Thema | Kulturation 1/2010 | Deutsche Kulturgeschichte nach 1945 / Zeitgeschichte | Wolfgang Brauer | Hochgeehrt und kaltgestellt.
Otto Nagels Biesdorfer Jahre
| Von 1951
bis zu seinem Tode im Jahre 1967 lebte der Maler Otto Nagel in der
"Villa Conrad" in der Biesdorfer Königstraße 5-6. Das Haus wurde nach
dem Tod des Malers bis 1983 von seiner Witwe Walentina ("Wally") Nagel
bewohnt. Nach deren Ableben verkaufte es die Tochter Sybille
Schallenberg-Nagel, um die anfallende Erbschaftssteuer bezahlen zu
können.[1] In den 1980er-Jahren im Eigentum des Kulturfonds der DDR,
wurde das Haus in der seit dem 30. Mai 1968 so benannten
Otto-Nagel-Straße 6 unter anderem von Schriftstellern als zeitweiliger
Arbeitsort genutzt. Nach 1990 gelangte die Immobilie wieder in
Privatbesitz und wird von den jetzigen Besitzern liebevoll gepflegt.
Eine Gedenktafel neben dem Eingang erinnert daran, dass in Biesdorf
einmal einer der wichtigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts
lebte.
Wohnhaus von Otto Nagel in Biesdorf © W. Brauer
Das hier entstandene künstlerische Werk Otto Nagels ist leider
vergleichsweise schmal. Im 1974 veröffentlichten Verzeichnis der
Gemälde und Pastelle[2] des Künstlers sind insgesamt 651 Titel
aufgeführt, von denen nach 1945 nur 65 Arbeiten entstanden. Für die
Biesdorfer Jahre sind lediglich 32 größere Arbeiten nachweisbar,
darunter vier Ölbilder. Dabei muss Otto Nagel sich auf das Arbeiten im
neuen Haus gefreut haben: So ließ er ein noch heute bestehendes Atelier
mit großartigem Lichteinfall anbauen. Die Verfasser des
Werkverzeichnisses erklären den abrupten Produktivitätsabfall mit
"kulturpolitischen Funktionen, publizistischer Tätigkeit und
hinzukommenden Krankheiten."[3] Das stimmt alles, aber so einfach war
das nicht.
Nachdem die Niederlage des deutschen Faschismus und der beginnende
Wiederaufbau auch von einem Wiederaufblühen der Künste in den
verschiedensten Stilrichtungen begleitet waren, war das produktive
Miteinander der Stile und Haltungen zunächst in der Sowjetischen
Besatzungszone ab Mitte 1948 zu Ende. Ähnliches passierte zeitversetzt
in der Bundesrepublik, nur traf es hier alle "Nicht-Abstrakten".
Bornierte SED-Kulturpolitiker waren in der SBZ und späteren DDR sicher
der entscheidende Faktor, aber nur einer: Auch das breite Publikum war
nicht unbedingt auf Seiten der Künstler. Eine Publikumsumfrage zur
Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung 1947 in Dresden bot ein
verheerendes Bild: 76 Prozent der befragten Arbeiter und 58 Prozent der
Studenten lehnten diese Ausstellung ab.[4] Da hatte es Walter Ulbricht
leicht, der eine "Wendung" auf dem Gebiet der Kunst forderte. Der
Schriftsteller Bodo Uhse durfte auf dem Zweiten Deutschen
Schriftsteller-Kongreß im Juli 1950 als einer der ersten die neue Linie
verkünden: Inhalt der Kunst sollten fortan der sozialistische Aufbau,
"Stolz auf die erreichte Leistung, der grenzenlose Wille die Einheit
Deutschlands zu verteidigen, die grenzenlose Ergebenheit für die Sache
des Friedens und die Verbundenheit mit dem Landes des Sozialismus, der
Sowjetunion" sein.[5]
In dieser Situation verstärkte Nagel sein kulturpolitisches
Engagement. Am 24. März 1950 wurde im Berliner Admiralspalast die
Deutsche Akademie der Künste, die spätere Akademie der Künste der DDR,
eröffnet. Zusammen mit 21 anderen Künstlerinnen und Künstlern, zum Teil
von Weltruf, erhielt Otto Nagel seine Berufungsurkunde aus der Hand von
Wilhelm Pieck, dem Präsidenten der DDR. Die DDR wusste, was sie an
diesem Maler hatte. Nagel genoss seit den 1920er-Jahren über alle
Richtungsgrenzen hinweg künstlerisch einen ausgezeichneten Ruf. Wer um
die Heftigkeit weiß, mit der Künstler um ästhetische Fragen streiten,
weiß auch, was das bedeutet. Der Kommunist Nagel vermochte ob seiner
persönlichen Lauterkeit und seines lebenslangen sozialen Engagements
Parteiengrenzen vergessen zu machen.
Am 15. Oktober 1950 eröffnete der Direktor der Nationalgalerie
Ludwig Justi eine große Nagel-Ausstellung in der Akademie "Werke aus
drei Jahrzehnten" mit einer Bewertung des Nagelschen Werkes: "Otto
Nagel stellt in seinem Schaffen ein bedeutsames Stück der
Weltgeschichte anschaulich dar, nicht des staatlichen oder
kriegerischen Geschehens, sondern des gesellschaftlichen, sozialen; aus
eigenem Erleben."[6] Damit war der Maler festgelegt - als "Klassiker
vom Wedding". So überschrieb 1974 Erhard Frommhold ein Kapitel seines
ansonsten ausgezeichneten Buches über Nagel.[7] 1959 widmete die
Akademie ihrem Präsidenten Otto Nagel eine Festschrift zum 65.
Geburtstag. Heinz Lüdecke reflektierte in seinem Jubiläumsaufsatz die
Weiterführung der "echten progressiven Tradition der zwanziger Jahre"
in einem "Prozeß, der uns aus dem Vergangenen in die Zukunft führt" -
und Nagel sei selbstverständlich dabei: "weniger jetzt als Maler denn
als Kulturpolitiker, Lehrer, Ratgeber, Anreger und Hüter des guten
Erbes."[8] Die Geburtstagsblumen waren ein Grabstrauß für einen noch
lebenden Künstler, der leider die Realität widerspiegelte. Ein Grund
mehr, den Kulturpolitiker Nagel genauer zu betrachten.
In der Nacht vom 24. zum 25. Februar 1951 wurde im Bahnhof
Friedrichstraße Horst Strempels Wandbild "Trümmer weg - baut auf!"
unter bis heute nicht völlig geklärten Umständen entfernt. Strempel war
mit seinem Bild in das Visier der "Formalismus-Kritiker" geraten. Auch
Nagel hatte ihm eine Woche zuvor in der "Täglichen Rundschau"
empfohlen, das Bild selbst abzuwaschen und den Beweis anzutreten, dass
er "jetzt zu anderen Leistungen fähig" sei.[9]
Scheinbar ins Bild passt da, dass Otto Nagel auf dem
"Formalismus-Plenum" des Zentralkomitees der SED (15. bis 17. März
1951) reuige (Selbst-)Kritik übte und "einige künstlerische Verirrungen
in Deutschland seit 1918" geißelte.[10] Es lohnt sich allerdings Nagels
Beitrag genauer zu lesen. Während Otto Winzer, nach dem in unserem
Bezirk auch einmal eine Straße benannt war, "Volkslied, Volkskunst und
Volkstanz" gegen die "anglo-amerikanische Boogie-Woogie-Kultur"[11]
beschwor, und Kurt Liebknecht die letzten Reste "kosmopolitischer
Tendenzen"[12] an der Weimarer Architekturhochschule zerschmettern
wollte (das richtete sich gegen das Bauhaus und den Architekten Hermann
Henselmann), reduzierten sich die "künstlerischen Verirrungen", die
Nagel geißelte, im Kern auf Wortführer des späten Dadaismus, wie Kurt
Schwitters und Franz Arp. Das waren alte Rechnungen, diese Richtung
blieb ihm zeitlebens verschlossen (umgekehrt war das nicht anders).
Fast im gleichen Atemzuge verwies Nagel darauf, dass "die Naturalisten"
vom Verein Berliner Künstler seinerzeit "ihre Nazibilder malten".
Walter Ulbricht begann bei diesen Ausführungen offenbar zu kochen und
ließ sich in dem Moment, als Nagel feststellte, dass sich "alle
anderen" in den Ausstellungen "Entartete Kunst" wiederfanden, zu dem
Ausbruch hinreißen: "Es gab schon vor Hitler Entartete!"[13] Nagel
konterte mit Heinrich Zilles Feststellung, dass es in der Kunst auf das
Können ankäme, und der Könner selbst ein Komma zeichnen könne und alle
würden es als Ohr akzeptieren ... In dieser Atmosphäre versuchte Otto
Nagel Kulturpolitik zu betreiben.
Sein Feld sollte die Akademie der Künste werden. Er initiierte
große Einzelausstellungen von Otto Dix, Frans Masereel, Heinrich Zille,
Georg Hendrik Breitner und Otto Pankok. Auch diese Maler passten nicht
in die Bildvorstellungen der SED-Kunststrategen. Anlässlich der III.
Deutschen Kunstausstellung 1953 in Dresden kam es zum nächsten Eklat.
Die Jury sonderte alle "formalistischen Arbeiten" aus. Das betraf vor
allem westdeutsche Künstler, die sich, derart brüskiert, künftig nicht
mehr an den Dresdner Ausstellungen beteiligten. Nagel versuchte,
solchen "Verstimmungen" in den Folgejahren immer wieder die Spitze zu
nehmen und den künstlerischen (und menschlichen) Austausch über die
deutsch-deutsche Grenze nicht abreißen zu lassen. So wurde am 10. März
1956 die viel beachtete Akademie-Ausstellung "Der grafische Zyklus. Von
Max Klinger bis zur Gegenwart" eröffnet. Otto Nagel sorgte dafür, dass
diese Ausstellung nicht wie beabsichtigt Wilhelm Pieck "zu Ehren"
veranstaltet wurde. Er wollte die westdeutschen Künstler nicht an einer
Beteiligung hindern. Besonders bemühte er sich um den nach dem 1953er
Eklat völlig verärgerten Franz Radziwill. Radziwill beteiligte sich
auch aufgrund der Bemühungen Otto Nagels wieder an den
(gesamtdeutschen!) Akademie-Ausstellungen der 1950er-Jahre, ebenso wie
Fritz Griebel, Karl Hubbuch, Gerhard Marcks, Ludwig Meidner und Karl
Schmidt-Rottluff. "Was aber konstatiert werden muß ...ist das Fehlen
einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Inhalten unseres
heutigen Lebens", beckmesserte die "Berliner Zeitung" über die
Akademie-Ausstellung des Jahres 1955.[14]
Dennoch wurde Otto Nagel am 12. April 1956 zum Präsidenten der
Akademie der Künste gewählt. Natürlich ging dem ein Politbürobeschluss
voraus. Mit den bisherigen Präsidentschaften hatte man keine guten
Erfahrungen gemacht: Der als Gründungspräsident vorgesehene Heinrich
Mann verstarb in den USA während der Vorbereitungen zur Übersiedlung in
die DDR. Arnold Zweig wurde 1952 auf Verlangen des SED-Zentralkomitees
abgesetzt. Ihm folgte der überlastete Johannes R. Becher, der die
Akademie-Arbeit weitestgehend deren Direktor Rudolf Engel überließ.
Zudem war Becher seit dem 7. Januar 1954 Kulturminister. Also setzte
man jetzt auf die Linientreue des "Genossen Professor Otto Nagel". Aber
auch Nagel wurde in seiner zweiten Amtszeit vorzeitig abgelöst. Seine
Präsidentschaft wird in der Folge vielfach als wenig glücklich
betrachtet.
Das Gegenteil war der Fall. Unbeirrt hatte Nagel in den späten
1950er-Jahren Fundamente gelegt, auf denen die gute Reputation der
Akademie der Künste der DDR auch in Zeiten schlimmster
kulturpolitischer Eiszeiten beruhen sollte. Nachdrücklich förderte er
die Aufnahme ausländischer Künstler als "korrespondierende Mitglieder"
(anderes ließ das Statut nicht zu). In seiner Präsidentenzeit wurden 47
neue Mitglieder aufgenommen, dazu kamen 26 "korrespondierende". Unter
den Neuaufgenommenen waren 1956 Otto Pankok und Diego Rivera, 1957 Otto
Dix (auf Vermittlung Josef Hegenbarths, der selbst offenbar mit
Billigung Nagels Mitglied der Westberliner "Konkurrenzakademie" wurde),
1958 Frans Masereel, 1960 Paul Robeson und Igor Oistrach. Überhaupt
sorgte der neue Präsident für eine Verbesserung der Qualität der
internationalen Kontakte: Zu Ägypten und Indien gab es gute
Arbeitsbeziehungen. Intensiv bemühte sich Nagel um seine
"Meisterschüler". Harald Metzkes, Ronald Paris und Rolf Schubert wurden
von ihm betreut. Ganz reibungslos lief dies angesichts des äußerst
unterschiedlichen Erfahrungshorizontes von Schülern und Lehrer offenbar
nicht ab. Der attestierte z. B. Ronald Paris "... ohne Zweifel eine
Begabung ... Er hat eine Vorliebe, junge Mädchen zu zeichnen, wobei die
Gefahr besteht, daß er seine Begabung verschenkt. ... wenig, aber dafür
ausgeführte Arbeiten wären mehr als die unzähligen inhaltslosen
Ölstudien, die er in der letzten Zeit geschaffen hat."[15] Paris
spricht noch heute voller Hochachtung von seinem Lehrer.
Otto Nagel und seine Frau vor dem Biesdorfer Haus
Foto privat, aus: Lesebuch Marzahn-Hellersdorf. Geschichte und Geschichten aus 10 000 Jahren, Berlin 2009.
Ein besonderes Thema sind Nagels Bemühungen um einen engen Kontakt
zur 1954 gegründeten Westberliner Akademie der Künste, deren Präsident
ab 1955 der Architekt Hans Scharoun war. 1956 stand man in Kontakt, um
gemeinsam die Restaurierung der Quadriga Gottfried Schadows für das
Brandenburger Tor in die Wege zu leiten. Nagel beförderte die einzige
gemeinsame Veröffentlichung beider Akademien, die Schrift Cornelia
Schröders "Carl Friedrich Zelter und die Akademie" (1959). Auf Bitten
Max Tauts, der Mitglied der Westberliner Akademie war, wandte sich
Nagel im März 1960, bekanntermaßen erfolglos, an den
Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und den Kulturminister Alexander
Abusch, um den Abriss der erst 1956 für drei Millionen DM
wiederhergestellten Bauakademie Schinkels in Berlin-Mitte zu
verhindern. Nagel kämpfte auch für den Erhalt des Potsdamer
Stadtschlosses. Sein Verweis in einem Brief an Alfred Kurella, der
damals die Kulturkommission des ZK der SED leitete, dass "um 1950" der
Abriss dieses bedeutenden Barockbaus schon einmal durch das Eingreifen
"der Sowjets" unter seiner, Nagels, Mitwirkung verhindert worden sei,
fruchtete auch nichts.
Aufschlussreich für die Haltung des DDR-Akademiepräsidenten ist
dessen Brief an seinen "lieben und hochgeschätzten Kollegen Scharoun"
vom 16. Juni 1960.[16] Nagel antwortete auf die Einladung Scharouns zur
Eröffnung des neuen Akademie-Gebäudes am Hanseatenweg im Tiergarten:
"Wir alle freuen uns ehrlich und aufrichtig, daß die westberliner
Akademie nunmehr ein würdiges Gebäude hat und wir alle glauben auch
daran, daß dadurch in der Zukunft noch günstigere Voraussetzungen für
eine enge Zusammenarbeit zwischen uns gegeben sind." Eine Teilnahme der
DDR-Akademiemitglieder lehnte Nagel aber ab. Auf der Eröffnungsfeier
sollten Politikeransprachen gehalten werden. Hier fürchtete er
Probleme. Auf der 10-Jahresfeier "seiner" Akademie hätten aus eben
diesem Grunde nur Arnold Zweig, Walter Felsenstein und er selbst
gesprochen. "Wenn wir also an Ihrer Feier nicht teilnehmen, so ganz
einfach deshalb, weil wir die weitere Zusammenarbeit nicht verbauen
möchten, damit unser gutes Verhältnis nicht ein Opfer des Kalten
Krieges wird." In der Folge war Nagel häufiger und gern gesehener Gast
am Hanseatenweg. Am 24. März 1966 wurde in der Westberliner
"Laden-Galerie" in Anwesenheit des Malers die erste und einzige
Ausstellung Otto Nagels zur Zeit der Spaltung der Stadt im Westteil
Berlins eröffnet. Unter den Gästen waren Hans Scharoun und der
ehemalige Generalsekretär der Akademie-West, Herbert Freiherr von
Buttlar. Da war Nagel aber nicht mehr Akademie-Präsident. Die
"Laden-Galerie"-Fotos zeigen einen kranken und gebrochenen alten Mann.
Nach 1990 angebrachte Gedenktafel am Haus Otto-Nagel-Straße 5-6. © W. Brauer
Der kulturpolitische Kurs Otto Nagels - ähnliche Gründe führten
fast zeitgleich zum Rauswurf des "Sinn-und-Form"-Chefredakteurs Peter
Huchel - dürfte den Hardlinern Alfred Kurella und Alexander Abusch
schon länger ein Dorn im Auge gewesen sein. Das Fass zum Überlaufen
gebracht hatte die 1961er Akademie-Ausstellung "Junge Künstler". Wie
damals üblich wurde von den Kulturfunktionären die Dekadenz-Keule
geschwungen. Nagel musste schriftlich Stellung nehmen. Die
"Selbstkritik" fiel offenbar zu weich aus. Abusch vermisste "eine
Analyse der Ursachen für ihre [der Ausstellung - W. Br.] Wirkung gegen
unsere sozialistische Kunstpolitik." Am 8. Februar 1962 wurde Otto
Nagel von Abusch zum "Vieraugengespräch" vorgeladen. Abusch erstattete
Kurella über den Verlauf in einem Brief vom 22. Februar 1962
Rapport.[17] Nach allgemeinem Palaver kam Abusch offenbar zügig "zur
Sache". Er legte Nagel "die ideolog. Gründe dafür dar, daß ein neuer
Präsident der Akademie gewählt werden muß." Offenbar wurden ihm der
Rauswurf und damit verbundenes Berufsverbot angedroht: "Ich habe ihm
gesagt, daß er in Ehren ausscheiden soll, damit er seine Tätigkeit als
Künstler ... fortsetzen kann. Im Verlaufe des Gespräches überzeugte
sich Genosse Nagel, daß dieser Weg der richtige ist und er sein Amt
diszipliniert bis zur Neuwahl weiterführen soll." Otto Nagel gehorchte,
zum Widerstand sah er sich nicht mehr in der Lage. Als Nachfolger im
Präsidentenamt wurde auf Vorschlag des ZK am 30. Mai 1962 der
langjährige Parteisekretär der Akademie, der biedere Schriftsteller
Willi Bredel, gewählt. Nagel wurde Vizepräsident, "in Ehren" sozusagen.
Er muss dies als tiefe Demütigung empfunden haben. Am Ende des
zitierten Gespräches mit Alexander Abusch erklärte Otto Nagel, dass er
jetzt "unbedingt einige neue Arbeiten in seinem Atelier schaffen"
müsse, "anstatt eine zweifelhafte Rolle in der Akademie zu spielen."
Kulturpolitisch war Nagel mit der 1962er Entscheidung kaltgestellt.
Physisch und psychisch war er gebrochen. Für die "neuen Arbeiten"
fehlte diesem hochbegabten und fleißigen Künstler nunmehr weitgehend
die Kraft.
1963 malte Nagel in Biesdorf aber noch einmal ein großes
Selbstbildnis, "Der alte Maler", das heute den Staatlichen
Kunstsammlungen in Dresden gehört. Das Selbstbildnis zeigt einen müden,
in seiner Schaffenskraft fast erloschenen Mann. Voller Trauer
beschreibt es sehr genau die psychische Verfassung des Künstlers. Zwei
Jahre später entstand im Biesdorfer Atelier noch ein Porträt der
inzwischen erwachsenen Tochter Sybille. Sybille Nagel war es, die ihrem
Vater bei einem letzten künstlerischen Aufbäumen Hilfestellung
leistete. Wally Nagel berichtete darüber im Vorwort des Buches
"Berliner Bilder": "Kurz bevor Otto Nagel uns für immer verlassen hat,
bat er unsere Tochter Sybille, ihn nach Alt-Berlin zu bringen, wo er
schon lange nicht mehr gewesen war. Sie packte - so wie ich es früher
getan hatte - seine Pastellstifte, ein Malstühlchen und Pappen ein und
brachte ihn dorthin. Lange ging er, um etwas zu finden, was noch
festgehalten zu werden lohnte. Er ahnte ganz sicher, daß er diesmal für
immer Abschied nahm von Alt-Berlin. Dann aber, heiter wie früher und
nicht ein bißchen müde, schaffte er in sechs Tagen fünf Pastelle -
‚Abschied vom Fischerkietz'. Noch nie waren seine Pastelle so stark, so
farbig, so lebendig schön! ... Er war froh, daß er sie noch gemalt
hatte, die alte Stadt am Ende ..."[18]
Otto Nagel gehört mit Hans Baluschek, Heinrich Zille und Käthe
Kollwitz - für die beiden Letzteren verfasste er am Biesdorfer
Schreibtisch lesenswerte Biografien - in die Reihe der großen Berliner
Künstler des 20. Jahrhunderts. Dieser wahre Mensch und großartige Maler
darf nicht dem Vergessen anheimfallen.
Anmerkungen
[1] Kein Anspruch auf die Nagel-Bilder, in: Berliner Kurier,
3.12.1996; vgl. auch Peter Kirschey, Verschwunden, zurückgeholt und
immer da. Juristischer Streit um Bilder von Otto Nagel vor dem
Brandenburger Oberlandesgericht, in: Neues Deutschland, 16.2.2005.
[2] Sibylle Schallenberg-Nagel/Götz Schallenberg, Otto Nagel. Die Gemälde und Pastelle, Berlin 1974.
[3] Ebenda, S. 13.
[4] Karl Trinks, Die Spannung zwischen Volk und Kunst. Ein
pädagogischer Epilog zu den jüngsten Kunstausstellungen, in: Aufbau,
1947, H. 7, S. 8f.
[5] Bodo Uhse, Das neue Leben verlangt nach Gestaltung, in:
Aufbau, 1950, H. 8, S. 681. Uhse spricht zwar noch verklausuliert vom
"neuen gesellschaftlichen Aufbau", gebraucht die Begriffe
"sozialistischer" und "sowjetischer Realismus" synonym, aber die
vorgegebene Marschrichtung ist eindeutig. [6] Zit. nach: Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und Berlin, Dresden 1964, S. 89.
[7] Erhard Frommhold, Otto Nagel. Zeit. Leben. Werk, Berlin 1974, S. 105ff.
[8] Heinz Lüdecke: Maler des proletarischen Humanismus, in:
Festschrift Otto Nagel. Dem Präsidenten der Deutschen Akademie der
Künste zu Berlin zum 65. Geburtstag, Berlin 1959, unpag.
[9] Otto Nagel, Die Kunst - eine Waffe des Volkes. Ein Beitrag zur
freien Diskussion über bildende Kunst, in: Tägliche Rundschau,
15.2.1951. Die Auseinandersetzungen um das Strempel-Wandbild sind
ausführlich dargestellt in: Gabriele Saure, "Nacht über Deutschland".
Horst Strempel - Leben und Werk, Hamburg 1992.
[10] Otto Nagel, Die Künstler müssen ihre fachlichen Fähigkeiten
schnellstens vervollständigen - Über einige künstlerische Verirrungen
in Deutschland seit 1918, in: Hans Lauter, Der Kampf gegen den
Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche
Kultur. Referat von Hans Lauter, Diskussion und Entschließung von der
5. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands vom 15.-17. März 1951, Berlin 1951, S. 80-84.
[11] Siehe in: Lauter, Kampf, S. 104-108.
[12] Siehe in: ebenda, S. 96; Liebknechts Beitrag ist ein
klassisches Zeugnis "reuiger Selbstkritik" nach erfolgter Maßregelung
durch die Partei, geradezu erschütternd sind die in diesem Zusammenhang
erfolgenden Denunziationen Ludwig Renns (der das Bauhaus und sein Erbe
hartnäckig verteidigte) durch den Präsidenten der Bauakademie Kurt
Liebknecht.
[13] Ebenda, S. 82 - die Herausgeber fanden offenbar die
"revolutionäre Wachsamkeit" Ulbrichts für so bemerkenswert, dass sie
sich der Peinlichkeit dieses Vorganges mitnichten bewusst wurden.
[14] Berliner Zeitung, 1.6.1955.
[15] Otto Nagel, Beurteilung Ronald Paris vom 24.6.1963, Akademie der Künste Berlin, Otto-Nagel-Archiv.
[16] Akademie der Künste Berlin, Otto-Nagel-Archiv.
[17] Bundesarchiv, IfGA IV 2/2026/29 BA - alle hier zitierten
Äußerungen Abuschs und Nagels entstammen diesem "Gedächtnisprotokoll"
Alexander Abuschs, sind also hinsichtlich des behaupteten Äußerungen
Nagels mit entsprechender Vorsicht zu behandeln. [18] Otto Nagel, Berliner Bilder. Mit einem Vorwort von Walli Nagel, Berlin 4. Aufl. 1979, S. 16.
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