Thema | Kulturation 1/2003 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Dieter Kramer | Eine neue sozialkulturelle Orientierung der deutschen Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts am Beispiel der Hauptstadt
| Eine
veränderte Welt verlangt neue Strategien und Orientierungen. An zwei
Beispielen sei dies, angeregt durch die "Berliner Visionen", erläutert.
1. Was kennzeichnet eine Hauptstadt, die auf die Welt blickt und mit
der Welt kommunizieren will? Zu den Hauptstadtfunktionen gehört ein
lebendiges, international kommunikationsfähiges Milieu. Die Diskussion
um die Nutzung des Schlossplatzes macht auf einige einschlägige Aspekte
aufmerksam: Das bauliche und konzeptionelle Programm des zukünftigen
Ensembles Schlossplatz soll etwas vermitteln von den Prämissen und
Instrumentarien, mit denen Deutschland seinen Platz in Europa und der
Welt definiert und wofür es steht. Der Schloßplatz könnte zu einem Ort
der Erarbeitung von neuen "Weltsichten" für die Neuorientierung
Deutschlands in Europa und der Welt werden. Die Erfahrung von globaler
gemeinsame Geschichte, Abhängigkeit und Verantwortung könnte hier ihren
Ort haben, ebenso die praktizierte und beispielhaft präsentierte
Vielfalt sich wechselseitig akzeptierender unterschiedlicher
Lebensformen. Die überfällige Abkehr vom Denken in Kategorien
nationaler oder kultureller Homogenität (der die monumentale
Repräsentation eines Schlosses entsprach), die heute angesagte Abkehr
von Eurozentrismus, Evolutionismus und Fortschrittsdenken bedarf einer
Menge von Symbol-, Begriffs- und Diskussionsarbeit, um aus den
verschiedensten Ansätze eine neue Sicht der Dinge zu gewinnen.
Europäische Akteure des 19. und 20. Jahrhunderts setzten bewusst und
unbewusst erhebliche intellektuelle Energien ein, um in den Begriffen
und Symbolen der kulturellen Sphären die europäische Welteroberung und
imperialistisch-kolonialistische Durchdringung zu verstehen und zu
rechtfertigen - Edward W. Said und die postkolonialen Diskurse haben
uns auf diesen Prozess aufmerksam gemacht. Heute ist entsprechend eine
Menge neuer Begriffs- und Symbolarbeit notwendig, um das Neue zu
begreifen und zukunftsfähig zu beschreiben. Das Areal des ehemaligen
Schlosses und des Palastes der Republik könnte dafür genutzt werden.
Dabei muss Wert darauf gelegt werden, dass ein öffentlicher attraktiver
Platz für die Berliner, für Menschen aus allen Bundesländern und für
Touristen aus aller Welt entsteht. .
2. Berlin könnte ferner zu einer Großstadt in einer
Prosperitätsgesellschaft werden, die öffentlichkeitswirksam mit
Elementen einer neuen Sozialkultur jenseits einer produktivistischen
Wachstumsökonomie mit nicht mehr zu erreichender Vollbeschäftigung
experimentiert: Am Beispiel der Kulturinstitutionen als Teil des
öffentlichen Dienstes lässt sich dies erläutern: Notwendige
Strukturveränderungen wie konsequente Verwaltungsreform und
(Teil-)Privatisierungen sind derzeit nur gegen Widerstand der
Beschäftigten durchzusetzen, weil die Kräfte weitgehend fehlen, die aus
dem Dienst (in der traditionellen Form) herauswollen und sich
attraktive neue Formen vorstellen können. Das hat zur Folge: Politik
ist nicht fähig, Akzeptanz für neue Strukturen durch entsprechende
Kampagnen herzustellen. Der Ausstieg aus traditionellen
Beschäftigungsverhältnissen wird nicht erwogen, weil angesichts eines
löchrigen sozialen Netzes ein bodenloser Fall befürchtet werden muss.
Eine Strategie, die darauf antwortet, würde den Ausstieg aus
traditionell gesicherten Verhältnissen ermutigen durch die Garantie
sozialer Grundsicherung und - genauso wichtig – durch soziale bzw.
politische Anerkennung des Rückzugs aus dem klassischen Arbeitsmarkt
(statt solche Rückzüge als Faulenzerei zu denunzieren). Parallel dazu
hätte eine großzügige Öffnung von Infrastrukturen des
bürgerschaftlichen Engagements in Wissenschaft, Kunst, Sozialem und
Umwelt stattzufinden. Die Ermutigung, dort tätig zu sein, könnte sich
beziehen auf die Erfahrung, dass ein gesunder Geist in einem gesunden
Körper ein gewisses Mass an Betätigung seiner Kräfte verlangt. Das ist
der Weg zur nachindustriellen Gesellschaft, zu einer Sozialkultur nach
der Zeit der Vollbeschäftigung. Das Ebnen von Pfaden in dieser Richtung
ist immerhin auch interessant in einer Welt, in der von fünf Milliarden
Menschen nach klassischen Kriterien eine Milliarde arbeitslos oder
unterbeschäftigt ist. Es stellt auch den Anschluss her zu Gregor Gysis
"Zwölf Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus" vom August
1999, in denen wir lesen: "Die Verbindung von ökologischem Umbau,
Modernisierung der Arbeitsgesellschaft und Begründung einer
vielgestaltigen und reichhaltigen Lebensweise könnte einen nachhaltigen
Entwicklungstyp schaffen, der die Schranken des fordistischen
Kapitalismus überwindet, umweltverträglich wird und die
wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine freiere Entwicklung aller
ermöglicht." .
Es ist gleichzeitig der Weg zu dem in den „Berliner Visionen“
angepeilten Ziel einer Stadt, die attraktiv und lebendig ist, weil es
in ihr soviel Opern, Theatergruppen, Initiativen, Off-Szenen und
lebendige Milieus ("Szenen") verschiedenster Art gibt. Und in diesen
Szenen würde nicht zuletzt jene Kompetenz entwickelt, die für eine
Stadt wichtig ist, die sich im Sinne von These Eins um Weltsichten für
die Zukunft bemüht. .
Für eine solche Strategie kann die Politik, vor allem auch die
Kulturpolitik, öffentlichkeitswirksame programmatische Akzente setzen
(und in der Öffentlichkeit zur Diskussion stellen), auch wenn ihr die
Mittel fehlen, dies in kurzer Zeit zu realisieren. Die neue Berliner
Koalition hat in manchen anderen Fragen schon beachtlichen Mut zum
Experiment bewiesen – warum nicht auch hier? . .
Diskussionsbeitrag für die Konferenz "Kulturelle Differenzierung der
deutschen Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts", geschrieben
Juni 2002.
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