Thema | Kulturation 1/2004 | Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn: Kultur | Ilka Borchardt | "Mir geht es gut, ich habe eine Datsche." Die russische daca als physischer und sozialer, kultureller und spiritueller Raum
| Einleitung
In der deutschen Sprache gibt es ein Wort, dessen Gebrauch
Ostdeutsche als solche kennzeichnet wie kaum ein zweites und als
ost-spezifischer Wortschatz auch im Duden (Fremdwörterbuch 1990)
festgehalten ist: der Eintrag für die "Datsche" lautet hier "(DDR)
Holzhaus, Sommerhaus, Wochenendhaus, Landhaus". In verschiedenen Lexika
ist auch die ursprüngliche Bedeutung "russisches Landhaus" angegeben.
Die russische Datsche (russ. "daca/ Pl.: daci" /1/) aber ist weitere
Aufmerksamkeit wert, da sie nicht nur Namensgeberin und Beispiel für
ostdeutsche Kleingärten war. Vielmehr stellt sie sich als wesentliches
Element des russischen Alltags dar und vielfach auch als kulturelles
Element und kultureller Code. /2/
Aussagen über die tatsächliche Verbreitung der Datschen in Russland
variieren. Das liegt vermutlich an der Schwierigkeit, welche Typen von
urbanen Kleingärten in die Zählung eingehen, ob das Grundstück
vielleicht zu einem Dorf gehört, aber von StädterInnen betrieben wird.
Außerdem finden sich in Abhängigkeit von der Region verschiedene
Angaben. So liegen die Zahlen zwischen 30% und 75% der gesamten
Bevölkerung. /3/ Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die
Datschen eine Art Massenphänomen darstellen, d.h. dass jede RussIn
irgendwie mit ihnen in Berührung gekommen ist und eine Meinung zu den
tradierten Vorstellungen zu Bedeutung, Nutzen und Umgang mit den
Kleingärten und KleingärtnerInnen entwickelt hat.
Als Motiv tauchen Datschen in verschiedenen Werken klassischer und
zeitgenössischer russischer SchriftstellerInnen auf, sie dienen als
Kulisse und als Thema in Malerei und Filmkunst./4/ Für Lebensmittel
wird heute mit dem Gütemerkmal geworben, dass sie so rein und natürlich
seien, dass sie sich auch auf der Datsche halten würden, ebenso wird
die Zuverlässigkeit von Mobiltelefonen mit ihrem Nutzen auf der Datsche
angepriesen. Wahlen werden auf Werktage verlegt, um die Wahlbeteiligung
zu sichern und zu verhindern, dass während der Wahl(sonn)tage die Leute
in den Gärten und nicht in den Wahllokalen sind. Staatsführer
präsentier(t)en sich als Kleingärtner und zeig(t)en so ihre Volksnähe.
Die Maifeiertage (1. und 9. Mai, am Beginn der Vegetationszeit) werden
durch einen Tag davor oder danach ergänzt, sodass sich oft ein langes
Wochenende ergibt. In Rundfunk und Fernsehen wird der Beginn der
Datschen-Saison verkündet, Wetterberichte lokaler Fernseh- und
Radiostationen geben spezielle Hinweise für KleingärtnerInnen. Im
Herbst finden öffentliche Ausstellungen der "erfolgreichsten Gärtner"
statt und Jahrmärkte mit Saat- und Pflanzgut für das nächste Jahr. Im
Frühling sind viele Menschen nur selten zuhause anzutreffen, erst wenn
die Bestellzeit vorbei ist, lohnt es sich wieder, unangemeldet jemanden
zu besuchen./5/
Damit deutet sich bereits die Vielzahl von Bedeutungen an, mit
denen Datschen im Alltagsverständnis der russischen Bevölkerung
assoziiert werden. In vielen aktuellen Studien über urbanen
Kleingartenbau in Russland jedoch werden die Gärten auf ihre
wirtschaftliche Komponente, auf Subsistenzaspekte reduziert. Eine solch
verkürzte Betrachtungsweise entspricht m.E. jedoch weder der
Komplexität der Funktionen der Datschen noch den entsprechenden
Assoziationen und dem Symbolgehalt im Verständnis von RussInnen. In
meiner Magistra-Arbeit habe ich auf der Grundlage von vier Ansätzen die
Vielseitigkeit der russischen Kleingärten dargestellt, um
außerökonomische Motivationen und Folgen zu illustrieren und deren
Verflechtung zu analysieren./6/ Das hier verwendete Konzept kann
gewissermaßen als Grundlage weiterer Überlegungen und Analysen dienen:
Als Raum lassen sich die Datschen in verschiedenen Dimensionen und
daher unter vielfältigen Perspektiven untersuchen.
Raum - ein ethnologisches Analysekonzept
Mit Helen Callaway (1981) lassen sich entsprechend drei Dimensionen
unterscheiden: der physische, der soziale und der "metaphysische" Raum.
Bei der ersten Ebene handelt es sich um das Aussehen
menschengeschaffener Konstruktionen in einer bestimmten Umgebung, um
beobachtbare Materie, überdauernde Umgebungen. Hiervon leitet sich die
zweite Ebene ab, auf der Beziehungen, Aktionen und Organisationen
betrachtet werden, die innerhalb der Räume praktiziert und durch
letztere beeinflusst werden - klassische ethnologische Themen, wie die
Aufteilung von Räumen nach geschlechts-, alters- oder
berufsspezifischen Merkmalen, Lebenszyklen etc.. Die Abstraktion zum
sogenannten metaphysischen Raum führt dann auf die Ebene kosmologischer
und gesellschaftlicher Vorstellungen und der Ordnung des sichtbaren und
des unsichtbaren Universums einschließlich kulturellen Wissens, also
der Klassifikations- und Wertsysteme, die in diesem Raum praktiziert
und tradiert werden. (Callaway 1981: 170)
Bei genauerer Betrachtung werden Defizite dieses Ansatzes sichtbar:
Der Raum erscheint auf dem ersten analytischen Niveau wie die
Verkörperung der genannten "historischen und materiellen Bedingungen
einer konkreten Gesellschaft und bestimmt damit auch deren
Einzigartigkeit" (Callaway 1981: Ebd.), die auf der dritten Ebene
angesprochen wird. Dieser Interpretation lässt sich leicht materielle
Prädestination unterstellen, die statisch und unausweichlich erscheint,
also keinen ‚Raum' für menschlichen Einfluss lässt und so u.a.
Fatalismus und Geschichtslosigkeit impliziert. Ein grundlegendes
Problem liegt auch für Henrietta Moore (1986) im Verständnis von Raum
als Repräsentation oder Reflexion sozialer Ordnung und
Klassifikationen. Die zum Erfassen der Welt notwendigen
Klassifikationen - und die so hergestellte Unterscheidung von Natur und
Kultur - finden nach dieser Interpretation im Raum ihren materiellen
Ausdruck. Moore argumentiert, dass der Fokus auf die Verkörperung
sozialer Bedeutungen einen wesentlicher Aspekt ausschließt: Verhindert
wird das Verstehen, wie solche Systeme genutzt und in spezifische
historische Kontexte gesetzt werden, denn letztlich erscheinen
Individuen als der Gesellschaft und einem unveränderlichen Komplex
sozialer Bedeutungen untergeordnet. Mit anderen Worten: Ein solcher
Ansatz reduziert Handlungen auf Abläufe, die mechanisch und aus
Gewohnheit wiederholt werden, denen aber kein Sinn mehr beigemessen
werden kann. (Moore 1986: 2-6) Darüber hinaus bleibt die Frage nach der
Einflussnahme von Individuen offen; Veränderungen jeglicher Art
scheinen losgelöst von menschlichen Aktionen. Der Raum wird als
materialisierte gesellschaftliche Ordnung naturalisiert.
Für das Konzept Raum, wie ich es verwende, ist eine Dimension
wichtig, die bei Callaway nicht vorkommt, für Moore aber feststeht:
"[...] the meaning of any spatial order is not intrinsic, but must be
invoked through practice." (Moore 1986: 6) In diesem Sinne reflektieren
Räume nicht nur soziale Ordnungen, sie erhalten ihre Bedeutung erst
durch den Kontext, innerhalb dessen die soziale Ordnung praktiziert
wird, und durch die diskursive Schaffung, Festigung und Aushandlung der
zugesprochenen Bedeutungen. Diese vierte Ebene - die Ebene der durch
Handlung hervorgerufenen und zugeschriebenen Bedeutung von Räumen -
erlangt an Bedeutung, wenn das Interesse sich auf den Alltag der
betroffenen Menschen richtet sowie auf deren eigene Erklärungen zu
einem wesentlichen Aspekt ihres Lebens.
Ziel meiner Untersuchung war also keine quantitative Analyse der
Verbreitung oder der Effizienz der Datschen, da es bereits genügend
wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten mit solchen
Schwerpunkten gibt. Fragen der wirtschaftlichen, quantifizierbaren
Bedeutung der Datschen stehen auch in vielen publizistischen
Veröffentlichungen im Vordergrund, werden aber gerade hier auch oft mit
Erlebnisberichten von den Datschen als Erholungs- und Ferienort, als
Frage des Stolzes und als etwas "typisch russisches" beschrieben./7/
Mithilfe all dieser verschiedenen Perspektiven und Erklärungen, den
master narratives der qualitativen Sozialforschung und der mündlichen
Geschichte, lässt sich ein vollständigeres Bild von den Datschen
zeichnen. Es geht also darum, einen möglichst mehrdimensionalen Zugang
zu diesem Phänomen zu finden, der weder quantifizierbare Materie,
Soziales, Sinngebungen noch deren Aushandlung vernachlässigt.
Ein wesentlicher Aspekt ist dafür die inzwischen mehr als
einhundertjährige Geschichte der Datschen. Gerade dass die Kleingärten
so präsent sind, sie in Werbungen verwendet werden, gesellschaftliche
Ereignisse sich nach der Vegetationszeit richten usw., weist darauf
hin, dass sie eine (oder mehrere) allen Menschen offensichtliche
Bedeutung(en) beinhalten, die KennerInnen und TeilhaberInnen dieses
Phänomens nicht näher erklärt werden muss, für eine möglichst
umfassende Betrachtung jedoch notwendig ist und daher hier nicht fehlen
soll.
Eine kurze Geschichte der russischen Datschen
Die Bedeutung des Begriffes daca (Datscha) lässt sich bis ins 15./
16. Jahrhundert zurückverfolgen, sie bezeichnet "Gabe eines Herrschers
in Form von Land". (Fassmer 1964: 486) Etymologisch verwandt ist es mit
dem Verb dat' (geben): Seit der Zeit Iwans IV. ("dem Schrecklichen")
erhielten Höflinge und Adelige Land vom Zaren zur unabhängigen Nutzung.
Ohne wesentliche Veränderungen blieben die Eigentumsverhältnisse bis
zum 19. Jahrhundert: Land besaßen nur Angehörige der Aristokratie, des
Militärs und andere Diener der Krone, konnte ihnen vom Zaren jedoch
immer wieder abgenommen werden. Erst ab 1861 wurde Land käuflich
erwerbbar. Die Leibeigenschaft der Bauern wurde aufgehoben, sie durften
aber bis 1906 kein Land besitzen. Eigentümer war die obšcina
(Gemeinde), die Parzellen entsprechend der Familiengröße für einen
beschränkten Zeitraum zuwies. Das Land konnte jederzeit neuverteilt
werden. (Ugarov 1997: 17-8) Mit den rechtlichen Veränderungen ab 1861
entwickelte sich die klassische Datsche als Sommersitz begüterter
(anfangs nur aristokratischer) Stadtfamilien weiter. Nun wurden auch
Häuser für die warme Jahreszeit angemietet. Begüterte Familien
verbrachten den Sommer dort, wobei das männliche Familienoberhaupt
täglich in die Stadt reiste, um seinen Geschäften nachzugehen.
Motivation des befristeten Umzugs waren der Genuss ländlicher Ruhe und
die Erholung vom Stadtleben.
Hauptziel der Landreform 1906 unter Premierminister Stolypin waren
private Eigentumsverhältnisse für Bauern. Erreicht werden sollte dies
u.a. durch die freiwillige Besiedlung Sibiriens, verbilligte
Startdarlehen und Schulungskurse. Die sozialistische Kollektivierung
und die Enteignung auch kleinerer Bauern sowie die fortgesetzte
ideologische Abwertung von Privateigentum ab 1917 wirkten offiziell in
die entgegengesetzte Richtung als von der früheren Reform angestrebt.
Bald nach Ende des Bürgerkrieges der 1920er Jahre aber stellte eine
Datsche eine Auszeichnung für verdiente Militär-, Staatsangehörige und
Arbeiter dar. Besitzer des Landes blieb der Staat, die Pächter
organisierten sich in Kooperativen. Tatsächlichen privaten Grundbesitz
gab es seit der Neuen Ökonomischen Politik (Ende der 1920er Jahre)
nicht mehr. Betriebe und andere Institutionen erhielten Grundstücke
zugeteilt, die sie zur gärtnerischen Nutzung an ihre Angestellten
verpachteten. Die PächterInnen konnten ‚ihr' Land jederzeit wieder
verlieren, z.B. wenn die wirtschaftliche Lage erforderte, die Güter
eines nahegelegenen Kolchos oder Sowchos zu erweitern. (Ugarov 1997:
18-9.) Die Grundstücksgröße von 600 m2 war vorgeschrieben/8/, ebenso
Bebauung und Bepflanzung. Die jeweilige Gartenkooperative oder der
verpachtende Betrieb unterstützten bei der infrastrukturellen
Erschließung des Landes. Wenn die Grundstücke abseits vom öffentlichen
Nahverkehr lagen, organisierten die verpachtenden Einrichtungen Busse
oder LKWs als Transportmittel v.a. für die Hauptbestell- und die
Erntezeit./9/
Mit den Reformen der 1990er Jahre unter Jelzin wurde agrarisches
Nutzland privatisiert, bäuerliche Kleinbetriebe entstanden, und Land
kann seither auch in Form einer Datsche (also für nicht
hauptgewerbliche agrarische Nutzung) gekauft werden. Vorschriften zur
Bepflanzung existieren kaum noch, ebenso wenig ist die Größe des
Grundstücks vorgeschrieben. Mittlerweile finden sich auch Grundstücke
in Gartensiedlungen von mindestens dem Doppelten der ehemals
vorgeschriebenen Größe und mit bis zu 3-stöckigen Steinhäusern bebaut,
die jedoch selten als ständiger Wohnsitz genutzt werden./10/
Diente die klassische Datsche allein aristokratischen, Militär-
oder Intelligenzija-Familien aus Sankt Petersburg oder Moskau als
Sommerresidenz, so erhielten mit den rechtlichen Veränderungen von 1861
(Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern und damit erstmalig die
Möglichkeit, in die Städte abzuwandern) auch nicht-adelige Familien die
Gelegenheit, Landsitze zu kaufen oder zu mieten. Für die gehobenen
Schichten blieb die Datsche ein Ort der Erholung. Zugleich war unter
der ärmeren städtischen Bevölkerung (Arbeiter, Handwerker, u.a. die aus
der Landbevölkerung stammten und erst kurz zuvor in die Stadt gezogen
waren) eine Art Selbstversorgung üblich geworden. Die Einkünfte aus
Lohnverhältnissen wurden mit eigenem Gemüse und Fleisch ergänzt. Mit
dem so Ersparten konnten für das Stadtleben notwendige Industriewaren
und Dienstleistungen (Transportkosten, Miete etc.) bezahlt werden.
Nach 1917 hatten die Datschen für kurze Zeit eine Renaissance als
prestigeträchtiges Erholungsobjekt von Reichen erlebt. Für die Masse
der Bevölkerung aber begann sich ihre ökonomische Funktion
durchzusetzen. Während der Belagerung Leningrads z.B. wurden, ähnlich
wie in London während des II. Weltkrieges, aber auch heute in
westlichen Großstädten, städtische Brachflächen und Grünanlagen zum
Anbau von Kartoffeln und Gemüse genutzt. In Krisenzeiten, wie nach dem
Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945, zu Beginn der 1980er Jahre
und nach der wirtschaftlichen Krise von 1998 bot der eigene Grund und
Boden eine gewisse Sicherheit für die Grundversorgung. Dieser Aspekt
wird besonders deutlich in Regionen oder Städten, die während der
Sowjetzeit als Industriezentren aufgebaut und gefördert wurden. Dazu
gehören u.a. Groß- und Rüstungsbetriebe in Sibirien, im Nordural und
Fernen Osten, deren Produktion überflüssig oder im Vergleich mit
westlichen oder asiatischen Waren zu teuer oder veraltet war. Mit dem
Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft wurden viele Betriebe
entweder geschlossen oder auf ‚Sparflamme' weitergeführt, z.T. wurden
jahrelang keine Löhne oder Gehälter ausgezahlt, oder als Lohn dienten
Gutscheine oder Naturalien. Gutscheine konnten i.d.R. nicht eingelöst
werden, da die betriebseigenen Geschäfte leer waren. Arbeitsmigration
kam wegen der Entfernungen und der allgemeinen desolaten Lage nicht in
Frage, Gartenbau blieb als einziger Ausweg./11/
In den frühen 1990er Jahren war die rechtliche Lage so
unübersichtlich, dass es auch zu illegaler Erschließung von Gartenland
kam. Heute sind gut gelegene Grundstücke bereits zu begehrten
Investitionsobjekten geworden. Es gilt der Grundsatz, dass eine
Immobilie eine sicherere Geldanlage ist als ein Konto bei einer
russischen Bank. "Datschen wird es wohl immer geben, sie werden kaum so
stark entwertet werden wie der Rubel" - so lautet sinngemäß eine
weitverbreitete Ansicht.
Mittlerweile finden sich in fast allen Siedlungen Häuser
verschiedenster Bauarten: von Bretterhäusern, wie sie in der Sowjetzeit
als Fertigteile erhältlich waren, über solide, ältere Blockhäuser bis
hin zu Steinhäusern. Oft sind die Steinhäuser (der sogenannten Neuen
Russen) aber nur halbfertig, als wäre dem Bauherrn das Geld
ausgegangen. Diese Beobachtung lässt sich auf verschiedene Weise
interpretieren: Entweder hat der Bauherr wirtschaftliche Verluste
erlitten, die ihm am Weiterbau hindern. Oder aber hier wirkt eine
Kombination aus finanziellen Verlusten und gesellschaftlichem Zwang,
eine "angemessene" Datsche präsentieren zu können - wie im Folgenden
verdeutlicht wird. Es ist vorstellbar, dass in der russischen
Geschäftswelt potentiellen Geschäftspartnern kaufmännisches Geschick
durch die Repräsentativität des Besitzes symbolisiert wird.
Die Funktion der Datsche als Statussymbol lässt sich durch alle
Perioden russischer und sowjetischer Geschichte hindurch beobachten: Da
noch im 19. Jahrhundert eine solche Sommerresidenz Privileg der
Aristokratie, später vieler Reichen war, wurde es Ausdruck für Reichtum
und damit gesellschaftliches Ansehen. Anfang des 20. Jahrhunderts, als
ein Grossteil der Moskauer und Petersburger Bevölkerung aus der
Landbevölkerung stammte, wurden die der Stadt vorgelagerten Gärten zu
einer Art Rückzug oder Flucht vor der Beengtheit des noch ungewohnten
Stadtlebens. Was für die Reichen Erholung brachte, bedeutete für die
Ärmeren zwar Arbeit, aber immerhin die von Kindheit an gewohnte Arbeit
‚an der frischen Luft' und auf dem ‚eigenen' Grund und Boden, wo man
über seine eigene Arbeitskraft und -erfolge verfügt./12/
Nach der Oktoberrevolution und der Kollektivierung erschloss sich
offiziell allen Menschen die Möglichkeit, die Grundstücke der Adligen
zu nutzen. Während der Sowjetzeit waren besonders schön gelegene
Datschen Staatsoberhäuptern, verdienten Funktionären und dem Empfang
ausländischer Gäste vorbehalten./13/ Es kursierten Anekdoten über die
vielen Datschen Stalins, die in der für den durchschnittlichen
Sowjetbürger logischen Frage endeten: "Wo nimmt Genosse Stalin denn die
Zeit her, neben den Staatsgeschäften auch noch so viele Kartoffeln
anzubauen?" ‚NormalbürgerInnen' assoziierten also die Datsche mit einem
Nutzgarten, ein Ort der Erholung war sie in erster Linie für
privilegierte Menschen./14/
Auf die Frage nach Wohlstand und sozialer Position lautete die
Antwort oft: "Mir geht es gut, ich habe eine Datsche." Das Auto als
Statussymbol rangierte gleich hinter der Datsche, im Gegensatz zu
Deutschland. Wenn beides zusammentraf, war der Wohlstand
offensichtlich. Dabei ging es nicht um die Art der Datsche, sondern
vielmehr um den Fakt, sich die Pacht des Grundstücks leisten zu können,
meist noch ein Häuschen darauf zu bauen und sich mit selbstangebauten
Produkten zu versorgen.
Wie erwähnt, war während der Sowjetzeit vieles normiert und die
Auswahl stark eingeschränkt, sei es durch die Größe oder die Art des
Grundstücks, durch die geringe Auswahl an Pflanz- und Saatgut oder an
Baumaterialien für die Lauben und Häuser. Trotz allem sind die
Datschen, die Arbeit unter eigener Regie, die selbstangebauten Produkte
ein Ausdruck für Selbständigkeit und können identitätsstiftend wirken.
Die Datsche als historisch gewachsenes Element des gesellschaftlichen
und des Alltagslebens kann als Verbindung zur eigenen
(vorrevolutionären) Geschichte interpretiert werden, die sonst
weitgehend negiert und abgelehnt wurde. Von Bedeutung ist hierbei v.a.
der Ursprung Russlands als Agrarland: Die Oktoberrevolution wirkte auch
als ‚Schwelle' zu einer Industriegesellschaft. Da dieser Übergang sehr
schnell vollzogen wurde, muss angenommen werden, dass die
gesellschaftliche und psychische Entwicklung der Menschen damit kaum
Schritt halten konnte./15/ Vor diesem Hintergrund ließe sich erklären,
warum in Krisensituationen, vor, während und nach der Perestrojka, die
individuellen Kräfte der Menschen auf eine altbekannte
Versorgungsstrategie gerichtet wurden - den Kleingartenbau./16/
Außerdem lässt sich hier eine interne Stabilität von
Lebensvorstellungen feststellen, die sich um und in traditionellen
Zentren von gesellschaftlichem Leben und Familienökonomie aufbauen
lassen: Solange die Gärten als ein vom Staat verhältnismäßig wenig
kontrollierter und von offizieller Ideologie egal welcher Art kaum
beeinflussbarer Ort existieren, öffnet sich hier ein Raum, in dem
individuelle und moralische Werte tradiert werden können. Dass oft
mehrere, zumindest zwei Generationen zusammenkommen, erleichtert die
Weitergabe von Ansichten, die offiziell vielleicht unerwünscht sind.
Durch das Zusammenleben in Datschensiedlungen bildeten sich soziale
Beziehungen, die sich zu Netzwerken ausweiten konnten. Häufig wurde
neben dem Gartenleben auch das Berufsleben geteilt, vor allem in
Siedlungen, die von einzelnen Institutionen oder Betrieben angelegt
oder verpachtet wurden. Aber auch wenn es diesen gemeinsamen
Hintergrund nicht gab, verbrachte man doch einen Großteil der Freizeit
miteinander. Es wurden Erfahrungen, Rezepte, Saat- und Pflanzgut
ausgetauscht, Nachbarn halfen sich mit Werkzeug aus, wetteiferten
miteinander um die besten Erträge, manchmal wurden gemeinsame
Transportmöglichkeiten organisiert usw. Es entstanden natürlich auch
persönliche Antipathien, wie wohl in allen Gartensiedlungen. Aufgrund
der relativen räumlichen Nähe zwischen den Mitgliedern wusste man nicht
nur von positiven Seiten der Nachbarn, sondern kannte oft auch
unangenehme Familiengeheimnisse, die dann wiederum in einer eigenen
Version weitergegeben wurden. Die Öffentlichkeit spielte in diesen
Siedlungen offensichtlich eine wichtige Rolle und hat sie noch immer
inne. So schreibt Koslatschkow, dass Teenager sich in dieser Umgebung
für ihr Alter ungewöhnlich verhielten, sie seien höflich und
ehrerbietig Erwachsenen gegenüber, geraucht und getrunken würde in
dieser Öffentlichkeit nicht. (Koslatschkow 1998: 67) Diese Beobachtung
wird durch meine Forschungsergebnisse etwas relativiert, in einem
Aspekt aber bestätigt: Die Gartengemeinschaft hat eine strenge, wenn
auch stille Regelung des Umgangs miteinander, und eine eigene
Beurteilung von Fehlverhalten. Das beginnt bei der Begrüßung bzw. wer
und wie man ein fremdes Grundstück betreten darf und endet mit einer
unermüdlichen ‚Gerüchteküche'./17/
Interessant ist zu guter Letzt noch eine Beobachtung von früheren
Reisen in die Sowjetunion und nach Russland, die auch während des
Forschungsaufenthaltes immer wieder auffiel: auf der Datsche trugen und
tragen die meisten Menschen alte abgenutzte Kleider. Im beruflichen und
im Alltagsleben auf ihr Äußeres bedachte Menschen, die sonst alle
Etikette der Bekleidung und des Schminkens wahr(t)en, trugen bzw.
tragen hier mehrfach geflickte, ausgeblichene Kleidung, die so wirkt,
als sei sie bereits von einer anderen Generation von KleingärtnerInnen
genutzt worden. Auch Taschen, Rücksäcke und andere Behältnisse auf dem
Weg zu den Datschen gehör(t)en oft einer früheren ‚Generation' an als
die im sonstigen Alltag genutzten. An großen Körben, Eimern,
vollgepackten Rucksäcken, Kopftüchern und Armeemützen oder Hüten
erkennt man die dacniki./18/ Wenn an einer Strasse eine größere Gruppe
von Menschen mit diesen Merkmalen offensichtlich auf etwas wartet, kann
man davon ausgehen, dass es sich um KleingärtnerInnen handelt, die an
einer allen Eingeweihten (und auch nur diesen!) bekannten
Bushaltestelle ohne Kennzeichnung als solche, auf einen der wenigen
Busse warten, die auf anderen Routen als Linienbusse die
Gartensiedlungen anfahren.
Die bisher angesprochenen historischen Aspekte, die ohne weiteres
in das dreidimensionale Konzept von Callaway einzuordnen und z.T. bis
heute gültig sind, sollen nun noch ergänzt werden, um dann auf die
vierte Ebene der Datschen als Raum für Sinngebungen und -verhandlungen
einzugehen./19/
Die Datschen als physischer Raum
Auf der physischen Ebene, der Topographie also sind Datschen Gärten
oft mit kleinen Häuschen, zumeist in Kleingartensiedlungen in der
Vorstadt oder in nahegelegenen Dörfern. Es werden Gemüse, Obst und
Heilpflanzen angebaut, oft gibt es ein Häuschen oder Schuppen und ein
Folienzelt für kälteempfindliche Pflanzen. Die Entfernung vom Wohnort
der BesitzerInnen beträgt zwischen zehn Minuten mit dem Bus, wie im
Fall meines gate-keepers Tatjana, und bis zu fünf Autostunden, in
seltenen Fällen sogar mehr. Benachbarte Gärten sind durch Zäune von
einander abgegrenzt, aber durch Wege und/oder Strassen, in einigen
Fällen auch durch extra Pforten oder Durchgänge im Zaun verbunden usw.
/20/. Als Verkehrswege dienen unbefestigte Sandwege, die in diesen
Siedlungen enden. In einigen Orten gibt es nur Gemeinschaftsanschlüsse
für Strom und Wasser, Warmwasseranschlüsse sind sehr selten. Nach außen
sind die Kolonien durch Zäune begrenzt, sofern es sich nicht um ältere
Siedlungen in Dörfern handelt. Die meisten Häuser haben einen Ofen in
der Küche als der Mitte des Gebäudes, der sowohl zum Heizen als auch
zum Kochen dient. Fenster sind heute oft mit Eisengittern versehen. Die
Aufteilung der Räumlichkeiten hängt vom Typ der Laube ab. Die Küche ist
jedoch in den meisten Fällen am besten beheizt und dient gleichzeitig
als Aufenthalts- und Essraum. Es gibt oft zwei Betten, bei Bedarf
können Sofas oder Sessel zu Schlafstätten umfunktioniert werden.
Sanitäre Anlagen befinden sich selten im Haus. Die Toilette, in einem
einfachen Bretterverschlag mit einem Loch im Boden, findet sich am Ende
des Gartens,. Duschen o.ä. habe ich nirgendwo gesehen /21/, die Hände
werden unter einem speziellen Wasserspender oder direkt am Wasserhahn
im Garten gewaschen. In einigen Gärten findet sich eine Sauna (banja).
Die Möblierung der Häuschen ist einfach: ein Sofa (als
Ersatzschlafstätte), eine Schrankwand, ein Schrank oder eine Truhe für
Kleidung und wenige Bücher oder alte Zeitschriften./22/ Die Möbel sind
zumeist ausgediente Stücke, wenn sich ihre Besitzer für die Wohnung
neue geleistet hatten. Bis auf ein obligatorisches Radio, wenige
Fernseher und (Mobil-)Telefone (die allerdings beide immer mehr
Verbreitung finden) gibt es kaum elektrische Geräte: einen älteren
Kühlschrank für die Lebensmittel des täglichen Gebrauchs und eine oder
zwei Kochplatten. Alle elektrischen Geräte werden am Ende der Saison
abtransportiert. Die Häuschen sind unterkellert, d.h. im Holzfußboden
des Hauses gibt es eine Klappe, unter der sich ein einfaches Erdloch
befindet. Im Keller werden sowohl frische und konservierte Lebensmittel
aus eigenem Anbau als auch gekaufte gelagert, bis sie verzehrt oder
abtransportiert werden. Da in großen Teilen Sibiriens Dauerfrostboden
herrscht, ist es auch im Sommer in diesen Vorratskellern kühler als in
vergleichbaren ‚Erdlöchern' in Mitteleuropa.
Der soziale Raum Datsche
Als sozialer Raum betrachtet stellen Datschen sich als
Familienwirtschaft dar, wohin Freunde und Verwandte zur Erholung
eingeladen werden (können). Eine Person weiß am besten über die bereits
erledigten und die noch zu erledigenden Arbeiten Bescheid und verteilt
diese Aufgaben. Nach meiner Beobachtung obliegt diese Verantwortung
meist einer (älteren) Frau. Die hier übliche geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung kann sich durchaus von der in der Stadt unterscheiden
kann. Es gibt m.E. mehr Frauen als Männer, die in den Gärten arbeiten
und im Sommer auch dort leben. RentnerInnen leben z.T. den ganzen
Sommer auf der Datsche, manche fahren nur tagsüber hin, um die
notwendigen Arbeiten zu erledigen. Es herrscht ein typisches
Generationsgefüge. Zumeist kümmert sich die Generation der Großeltern
bzw. der Großmütter um die Gärten, die EnkelInnen kommen am Wochenende
oder für den Sommer (die Sommerferien) zu Besuch. Ihre Eltern bringen
(am Wochenende) Einkäufe für die auf der Datsche Lebenden oder
erledigen Arbeiten, welche besondere Qualifikationen verlangen oder von
den Älteren physisch nicht bewältigt werden. (Vgl. Marinina 2001)
Enkelkinder werden, wenn sie Interesse zeigen, in ‚die Geheimnisse des
Gartenbaus' eingeführt. Durch das Berühren der Pflanzen, Beobachten des
Wachstums und das Essen der Früchte lernen Kinder Gartenbau als
sinnliche Erfahrung kennen. Sie müssen nicht arbeiten, lernen aber
durch das Vorbild der Großeltern, dass diese Arbeit mit Genuss, den
Gartenfrüchten, belohnt wird.
Mit NachbarInnen bestehen Kontakte, die gepflegt werden (müssen).
Aufgrund der selten ausgeprägten Infrastruktur der Siedlungen besteht
die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und der gegenseitigen
Rücksichtnahme z.B. bei der Wasserentnahme an Gemeinschaftsanschlüssen.
Feiertage (z.B. Geburtstage) der jeweiligen benachbarten Familie werden
als Zeichen der Aufmerksamkeit und zum Erhalt der Beziehungen gemeinsam
begangen. Die zu intensivierenden Beziehungen werden sorgfältig
ausgewählt, praktisch wird zwischen nachbarschaftlich-diplomatischen
und engen (freundschaftlichen) Beziehungen differenziert./23/ Erstere
sind geprägt durch relativ distanzierte Höflichkeit, die Grenzen des
jeweils anderen Gartens bleiben gewahrt. Man kommuniziert über den Zaun
hinweg und führt ausschließlich ‚small talk'. Vermieden werden kleine
Gefälligkeiten und der Austausch von Rezepten. Die Pflege dieser
Beziehungen obliegt meist Frauen. Enge Verhältnisse sind u.a.
gekennzeichnet durch den Austausch von Gefälligkeiten, Naturalien,
Arbeitsleistung, Wissen etc.. Der Tausch (auch innerhalb der Familie)
muss nicht unmittelbar reziprok sein, d.h. zwischen einer Leistung und
deren Erwiderung kann sehr lange Zeit vergehen.
Produziert wird zum größten Teil für den Eigenbedarf. Von der Ernte
ernährt sich u.U. im Winter die Familie auch in der Stadt. Oft werden
jüngere Familienmitglieder, die nicht bei ihren Eltern wohnen und über
begrenzte finanzielle Mittel verfügen, z.B. Studierende in Wohnheimen,
von ihren Eltern (oder Großeltern) mit Lebensmittelpaketen versorgt.
Bei einer Einladung in eine russische Familie wird der Gast eigene
(oder von den Eltern angebaute) Produkte vorgesetzt bekommen, wobei
deren Herkunft aus dem "eigenen Garten" auf jeden Fall betont wird.
Besonders wichtige Konserven sind Konfitüren, die zum Tee gegessen
werden, und eingelegtes Gemüse, wie Gurken, Tomaten, Pilze, manchmal
auch Paprika, die als zakuska (als Knabberei zu Alkohol oder schwerem
Essen) dienen. Wichtig ist auch Sauerkraut, dessen Zubereitung viel
körperliche Kraft und Geduld braucht. Kartoffeln, Kürbisse, Möhren und
Zucchini werden in der Wohnung eingelagert, um lange Anfahrtswege zu
den Vorratskellern und das Erfrieren des Gemüses im Winter dort zu
vermeiden./24/
Die Erholungsfunktion betrifft nahezu alle beteiligten
Generationen: Kinder im Schulalter verbringen die Ferien hier,
Jugendliche und junge Erwachsene treffen sich mit FreundInnen, um zu
grillen und Partys zu feiern. Häufig werden zu diesen Anlässen die
älteren Generationen, die Eltern und Großeltern, ‚ausgeladen', um nur
unter sich sein zu können und die Zeit frei zu gestalten. Ein solcher
Abend verläuft ganz nach den in dieser Generation gültigen Regeln. Wenn
die Datsche am nächsten Tag aber verlassen wird, wird peinlich genau
aufgeräumt entsprechend der sonst üblichen Werte von Ordnung und
Sauberkeit. Eine Einladung von jungen Menschen auf die Datsche (der
Eltern oder Großeltern) bedeutet: unter sich (Gleichaltrigen) sein,
etwas essen und viel trinken, wenn es eine Sauna gibt, nach
Geschlechtern getrennte Saunabesuche, alkoholgeschwängerte Diskussionen
usw. Junge Familien mit Kindern nutzen die Möglichkeit, Wochenenden
oder sogar den Sommerurlaub auf der Datsche von Freunden oder Bekannten
zu verbringen, wenn sie keine Verwandten mit Garten haben.
Gartenbesitzer, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, verleben
oft ihren Jahresurlaub auf der Datsche, v.a. wenn sie sich, wie die
Mehrheit der Bevölkerung in Nowosibirsk, keine Reisen leisten können.
Ungeachtet dieser aus einem Mangel heraus geborenen Funktion der
Datsche als ‚Ersatz-Urlaubsziel' ist mit ihr die Frage nach Status
verbunden. Heute ist es zwar leichter, sich ein Auto oder auch eine
Datsche zu kaufen, trotzdem habe ich oft lange und wiederholte
Geschichten über die Schwierigkeiten beim Erwerb der aktuellen Datsche
gehört. Diese verdeutlichten, wie viel Mühe und Zeit in die heutige
Erscheinung des eigenen Gartens gesteckt wurde. Eine Einladung auf die
Datsche kann daher auch als Ehrerbietung an den Gast verstanden werden,
da so ein unter großen Entbehrungen gekaufter, urbar gemachter und
instandgehaltener Teil des familiären Reiches preisgegeben wird.
Für den Eintritt in dieses Reich herrschen wichtige Regeln: An der
Gartenpforte gibt es keine Klingeln, es muss gerufen werden, um die
Ankunft zu signalisieren. Selbst wenn niemand im Garten zu sehen ist,
sollte man sich laut bemerkbar machen. Erst an der Tür des Häuschens zu
klopfen, ist unüblich und wirkt wie ein unbefugtes Eintreten - wer an
der Haustür angelangt ist, hat bereits einen großen Teil des Gartens
durchquert! Wer den eigenen Garten verlässt, um zu NachbarInnen zu
gehen, zieht sich oft, entsprechend des jeweiligen Anlasses, bessere
Kleidung an, als die früher beschriebene Gartenkleidung. Die im Garten
praktizierte Kleiderordnung spricht dafür, dass der Garten als ein Raum
verstanden wird, der, obwohl von außen einsehbar, den jeweiligen
BesitzerInnen und BetreiberInnen doch die Möglichkeit des Rückzugs von
äußeren Einflüssen wie Kleidungsvorschriften lässt, er ist ein Raum zur
Entfaltung und Realisierung eigener Bedürfnisse.
Der kulturelle ("metaphysische") Raum Datsche
Zunächst zum Merkmal der Datschen als Kleingärten von StädterInnen,
in der Vorstadt oder der Umgebung von Städten gelegen: Hier verbinden
sich auf alltägliche Weise Stadt und Land als räumliche Kategorien mit
all ihren Implikationen für Arbeit und deren Wert, Gesundheit,
Ernährung u.a. zu einer gemeinsamen Praxis. Diese beinhaltet die
Annehmlichkeiten beider (Lebens-) Welten, nämlich die für den Winter
notwendige Infrastruktur der Stadt mit warmem Wasser, Strom,
medizinischer Versorgung, relativer Bewegungsfreiheit usw. Gleichzeitig
aber gehören zu ihr auch die Vorteile ländlichen Lebens: die Versorgung
mit frischen, qualitativ hochwertigen, relativ reinen Lebensmitteln,
die Nähe zum eigenen Produkt, die relative Möglichkeit den Tagesablauf
und die Arbeit frei einzuteilen, unabhängig von fremddiktierten Regeln
und Anforderungen, die saubere Umgebung und Ruhe, die Langsamkeit und
Gelassenheit ländlicher ‚Idylle'./25/ Darüber hinaus werden die
körperliche Arbeit, die Nähe zum eigenen Produkt, die
Eigenverantwortlichkeit der Arbeit ("Wenn ich nicht rechtzeitig aussäe
oder falsch pflege, werde ich keine Ernte haben", war eine der
häufigsten Erklärungen) und die Möglichkeit zu Kreativität und
Selbstbestätigung als positiv und dem Stadtleben entgegengesetzt
bewertet.
Die Erreichbarkeit der Gärten mit öffentlichen Verkehrsmitteln und
die gleichzeitige Entfernung vom ständigen Wohnort steigert auf subtile
Art den Wert der Datsche und des Datschenlebens. Die Entfernung darf
nicht zu groß sein, sie sollte ‚gerade so' zu bewältigen sein, aber
nicht in ‚Qual' ausarten. Natürlich aber darf sie auch nicht zu kurz
sein, da es sonst weniger gäbe, was als Opfer zugunsten dieser
Beschäftigung dargestellt werden könnte und somit den Wert der Datsche
erhöhen würde./26/
Die Reglementierung von Grundstücksgröße, Bebauungsart, Pflanzen
usw. ist auf zweierlei Weise zu interpretieren: Zum einen kann hier ein
Versuch gesehen werden, auch diese Lebensweise, welche noch aus
zaristischen Zeiten stammt, in die sowjetische Organisation des Lebens
einzubinden und nach diesen Vorstellungen zu formen. Von besonderer
Bedeutung ist hier der Fakt, dass erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
(einer Zeit extremer Lebensmittelknappheit und Not) die Datschen in
ihrer auch heute noch existierenden Form als private
Nebenwirtschaft/27/ gefördert wurden. Um aber dieses eigentliche
Privateigentum ideologisch zulassen zu können, musste es reglementiert
und dem individualistischen Prestige-Anspruch, der noch aus Zarenzeiten
stammte, entzogen werden. Interessanterweise aber wurde trotz der
Kontrolle des Gartenbaus (in Vereinen, Betriebskollektiven, durch die
Auswahl an Bau- und Pflanzmaterialien, durch das nicht existente
Eigentum/28/ an Grund und Boden, den immer möglichen Verlust des Landes
durch Neuverteilung oder Auflösung von Gartenkolonien) die Datsche als
ein (vielleicht auch nur graduell) ‚privaterer' Raum angesehen, als es
z.B. Zimmer in Gemeinschaftswohnungen, in Wohnheimen oder die beengten
Stadtwohnungen waren. (Chekhovskikh 2000, Humphrey 2002: 186f.) Diese
Opposition der Datsche als privater Raum gegenüber der staatlichen
Öffentlichkeit liegt u.a. auch in der Eigenschaft als
Familienwirtschaft begründet.
Die Familie gilt symbolisch als ein Ort, in dem Menschen sich
vorbehaltlos vertrauen. (Shlapentokh 1989) Es liegt daher nahe, dass
ein familiärer Raum wie die Datschen ebenfalls als ein Ort gesehen
wird, in welchen staatliche Reglementierungen keinen Zutritt haben
sollten. Außerdem wurde die Sphäre des Familiären, einschließlich der
Datschen, so geformt, dass auch widersprüchliche Bedürfnisse der
Familienmitglieder hier doch erfüllt werden konnten. Praktisch geschah
die ‚Privatisierung', die Einordnung der Datschen in den vom Staat
getrennten ‚privaten'/29/ Raum, zum einen durch die quasi-Aneignung des
Bodens durch die Bewirtschaftung. Zum anderen aber auch, weil sich
innerhalb dieses Raumes trotz der Reglementierung Möglichkeiten der
individuellen Verwirklichung boten, so z.B. durch das Experimentieren
mit Pflanz- und Saatgut, durch den "Import" nicht heimischer Pflanzen
aus anderen Klimazonen des Landes von Urlaubsreisen, durch die
individuelle Anordnung der vorgeschriebenen Pflanzen, durch die
Entwicklung "geheimer" Rezepte bei der Zubereitung und Konservierung,
die nur an Auserwählte preisgegeben wurden (und werden!) usw.
Die Wahrnehmung der Datsche als quasi-privaten/30/ Raum wird in den
Verhaltensregeln deutlich, wie ich sie beschrieben habe. V.a. vor dem
Hintergrund der "sowjetischen Persönlichkeit"/31/ gewinnt die in dieser
Privatheit ausgeübte Eigenverantwortlichkeit an Bedeutung. Es herrschen
Regeln, welche die Beziehungen zwischen den einzelnen Parteien in
diesem Raum direkt, ohne Zwischeninstanzen ordnen. Die Pflege der
Beziehungen obliegt also den einzelnen TeilnehmerInnen in diesem Feld.
Die Unmittelbarkeit der Beziehungen verlangt von jeder/m Einzelnen die
Unterscheidung enger und entfernter Verhältnisse: Das Aufrechterhalten
der höflich-distanzierten Kontakte kann in zweierlei Hinsicht
interpretiert werden, wobei beide plausibel sind: Zum Ersten erscheint
es als Mittel zur Schadensbegrenzung aufgrund der gegenseitigen und
gemeinsamen Abhängigkeit von verschiedenen äußeren Faktoren wie
Infrastruktur, Wetter, Kriminalität u.a. Man versucht den ‚Unwillen'
des anderen nicht zu erregen, weil dieser sehr großen Schaden zufügen
kann, z.B. durch (wissentliches) Unterbrechen der Wasser- oder
Stromzufuhr für den Nachbargarten, oder durch unbeobachtetes Einleiten
von Schadstoffen, oder, in einem drastischeren Szenario, durch
Verletzung der Privatsphäre des jeweils nicht-höflichen Nachbarn durch
Diebstahl, Einbruch, Brandstiftung. Zum Zweiten ist die
aufrechterhaltene Distanz auch eine Art der Sanktion von nicht
akzeptiertem früheren Verhalten. Die räumliche Nähe der Gärten der
jeweiligen Beteiligten entscheidet nicht zwangsläufig über die Nähe der
Beziehung. Vielmehr kann durchaus zu der/dem unmittelbaren NachbarIn
ein distanziertes Verhältnis bestehen, während der Besuch von engen
FreundInnen in der Siedlungen längere Fußwege erfordern kann. Dass
trotz der ‚Oberflächlichkeit' die Beziehungen aufrechterhalten werden,
ist besonders bei engen NachbarInnen aus den Gründen der
‚Schadensbegrenzung' wahrscheinlich.
Bei engeren nachbarschaftlichen Verhältnissen sollte zwischen
hauptsächlich pragmatisch motivierten und freundschaftlichen
unterschieden werden. In beiden Fällen kann sich die Tiefe der
Beziehung bei nahen NachbarInnen räumlich durch einen Durchgang in den
Zäunen ausdrücken. Diese Lücken im Zaun vereinfachen und verkürzen zwar
die Besuchswege, entbinden die BesucherInnen jedoch nicht von den
allgemeingültigen Verhaltensregeln, d.h. dem verbalen Bemerkbarmachen
bei Betreten des Grundstücks. Vorwiegend pragmatisch motivierte
Beziehungen bilden für die KleingärtnerInnen ein Netzwerk, mithilfe
dessen die infrastrukturellen Mängel der Siedlungen ausgeglichen werden
können, wie z.B. durch Mitfahr- oder Transportmöglichkeiten, den Zugang
zu knappen Ressourcen/32/ oder auch als nachbarschaftlicher Schutz vor
Einbruch, Diebstahl oder Überfällen. Freundschaftliche Beziehungen
zeichnen sich zusätzlich dadurch aus, dass Kontakte auch über die
Gartensaison hinaus gepflegt, Rezepte ausgetauscht werden können, aber
auch dass in begrenztem Maß familiäre Probleme erörtert werden. Dies
deutet das gegenseitige Vertrauen an, das aber m.E. das innerfamiliäre
Vertrauen in sehr seltenen Fällen nur übersteigt. Die auserwählten
Personen erhalten freieren Eintritt (Lücken im Zaun, Zugang zu
persönlichem Wissen wie Rezepte und Probleme) in die persönliche Sphäre
als andere, müssen sich aber an die allgemeinen Verhaltensregeln
halten./33/
Das Datschenleben stellt in den verschiedenen Lebensphasen
sinnliche Erfahrungen dar: Kinder werden hier an den ‚richtigen'
Geschmack gewöhnt, im Sinne von ‚wie frisches, unbehandeltes, also
wertvolles Gemüse und Obst zu schmecken hat'. Körperliche Arbeit wird
spielerisch erfahren, der Wert der Arbeit zeigt sich später in der
Qualität der Nahrung. Körperliche Betätigung wie Schwimmen und
Spaziergänge im Wald erweisen sich als Erholung, wenn die Gartenarbeit
getan ist. Arbeit wird also in doppelter Hinsicht belohnt: durch den
Geschmack der Nahrung und den folgenden körperlichen Ausgleich. Durch
die Verbindung von Schulferien (Wochenenden) und dem Aufenthalt auf der
Datsche (außerhalb beengter städtischer Wohnverhältnisse und
schulischer Pflichten) wird der Garten als Erholung erlebt. Hinzu kommt
ein psychologischer Aspekt: die Nähe zu den Großeltern (der Großmutter)
wird mit diesen Erfahrungen verbunden./34/ Kinder erfahren die Datschen
als Sinnbild für emotionale Nähe zur Großmutter (als Vertreterin
früherer Generationen), für schmackhaftes Essen, den Wert von Arbeit,
Natur und körperlicher Betätigung.
Der Raum Datsche und seine Sinngebung
Die große Verbreitung der Datschen verdeutlicht wie mehrfach
erwähnt, dass (fast) jede Russin und jeder Russe früher oder später in
ihrem/seinem Leben gehört oder erlebt hat, was eine Datsche ist und
welchen Stellenwert sie im Leben verschiedener Menschen einnehmen kann.
Hierzu einige beispielhafte Aussagen aus meinem Forschungsaufenthalt
als Illustration der Vielfalt an Bedeutungen:
"Ich habe keine Lust, meine ganzen Wochenenden mit meinen Eltern
auf der Datsche zu verbringen und arbeiten zu müssen. Ich will was
erleben, Freunde treffen und rumhängen." (Studentin, ca. 20)
"Meine Großeltern und Eltern schuften sich hier ja richtig den
Buckel krumm, und ich helfe ihnen auch manchmal. Aber ich sehe das
nicht ein. Ich finde, die Datsche ist zum Erholen da. Und das ist auch
in Ordnung für sie. Ich kann hier machen, was ich will."
(Universitätsangestellter, Ende 20)
"Meine älteste Enkelin ist schon so erwachsen, sie kommt nicht mehr
die ganzen Ferien zu mir raus, aber manchmal kommt sie doch vorbei und
bringt ihre Freunde mit, und dann bekoche ich sie alle hier, und das
ist wie früher. Bei der Oma schmeckt es doch immer am besten, da ist
alles frisch. Aber die Kleine kommt ganz oft. Dann machen wir Pizza,
und ich mache meine Eierkuchen. Die isst sie am allerliebsten."
(Rentnerin, ca. 70)
"Unser Kind soll nicht nur zwischen Beton aufwachsen. Ich erinnere
mich noch an Mago (ein Dorf im Fernen Osten, I.B.) und den Riesengarten
und wie wir da immer gespielt haben. Und unsere Oma hat immer so toll
gekocht. In der Stadt dann war es das Schönste, als wir auch eine
Datsche bekamen. Das war wie früher in Mago. Und ich will, dass mein
Kind auch so schöne Erinnerungen hat." (Anästhesist, Mitte 30)
"Ohne die Datsche hätten wir die schlimmen Jahre (nach dem Krieg,
I.B.) nicht überlebt. Wir haben alles selbst angebaut und uns davon
ernährt. Und heute - na ja, die Erde hat uns immer ernährt. Wir
verdanken ihr so viel, sie gehört einfach zum Leben dazu. Warum sollte
ich das jetzt sein lassen?" (zwei Rentnerinnen, Ende 60)
"Also, wenn du dich mit den Datschen beschäftigst, dann musst du
unbedingt die Bücher von Anastasia/35/ lesen. Das ist so eine kluge
Frau, die versteht genau, was die Datschen wirklich sind. Sie sind
nämlich die Verbindung zu Gott und bringen das Beste in der
menschlichen Natur zum Vorschein..." (Reisebekanntschaft, ca. 50)
Datsche und Nahrung
Eines der master narratives betrifft, auch in den obigen
Darstellungen, die direkte Assoziation der Datsche mit dem Anbau und
dem Genuss von Nahrung. Wie bereits ausgeführt, werden hier seit der
frühesten Kindheit Geschmackssinne ausgebildet und bestätigt. Eine
Mitarbeiterin des universitären Auslandsamtes erklärte mir die
weitverbreitete Ablehnung westlicher Nahrungsmittel in der russischen
Bevölkerung mit der Gewöhnung an den "richtigen" Geschmack wertvoller
Produkte, d.h. Produkte aus eigenem, kontrollierten Anbau/36/, deren
Konservierung mit Hilfe von erprobten Rezepten/37/ erfolgt und die auf
die klimatischen Bedingungen und verfügbaren Zutaten in der jeweiligen
Region abgestimmt sind. Trotz der Verfügbarkeit sowohl westlicher als
auch einheimischer Produkte auf dem Markt und in den Läden werden
weiterhin die eigenen Produkte bevorzugt. (Vgl. Humphrey 1995: 54-58,
Megre 2002: 32) Gäste werden mit Selbstangebautem bewirtet, Kinder
erhalten ‚care-Pakete' mit eigenen Produkten, aber kein Geld, welches
viel leichter zu schicken wäre. Selbst manche Familien mit genügend
Einkommen bauen weiterhin bestimmte Früchte an, obwohl sie sich diese
ohne weiteres auf dem Markt und von privaten VerkäuferInnen kaufen
könnten./38/ Es werden sogar mehr finanzielle, materielle und physische
Aufwendungen in die Bewirtschaftung und den Erhalt der Datschen
gesteckt, als diese rein rechnerisch einbringen. (Chekhovskikh 2000:
106)
All diese Faktoren führen dazu, dass die Datsche als Raum der
Geschmacksbildung und der Symbolisierung des russischen Geschmacks auch
zu einer Quelle und zu einer Sphäre der Festigung der Identität als
RussInnen wird. Narrativ werden die Datschen u.a. als Ursprung der
wahrhaft wertvollen, weil unverfälschten Nahrung und der Befriedigung
des russischen Geschmacks konstruiert. Mit anderen Worten: Eigene
(nashi) Produkte werden fremden (cužyje) vorgezogen. Und die
ureigensten Produkte sind die auf der Datsche selbst angebauten.
Diese Interpretation der Datsche als Sphäre des russischen
Geschmacks ist nur mit Bezug auf den Stellenwert von Essen und
gemeinsamen Mahlzeiten in der russischen Kultur möglich. Ohne hier eine
Ethnographie des Essens wagen zu wollen, seien nur einige wenige
Beispiele angeführt: Erst nach mehreren Besuchen und informellen
Gesprächen und erst, wenn ein Interview beendet war, lud eine
Interviewpartnerin mich ein, eine Kleinigkeit mit ihr zu essen. Dabei
betonte sie immer, dass das meiste des Angebotenen nach ihrem eigenen
Rezept hergestellt oder sogar selbst angebaut war. Eine weitere Frau
beendete das einzige Interview mit der Frage: "Und, essen wir jetzt?"
Das war der Hinweis, dass die Arbeit getan war und nun das Vergnügen
bevorstand. Dabei war irrelevant, dass ich nicht hungrig und es eine
sehr ungewöhnliche Zeit zum Essen war. Die dritte Interviewpartnerin
hielt zur Zeit unseres Kennenlernens die orthodoxe Fastenzeit ein, aber
zu unserem zweiten Treffen hatte sie für mich einen Kuchen gebacken.
Sie erklärte, dass sie zum Zeichen des Vertrauens ihr Fasten
unterbrechen würde und dass dies auch nicht ihrem Glauben widerspräche.
Interessanterweise waren die drei genannten Frauen während des Essens
mitteilsamer als je zuvor, sie teilten mir persönlichere Ansichten
mit./3/9 Als Raum der Nahrungsproduktion wird die Küche besonders hoch
bewertet. Sie gilt als der Raum, in dem sich das Leben abspielt. So
habe ich bspw. keine russische Küche je ohne Samowar gesehen, der als
Inbegriff von Gemütlichkeit und Miteinander gilt. In Anbetracht der
engen Verbindung von Nahrungsproduktion und Datschen liegt es nahe, die
auf die Küche angewandte Interpretation auch den Datschen
zuzuschreiben.
Weiterhin genannt werden oft sinnliche Erfahrungen (Erholung an der
frischen Luft, natürliche Umgebung, das Teilhaben am Wachsen und
Werden, am jahreszeitlichen Zyklus, körperliche Betätigung etc.), die
im städtischen Alltag fehlen, aber unbedingt zu einem ‚sinnvollen',
erfüllten Leben dazugehören. Es wird damit herausgestellt, dass die
KleingärtnerInnen mit ihrem Hauptwohnsitz in der Stadt auf all diese
Annehmlichkeiten und den Ausgleich verzichten müssen, aber nicht auf
sie verzichten wollen. In diesem Narrativ werden die Stadt und das Land
als verschiedene Räume sowohl einander entgegengesetzt, als auch
miteinander verbunden. Die gegensätzliche Positionierung findet sich in
dem Mangel an Sinnesfreuden in der Stadt, dessentwegen die Datsche als
Raum für den Ausgleich notwendig ist. Die Verbindung der beiden Räume
aber besteht in dem seit Jahrzehnten unveränderten Fakt, dass Datschen
nur saisonale Wohnsitze und Lebensräume sind. Menschen, die auf dem
Land leben, die hauptberuflich Landwirtschaft betreiben, sind keine
dacniki, sondern Bauern: Dacniki betreiben den Gartenbau aus Passion,
als Hobby, zur Erholung, so die von Interview- und
GesprächspartnerInnen gleichermaßen genannte wichtigste Motivation.
Auf der zuvor behandelten "metaphysischen" Ebene des Raumkonzeptes
stellt der Aspekt der Sinneserfahrungen die Bedeutung derselben für
russische Wert- und Weltvorstellungen dar. Allerdings geht meine
Interpretation hier noch weiter, da deutlich wird, dass die Praxis die
Vorstellungen formt und prägt: Zu bestimmten Zeiten (z.B. nach dem II.
Weltkrieg und in den Mangeljahren vor, während und nach der
Perestroika) dominierte die Selbstversorgung die Bedeutung der Datsche.
Diese Jahre liegen aber in der Vergangenheit. Auch wenn heute für
einige Menschen die Eigenproduktion immer noch einen großen Anteil
ihrer Versorgung ausmacht und auch als Einkommensquelle dient, wird
heute doch das Narrativ von bereichernden Motivationen, i.e. keinen
Mangelerfahrungen, dominiert: Während man früher selbst anbauen musste,
um überleben zu können, werden heute, zumindest in den Narrativen, mit
der Datsche hauptsächlich Genussbedürfnisse erfüllt, wie z.B. die
Sehnsucht nach etwas Wohlschmeckendem, das Bedürfnis nach wertvoller,
"ökologischer" Nahrung, das Bedürfnis nach Erholung von der städtischen
Umgebung und dem alltäglichen Stress durch ein fremdbestimmtes Leben.
All dies verdeutlicht, dass es eine Wahl gibt, ob die Nahrung nur nach
energetischen Gesichtspunkten gewählt wird, oder ob der Geschmack und
das Bewusstsein um die Reinheit der Produkte Beachtung findet. In den
Jahren nach dem II. Weltkrieg gab es diese Wahl nicht. Damals ging es
um das ‚nackte Überleben'. Ebenso hatte die Datsche in den Mangeljahren
zum Ende des 20. Jahrhunderts eher existentielle Bedeutung. Diskursiv
wird die Bedeutung der Datsche als etwas über die Zeit veränderliches
konstruiert.
Die Datsche als Zufluchtsort
Allerdings führen die positiven Beweggründe, die Vorteile dieses
ländlichen Lebensstils, nicht zu der Konsequenz, den Hauptwohnsitz aufs
Land zu verlegen und sich hauptberuflich der Landwirtschaft zu
widmen./40/ Die Distanz zwischen der Datsche und dem Hauptwohnsitz muss
in mehrfacher Hinsicht erhalten werden. Nur so können auch die
verschiedenen Bedeutungen der Datsche bewahrt werden. Die tägliche,
wöchentliche oder jährliche Fahrt, die wegen der zu transportierenden
Lasten oft einem Umzug ähnelt, ist nicht allein eine Überwindung der
Strecke, sondern auch eine wiederholte Bestätigung der Entfernung. Die
Schwierigkeiten und Belastungen der Fahrt/41/ werden nicht einfach nur
in Kauf genommen, etwa weil es keine andere Möglichkeit gäbe. Die Fahrt
mit allen Unbequemlichkeiten ist unbedingt notwendig, sie gehört zum
Datschenleben: Im Bus, im Zug oder an der Haltestelle trifft man
bekannte Gesichter, die man nur aus diesem Kontext und vielleicht seit
Jahren kennt, deren Namen jedoch nicht unbedingt bekannt sind. Die
alte, abgetragene, geflickte Kleidung, die man teilweise bereits für
die Fahrt anzieht, wird nur in den Gärten getragen. Das mitgeführte
Gepäck ist so vollgepackt mit den nur für die Gartenarbeit oder den
Aufenthalt nötigen Utensilien und so alt, dass seine
Datschen-Vergangenheit für seine BenutzerInnen schon sichtbar ist. All
dies wirkt wie eine Einstimmung auf die zu erwartenden Freuden und
Erfolge, aber auch auf die Arbeit und Anstrengungen. Mit der
Unbequemlichkeit der Fahrt löst man sich von dem städtischen Dasein,
den kurzen Fußwegen in der Stadt, der Anonymität, der Achtung, die dort
der äußeren Erscheinung gezollt werden muss.
Erst die Loslösung von städtischen Konventionen, Einschränkungen
und Zwängen ermöglicht den Übergang in die ‚Welt der Datschen'. Um
wirklich in diese andere Welt einzutauchen und ihre Vorteile zu
erfahren, ist es notwendig, das Städtische hinter sich zu lassen. Der
räumliche Ausdruck dieser Trennung ist die Fahrt, der Umzug aus der
Stadt. Gleichzeitig wird mit der räumlichen Bewegung und mit dem
Bewusstsein der Anstrengungen dieser "Reise" auch die Bedeutung der
Datsche als "andere Welt" konstituiert. Um aber die Eigenschaft der
Datsche als "andere Welt" aufrechtzuerhalten, darf sie nicht zur
"profanen Welt" werden. Die Reise ist also ein weiteres Beispiel für
die aktive Gestaltung der Bedeutung von Räumen: Sie ist ihnen nicht
unveränderlich eingeschrieben, sie wird durch die Handlung geweckt und
sie ist über die Zeit veränderlich.
Die Verbindung zur Zeit und zur Vergangenheit
Die Verbindung zur eigenen Geschichte und die Beständigkeit der
Datsche über die Zeit hinweg ist eine der wichtigsten Bedeutungen, die
in den Erzählungen verschiedener Menschen auftauchte. Wie mir erklärt
wurde, betrieben die Menschen den Gartenbau nicht nur, weil "es eben
Tradition ist und weil man es eben macht". (Auch wenn viele Menschen
eben das Traditionelle in der Datsche als die wichtigste Motivation
benannten. Bei jungen Menschen, Studierenden zum Beispiel, war damit
meist eine Ablehnung der Tradition im allgemeinen und dieser Tradition
im besonderen verbunden.) Nach Aussage einer Interviewpartnerin stecke
auch der Wunsch dahinter, sich der vorsowjetischen, agrarischen
Vergangenheit zu widmen und dadurch den Bezug zu einem Teil der
Geschichte wiederherzustellen, der über lange Jahre als rückständig,
feudal, fortschrittsfeindlich etc. (ab)gewertet wurde.
Inwieweit diese Art der Rückbesinnung eine bewusste Motivation für
den Betrieb und Besitz einer Datsche darstellt, mag fraglich sein. Die
meisten anderen Menschen haben mir auf die Frage nach dem Warum
lediglich geantwortet, dass "das alle schon immer getan hätten, und
dass man das deshalb auch weiterführt". Trotzdem ist diese
Interpretation weitere Überlegung wert: Wenn erklärt wird, die Datschen
seien nun mal eine der ältesten Traditionen in Russland, und eine von
wenigen, die sich über die sowjetische Zeit hinweg erhalten hätten,
stellt das einen Bezug zur Geschichte und zu Traditionen her. Wenn
darüber hinaus noch beachtet wird, welchen Stellenwert die Datschen
hinsichtlich des sozialen Status' und Prestiges haben und fast
ununterbrochen hatten, wird dieser einfache Rückbezug auf Vergangenes
zu einer Wiederbelebung von Werten und Traditionen, von denen mit Stolz
gesagt wird, sie hätten trotz aller äußeren Veränderungen überdauert.
Die Datschen bilden somit einen räumlichen Bezug zur eigenen
Vergangenheit: Datschen, als Kleingärten von StädterInnen und in
ruralen Gebieten gelegen, hat es seit Anfang des 20. Jahrhunderts
gegeben. Datschen als Sommerresidenz von StadtbewohnerInnen gibt es
noch länger, seit Ende des 19. Jahrhunderts. Datschen als Auszeichnung
für Staatsdiener gab es sogar schon in der Alten Rus'. Die Präsentation
der Verdienste (des Reichtums etc.) ist somit sogar eine der ältesten
Funktionen. In der Mehrzahl der Fälle dienen die Datschen den
BesitzerInnen bis heute in allen drei Rollen, wenn auch in
unterschiedlicher Gewichtung. Die Erwähnung nur einer dieser drei
Möglichkeiten stellt folglich (unbewusst) den Bezug zur jeweiligen
Entstehungsgeschichte her.
Eindrucksvoller für den einzelnen Menschen ist jedoch die
persönliche Erinnerung, welche die Meinung über die Datsche prägt,
welche Funktion herausgestellt und welche vernachlässigt wird. Zwar ist
in den oben angeführten Aussagen von älteren Menschen der Einfluss der
Erinnerungen (an Notzeiten, an schöne Kindheitserlebnisse) stärker
nachzuvollziehen. Aber auch bei der jungen Generation (ca. 16 bis 23),
von denen viele die Datsche als Ort elterlicher Kontrolle und der
Arbeit betrachten, wird der zeitliche Bezug deutlich: Es sind die
(Groß-)Eltern, die älteren Generationen, die Kontrolle ausüben und die
Arbeit verteilen. Häufig wird eine solche Ablehnung als
Generationskonflikt konstruiert: Den Älteren wird unterstellt, sie
würden die Arbeit nur deshalb als Vergnügen umdeuten, weil sie noch
nicht erkannt hätten, dass die Zeiten, als Mangel in Tugend und daher
Arbeit in Vergnügen umgedeutet wurden, vorbei seien. Von der jungen
Generation wird dann eher der Erholungsaspekt der Datsche betont. Die
Datsche an sich jedoch, mit ihren mindestens drei Funktionen, ist die
Konstante in all diesen Narrativen und Konstruktionen.
Abgesehen von ihrer Erprobung als informelle Wirtschaftsstrategie
vor allem während der Perestrojka und des wirtschaftlichen und
finanziellen Zusammenbruchs vom August 1998, bietet sie sich auch als
ein raum-zeitliches Ordnungsmuster an. Bezugnehmend auf
humangeographische Konzepte der raumzeitlichen Regionalisierung
(Scheller 1995: 4f.) ist die Datsche eines der wichtigsten
Ordnungsprinzipien russischen Lebens schlechthin: Anfang und Ende der
Datschensaison werden in den Medien verkündet. Selbst für StädterInnen
ohne Datsche ist damit klar, dass ein neuer Vegetationszyklus begonnen
hat. Der Beginn des Frühjahrs ist für DatschenbetreiberInnen mit
räumlichen Veränderungen verbunden: Man bereitet sich darauf vor, auf
die Datsche umzuziehen oder schafft wenigstens einen großen Teil des
Hausrats in den Garten, da man nur noch zum Schlafen in die Stadt
kommt. So lässt sich "raumzeitliche Regionalisierung" hier verstehen:
Raum und Zeit werden zu Ordnungsprinzipien, die sich gegenseitig
beeinflussen und später im Alltag und im Bewusstsein der Menschen kaum
voneinander zu trennen sind. Der Raum, der regelmäßig zu einer
bestimmten Zeit aufgesucht wird, wird zum Raum dieser Zeit. "Es wird
Zeit" für diesen Raum: Die verbale Eröffnung der Datschensaison in den
Medien im Frühjahr geht einher mit einer massenhaften ‚Völkerwanderung'
zu den Datschen. Es ist "Datschenzeit". Ob nun die Bewegung zu diesem
Raum oder die verbale Eröffnung, die Erklärung, dass es Zeit sei, am
Anfang standen, ist unwichtig. Diese Irrelevanz deutet an, wie wirksam
die stattgefundene "Regionalisierung" ist und beschreibt die genannte
vierte Dimension von Räumen.
Anstelle eines Schlusswortes - Die Spiritualität der Datsche
Abschließend werde ich noch eines der überraschendsten
Forschungsergebnisse vorstellen, welches schon in den eingangs
paraphrasierten Antworten von GesprächspartnerInnen angedeutet wurde:
die Entstehung einer neuen Glaubensgemeinschaft, in deren Mittelpunkt
die KleingärtnerInnen Russlands stehen. Diese Gemeinschaft nennt sich
Anastasijcy, i.e. Anhänger der Anastasia. Ich erfuhr über deren
Existenz durch oben zitierte Reisebekannte wenige Wochen vor dem Ende
meines Forschungsaufenthaltes. Sofort, nachdem sie gehört hatte, dass
ich mich für die Datschen interessiere, erklärte sie mir, dass in
diesem Glauben die DatschenbetreiberInnen die eigentlichen Heilsbringer
seien. Da die Kleingärtnerei nur das Beste im Menschen zum Vorschein
brächte, habe diese scheinbar neue Spiritualität der Datschen ihre
Wirksamkeit schon vor Jahrzehnten bestätigt. Zunächst nahm ich diese
Anregung nicht ernst. Ich vergaß sie sogar für einige Monate, bis ich
im russischen Internet eine Unmenge (über 10 000) von Verweisen fand,
die auf entsprechende Fanclubs, Vereine, Veranstaltungen, Lebenshilfe,
aber auch Zeitungen und Missionierungsversuche von Gläubigen hinwiesen.
Mittlerweile ist auch klar geworden, dass dieser neue Glauben seit
Mitte der 1990er Jahre regen Zuspruch findet und sich weiterhin
verbreitet: In vielen russischen Städten finden sich Kontaktadressen,
die Bücher sind leicht zu beziehen, und jeder Mensch schien zu wissen,
wovon ich sprach, wenn ich den Namen erwähnte./42/
Erstes Medium dieses Glaubens sind (mittlerweile sieben) Bücher des
Nowosibirsker Geschäftsmannes Wladimir Megre/43/, der von seinen
Begegnungen mit Anastasia berichtet, deren Glaube an die Liebe zur
Natur, zu allem Lebendigen ihr ein wahrhaft glückliches, gesundes und
erfülltes Leben mit einfachsten Mitteln inmitten der sibirischen Taiga
beschert. Anastasia wird als Einsiedlerin, einem Waldgeist ähnlich, eng
mit der Natur verbunden und als Prophetin beschrieben. Der Autor der
Bücher, der sich selbst als Sprachrohr von Anastasia und als ihre
Verbindung zur modernen, städtischen, industrialisierten Welt
darstellt, gibt an, sie 1994 bei einer Schiffsexpedition am Fluss Ob
(nördlich von Nowosibirsk) in den Tiefen der sibirischen Taiga
getroffen zu haben. Bei wiederholten Begegnungen unterbreitete
Anastasia ihm ausführlich ihre Vorstellungen von Leben, Moral, Glauben,
Arbeit, Beziehungen zwischen den Menschen im allgemeinen, und zwischen
den Geschlechtern und den Generationen im Besonderen, und vom
‚richtigen', liebevollen Umgang mit der Natur. Immer wieder dienten ihr
die dacniki als Beispiel, dass ihre eigenen Werte nicht unrealistisch
und weltfremd sind, sondern dass es bereits Menschen gebe, welche diese
Vorstellungen praktizierten und mit dieser Praxis die Welt schon
mehrfach vor der Apokalypse gerettet hätten. Zunächst einige Aussagen
von Anastasia, wie Megre sie wiedergibt, zur Illustration:
"In der ganzen Welt sind viele Menschen, die der Katastrophe der
Erde Widerstand leisten. Doch die Katastrophe 1992 hat hauptsächlich
dank der Kleingärtner Russlands nicht stattgefunden. [...] In Russland
galt die Erde einige Zeit als Allgemeingut, das heißt, sie gehörte
keinem Einzelnen, sondern allen. Die Menschen empfanden die Erde nicht
als ihr Eigentum. Dann trat eine Wende in Russland ein. Man gab dem
Menschen ein kleines Stück Land für ihre Gartenlauben. Doch diese
Grundstücke waren mit Absicht so klein gehalten, dass es unmöglich war,
irgendwelche technischen Hilfsmittel zu gebrauchen. Trotzdem gab es
viele Russen, die sich förmlich nach einem Stückchen Land verzehrten
und es mit Freuden annahmen. [...] Und als sie ihr kleines Stück Land
erhielten, spürten sie intuitiv: Nichts kann die Verbindung des
Menschen mit der Erde abbrechen. Und Millionen menschlicher Hände
berührten liebevoll die Erde. Ja, mit ihren Händen und nicht mit
irgendwelchen Maschinen berührten die Menschen zärtlich die Erde auf
ihren kleinen Grundstücken. Und sie spürte das. Sie spürte die
Berührung jeder einzelnen Hand, wurde dadurch stärker und konnte einige
Zeit durchhalten." (Megre 2000: 59-62)
"Den Wald entstehen lassen in der Wüste, so heißt die Aufgabe
heutzutage. Die kleinen Gärten um die Städte sind der Anfang der neuen
Erde, die dem Menschen wieder zum Haus und zum Raum der Liebe wird.
Wladimir, achte hoch die kleinen Gärten, es sind Oasen in der Welt des
Seelenlosen. Hier kennt und liebt den Menschen jede Pflanze. Hier heilt
der Raum die Seele des Menschen. Hier zeichnet sich der Weg ins
Paradies.[...] Das Tun ist hier entscheidend, nicht das Wort. In
kleinen Gärten wird ein heilig Werk verrichtet." (Megre 2001: 165f.)
Ihr Großvater sagt von Anastasia: "Sie glaubt, dass die
Kleingärtner einen allmählichen Übergang zum Verständnis des irdischen
Daseins darstellen. [...] Sie versuchte den Menschen liebevoll
beizubringen, wie man mit den Pflanzen umgehen muss, damit sie gut
gedeihen." (Megre 2000: 175)
Laut Anastasia sind die Kleingärten nicht nur ein Raum, in dem
Menschen sich erholen und sich damit etwas Gutes tun. Sie meint
vielmehr, dass hier ein "heilig Werk verrichtet" wird, dass hier die so
notwendige und heilende Begegnung des Menschen mit der Erde
stattfindet. Dabei bewegt sich die Interpretation Anastasias weniger
auf einer kulturellen ("metaphysischen"), sozialen oder physischen
Ebene von Raumvorstellungen. Vielmehr verbindet sich in diesem Glauben
die Bedeutung mit der Praxis: Die Erde berühren kann man auch auf dem
Feld, in einem Stadtpark, Kleingärten gibt es weltweit, auch außerhalb
Russlands. Hier geht es aber explizit um die Bedeutung der "russischen
Kleingärtner", die angeblich die planetare Katastrophe abgewendet
haben. Lt. Anastasia besitzt also eine durchaus alltägliche Praxis
einer globale und quasi-religiöse Bedeutung, wodurch der Raum, in
welchem praktiziert wird, zu einer sakralen Welt erklärt wird. Diese
Art der "Heiligsprechung" (Sinngebung) geht so weit, dass in den
Büchern Ratschläge und Hinweise erteilt werden, wie durch bestimmte
Pflanzen, Rituale bei der Bestellung und im alltäglichen Ablauf die
Verbindung mit der Natur erneuert und das Geschehen in diesem Raum neu
strukturiert und neu gedeutet werden. (Megre 2001a: 119-125, 142-144)
Der Raum Datsche wird also auf zweierlei Weise mit einer neuen
Bedeutung belegt: Die erste Praxis, welche die Bedeutung des Raumes
schafft, ist die Fortführung der Tradition, deren narrative Umdeutung
entsprechend den jeweiligen vorherrschenden gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und die Verbreitung der
Kleingärtnerei unter StädterInnen. Die zweite Praxis, welche sich seit
ihrem Auftauchen Mitte der 1990er Jahre wachsender Popularität erfreut,
ist die, dem Kleingartenbau einen Heilsanspruch für die ‚zivilisierte',
moderne Industriewelt zuzuschreiben und in Zeiten allgemeiner
Verunsicherung und Instabilität ein erwiesenermaßen stabiles Moment
(die Datschen) zur Quelle positiver Identifikation zu erklären.
Anmerkungen
1 Die Transliteration russischer Begriffe folgt hier dem Standard
ISO R9, sofern es sich nicht um im deutschen Sprachgebrauch verwendete
Versionen handelt wie z.B. die Familiennamen Gorbatschow, Jelzin o.ä..
2 Meine Ausführungen basieren auf einer elfmonatigen ethnologischen Forschung in Nowosibirsk 2000/2001.
3 Vgl. Chekhovskikh, 1999; dies., 2000; Kalugina, 2000; Alasheev et al. 1999. Oxen 1999: 779.
4 Turgenjews Erzählung "Erste Liebe" spielt auf einem Landsitz, der
von einer Städterfamilie für den Sommer gemietet wird - ein klassisches
"Datschen-Szenario" der Petersburger und Moskauer Aristokratie und
Intelligenzija. Auch in Ulitzkajas Roman "Reise in den siebenten
Himmel" dient eine Datsche als ein Schauplatz des Geschehens. Die Bühne
für Michalkows Film "Die Sonne, die uns täuscht" ist eine Datsche mit
der Romantik des Landlebens, Familienkonzerten und Kinderspielen, vor
der auch der stalinistische Terror nicht Halt macht. In der
Tretjakow-Galerie Moskau findet sich eine Zeichnung von Negodjaev
"Umzug auf die Datsche" von 1874, die den alljährlichen Umzug einer
Städterfamilie mit ‚Sack und Pack' aufs Land illustriert. 5 Private E-mail-Korrespondenz an die Autorin Juni 2001.
6 Ich habe u.a. nachgewiesen, dass die Datschen trotz des
allgegenwärtigen master narrative als "Tradition" durchaus Aspekte von
Traditionalität und Konservation beinhalten, aber auch als moderne
Strategien zur Krisenbewältigung verstanden werden können und sollten.
Ebenso erwiesen sich die kleingärtnerischen Gemeinschaften als
Identitätsquellen für die auf sie bezogenen communities of practice.
Ein wesentlicher Fokus zur Verbindung der angewandten theoretischen
Rahmen jedoch war die Untersuchung geschlechtsspezifischer Aspekte.
Unter dieser Perspektive habe ich Geschlechterbeziehungen und -rollen
in den Datschen als Räumen, als traditionell und als modern, aber auch
als gemeinschaftsstiftend untersucht.
7 Vgl. hierzu Alasheev et al. (1999); Chekhovskikh (2000, 1999);
Kalugina (2000); Koslatschkow (1998); Ugarov (1997); Fisher-Ruge, Lois
(1997, 1990); Krone-Schmalz (1993) u.v.a.
8 Der Ausdruck "sechs Hunderter" (600 m2 ) hat inzwischen
Sprichwortcharakter erlangt und wird im Alltag sofort als Synonym für
"Datsche" verstanden. 9 Das war zumindest in meiner Forschungsregion und in schon
früher besuchten Siedlungen des Fernen Osten der Fall. Da wenige
Menschen ein eigenes Fahrzeug besaßen, wurden diese Alternativen zum
öffentlichen Verkehr eingerichtet. Die Finanzierung der Transporte ist
mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich ist, dass dafür ein eher
symbolischer Beitrag entrichtet wird. Auch Anfang Mai 2000 sah ich in
der Nowosibirsker Universität ein handgemaltes Wandplakat, welches eine
solche Fahrgelegenheit zu einer Siedlung der Universität ankündigte.
10 Das konnte ich in den besuchten Siedlungen beobachten, aber
auch GesprächspartnerInnen erzählten von den Datschen der "Neuen
Russen". In Medienberichten werden diese luxuriösen Datschen erwähnt,
die den Wohlstand der neuen Reichen ("Neue Russen") repräsentieren.
Vgl. Koslatschkow 1998: 67. Der russische Ausdruck Novye Russkie (Neue
Russen) bezeichnet Menschen, deren seit der Perestrojka angehäufter
Reichtum oft über den Wohlstand von erfolgreichen Geschäftsleuten
(businesmeny) hinaus geht und von dem die meisten Menschen vermuten,
dass er auf illegale oder zumindest halblegale Weise erworben wurde.
Der Begriff impliziert, dass diese Menschen keine ‚richtigen Russen'
wären und dass deren Reichtum nicht von Dauer ist. (Megre 2002: 29) Es
scheint auch, als wenn von diesen ‚Neureichen', wie wohl das
treffendste deutsche Pendant lauten würde, meist schlechtes Benehmen
erwartet würde. Inwiefern er eine Fremdbezeichnung oder vielleicht eine
Eigenbezeichnung ist, ist mir nicht klar. Der einzige Angehörige einer
reichen Familie, den ich traf, bezeichnete sich zwar in einer
informellen Situation als "Sohn eines Neuen Russen", aber ich vermute,
er versuchte mit diesem Begriff nur, mir als Ausländerin seinen Status
zu verdeutlichen.
11 Vgl. Koslatschkow 1998; aber auch diverse Berichte in
Tageszeitungen, wenn es um die desolate wirtschaftliche Lage der Mitte
der 1990er ging. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung: 1994 besuchte ich
ein Dorf in der Autonomen Republik Komi im Nordural, das ehemals in den
1950ern extra für einen holzverarbeitenden Betrieb errichtet worden
war. Der Betrieb war fast 3 Jahre zuvor an eine kanadische Firma
verkauft worden, seitdem ruhte die Produktion. Die ehemaligen
ArbeiterInnen erhielten seitdem weder Löhne noch
Arbeitslosen-Unterstützungen. Nach Aussagen der noch ansässigen
Einwohner überlebten sie ausschließlich durch eigene Gartenerzeugnisse
und die staatlichen Kindergelder bzw. Altersrenten, die sie weiterhin
bezogen, die aber gerade in Anbetracht der Inflation nur Pfennigbeträge
darstellten. 12 Bis zur Jahrhundertwende war Russland ein Agrarland gewesen.
Die nun entstehende Arbeiter- und Angestelltenschaft waren fast
ausschließlich ehemals Bauern und Bäuerinnen gewesen, die infolge
verschlechterter Einkommen in die Stadt migrierten. Engel (1994: 34)
schreibt auch, dass die meisten MigrantInnen enge (rechtliche und
emotionale) Bindungen zu ihrem Herkunftsdorf bewahrten. Zur Veränderung
des ‚Datschenwesens' zwischen den verschiedenen sozialen Schichten vgl.
Chekhovskikh, (2000, Kap. 3.1, 3.2).
13 Noch immer wird auch in deutschen Medien z.B. von "Gorbatschows
Datsche" auf der Krim gesprochen, wobei zu beachten ist, dass die
gesamte Krim ein beliebtes Erholungs- und Kurgebiet in der UdSSR war.
14 Weitere Interpretationsansätze: 1.) dass ‚Genosse Stalin' viele
Datschen hatte, die Mehrheit der Bevölkerung hingegen sich glücklich
schätzte, wenn sie nur eine besaß - das spricht für die Bedeutung als
Statussymbol; 2.) dass im Verständnis des durchschnittlichen Menschen
davon ausgegangen wurde, dass auch ‚Genosse Stalin' wie jeder ‚normale
Sowjetbürger' auf seiner Datsche Kartoffeln anbauen würde - ein Indiz
für den (durchaus anzweifelbaren) Glauben an die Gleichheit der
Menschen ungeachtet ihrer Position in der Gesellschaft; 3.) dass auch
‚Genosse Stalin' überhaupt eine Datsche ‚besaß', dass die Datsche also
in den verschiedensten gesellschaftlichen Positionen zum normalen Leben
dazu gehört(e).
15 Ich gehe davon aus, dass die Lebensvorstellungen den
veränderten Bedingungen von Industrialisierung zwar angepasst werden
sollten, aber durch das künstliche Vorantreiben der Entwicklung in
ernsten Krisenzeiten (v.a. Unterversorgung) in Frage gestellt wurden
und die so entstandenen Vorstellungen die auftretenden Krisen auf Dauer
nicht befriedigend erklären konnten.
16 Für mehrere ältere Interview- und GesprächspartnerInnen stellte
die Selbstversorgung in Erinnerungen an die Nachkriegszeit die
wichtigste Bedeutung der Datschen dar (die vor dem Krieg zur Erholung
genutzt wurden).
17 Vor dem Betreten eines fremden Gartens, auch wenn man
angemeldet ist, sollte man hörbar "Hallo" oder "Guten Tag" rufen, zum
einen, damit sich die Bewohner nicht erschrecken, zum zweiten, damit
diese sich vorbereiten können und nicht eventuell in peinlichen
Situationen überrascht werden, und zum dritten, um anzuzeigen, dass man
nicht heimlich oder böswillig kommt.
18 Mit dem Suffix -nik kann aus unbelebten Substantiven der
dazugehörige Begriff für einen Menschen gebildet werden, mit -niki der
Plural, -nica das Femininum, dac- ist der Wortstamm von daca.
19 Auch wenn ich im Folgenden scheinbar absolut verallgemeinere,
gibt es selbstverständlich Ausnahmen. Diese werden aber hier bewusst
vernachlässigt, um grundlegende Tendenzen und Merkmale aufzuzeigen.
20 Nach jüngsten Beobachtungen von Tatjana allerdings werden die
Zäune zwischen den Grundstücken auch in dieser Siedlung immer höher und
eindeutig als Abgrenzungen gebaut. Dieses Element der Datschenkultur
also, bei dem der Zaun mehr als Verbindung denn als Grenze und Trennung
verstanden wurde, verliert sich scheinbar immer mehr und wird durch
eine strengere Trennung von Eigenem und Fremden ersetzt.
21 Es ist zu vermuten, dass sich in den luxuriösen Datschen der
Neuen Russen Duschen und Badewannen finden. Solche Häuser habe ich
allerdings nicht besucht.
22 Hinweise auf dieses Motiv fand ich in den Zeitschriften Playboy Juni 2002: 99 und Krokodil Nr. 3 2002: 11.
23 Es gibt selbstverständlich auch graduelle Abstufungen zwischen
den Arten der Beziehung. Diese aber würden den Schwerpunkt meiner
Argumentation verlagern und in Frage stellen. Aus diesem Grund versuche
ich hier lediglich die beiden genannten Verhältnisse zu
charakterisieren.
24 Nach der Ernte sah "mein" Zimmer in einer Familie wie ein
Gemüselager aus: unter und auf den Schränken, dem Tisch, unter dem
Bett, in freien Zimmerecken, Regalen, auf dem Fensterbrett etc.
Zucchini und Kürbisse in allen Farben und Größen. Die Kartoffeln
wurden, gewaschen und getrocknet, in Säcken im Flur, unter dem Bett, in
der Toilette gelagert, Möhren in Kellern und im Kühlschrank. 25 Diese Aspekte sind als Motivation für den Gartenbau in
(informellen) Gesprächen (auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland)
beständig wieder genannt worden.
26 Inspiriert wurde dieses Argument durch die Analyse russischer
Sprache und Sprechens als ein wesentlicher Faktor zur Konstitution
russischer kultureller Identität (Ries 1997). Es mangelt leider an
"Raum", Ries' Arbeit detaillierter vorzustellen. Hingewiesen sei daher
v.a. auf die erstmals von ihr herausgearbeitete Bedeutung von
Hoffnungslosigkeit, Opfer, Leiden als Paradigmen eines "kulturellen
Rituals", das sie u.a. als "Narrative Construction of Russia, Women,
and Men" bearbeitet. (Ries 1997: 18, Kap. 2) Wichtig war auch die
Darstellung ihres eigenen Unbehagens und der Frustration mit immer
wiederkehrenden Litaneien über die Leiden des russischen Volkes und die
individuellen Berichte - eine unangenehme Erfahrung, die auch ich
gemacht habe und von anderen AusländerInnen bestätigt bekam. Ries
allerdings nahm sich der Analyse des "Russian Talk" an und dürfte damit
als Erste einen Teil der vielberufenen "Tiefe der russischen Seele"
aufgespürt haben.
27 Licnoje podsobnoje khozjajstvo, abgekürzt LPKh, beinhaltet in
der Wortwahl eine ideologische Abwertung: Vor dem Hintergrund der
Ablehnung von Privateigentum in der sowjetischen Ideologie kann das
hier als "privat" deklarierte nur eine Nebenwirtschaft darstellen - die
zeitweilige tatsächliche wirtschaftliche Bedeutung wird durch die
Darstellung als nur ergänzende Überlebensstrategie heruntergespielt. 28 Landbesitz im Sinne von Eigentum gab es nach 1917 erst seit
den 1990ern wieder im Zuge der Privatisierung von Land. Ein Hintergrund
der erst kurzen Geschichte von Grundbesitz ist ein sehr altes Motiv, in
der russischen Mythologie fest verankert: "Die Erde ist die Mutter, und
Mütter verkauft und kauft man nicht." Das Bild von der Mutter Erde, dem
Mütterchen Russland tauchte in meinen Interviews und Gesprächen oft
auf, meist in Verbindung mit der Erde entgegenzubringender Achtung,
Vgl. Oxen 1999: 38, 473, Hubbs 1988, alle Bücher von Megre, Sergej
Eisensteins Film "Alexander Newskij" 1938, den Märchenfilm "Der Hirsch
mit dem goldenen Geweih" aus den Gorki-Studios Moskau 1973 u.v.m.
29 In der Literatur wird oft von "semi-öffentlicher" Sphäre
gesprochen, die sich in den letzten 20 Jahren der sowjetischen
Vergangenheit entwickelt hat. Damit werden allerdings Räume bezeichnet,
in denen sich vom Staat unkontrollierte und gesteuerte Diskussionen
öffentlicher (politischer) Belange entwickeln konnte, d.h. hier geht es
in erster Linie um die Kreise von Dissidenten, die männlich dominiert
waren. Oswald, Voronkov o.J.; Ritter 2001, Zdravomyslova 1999.
30 Im Russischen gibt es drei Worte für ‚privat', von denen 1.
licnyj den Wortstamm für ‚Gesicht' (lico, auch für juristische
Personen) beinhaltet, castnyj hingegen auf den Stamm ‚Teil' (cast')
zurückgeht, und privatnoje eine Adaptation aus dem Englischen bzw.
Deutschen insbes. in den Gender Studies darstellt. Das russische
Konzept von Öffentlichkeit und Privatsphäre ist mit westeuropäischen
Vorstellungen aber kaum zu erfassen, da letztere auf konkreten
Vorstellungen vom Individuum beruhen. Ein solches gab es in der
Sowjetunion nicht. Ritter (2001: 136) schreibt: "In the Soviet Union
the private sphere was interpreted by the pattern "family" (as a
collective)." Und: "In this concept of society the wish for privacy has
been understood as a critique of the state." Vgl. Shlapentokh 1989,
Oswald, Voronkov o.J.; Zdravomyslova 1999.
31 Vgl. Humphrey 2002, Ries 1997, Schmitt 1997, Shlapentokh 1989, u.v.m.
32 Es mag den Anschein haben, dass solche informellen Netzwerke in
der sowjetischen Vergangenheit von größerer Bedeutung gewesen seien,
als in der Transformationsgesellschaft von heute. Allerdings haben
vielfältige Arbeiten nachgewiesen, 1. dass die spezifische Form von
(Tausch-)Netzwerken, im Russischen blat' genannt, weder an Bedeutung
verlieren, noch ausschließlich auf Mangelerfahrungen in der UdSSR
zurückzuführen seien, 2. dass der scheinbare Übergang Russlands zur
marktwirtschaftlichen Gesellschaft wesentlich von teilweise alten,
teilweise sich neu formierenden oder wiederbelebenden Netzwerke
(barter) beeinflusst wird und daher nicht von der Entwicklung zu einer
Marktwirtschaft nach westeuropäischem Vorbild ausgegangen werden darf.
Vgl. Ledeneva 1998, Seabright 2000. 33 Auch als Tatjana und ich bereits mehrere Monate auf der
Datsche gemeinsam gearbeitet, gegessen, diskutiert, Verluste geteilt
und uns an Erfolgen erfreut hatten, sie mir Zweitschlüssel für das
Häuschen gegeben, einen Arbeitsplatz für den Computer eingerichtet und
das Bett ihrer Tochter für mich freigeräumt hatte, musste ich mich
weiterhin durch Rufen ankündigen und achtete darauf, nicht mit leeren
Händen auf die Datsche zu kommen, bzw. meinen Anteil an der Arbeit zu
erledigen. Sie hat auch nie in meiner Gegenwart selbst bei ihren
Freundinnen ohne Ankündigung das Grundstück betreten oder ist mit
leeren Händen oder ohne Grund hingegangen, selbst wenn es nur Vorwände
gab.
34 Gniech (1995: 179) schreibt: "Für sie (Kinder, I.B.) ist Essen
mit emotionaler Zuwendung eng verquickt, denn sie können sich meistens
nicht allein ernähren. Sie erhalten Nahrung durch die Mutter. Mit dem
Vorhandensein von Nahrung und dem Essen ist die Anwesenheit der Mutter
verbunden. Auch magische Vorstellungen werden ans Essen geknüpft: Was
die Helden gern essen, bekommt auch mir gut. Ich will es haben." In
Russland wird hier die Großmutter (als eine der wichtigsten
Bezugspersonen in der Kindheit) mit der Ernährerin gleichgesetzt. Zur
Position der Großmutter in der russischen Familie vgl. Pushkareva 1997:
89ff., Oxen 1999.
35 Die "Bücher von Anastasia" sind (heute) acht Bände von Wladimir
Megre, einem Nowosibirsker Geschäftsmann, über seine Reisen in die
sibirische Taiga und die Begegnungen mit Anastasia.
36 "Kontrollierter Anbau" ist nicht zu verwechseln mit dem
deutschen Prädikat "kontrollierter (biologischer) Anbau". Vielmehr geht
es darum, selbst zu wissen, welche Düngemittel und welches Saatgut
verwendet wurden. Es handelt sich also um eine Kontrolle, die
ausschließlich in den Händen der ErzeugerInnen liegt, wobei diese
gleichzeitig die NutzerInnen sind. 37 Rezepte und Konservierungsvorschriften finden sich bereits im
mittelalterlichen Domostroj, dem Hausbuch der Alten Rus'. Vgl.
Domostroj 2000: Kap. 16, 34, 48, 65.
38 Zum Ende der Gartensaison steigt die Anzahl der privaten
VerkäuferInnen auf der Strasse erheblich. Es sind zum größten Teil
Frauen, die eingelegte Pilze, saure Gurken, Tomaten, Paprika in
verschiedenen Zubereitungsformen aus eigenem Anbau verkaufen.
Allerdings haben viele Menschen mir berichtet, dass sie erst vorsichtig
probieren, ob die Qualität und der Geschmack der Konserven ihnen
zusagt, bevor sie dann regelmäßig bei einer bestimmten Person kaufen.
V.a. bei Pilzen ist die Zubereitung wichtig, da unsachgemäße Lagerung
oder Zubereitung hier zu ernsthaften gesundheitlichen Schäden führen
können.
39 Vgl. zur Bedeutung geteilter Mahlzeiten Herold 2001.
40 Zumindest nicht in den jüngeren Generationen, d.h. bis zum Erreichen des Rentenalters.
41 Die sich oft erhöhenden Fahrpreise, überfüllte Verkehrsmittel,
viel Gepäck, oft auch noch Fußwege bis zum eigenen Garten, das Anstehen
am Bus oder dem Zug etc. 42 Vgl. auch die Vielzahl von Internetseiten, es gibt bereits
deutsche, englischsprachige Websites, angefangen mit Zeitungsartikeln
über Fanclubs bis hin zu Treffen der Anhänger (Im Herbst 2002 wurde ein
solches Treffen in Berlin in der Privatwohnung einer Spätaussiedlerin
abgehalten. Im Frühjahr 2003 gab es eine Konferenz in Berlin, danach in
Stuttgart.) Der Autor gibt häufig Lesungen im In- und Ausland und
besucht Fanclubs und Projekte der Anhänger. Die Bücher wurden bisher
ins Deutsche, Englische und Polnische übersetzt. Am 07.12.2002 wurde in
Petersburg ein Theaterstück nach den Büchern von Megre aufgeführt.
http://www.irkutskout.ru/afisha/2002/12/07/28.html, usw.
43 Wladimir Megre ist ein Geschäftsmann und steht allen
mythischen, idealistischen Ideen äußerst skeptisch gegenüber. Die
Wandlung seiner Geisteshaltung und die Aufgabe seines Skeptizismus sind
wichtige diskursive Mittel zur Verdeutlichung der Instabilität von
Werten.
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