebenfalls weit über die Grenzen
nationalstaatlicher Geschichte hinausgegangen. Der Begriff der
Ko-Evolution ist diesem Feld der geschichtswissenschaftlichen Debatte
zuzuordnen. Er geht davon aus, dass sowohl in den Zeiten des
Systemwettstreits vor 1989 als auch nach seinem Ende die interne
Entwicklung der beiden großen europäischen Subregionen, von Ost- und
Westeuropa, nicht ohne Berücksichtigung der Wechselwirkung mit dem
jeweiligen Anderen zu erklären ist.
Die politikwissenschaftliche Transformationsforschung war
von vornherein auf weltweiten Vergleich und weltweite
Transformationsprozesse ausgerichtet. Der Begriff der verschiedenen
(drei oder vier) „Wellen der Demokratisierung“ (Huntington, Beyme)
orientierte auf globale Prozesse und Wechselwirkungen. Diese Wellen
zeugten von Lernprozessen der (rational handelnden) Akteure angesichts
internationaler Herausforderungen. Sie wurden u.a. durch
„Institutionenexport“ geprägt (zum Institutionenexport im
Transformationsprozess siehe Merkel 1994).
In der sozialwissenschaftlichen Europäisierungsforschung
wurden ähnliche Lernprozesse nationaler Akteure angesichts der Anreize
und Sanktionen ausgemacht, die die EU gegenüber den Kandidatenstaaten
anwendete (u.a. Schimmelpfennig/Sedelmeier 2007).
Schließlich verwendeten manche Autoren auch den Hegelschen
Begriff des „Zeitgeistes“ (Linz/Stepan 1996), um die sprunghafte
weltweite Ausbreitung der Demokratie in den späten 1980er Jahren zu
erklären.
Ein besser operationalisierbarer Begriff solcher komplexen
kulturellen Diffusionsprozesse über die Grenzen von Nationalstaaten
hinweg ist m.E. aus der Kulturgeschichte zu gewinnen. Dort werden
Diffusionsprozesse mit dem Modell von Akteursgruppen einer
transnationalen Kultur erklärt.
Akteure bilden Akteursnetzwerke, die über verschiedene
Länder verstreut sind. Diese transnationalen Akteure teilen einen
bestimmten kulturellen Sinn miteinander. In der Studie von Robert Brier
sind für den friedlichen und raschen Umbruch von 1989 (Brier 2009, 345
ff.) zwei wichtige Gruppen ausgemacht worden, ‚Rooted Cosmopolitans’
und ‘Epistemic Communities’. Die erste Gruppe sind die osteuropäischen
Dissidenten und ihre westeuropäischen Unterstützer, bei der zweiten
Gruppe handelt es sich um Ökonomen, die in West und Ost zur Verbreitung
marktradikaler Konzepte beitrugen.
Im üblichen Anpassungsparadigma der
politikwissenschaftlichen Debatte war allerdings die
grenzüberschreitende Einwirkung als Einbahnstraße konzipiert: Der
Westen wird als dominierende Kraft angesehen, die den Osten prägte. Die
angeführten Konzepte innerhalb der vergleichenden Geschichtsforschung
wie entangled history oder Ko-Evolution gehen von
Wechselbeziehungen aus, die in beide Richtungen gehen. Auch in dem
vorgetragenen Text wird davon ausgegangen und die Einwirkung des Ostens
auf den Westen, also der wirtschaftlich weniger entwickelten
Gesellschaften auf die entwickelteren hervorgehoben.
Zunächst allerdings scheint das angesichts der deutlichen
Dominanz des Westens in Europa in den letzten Jahren vor 1989 und auch
danach keine sehr aussichtsreiche Blickrichtung zu sein. Ein Übergang
zur liberalen Demokratie und kapitalistischer Markwirtschaft sowie die
„Rückkehr nach Europa“ waren die zentralen Losungen der Bewegungen, die
1989/90 dem Staatssozialismus ein Ende bereiteten. Der Westen gab dem
Osten in diesem Sinne deutlich die Zielrichtung der Entwicklung vor.
János Kornai bezeichnete kapitalistische Marktwirtschaft und liberale
Demokratie in seinem resümierenden Artikel der „großen Transformation“
des Ostens aus dem Jahr 2006 als „main directions“, wahrscheinlich am
besten als „Magistralen des Fortschritts“ zu übersetzen. Der Osten sei
1989 aus einer Sackgasse auf die Magistralen des
Menschheitsfortschritts zurückgekehrt. (Kornai 2006, 209, 213) Wenn man
sich mit dieser These genauer beschäftigt stellt sich heraus, dass eine
solche eindeutige Richtung der Einwirkung in der Wechselbeziehung
zwischen Ost und West nur unter der Voraussetzung angenommen werden
kann, dass die aus diesem Wandlungsprozess dem Westen selbst
erwachsenden Impulse ausgeblendet werden.
Meine dazu passende, wenn auch noch recht grob gestrickte,
These lautet: Durch die bloße Ausdehnung seiner Konstruktionsprinzipien
nach Osten verändert sich der Westen selbst.
Wie äußerte sich diese Rückwirkung auf den insgesamt
dominierenden Westen im Einzelnen? Nachfolgend soll dieser Gedanke
mittels einiger Thesen etwas genauer erläutert werden.
1) Auf dem Gebiet der Wirtschaft scheint das am
deutlichsten ablesbar zu sein. Natürlich werden die strukturellen
Bedingungen des Westens auf den Osten übertragen, aber die radikale Art
der Verwirklichung der marktradikalen Sicht einer freien
Marktwirtschaft schlägt in verschiedener Hinsicht auf den Westen
zurück: Einerseits verstärkt sich das in den alten Mitgliedsstaaten in
unterschiedlichem Maße entwickelte Modell des Rückzugs des Staates aus
der Wirtschaft und deren sozialer Regulierung durch die Umbauprozesse
im Osten. Modelle wie die radikale Senkung von Unternehmenssteuern oder
die Einführung einer „Flat tax“ werden durch deren breite Anwendung in
osteuropäischen Ländern politisch attraktiver. Andererseits verändern
sich die Wettbewerbsbedingungen in den alten Mitgliedsländern der EU
deutlich dadurch, dass nach 1989 in Osteuropa neue Märkte für die
westeuropäischen Unternehmen erschlossen worden sind. Es werden auch
günstigere Produktionsbedingungen möglich, die die Konkurrenz mit den
Unternehmen der BRIC-Staaten erleichtern. V.a. können auf Grundlage
motivierter und gut ausgebildeter ArbeitnehmerInnen und ihrer
geringerer Lohnerwartungen Produktionskosten gesenkt werden. Die
westeuropäische Autoindustrie, beispielsweise, hat diese Chance
intensiv genutzt und hat sowohl die Zulieferungen wesentlich
verbilligen können, als auch bestimmte Modelle stärker in der Nähe zu
wichtigen neuen Absatzmärkten, in den Staaten Ostmitteleuropas,
zusammenbauen lassen.
2) Der Sozialstaat, so wie er sich vor 1989 im „westlichen“
Europa herausgebildet hatte, geriet durch diesen neuen
Globalisierungsschub zusätzlich unter Druck. Er war schon seit den
1980er Jahren – nachdem keynesianistische Konzepte durch neoliberale
ersetzt wurden - unter Druck geraten, da jene den Sozialstaat nur noch
als Kostenfaktor (Lohnnebenkosten) wahrnahmen. Jetzt wurden in
Osteuropa neue Absatz- und Arbeitsmärkte erschlossen, auf denen
Lohnnebenkosten in wesentlich geringerem Umfang anfallen. In
Deutschland war die „Standortdebatte“ jenes Diskursfeld, auf dem mit
dem Verweis auf die niedrigeren Produktions- und Sozialkosten sowie
Unternehmenssteuern in den Nachbarländern die Lohnverhandlungen mit den
Gewerkschaften beeinflusst und der Umbau des Sozialstaates
vorangetrieben wurde. Während Ehrke in einem Beitrag von 2004 den
Wettbewerb zwischen dem kontinentalen und dem postkommunistischen
Modell des Kapitalismus für noch nicht entschieden hält (Ehrke 2004, S.
12), kann man mit einigem Recht wohl davon ausgehen, dass die alleinige
Existenz des postkommunistischen Kapitalismus schon einige Jahre lang
erfolgreich das kontinentaleuropäische Kapitalismusmodell zur Anpassung
gezwungen hat.
3) Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums
hat nicht nur bei den kommunistischen Parteien Westeuropas zu einem
Verlust an Prestige und politischem Einfluss geführt. Vor allem in
Frankreich und Italien sind diese Parteien nach 1989 stark in ihrem
Einfluss beschnitten oder sogar marginalisiert worden.
Merkwürdigerweise hat der Zusammenbruch des kommunistischen
Konkurrenten scheinbar am meisten der westeuropäischen Sozialdemokratie
geschadet. Seit 1989 hat sie eine Kette von politischen Niederlagen
hinnehmen müssen. Selbst die globale Finanzmarktkrise hat diesen
sozialdemokratischen Niedergangsprozess nicht aufgehalten. Ob der
jüngste Wahlsieg von Hollande in Frankreich daran etwas ändern kann,
wird man sehen. Das Grundproblem ist damit nämlich noch nicht gelöst:
Es fehlt der Sozialdemokratie an einem strategischen Konzept zur
solidarischen Gestaltung des heutigen globalen Kapitalismus. Vor 1989
hatten die sozialdemokratischen Parteien das Versprechen der besseren,
weil demokratischen Alternative zum reinen Kapitalismus für sich, nach
1989 verschwand die Utopie einer Alternative überhaupt. Es schien das
Ende der Geschichte erreicht zu sein. Die Sozialdemokratie hat am
meisten unter dem Legitimationsverlust des gegenkapitalistischen
Modells gelitten.
Im Nachfolgenden will ich mich nun mit einem vierten
transnationalen Prozess etwas genauer beschäftigen, und zwar der
Auswirkung des Jahres 1989 auf das Verständnis der Demokratie als dem
zentralen Organisationsprinzip von politischer Herrschaft in
Westeuropa.
Der Preis des Sieges: Kritikunfähigkeit gegenüber der liberalen Demokratie seit 1989
Ivan
Krastev formuliert eine interessante These über die Wirkung des
verwandelten Ostens auf den Westen, mit der ich mich etwas
ausführlicher beschäftigen möchte. (Krastev 2010) Er schrieb in einem
Beitrag im "Journal of Democracy" im Jahr 2010, dass der rasche und
friedliche Sieg der Demokratie als politisches Ordnungsprinzip in den
Jahren um 1989 in Osteuropa sowohl starke Auswirkungen auf die
politikwissenschaftlichen Debatten über Demokratie als auch auf die
Erwartungen der Bevölkerung an diese Ordnung hatten. Die einen, die
Politikwissenschaftler, beschäftigten sich vornehmlich mit den neuen
Demokratien, ohne sich weiter mit der Analyse der bestehenden
Demokratien und deren Widersprüchen auseinanderzusetzen. Die einfachen
Bürger dieser Staaten hingegen kamen zu ganz unrealistischen
Vorstellungen. Ich zitiere:
„No longer was democracy only the least
undesirable form of government—the best of a bad bunch, if you will.
Instead, it was coming to seem like the best form of government,
period. People were starting to look to democratic regimes not merely
to save them from something worse, but to deliver freedom, prosperity,
and honest and effective governance all in one big package.” (Krastev
2010, 113)
Also kurz gesagt, aus dem “kleineren Übel” wurde die Demokratie nun zu
einem Allheilmittel. Die Kritik an ihr verstummte für einige Jahre
(außer vielleicht in den Zirkeln, die generell dem Wandel des Jahres
1989 aus unterschiedlichen Gründen höchst kritisch gegenüberstanden).
Dieses jahrelange Verstummen erklärt dann vielleicht auch die übergroße
Aufmerksamkeit, die Colin Crouch mit seiner These von dem Entstehen
einer „Postdemokratie“ (2008) in den Staaten des entwickelten Westens
geschenkt wurde.
[Diese These bedarf der genauen Prüfung. Es ist nämlich
schon eine Vielzahl von Texten, die von Krise der Demokratie sprechen,
vor dem Buch von Crouch erschienen. Siehe u.a. Theo Sommer (Hrsg.):
Demokratie in der Krise: Helmut Schmidt zu Ehren (ein Zeit-Symposium)
Hamburg 1994; Thomas Jäger/Dieter Hoffmann (Hrsg.): Demokratie in der
Krise? Zukunft der Demokratie, Opladen 1995; Johannes Chr. Papalekas
(Hg.): Krise der Demokratie: Fragilitäten im Westen - Unwägbarkeiten im
Osten, Wien 1995; Erhard Forndran: Demokratie und demokratischer Staat
in der Krise? Eine Frage an Theorie und Praxis zu ihren
Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen, Baden-Baden 2002; Ralf
Dahrendorf: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit A. Polito,
München 2002.]
Das Verstummen der Kritik
erstaunt umso mehr, als gerade mit der Neuen Linken - in den siebziger
und achtziger Jahren, also nur kurze Zeit vorher - die repräsentative
Demokratie einer deutlichen Kritik unterzogen worden war. (Die
vorhergehende Periode einer intensiven Kritik an der Demokratie war die
europäische Zwischenkriegszeit, vgl. u.a. Bobbio 1988) In der
herrschenden Demokratie wurde eine Form von Hegemonie der Bourgeoisie
gegenüber anderen Klassen und Schichten gesehen, der durch gezielten
Kampf um Ausweitung der Partizipation, entweder durch Ausweitung
direktdemokratischer Formen oder durch die Ausweitung der Demokratie in
die Gesellschaft hinein, also die gesellschaftliche Mitbestimmung in
allen Bereichen, v.a. in der Wirtschaft, in Kulturinstitutionen oder in
den Kommunen entgegengewirkt werden sollte. Aber auch im Lager
liberaler Kritiker wurde damals von Krise der Demokratie gesprochen,
besonders bezogen auf den „Parteienstaat“. (R. von Weizäcker in einer
Rede 1982)
Die These ist also, dass die repräsentative Demokratie gegen
Kritik immun wurde, als 1989 mit dem Zusammenbruch der
staatssozialistischen Alternative zum Kapitalismus, scheinbar das „Ende
der Geschichte“ (Fukuyama, 1989) anbrach. Die Argumente, die vorher, ob
von links oder rechts gegen sie vorgebracht wurden, schienen angesichts
des ungebremsten Drangs, überall Demokratien zu errichten, obsolet
geworden. Zudem, so jedenfalls Krastev oben in seinem Beitrag im
„Journal of Democracy“, wurde mit der Einführung der Demokratie die
Hoffnung auf Demokratie und gute Regierung gleich noch mitgeliefert.
In Osteuropa jedenfalls war diese Hoffnung stark verbreitet.
Ebenso tief war dann der Fall aus der Höhe der Illusionen, als sich
zeigte, dass zwar kapitalistische Marktwirtschaft und Demokratie
gleichermaßen eingeführt wurden, aber die Hoffnungen auf einen
Anschluss an das Lebensniveau des Westens fehlschlugen. Selbst die
Hoffnung darauf, als Emigrant im Westen sein Geld durch ehrliche Arbeit
zu verdienen konnte angesichts der eingeführten Schranke gegen legale
Arbeitsmigration in vielen europäischen Ländern sogar noch nach dem
Beitritt des eigenen Landes zur EU nur teilweise umgesetzt werden.
Für den Westen reduzierte sich in diesen Jahren die
demokratische Frage auf eine Quizfrage, nämlich: wie lange wird es in
den jeweiligen Transitionsländern (u.a. vor der Haustür in
Ostmitteleuropa) dauern, bis die Demokratie auch dort siegt. Diese
Dauer und der Wettbewerb darum wurden dann von verschiedenen
Demokratieindizes gemessen, wie durch "Nations in Transit" oder
„Bertelman Transformation Index“ (BTI). Es war eine Art „post-koloniale
Situation“, in der wahrgenommen wurde, wie sehr man sich im Osten
bemühte die liberale Demokratie die Westens einzuführen; der Blick auf
jenes Andere, legitimierte v.a. das eigene System.
Eine andere Debatte im Westen, die durch die
Transformationserwartungen des Ostens beeinflusst worden ist,
beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von kapitalistischer
Marktwirtschaft und Demokratie. Das erste sei die unabdingbare
Voraussetzung für das zweite. Die Einführung der Marktwirtschaft würde
mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Demokratie führen. Das war eine
Aufwärmung der alten Gewissheit der Modernisierungstheorie. Als nicht
die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, sondern v.a. die
wirtschaftliche Entwicklung in der VR China nicht zur Demokratie
führte, geriet auch diese normativ begründete theoretische Verbindung
in die Kritik.
Am Schluss nur ein kurzes Resümee:
Es ging
mir meinen Ausführungen um die Formulierung und Begründung einer
Fragerichtung, nicht schon um Ergebnisse der Analyse. Viele Fragen
müssen noch geschärft werden und sind nur als vorläufig zu betrachten.
Zur Postsozialismus-Forschung gehört, erstens, aus meiner
Sicht unbedingt die Analyse der Nachwirkungen des Staatssozialismus auf
die Transformation Osteuropas nach 1989/1991 sowie deren Auswirkungen
auf den Westen. Der alte Osten ist 1989/91 untergegangen, der
vorangegangene Systemwettbewerb mit dem alten Westen hat daran einen
entscheidenden Anteil. Aber, zweitens, der alte Westen von vor 1989
existiert heute auch nicht mehr. Zu seinem Verschwinden haben nicht nur
die internen Wandlungsprozesse und politischen Auseinandersetzungen
innerhalb des westlichen Systems seit Ende der 1970er Jahre
beigetragen, sondern auch die Ko-Evolution des östlichen
Staatssozialismus und Post-Sozialismus vor und nach 1989. Bezüglich
dieser Ko-Evolution zwischen West- und Osteuropa öffnet sich ein
umfangreiches Forschungsfeld sowohl für die Politik- als auch für die
Geschichtswissenschaft.
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http://library.fes.de/pdf-files/id/02258.pdf (gelesen am 03.07.2012)
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