Thema | Kulturation 1/2005 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Lutz Haucke | Die postmodernen Europa-Bilder des Lars von Trier
| Vorbemerkung: Eine ungewöhnliche Europa-Trilogie
Vorweg muss gesagt werden, dass die Europa-Trilogie des Lars von
Trier weitgehend von einem Festivalpublikum und speziellem
Programmkinopublikum angenommen wurde. Von einem Massenpublikum für
Lars von Trier kann erst seit der TV-Serie KINGDOM-HOSPITAL DER GEISTER
(1994) gesprochen werden (arte, WDR-Ausstrahlung).
In den ersten 4 Wochen nach dem Kinostart von EUROPA 45 1991 in
Deutschland: 40 950 Zuschauer/1/. ELEMENT OF CRIME hatte bis 1995 ca.
12 000 Zuschauer.
So gesehen gilt für den Start dieses dänischen Regisseurs, dass
seine postmodernen Ausgangspunkte die eines Autoren- und Kunstfilmers
sind (der sich zeitweise mit der Produktion von Videoclips und
Werbefilmen finanziell rettete).
Die Finanzierung erfolgte über die Filmförderung des Dänischen
Filminstituts und bei EUROPA 45 kam die Unterstützung aus Strasbourg
vom Europarat durch das Programm „Euroimages“ in Höhe von $ 580 000 von
den insgesamt $ 3,3Millionen.
Der erste Teil der Trilogie war offizieller Beitrag Dänemarks in
Cannes (erstmals nach 19 Jahren) und hieß ursprünglich: THE ELEMENTS OF
THE CRIME - OR THE LAST TOURISTE IN EUROPE. Am Schluss erklingt ein
Chanson, von dem Lars von Trier sagte: „Über das Lied möchte ich
zunächst folgendes sagen, nämlich dass ich es immer in meiner Kindheit
gehört habe. Es ist für mich eines der sentimentalsten Lieder, die ich
kennen gelernt habe, und das nach dem 2.Weltkrieg in Dänemark
geschrieben worden ist, obwohl es im Film in Deutsch gesungen wird. Es
ist aus dem Jahre 1947. Ich habe es ins Deutsche übersetzen lassen,
auch deswegen, weil es von Europa nach dem 2.Weltkrieg handelt.“/2/
Chanson „Der letzte Tourist in Europa“ (Abspann von THE ELEMENTS OF CRIME):
Ich suche in dem blutenden Europa
nach dem, wovon ich träume im Exil.
Ich suchte Künstler, ewig bunte Gärten,
mit Bildern Rembrandts, mit Versen von Vergil.
Unter einer Kirchenkuppel in Warszawa
Will ich vor den Ikonen stehen.
Und am Abend will ich wandeln durch Venedig
Und die Paläste an der Rialto Brücke sehen.
Ich bin der letzte Tourist in Europa,
und wie ein Ruheloser irre ich umher.
Ich will nach Wien, um Mozart zu treffen,
Ich will nach Rom, vor Raffael zu knien.
Ich will nach London, nach Stratford on Avon,
Ich will nach Brügge, Antwerpen, Brüssel.
Und als der letzte Tourist in Europa
Sehen die Dächer von Paris vom Tour d’Eiffel.
Ich sagte das Dichterhaus in Weimar
Trank den Duft von tausend Rosen in Athen.
Und den halbverkohlten Band vom Buch der Liebe
Fand ich in einer Ruine in Berlin.
Ich habe geträumt vor dem alten Schloss in Dresden,
Stand voller Ehrfurcht vor Lübecks Gotik.
Und irgendwo in einem kleinen Rund bei Leipzig
Hörte ich die Klänge von Beethovens Musik.
Ich möchte überall dorthin nach Europa,
Wo die Liebe Schiffbruch erlitt.
Ans Grab von Julia und Romeo in Verona
Zu einem kleinen stillen Gebet.
Zu den dorischen Säulen der Akropolis,
Zu Pallas Athene mit dem Speer in der Hand.
Das gibt mir Mut, meinem Schicksal zu begegnen,
Und in Sokrates sonnigem Land.
Und EUROPA 45 endet mit den Zeilen:
You want to wake up
to free yourself
of the image of Europa,
but it is not possible.
Im Chanson wird ein Gegensatz aufgemacht. Der Gegensatz zwischen
dem „blutenden Europa“ und einer Traumwelt, in der europäische Künstler
und Kunstdenkmäler dominieren: Gotik und Renaissance, Barock und
deutsche Klassik, Shakespeare-Zeit und die Antike.
Das Tourist-Sein wird fixiert auf die europäische Kunstwertwelt.
Bei Zygmunt Baumann finden wir eine andere Definition des Touristen aus
der Sicht der Postmoderne:
„Der Vagabund und der Tourist sind in der postmodernen Welt keine
marginalen Erscheinungen oder marginalen Verfassungen mehr. Sie wandeln
sich zu Formen, dazu bestimmt, die Gesamtheit des Lebens und den Alltag
zur Gänze an sich zu fesseln und zu modellieren: Muster, an denen es
alle Verfahrensweisen zu messen gilt. Sie werden vom Chorus
kommerzieller Ausbeuter und Medienschmeichler verherrlicht; sie setzen
im Großen und Ganzen den Maßstab für Glück und erfolgreiches Leben.
Tourismus ist nicht mehr etwas, was man in den Ferien tut. Normales
Leben - soll es ein gutes sein - sollte, besser noch müsste, aus
Dauerferien bestehen. (Fast möchte man sagen, was Bachtin als
Karnevalskultur beschrieb - jene zyklischen Feste öffentlichen
Moralbruchs, die als Unterbrechung der Routine, als eine zeitweise
Aufhebung von Normalität und Umkehrung üblicher Rollen gemeint sind, um
aufgestauten Dampf abzulassen und Normalität erträglich zu machen -
wird selbst zu Norm und Routine. Jetzt sind es die wohlverteilten und
kurzlebigen öffentlichen Rituale kollektiver Empathie mit anderer Leute
kollektiven Katastrophen, die die Funktion therapeutischer
Normumkehrung übernommen haben die früher durch die Karnevalskultur im
orthodoxen bachtinschen Sinne erfüllt wurde.)“ /3/
D.h. transtextuell sind die Zentralfiguren der EUROPA-Trilogie
Reisende mit besonderen Attributen. Trier schafft mit dem Chanson einen
Verweis zum „letzten Touristen Europas“ und auch eine Polemik mit dem
postmodernen Syndrom des Touristen und Vagabunden. Er unternimmt einen
Gegenentwurf zur heilen Welt der Touristen.
THE ELEMENTS OF CRIME lebt von einer Ästhetik des Hässlichen. Die
Farben gelb-grün oder gelb-rot/braun gelten für Landschaften eines
zerstörten postapokalyptischen Europas. Europa wird nicht thematisiert,
aber Fisher, der von Kairo nach Deutschland ging, um einen Serienmörder
zu stellen und sich mit diesem so stark identifizierte, dass er zu
handeln begann wie dieser, wandert durch diese Landschaften. Im
übertragenen Sinne, denn historische Authentizität scheint in diesem
Horror-Detektivfilm verloren gegangen zu sein, ließe sich ein Syndrom
der Deutschen und der Europäer in Bezug auf Deutschland vermuten: die
Identitätskrise und die Annahme eines falschen Selbst.
Bedenkenswert ist auch die Berufung auf Sokrates in der letzten Zeile:
Sokrates, der sagte „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ und damit ein
Programm des Erkennens, eine Gesprächsmethode, entwickelt hat. Eine
Methode, nach der die Suche nach dem Wesen wichtig sei und die der
Prüfung der alltäglich gehandhabten Begriffe. /4/
So gesehen gibt uns Lars von Trier Rätsel auf, wenn er seine
Horror-Trilogie eine Europa-Trilogie nennt. Zweifelsohne: es ist die
Sicht des Westeuropäers, es ist die Sicht eines Cineasten, der mit
Hollywood aufgewachsen ist. Es ist die Sicht auf Europa, die nicht von
den historischen Ereignissen ausgeht, historisches Zeitbewusstsein wird
nicht in einer geschlossenen Story präsentiert. Und wenn der dritte
Teil auch heißt EUROPA 45 so ist vieles konstruiert: so die Figur des
Amerikaners, der als Kriegsdienstverweigerer sich mit einer
Werwolfgruppe im Untergrund einlässt. Von einer Macht der Bilder zeugen
die von der Ausfahrt eines geheimnisvollen Zuges aus der Raumtiefe.
Europa ist eine Hieroglyphenkonstruktion von Bildern und Dialogstellen.
Es ist nicht das reale Europa, eher das von Werten und von Symbolen.
Lars von Trier erreicht eine unterschwellige Emotionalität des Grauens
durch scheinbar unlogische Bildfolgen, durch Farbgebungen (das
schmerzhafte Gelb in EPIDEMIC), durch psychologisch besetzbare Symbole
wie Drahtgitter, Fenster, mit denen eine klaustrophobische Macht der
Trennungen, des Gefangenseins am Europäer arbeiten. Ein Schluss liegt
nahe: die historische Zeit von Europa ist im postmodernen Kino der
endachtziger und frühen neunziger Jahre nicht rekonstruierbar - außer
in den Ängsten, im Grauen, im Verbrechen (und das ist wichtig: durch
Taten, die im Widerspruch zur Identität, zum Selbst der Figuren stehen:
so Mr. Fisher in ELEMENTS OF CRIME, oder die Sprengung der
Eisenbahnbrücke durch den Amerikaner in EUROPA 45). So wuchern bei Lars
von Trier die Phänomene und der Europäer wird zurückgeführt auf die
Suche nach einem Wesen Europas, das in den Identitätskrisen,
-wandlungen, -zerstörungen der Menschen durch Katastrophen neu entdeckt
werden soll. Bedenkenswert ist, dass in den Filmen dieser
Europa-Trilogie nicht ein erzwungener Identitätswechsel der Figuren zu
entdecken ist sondern es werden im Genre des Horrorfilms Stories
erzählt, die vom Verlust der Distanz zur Rolle des „Verbrechers“
handeln, von der Annahme eines falschen Selbst.
Im weiteren Sinne wäre also das Europa durch Katastrophen
existentieller Art und durch Gewaltphänomene gekennzeichnet. Es ist das
Europa des vergangenen Jahrhunderts – eher denn als Mahnung. Die neuen
Dimensionen Europas im 21.Jahrhundert werden hier im postmodernen Kino
nicht mitgedacht.
Die Unterscheidung zwischen Identitätsstörungen und Störungen des
Selbst in der neueren psychoanalytischen Literatur diskutiert worden.
Die Diskussion der Unterscheidungen zwischen Identitätsstörungen
(Übernahme von Rollen von außen und Konfliktfeldern der inneren
Identitätsauseinandersetzung) und Störungen des Selbst (in denen die
Distanz zum Objekt aufgehoben wird) und narzistischen Störungen in der
Literatur ist bedenkenswert./5/ Zum anderen ist diese psychoanalytische
Sicht auf die Annahmen eines falschen Selbst im Rahmen von
Hörigkeitsverhältnissen im Nationalsozialismus und unter
stalinistischen Diktaturbedingungen ein Verweis zu europäischen
Katastrophen im 20.Jahrhundert wie Weltkriege, Holocaust und neuer
Brutalität im Zeichen nationalistischer Bewegungen (z.B. die ethnischen
Säuberungen in Jugoslawien seit 1991). Der Westeuropäer Lars von Trier
erzählt nicht solche geschichtsbezogenen Stories, aber im Genre des
Horrorfilms schafft er dafür Codierungen, „Übersetzungen“.
Lars von Trier geht es nicht um Vergegenwärtigen. Es geht ihm im
postmodernen Kino um Abkopplung von der authentischen Überlieferung der
Historie. Mit sokratischer Methode könnte ausgehend von den
Wahrnehmungen und Emotionen der Zuschauer gefragt werden, worauf die
Ängste und das Grauen zu beziehen wären. Diese Europa-Trilogie gewinnt
ihre Ästhetik - einschließlich der Horrorästhetik - aus dem Kontrast
von apokalyptischem Zeitalter und postapokalyptischer Wohlstand- und
Konsumgesellschaft, in der die Verdrängung, das Vergessen gesiegt hat.
In gewisser Hinsicht greift Lars von Trier zurück auf die Rezeption der
apokalyptischen Weltuntergangsideen in der mass culture: Katastrophen,
Invasion der Außerirdischen insbesondere im SF-Genre.
Welche Gemeinsamkeiten der Trilogie sind auszumachen?
(1) In allen drei Filmen wird die postmoderne Sicht des Niedergangs
politischer Ideen, ethischer Werte und wissenschaftlicher Erkenntnis
geltend gemacht. In allen drei Filmen der Europa-Trilogie wird die
Fremdbestimmtheit der Figuren in einer postapokalyptischen Welt mit
Mord, Vernichtung, Katastrophen aus einer drama - turgischen und
ästhetischen Aufwertung von Hypnose her begründet (der Hypnotiseur in
ELEMENTS OF CRIME, das hypnotische Trance-Finale in EPIDEMIC, die
voice-over-Stimme und die Leo Kessler-Figur in EUROPA). Das bedeutet,
dass in filmästhetischer Sicht bei Lars von Trier neue Lösungen im
Umgang mit der Realität gefunden wurden, die weder der traditionellen
Diskontinuität epischen Erzählen folgen noch Techniken des inneren
Monologs noch eine Verwandtschaft zur surrealistischen Konzeption der
Verwandtschaft von Traum und Film (L. Buñuel) aufweisen. In EUROPA
entdecken wir zwar die überschaubarste Story-Erzählung der
Trilogie-Filme, aber auch die konsequenteste stilistische
Diskontinuität der Räume (Aufbrechen der Linearperspektive durch
überdimensionierte Vordergründe vgl. Ravenstein-Episode; Betonung der
Bildflächen durch die Rückpros gegenüber dem illusionistischen
dreidimensionalen Raum).
(2) In allen drei Filmen entdecken wir das Reisemotiv, die Reise in
die Katastrophe (Mr. Fisher begab sich auf die Suche nach einem
Serienmörder in Deutschland, Dr. Messmer wandert durch das Land der
Pest; Leo Kessler fährt durch Deutschland im Jahre 1945, ist mit
anderen unterwegs). Das Durchqueren von Räumen schließt eine
Begegnungsdramaturgie ein, die eingebettet wird in
katastrophisch-apokalyptische Landschaften, die zu Räumen der
Fremdbestimmung der zentralen Figuren stilisiert werden. Im Gegensatz
zu W. Benjamins Geschichtsthesen mit der These von der
Jetzt-Zeit, in der eine Maximierung der Historie aufscheint, handelt es
sich bei Trier nicht um eine Rekonstruktion der Historie sondern um
eine Maximierung der Katastrophensituation gemäß postmoderner
Denkfiguren.
(3) Zeitdimensionen
Wichtig scheint zu sein, dass die authentisch belegbare historische
Zeit in der Erzählung außer Kraft gesetzt wird. Wir entdecken eine
Rückblendenerzählung in ELEMENTS OF CRIME.
Aber: Wir leben in einer Zeit der Historisierung und
Musealisierung gleichzeitig ist für bestimmte Bereiche der Künste
charakteristisch eine ständige Verkürzung der Geltungsfristen der
Stile, Schulen, Produktionen.
Hans Robert Jauß benennt als Kalendarium zur Verkürzung des Epochenbegriffs1855-1900: 7 kunsthistorische Epochennamen
70er Jahre des 20.Jh.: 14 Stilepochen (magischer Realismus bis Environment).
Mir scheint: diese Entwicklung bringt Gegenreaktionen in den
Künsten hervor, eine Relativierung der klassischen Zeitsysteme wie
Chronologie oder achronologisches Erzählen im Umgange mit der
historischen Zeit. Man könnte sagen: Lars von Trier operiert mit
Bilderwelten, in denen nicht so sehr die historische Zeit wichtig wird
als solche Zeitdimensionen wie: Störungen zyklischer Abläufe wie Tag
und Nacht (er favorisiert die Nacht in ELEMENTS und in EUROPA 45);
Leben und Tod; Verfall (beachte: das Tarkowskij solche Zeitdimensionen
des Rostens, der Oberflächenphänomene und der Irreversibilität der Zeit
in STALKER, 1979, favorisierte).
(4) Die Bilder des Lars von Trier folgen einer Kompositionsweise,
die auf die Kontrolle der sensibilisierten Wahrnehmungen durch den
Zuschauer zielt und die gegen den Abbildrealismus angeht. Trier
vermeidet Figurenkonzepte, die einer rezeptionsästhetischen Strategie
der Einfühlung und des Illusionismus verpflichtet sind. Zu entdecken
ist eine weitgehende Reduktion des Gefühlsausdrucks, der
Blickkommunikation in Szenen einerseits und andererseits eine neuartige
Kamerasicht und Montage des Dekors (bis hin zur
Bilderflächenkomposition mit Rückpros, aber auch der
Textumschaltzäsuren von Schwarzweiß zu Farbe so in EUROPA). Nicht die
Gefühle der Menschen werden verrätselt, sondern die natürliche und
dingliche Welt erhält in diesen Bildern eine rational nicht erklärbare
halluzinatorische Qualität (dies könnte auch der Grund für das
Trance-Finale in EPIDEMIC sein; in der Angst, dem Erschrecken, der Qual
des Mediums Gille werden Erfahrungen natürlicher und dinglicher Welt
der Katastrophe bezeichnet).
Postmoderne Konstruktionen eines Europa-Mythos - die Denkfigur vom apokalyptischen Europa
Man kann in dieser Trilogie den Kontrast zwischen der Apokalypse
des 2.Weltkrieges und einer postapokalyptischer Wohlstands- und
Konsumgesellschaft entdecken. Die Historie wird simuliert mit
ikonographisch-symbolischen Erfahrungen der Westeuropäer.
Es mag ungewöhnlich sein, aber ich nähere mich über die Diskussion
der Farbgebung einiger Sequenzen aus IMAGES OF RELIEF/BILDER DER
BEFREIUNG (1983) einigen Besonderheiten.
I. Farbdominanz: Sepia-rostbraun
In einem Keller, der ehemals eine Folterhölle der deutschen
Okkupanten gewesen sein könnte, befinden sich zwischen Feuern und
Ketten Soldaten und Offiziere der besiegten Armee. Wortfetzen von
Gesprächen und Telefonaten. Weitgehend Großaufnahmen und Kamerafahrten
über Oberflächen enden in einer langen Totalen durch die ein Brennender
am Seilzug wandert. Einer, ein Däne in deutscher Uniform, verläßt diese
Hölle.
II. Farbdominanz: gelb
Ein mit Lampions geschmückter Platz, über den der Wind faucht und
verwehte Klänge einer Band des Nachts (eine lange Totale). Der Däne in
einem Zimmer, das in der Gänze nicht zu überschauen ist, aber das durch
Bildstrukturen verfremdet wird (ein sich drehender Tisch mit Weinglas;
überdimensionierte Schatten auf dem Fußboden von einer Tür). Eine Frau
und ein US-amerikanischer schwarzer Militär (in Nahaufnahme) betreten
das Zimmer durch einen weit gebauschten gelben seidigen Vorhang. Eine
Bildspannung baut sich zwischen diesem Hintergrund und einem
angeschnittenen blinkenden Lüster auf. Die Frau entdeckt den Mann und
schickt den Schwarzen weg. Die Frau vor einem Schattenriss eines
Bogenfensters, beide vor Schattenrissen der Jalousien schaffen weiteres
Enthobensein aus einem Milieu. Die Frau wirft dem Mann vor, er habe
einem jungen Partisanen die Augen ausgestochen. Er trage dafür
Verantwortung. Sie singt und spricht „Stirb!“, „Stirb!“ Er nimmt vom
Lüster ein Kristallglas. Überblendung von Bildern eines Ausstieges aus
einer Weltraumkapsel.
III. Farbe: fahlblau
Beide sind am Morgen in einen Wald mit einem Auto gefahren. Er
wandert durch diesen Wald. Er sagt, er finde die Bilder seiner Kindheit
wieder. Ein Verfolgerkommando ist eingetroffen an der Stelle, wo das
Auto parkt. Sie fesseln ihn an einem Baum. Die Frau sticht ihm die
Augen aus und geht weg. Sie lehnt sich an den schwarzen US-Militär. Sie
geht weiter und setzt sich in das Auto. Der Geblendete tastet sich
durch den Wald, sinkt nieder und schreit. Die Frau sitzt in dem Auto -
wartend.
Diese Handlungsfolge ist durchsetzt von dokumentarischen und
pseudodokumentaren Sequenzen, in denen gezeigt wird, dass einzelne
gejagt werden, als Mörder durch die Straßen gefahren werden, verprügelt
werden.
Feststellung 1:
Die Bilder des Lars von Trier bauen einen Gegensatz zwischen
dokumentarischen und pseudodokumentaren Sequenzen (das Geschehen 1945
auf den Straßen und Plätzen) und einer der Abbild-Realistik und der
Milieuübersicht enthobenen fragmentarisierten Bilderwelt, die durch
kinematographische Parameter als Kunstwelt ausgestellt werden, als
Konstruktion (Farbe/Licht, Fragmentarisierung durch
Kameraeinstellungen, zeitliche Überlängen von Kameraeinstellungen). Es
gibt also den Gegensatz von Fakten vermittelnden Dokumentarsequenzen
und Sequenzen, die mit Vieldeutigkeit und existentieller Abstraktion
letztlich auf kulturelle Chiffren hinarbeiten, die mythologisierend zu
werten sind.
Feststellung 2:
Figurenbeziehungen haben keine geschlossene
Ursache-Wirkungs-Folgerichtigkeit. Warum die Frau dem Mann die Augen
aussticht ist nicht aus einer Motivkette der Beziehung beider
erkennbar. Die Figuren führen in dieser Bilderwelt ein Eigenleben. Der
Schluss, dass sie vereinzelt sind, in nicht erschließbaren Innenwelten
Gefangene sind, könnte den Schluss gestatten, dass Lars von Trier eine
apsychologische und antiillusionistische Konzeption von einer Story und
Handlung hat.
Feststellung 3:
Der Aufbau der Story weist eine Entwicklung auf einen tragischen
Höhepunkt aus: die Blendung des Schuldigen im Moment seiner Ankunft in
der Freiheit, in der unberührten Natur als einst erfahrener und
verlassener Welt. Bereits in dem Motiv des Heraustretens aus der Hölle,
der Zwischenstation, dem Durchwandern des Waldes könnte man erkennen,
was in der Europa-Trilogie eine dominante Ebene ist: das Unterwegssein
zur Katastrophe, eine Modifikation des Reise- und Wanderschaftsmotivs.
Es ist deshalb nicht frei von Schwierigkeiten, wenn man sich die
Frage stellt, wie denn Triers Anliegen in seinen „Bildern der
Befreiung“ zu deuten wäre?
Welche Ebenen hat dieser Titel?
Der Regisseur thematisiert die Befreiung Dänemarks 1945 durch die
Alliierten und die Widerstandsgruppen. Dies trägt die dokumentare und
pseudodokumentare Linie der Bilder. In einer zweiten sehr dem
Dokumentaren enthobenen Linie entwickelt Trier Kamera- und
Toneinstellungen, die an kulturellen Chiffren Europas anknüpfen. Es
könnten folgende Unterscheidungen getroffen werden:
Schicht I : Bilder der Befreiung: Rache nehmen an den Unterdrückern
Bilder der Bestrafung: Gefangen nehmen, verprügeln, Augen ausstechen
Schicht II Kontraste: Folterhölle - Naturbilder(Vögel auf Zweigen/Wald)
Befreiung des Kollaborateurs von seiner Bilderwelt der Hölle:
Bilder der Natur-Erinnerung an die Kindheit
Schicht III Bilder der Befreiung: die Blendung des Schuldigen –
der Schicksalsmythos: gefangen im Gefängnis der verinnerlichten Bilderwelten: statt der einstigen Blindheit des Sehenden nun der sehend gewordene Blinde
Greenaway sprach davon, dass die Sprache des Films zurückgehen
müsse auf die kulturellen Ikonographien, dass man wieder - wie im
Mittelalter - ein Bilderdenken zelebrieren müsse, dass das kulturelle
Bildgedächtnis Bezugspunkt der Filmkunst sei. Wir entdecken bei Triers
Debütfilm Sequenzen, die verknüpfbar sind mit kulturellen Texten:
- Feuer/Ketten/Keller: das Bild der Hölle
- der leere Festplatz mit den Girlanden: Straßen und Plätze als Orte des Feierns, der Feste
- der Wald: der extraterritoriale Bereich außerhalb des Hofes (in
Shakespeare-Komödien ist der Wald bekanntlich das Reich der Freiheit -
auch dieser Verweis kann bei Lars von Trier mitgedacht werden).
Wir wollen nun in einem zweiten Schritt versuchen, uns über eine
Beschreibung der Story und einigen Aspekten der Figurencharakteristik
dem Film EUROPA 45 (1990), dem letzten der Europa-Trilogie, zu nähern.
EUROPA 45 (1990)
Besetzung:
Jean Marc Barr - Leopold Kessler
Barbara Sukowa - Katharina Hartmann
Udo Kier - Lawrende Hartmann
Ernst-Hugo Jaegard - Ucle Kessler
Erik Mörk - Pater
Jörgen Reenberg - Max Hartmann
Henning Jensen - Siggy
Eddie Constantin - Colonel Harris
Max von Sydow - Erzähler
Exposition (0:0:28’ – 32’)
Leopold Kessler, deutschstämmiger Abstammung trifft im Oktober 1945
in Frankfurt/Main ein, um bei seinem Onkel, einem Schlafwagenschaffner
der ZENTRO -Gesellschaft, den Job des Schlafwagenschaffners zu
erlernen.
Er wird eingestellt und lernt bei seiner ersten Fahrt Kate Hartmann
(Farbe 16:03), die Tochter des Besitzers der Zentropa kennen, die ihn
als einen Idealisten bezeichnet, weil er meint, man müsse nun nach dem
Krieg Deutschland und den Deutschen helfen (16:03’ - 17:55’). Er sieht
erstmals Hingerichtete: Werwolf-Anhänger (RÜCKPRO 19:58’; weitere
Rückpro 22:01’). Er erhält eine Einladung zu einem Essen der
Hartmann-Familie, der er in die Villa folgt. In einem Dialog spricht
ein Pater über den berechtigten Glauben an Gott bei allen
kriegsführenden Parteien und betont, Gott habe nur dem nicht vertraut,
der ungläubig sei. Die Familie beobachtet Sprengungen der Hafenanlagen
durch die Amerikaner vom Fenster aus. Ein US-Colonel Harris fordert das
Familienoberhaupt Hartmann auf, einen Entnazifizierungsbogen
auszufüllen. Leopold Kessler solle für Harris auf Aktivitäten der
Werwölfe achten.
Komplikationen (32:05’ – 72’)
Kessler wird gebeten, 2 Jungen auf der Fahrt nach Köln mitzunehmen(32:05’).
Im Zuge reist mit ein von den Amerikanern ernannter neuer
Oberbürgermeister Ravenstein mit seiner Gattin. Kessler ist außerdem
mit einem jüdischen Emigranten konfrontiert, dessen Frau mit den
Kindern nach Israel weiterreisen will, aber nicht in der ehemaligen
Heimatstadt aussteigen will. Kessler unterstützt den Juden und die
Familie bleibt in einer düsteren Trümmerwüste zurück (36:14’). Kessler
wird mit der Demontage von Heizkörpern im Zug aufgrund von
Reparationsleistungen konfrontiert. Einer der von Kessler übernommenen
Jungen erschießt den Oberbürgermeister Ravenstein (37:20’ -
39:12’/beachte: Effekte mit Rückpro). Leopold Kessler ist Gast einer
Party bei Hartmann(39:35’ - 54:07’), auf der wichtige Schnittpunkte der
Handlung sich ereignen:
Max Hartmann wird von einem Juden, den der Colonel Harris erpresst
hat (er war in ein US-amerikanisches Depot eingebrochen),
entnazifiziert (Farbe, 42:00’). Max Hartmann, der dadurch in die Nähe
der US-Army gerät, denn er soll den Wiederaufbau des Transportwesens
übernehmen, gerät in einen Konflikt als Deutscher, der Nazi war und
nicht den Schritt über die Grenze zwischen seiner Vergangenheit und den
neuen Machthabern vollzogen hat. An ihn wurden Drohbriefe geschrieben.
Max Hartmann tötet sich selbst mit einem Rasiermesser in der Badewanne
(Farbe/das rote Blut).
Kat verführt Leopold Kessler, zuerst zu einem Kuss
(Farbverfremdung, 41:35’) und später vor einer gewaltigen
Modelleisenbahnanlage. Der Selbstmord und die Verführung sind als
Parallelhandlung erzählt.
Auf der nächsten Zugfahrt (54:30’ – 62’) wird er von seinem Onkel
in die bevorstehende Prüfung bereits eingewiesen (Kreidemarkierung von
Schuhen der Mitreisenden). Passagiere bitten ihn um Hilfe. Er verlässt
erstmals den Wagen 2306 und passiert auch einen Waggon mit ehemaligen
KZ-Häftlingen, um in einem Transportwagen anzukommen, in dem der Sarg
von Max Hartmann sich befindet.
Männer (vom Werwolf) fordern ihn auf, den Zug in Darmstadt
anzuhalten, da dort die Beerdigung stattfinden soll. Auf dem
Darmstädter Bahnhof gibt es einen Zusammenstoß zwischen der
US-Militärpolice und den Versammelten. Kessler entdeckt Kate Hartmann
im Chaos und sieht, dass sie entführt wird (Farbverfremdung, 62’).
Weihnachten 1945 in München.
Auf der Weihnachtsfeier in der Familie seines Onkels lädt ihn der
Pater zum Besuch der St.Christophorus Kirche ein. Hier trifft er Kate
Hartmann und folgt ihr. Die weinende Kate (Farbe/67’) fragt ihn, ob er
sie auch heiraten werde.
Heirat
Ihre Hochzeit und die Hochzeitsreise mit dem Zug. Er erfährt von
ihr, dass die Zentropa auch Juden in die KZ gebracht hat (Rückpro,
69’).
Das Paar bezieht eine Wohnung in einer Nissenhütte.
Zuspitzung und Katastrophe (72’ -103’)
Im Zug erhält er einen mysteriösen Anruf auf halber Strecke
zwischen Frankfurt/Main und Berlin. In der Frankfurter Villa entdeckt
er den erschossenen Lerry Hartmann, den homosexuellen Sohn.
Werwolf-Leute können schließlich Leopold Kessler zwingen, eine Bombe
unter dem Wagen 2306 auf der Strecke nach Bremen anzubringen.
Bremenexpress(74:40’ – 103’)
Eine Prüfungskommission trifft ein. Er soll auf dieser Fahrt seine
Prüfung ablegen. Er will den Colonel, der ebenfalls mitreist, über den
Werwolfauftrag informieren. Aber er entdeckt Kate im Zug gegenüber, die
unter Bewachung ihm den Auftrag herüberruft und informiert den Colonel
nicht.
Er bringt die Bombe an, macht den Zünder scharf und springt vor
der Brücke ab, auf der die Explosion erfolgen soll. Die Stimme des
Hypnotiseurs (Voice over) fordert ihn auf, die Explosion zu verhindern.
Er rennt zum Zug und entschärft die Zünder.
Die Prüfungskommision prüft ihn.
Im Zug werden Leute von der US-Militarypolice verhaftet. Colonel
Harris sagt Leopold Kessler, dass Kate in Abteilung 1 sei. Sie wurde
als Werwolf-Anhängerin verhaftet. Sie gesteht ihm, dass sie ihrem Vater
die Drohbriefe schrieb und dass sie - wie die Werwölfe - ein
Doppelleben geführt habe(sie in Farbe, 89’). Leopold Kessler löst die
Zünderverbindung zur Bombe aus (Rückpro 97’: Augen/Zug).
Auf der Brücke findet die Explosion statt.
Er geht unter /voice over: „You are in a train in Germany.The train
is sinking. You will drown, on the count of 10 you will be dead. 1...
2... 3 ... 10.“
Der Tote treibt durch den Fluss (Rückpro und Farbe, 100:53’).
Voice over: “You want to wake up to free yourself of the image of Europa, but it is not possible.“
Wir gehen von der Story über zur Diskussion einiger Aspekte der Figur des Leopold Kessler:
a) attributive und differentielle Beschreibung des Leo Kessler
Leo Kessler: - will helfen, den Aufbau zu forcieren
→ er ist ein Fremder in Deutschland, der Begegnungen mit Menschen
mit divergierenden Handlungs- und Verhaltensstrategien hat, der Regeln
lernen muss
→ er versucht Menschen zu verstehen, aber er kann nicht die
Komplexität der Nachkriegssituation in einem Wertsystem verarbeiten, er
ist mit der Pluralität von Wertesystemen konfrontiert (allerdings:
ausgeklammert ist ein antifaschistisches)
→ beobachtet, aber er entwickelte keine Selbstreflexion (für die Handlungsregulation)
→ seine Wertesystem (und seine Verhaltensstrategie) ist gering entwickelt, es kann sich nicht gegen die anderen behaupten
b) relationale Figurenbeschreibung : in Bezug auf die
zusammenhängende Darstellung/Erzählung und in Bezug auf die
(kulturellen)Kontext/e
Leo Kessler:
→ will den Deutschen helfen, aufzubauen
→ hat keine eigenen Werte(keine amerikanischen Werte) - im
Unterschied zu allen Deutschen (die deutsche Werte haben), aber auch zu
den US-Militärs in der Story
→ muss erst Regeln lernen
→ liebt Kate Hartmann, versucht sie zu befreien
→ ist kein Werwolf, übernimmt aber Werwolfauftrag (being-doing)
Interpretation:
Andrea Keil (1996):
„Leo...durchreist Deutschland in einem hypnoiden Zustand. Von
Anfang an wird er von außen kontrolliert, sei es durch die
Voice-Over-Stimme, sei es durch den Onkel. Beide stellen sein Über-Ich
dar ... Eigentlich alle Menschen nehmen Leo, die er trifft,
Entscheidungen ab. So wird die Reise durch Deutschland vor allem für
ihn eine halluzinatorische Projektion, durch die er durchgeschoben oder
durchgereicht wird. Er selbst besitzt nicht die Fähigkeit sich zu
orientieren. Er kann nichts über das Geschehen aussagen, er ist wort-
und sichtlos ... Die Wirklichkeit ist für ihn ein Kompositum aus
hypnotischen Träumen, sprich Halluzinationen ... “ /6/
Die Leo Kessler-Figur kann als ein Modell der postmodernen
moralischen Unsicherheit gesehen werden – angewandt auf das „noch“
faschistische Nachkriegsdeutschland.
„Unsere Zeit ist eine der tief empfundenen moralischen Ambiguität:
sie offeriert eine nie zuvor gekannte Entscheidungsfreiheit und befängt
uns gleichzeitig in einem nie quälenderen Zustand der Unsicherheit. Wir
sehnen uns nach Führung, der wir uns anvertrauen und auf die wir uns
verlassen können, auf dass ein wenig von der lastenden Verantwortung
von unseren Schultern genommen werden möchte. Aber die Autoritäten,
denen wir unser Vertrauen schenken könnten, sind alle umstritten und
keine scheint stark genug zu sein, uns den gewünschten Grad an
Sicherheit zu geben. Am Ende trauen wir keiner mehr ... wir sind durch
und durch skeptisch hinsichtlich jeden Anspruchs auf Unfehlbarkeit.
Dies ist der brisanteste und prominenteste praktische Aspekt dessen,
was zu Recht als ‘postmoderne moralische Krise’ beschrieben wird.“ /7/
Eine solche postmoderne Sicht des Lars von Trier auf seine Figur
des Leopold Kessler ist eine gedankliche Konstruktion, deren Nutzen
darin bestehen könnte, Unsicherheiten im Umgang mit der faschistischen
Vergangenheit der Deutschen in der Gegenwart zu simulieren.
Schlussbemerkungen
Erst nach EPIDEMIC (1987) entsteht die Idee einer Europa-Trilogie.
Zu Beginn von EPIDEMIC trägt das vom Computer gelöschte Szenarium den
Titel DER BULLE UND DIE HURE, was als Hinweis auf THE ELEMENTS OF THE
CRIME verstanden werden kann.
(1) Trier entwirft Bilder, die nicht historische Authentizität des
Milieus anstreben. Es werden magische Bilder einer vergangenen Zeit
zelebriert (die Lokomotive und der Wagen 2306 als sie aus dem Depot
gezogen werden; die postapokalyptischen Bilder der nächtlichen
Bahnstationen). Die historische Exaktheit ist 1990 nicht mehr
interessant - es werden Provokationen der Wohlstandsgesellschaft mit
diesen Bildern der Vergangenheit versucht.
(2) Es wird eine Konstruktion von Figurenbeziehungen geltend
gemacht. Ein US-amerikanischer Kriegsdienstverweigerer (deutscher
Abstammung) gerät mit seinem Idealismus, man müsse Deutschland helfen
und die Hand reichen, zwischen die Fronten von Besatzungsmacht und
Verlierern. In der Unversöhnlichkeit der Konstellationen erweist sich
der Außenseiter als ein Verlierer und in seiner Liebe zu der Deutschen
(die auf der Seite der Werwölfe steht) als erpressbar. Neu ist, dass
die Situation von 1945 aus der Perspektive des politischen Außenseiters
erzählt wird. D.h. Trier entfernt mit seiner Story die Personage der
Antifaschisten (in der Handlung und im Bewusstsein der Figuren). Auch
das ist provokativ für das Bewusstsein über Antifaschisten in der
postmodernen Gegenwart.
(3) Wieder entdecken wir das Motiv der Europa-Trilogie: die Reise
in die Zerstörung, in den Tod. Europa ist von Deutschland gebrandmarkt
und geprägt worden. Von Deutschland gingen die Katastrophen aus und
Deutschland wurde zum Signum der selbstverschuldeten Zerstörung.
(4) Der Stil ist
- antidokumentar, d. h. Trier betont eine Welt der Zerstörungen in herausgehobenen Farbgebungen und mythischen Bildern;
- auf magische Bildverfremdungen aus, d. h. statt der Ganzheit der
Szenen entdecken wir Rückpro-Bilder, in denen das Enthobensein aus der
Szene und der Überschaubarkeit betont wird (z.B. die
Ravenstein-Ermordung in der Story).
Dies alles wird durch die Nähe zu Genreästhetiken unterstrichen.
Genreästhetiken - ein Zugang zur Europa-Trilogie
Man muss fragen, ob Lars von Trier einen Neuansatz zum
Katastrophenthema gesucht hat, denn vieles weist auf dieses Genre in
den Filmen der EUROPA-Trilogie. In jedem Falle ist es eine Abkehr von
dokumentar-realistischen Zeitbilder-Drama-turgien und von der in den
80er Jahren bekannten historische Endzeitmetaphorik in osteuropäischen
Filmen so in Sziulkin: GOLEM,1978 Polen), Loposchanskij:
AUF-ZEICHNUNGEN EINES TOTEN, 1985 (SU). Gleichzeitig drängt sich die
Frage auf, was unterscheidet die westeuropäische von der
osteuropäischen Sicht auf Katastrophen? /8/
Problem 1: Genredramaturgien
Eindeutige Genrezuordnungen sind schwierig. Das Spiel mit
Genrekonventionen dient dem Aufbau von Paradoxa. Im Kern der Stories
geht es um einen Verlust des Selbst durch die Zerstörung von Identität.
Diese Zerstörungen können - wie in ELEMENTS OF CRIME - ein Paradox sein
auf die tradierte Herrschaft der Rationalität oder in EPIDEMIC der
Verlust von Gewissheit verschaffenden Distanzen zwischen Realität und
Fiktion oder in EUROPA 45 die Erpressung als Agens der Zerstörung sein.
Flankiert werden diese psychoanalytisch oftmals interpretierbaren
Konstruktionen von zerstörten Landschaften.
Zu fragen wäre, ob Trier mit seinen Bildern der Fähigkeit zur
Symbolisierung von Affekten der Identität entgegenkommt also für
Staunen, Ekel, Scham, Wut, Ärger, Furcht, Zweifel usw. Eine solche
rezeptionsästhetische Sicht auf die Genremittel in der Europa-Trilogie
könnte vielleicht auch erklären, dass Trier nicht Konventionen von
Genres folgt sondern eigene erfunden hat.
BEISPIEL: EPIDEMIC (1987)
Der Film könnte als ein Katastrophenfilm bezeichnet werden. In den
Dialogen wird von einer Tragödie und einem Horrorszenario von den
Autoren gesprochen. Filmemacher und fiktive Filmfiguren infizieren sich
an einer Pestkrankheit und im Finale hat die Katastrophe gesiegt.
Die Story wird in fünf Episoden erzählt, die Erzählung ist infolge der fiktiven Ebenen diskontinuierlich:
1. Tag Manuskript
2. Tag Die Linie
3. Tag Deutschland
4. Tag Das Krankenhaus
5. Tag Das Essen
Die Dramaturgie lebt nicht so sehr von dieser zeitlichen Einteilung
des Geschehens als viel mehr von einem Oszillieren zwischen zwei Ebenen
der Handlung, d. h. es liegt eine Konstruktion vor, die auf dem
Wechseln zwischen zwei Ebenen, einer pseudodokumentaren und einer
fiktiven, stilisierten aufbaut. Für beide Ebenen ist charakteristisch,
dass sie Episoden reihen und dass es für die Katastrophe und die
zeitliche Organisation der Ereignisse auf beiden Ebenen eine
unterschiedliche Abfolge gibt.
Ebene A: mit dem Computercrash setzt die Ereignisfolge ein und es
entwickelt sich kontinuierlich die Handlung auf die Katastrophe zu.
Beim Crash gibt es die Entscheidungsmöglichkeit, ein neues Szenarium zu
schreiben, aber in Bezug auf den Ausbruch der Epidemie wird keine
Entscheidungsmöglichkeit in der Handlungslinie berücksichtigt - die
Katastrophe ist eine Naturgewalt, die man im Alltag nicht annimmt bzw.
verdrängt, höchstens in der Phantasie - so im Szenarium - ist sie
existent. Das Grauen vor der Katastrophe wird damit - so im Finale -
wichtiger in der message des plots als die Naturkatastrophe, die Pest,
als reale Tatsache.
Ebene B: mit dem Ausbruch der Katastrophe wird die Bekämpfung der
Katastrophe durch Dr. Messmer erzählt (er wandert durch das Land), aber
die Autoren betonen, dass die Bekämpfung zugleich die Zerstörung der
Menschen bzw. die Verbreitung der Seuche potenziert. Die Entscheidung,
Sieg oder Niederlage im Kampf gegen die Seuche, wird nicht dramatisch
durch Protagonisten entfaltet (wie bei A. Camus Die Pest)
sondern episodisch-episch und diese Entscheidung wird mit der Tatsache,
dass Dr. Messmer zugleich die Seuche verbreitet, dem Schein nach
aufrechterhalten. D. h. es gehört zur message, dass sie kein utopisches
Potential (eine Rettung und Neuorganisation der Welt) zulässt.
Der Film baut sich auf verschiedenen Ebenen auf:
Ebene A (das ist die Rahmenerzählung): Zwei Drehbuchautoren Lars
und Niels sind mit einem Computercrash konfrontiert und erfinden eine
neue Story von einem Dr. Messmer, der eine Landschaft durchreist, in
der eine Epidemie herrscht.
Ebene B: das sind die Drehbuchszenen
Und im Finale wird von Trier die Überlagerung von A+B konstruiert.
Die Katastrophe ist also nicht nur die der Pestkrankheit sondern
die Konstruktion verweist auch auf eine Denkfigur: die des Verlustes
der Distanzen zwischen Realität und Fiktion - in der Annahme von
Katastrophen.
Dies gilt insbesondere für EUROPA 45.
Bei Werner Krauss wird auf den Zusammenhang von Nationalismus und Katastrophenerlebnis wie folgt verwiesen:
„Diese Herkunft der ‘nationalen Gemeinschaft’ aus der
Katastrophengemeinschaft des Krieges rechtfertigte die vollständige
Auslöschung aller individuellen Werte.“ /9/
Dies wird auch in EUROPA 45 deutlich: der nationalen
Gemeinschaftlichkeitsmotivation der Werwölfe steht Kessler gegenüber,
aber nur weil er nicht Mitglied einer alternativen Gemeinschaft ist,
geht er letztlich tragisch in dem Feld zwischen den Besiegten und den
Siegern unter. Es entsteht die Frage, ob nicht Kessler eine
Metamorphose seiner Identifikation durchläuft. Er wird zum unheroischen
Typus des Befehlsempfängers, der zu einer „nationalen Gemeinschaft“
stößt, weil er von der Katastrophensituation nach dem Krieg überrannt
wird. Dagegen sind die „Attentäter“ - so die Jungen im Zuge -
„Befehlsempfänger in der heroischen Dauerspannung der
Katastrophenbereitschaft“ /10/
In welcher Weise wird Europa gedeutet? Und weshalb sind Genredramaturgien hierfür von Lars von Trier favorisiert worden?
In EPIDEMIC ist eine Kerngeschichte mit dem Deutschland-Thema
verknüpft. Deutschland könnte ein Schlüssel für Triers Europa-Sicht
sein. Deutschland als Ausgangs- und Endpunkt von Katastrophen, von
Grauen? Ist das das Anliegen des Lars von Trier?
Eine Schlüsselstellung nimmt m. E. der 3.Tag „Deutschland“ in
EPIDEMIC ein. Nils und Lars fahren durch das Industriegebiet
Nordrhein-Westfalens (36:40’ - 53:50’): Krefeld, Neuss, Düsseldorf,
Remscheid, Solingen, Leverkusen. Während sie durch diese Industriezone
fahren sprechen sie über ihre Story, über die Wanderschaft des
erkrankten Dr. Messmer durch Europa. In Köln (44:30’-58:50’) besuchen
sie ihren Bekannten Udo, der ihnen erschüttert von seiner sterbenden
Mutter erzählt und von ihren letzten Erzählungen: wie sie mit ihm als
Baby im Krankenhaus infolge eines Bombenangriffs verschüttet wurde, wie
sie sich mit 100en Menschen in einen Weiher bei einem
Phosphorbombenangriff britischer Flieger flüchtete und brennende
Menschen sah, die keine Nazis waren, die unschuldig waren.
Zurückgekehrt im Hotel sagt einer von beiden „Jetzt weiß ich wie wir
die Krankheit nennen werden.“ (53:22’). Es erfolgt eine Umschaltung auf
die fiktive Ebene des Szenariums: Dr. Messmer und ein Neger
durchwandern einen Fluss und der Schwarze beginnt an der mysteriösen
Krankheit zu sterben.
Lars von Trier präsentiert die Erzählung lakonisch, stellt die
Erschütterung aus, aber er beginnt, auf zwei Ebenen Geschichten des
Infernos, der Katastrophe zu erzählen. Geschichten, die scheinbar
nichts miteinander zu tun haben, die aber jede auf ihre Weise die
Ungeheuerlichkeit eines Grauens im Sinne einer existentiellen
Katastrophenerfahrung mitteilen. Lyotards These, dass die großen
Erzählungen der Geschichte nicht mehr möglich seien wird durch dieses
Erzählen der kleinen Geschichten, die im Kontext reflektierbar werden,
vielleicht ein Beispiel finden.
Zusammenfassend könnte man sagen:
- Erzählungen der Historie können erwachsen aus Alltäglichem, aus
einer beobachteten, aber nicht ergründbaren Realität des Gegenwärtigen.
- Gegenwärtiges und Phantastisches bestehen nebeneinander. Es gibt
nicht die Macht der Historie sondern die Historie als den Alptraum der
Lebenden.
- Alle tragen die Katastrophe mit sich, ohne es zu wissen. Das
Nicht-Wissen um die Katastrophen erhöht das Grauen vor dem
Ungeheuerlichen (Udo, der Sohn angesichts der Erzählungen der Mutter
aus Kriegstagen/ Dr. Messmer hat den Auftrag die Seuche zu bekämpfen,
aber er trägt die Erreger mit sich und verbreitet sie, ohne es zu ahnen
/ Nils ist an der Pest erkrankt, ohne es zu wissen).
Trotzdem bleibt die Frage: Warum Europa-Trilogie? Warum dieses Insistieren auf Deutschland?
Formulierte Lars von Trier ein Grauen vor Katastrophen? Sind im
postmodernen Verständnis des von Hollywood beeinflussten dänischen
Regisseurs Europa, Deutschland und die gehabten Ungeheuerlichkeiten wie
Krieg vage Begriffe, an die nur noch über existentielle individuelle
Erfahrungen - übersetzt in Genredramaturgien - Annäherungen möglich
sind. Trier hat dafür die Katastrophen-Dramaturgie favorisiert.
Im ersten Film ELEMENTS entdecken wir noch die Überlagerung der
Katastrophendramaturgie durch das Detektivfilmgenres. ELEMENTS OF CRIME
(1984) kann auch als eine Detektivstory gelesen werden und operiert mit
den psychologisch-kriminalistischen Elementen eines Thrillers. De facto
verwandelt sich der Detektiv in einen Mörder. Der Polizeidetektiv
Fisher kehrt von Ägypten, seinem Exilland, nach Deutschland zurück und
will mit einem befreundeten Kollegen, dem Polizeichef Kramer, einen
Serienmörder jagen.
Trier kompliziert die Story und öffnet ihre Genreeindeutigkeit:
Fisher, der Detektiv, vollzieht eine Wandlung: er handelt unter Hypnose
und er will konsequent sich mit dem Mörder identifizieren, was ihn zu
einem Mörder werden lässt. Fisher wird de facto zu einem Menschen, der
in ein Netz von Determinationen verstrickt ist, aus denen sein SELBST
nicht entfliehen kann. Die postmoderne Dramaturgie vollzieht die Wende:
a) von der Welt der Geister des Fantasyfilms zu einem
Rationalismus (die Lehre des Osborne über die „Elements of Crime“), mit
dem aber die Zerstörung des Menschen vorangetrieben wird. Rationale
Systeme (Aufklärung und Bestrafung eines Mörders) werden als paradox
ausgestellt und flankiert von einer Ästhetik des Hässlichen: statt Jagd
des Mörders ein Umherirren in postapokalyptischen Landschaften und
ewigem Regen ausgesetzten Städten.
b) Der Verlust von Gewissheiten setzt an beim Detektiv, einer
typologischen Figur, die für Aufklärung, für Rationalität - jedenfalls
im klassischen Verständnis - steht und ist zugleich weitgehend eine
psychologische Konstruktion des Identitätsverlustes, der Annahme eines
anderen Selbst.
Als psychoanalytische Frage wäre zu klären, ob Fisher nicht auch an
seinem Gewissen leidet, dessen Maßstab oder Ideal durch Osbornes
Identifikationstheorie gebildet wird und er mordet, nicht weil er
endgültig wie der Mörder, den er jagen will , wird, sondern weil er vor
seinem Gewissen flieht. Das Gewissen fungiert auch als Über-Ich.
Rebelliert Fisher dagegen mit der Tat?
Es wäre auch noch eine andere Genreebene diskutierbar. Fisher jagt
einen Serienmörder und dieser ist nur als Phantom präsent - nie in der
eigentlichen Gestalt. Wenn man bedenkt, dass die Slasherfilms der
80er/90er Jahre sich gerade dadurch auszeichnen, dass immer die Opfer
im Bild sind und der Serienmörder nur als Phänomen erscheint, wäre
dieser Film des Trier auch in diesem Zusammenhang bedenkenswert.
D. h. ELEMENTS arbeitet mit Motiven des Katastrophenfilmgenres
(eine Landschaften und Infrastruktur zerstörende Katastrophe hat
stattgefunden, das wird aber nicht weiter in der Ereignisfolge
wirksam), der Plot folgt Merkmalen des Kriminalfilms, aber: mit der
Rückblendenerzählung wird eine Story vom Identifikationsverlust von
Ordnungshütern erzählt.
In EUROPA 45 (1990) lassen sich Thrill- und Katastrophenelemente
entdecken, aber eindeutige Zuordnungen vermisst man. Leopold Kessler,
ein US-amerikanischer Kriegsdienstverweigerer tritt eine Stelle als
Schlafwagenschaffner im zerstörten Nachkriegsdeutschland 1945 an. Die
Faszination des Amerikaners für Europa, für die Schichten seiner
Kultur, ist konfrontiert mit der zerstörten Landschaft des Krieges. Mit
der Liebe zur Tochter des Besitzers der Schlafwagengesellschaft
„Zentropa“, Katharina Hartmann, gerät er in Kreise der im Untergrund
noch kämpfenden Nazi-Werwolf-Organisation. Er heiratet sie. Sie wird
entführt und er wird erpresst, eine Eisenbahnbrücke zu sprengen. Dabei
stirbt er. Wieder entdecken wir in der Europa-Trilogie eine
psychologische Ebene, die Thrill-Effekten verpflichtet ist: die
Zentralfigur begeht eine Tat, die in Widerspruch zu ihrem wahren Selbst
steht. Eindeutige Genrezuordnungen sind kaum möglich.
Problem 2: Topos des Reisens
Alle drei Filme der Trilogie weisen auf den Topos des REISENS. Das
Durchqueren von Zonen der Zerstörung, der Katastrophen impliziert für
die Zentralfigur Prüfungsrituale. Nur: nicht bestandene Prüfungen
sondern die Zerstörung des Helden durch sein Tun ist das Ergebnis. Auch
Tarkowskis Anliegen in STALKER (1979) ist hier zurückgenommen. In
ELEMENTS OF CRIME und in EPIDEMIC wird der Verlust an
Realitätswahrnehmung bestimmend für die Katastrophe des Helden.
Wanderungen mit Gewissheiten sind in diesen apokalyptischen
Landschaften nicht mehr möglich - das ist eine der postmodernen
Botschaften.
Wichtig ist auch, wie sich das Europa-Bild in den drei Filmen darstellt.
In ELEMENTS OF THE CRIME entdecken wir:
- Europa scheint eine nukleare Katastrophe überstanden zu haben
- Es herrschen Chaos und Elend. Die Polizei scheint noch eine Macht
zu sein, aber der Verfall Europas wird ausgestellt (Motiv der
Vernichtung von Büchern so bei Osborne, aber auch der zerstörerische
Bericht eines Bibliothekars (84’).
Gegen die postmoderne Wohlstands- und Konsumgesellschaft und ihre
Europabilder setzt Lars von Trier Bilder des Niedergangs. Aber: Europa
- das ist eigentlich Deutschland in diesen Filmen.
„Filmbulletin: … frage ich, warum Sie von Europa sprechen, wenn
die Filme Ihrer Trilogie eigentlich doch immer nur auf Deutschland
verweisen?
L. v. T. : Das ist für mich Europa. Für mich als Dänen sind
Deutschland und Europa eng miteinander verbunden. Wenn man von Dänemark
aus nach Europa geht, muss man durch Deutschland hindurch. Alles
Bedrohliche an Europa ist für mich zusammengefaßt: Deutschland ... Wenn
wir uns von Europa bedroht fühlen, dann nur aufgrund unserer Gefühle
gegenüber Deutschland.“ /11/
Problem 3: Wie wird die Katastrophe erlebt? Konsequenzen für dramaturgische Techniken
Alle drei Filme mobilisieren auf verschiedene Weise das Unbewusste:
Lars von Trier operiert mit der Hypnose. Dies ist auch ein Grund für
die Phantastik der Filme. In ELEMENTS OF CRIME besteht die Erzählung in
einer einzigen Rückblende. Die Geschichte liegt zurück, aber ein
Hypnotiseur lässt Fisher alles noch einmal erleben. In EPIDEMIC
entdecken wir wiederum den Hypnotiseur und in EUROPA 45 richtet sich
dieser als voice over an Leopold Kessler (aber die voice-over-Stimme
fungiert in verschiedenen Adressierungen: Kessler, Zuschauer und sie
beobachtet und teilt Beobachtungen mit. Bedenkenswert ist, dass Kessler
durch den Text des hypnotischen voiceovers fremdbestimmt scheint).
These 1: Was das Katastrophenfilmgenre leisten kann, hängt ab von
der Beantwortung der Frage, welche Katastrophen genrekonstituierend
waren und sind.
Traditionell sind Naturkatastrophen (Vulkanausbrüche, Erdbeben,
Flutwellen, Feuerbrünste) und technische Katastrophen
(Schiffsuntergänge, Flugzeugkatastrophen) Ereignisse, denen sich der
Katastrophenfilm zuwandte. Als Beispiele seien genannt: frühe
Pompeji-Filme (1907), Titanic-Untergang-Filme (ATLANTIC, 1930; TITANIC,
1943/52; TITANIC, 1997), die Erdbeben von San Francisco (1936) und Los
Angeles (EARTHQUAKE, 1974), die deutsche Zeppelinkatastrophe (THE
HINDEN-BURG,1975).
Die Dramaturgie dieser historischen Katastrophenfilme baut sich auf aus:
- dem historischen Ereignis und seiner Erzählung, wobei Alltag,
überraschender Ausbruch der Katastrophe und anschließendes Chaos, das
meist von wenigen überlebt wird, die Möglichkeit für extrem
gegensätzliche Situationen schaffen.
- Extreme Situationen, das bedeutet Umbrüche von friedlichem
Alltag in Zerstörungen (Städte, Landschaften, Menschen, Tiere,
zivilisatorische Errungenschaften der Industrie u. a.), insofern
gewinnen in der Dramaturgie Gewicht:
a) Kulminationen der Katastrophe werden mit extremen
Bewegungsmotiven und Beschleunigungsmontagen präsentiert (Stichworte:
explodieren, zerschellen, überfluten, zerschießen), d. h. auch dass der
Katastrophenfilm jenes Moment des Horrorfilms, das an die
Fragmentarisierung des Körpers gebunden ist, ergänzt durch das visuelle
Spektakel der Atomisierung, der Sprengung des sozialen Körpers (man
denke an die Opulenz der Computerzentralen, der Verbindungskanäle und
Schächte der Raketenabwehrsysteme in WAR GAMES,1983). b) Erosionen der Landschaften, Städtebilder - all das hat im
Katastrophenfilm eine Ästhetisierung der Totalen - auch im Hinblick auf
Menschenmassen, auf Massenarrangements- und der Farben hervorgebracht.
Flugtotalen, gewaltige Bildspannungen durch Vorder- und Hintergründe,
Untersichten haben in diesem Genre eine besondere Perfektion erfahren.
c) Katastrophenfilme bauen oft auf eine Profilierung starker
Charaktere (auch in ihrer Gegensätzlichkeit) - ob nun die emotionale
Erhöhung im Untergang tragisch-melodramatisch gefärbt wird oder das
Gigantische der das Chaos Überlebenden ausgestellt werden soll.
Filmgeschichtlich entdecken wir in den 60er Jahren beim Autorenkino
in Frankreich eine Auseinandersetzung mit dem Katastrophenfilm, die vor
allem eine „Endzeit“-Metaphorik aus der Perspektive des Niedergangs -
besser der Gefährdung von Utopien auszeichnet. Es sei verwiesen auf
Godards ALPHAVILLE (1965) und Truffauts FAHRENHEIT 451.
In den 70er/80er Jahren setzte eine striktere Besinnung auf das Genre ein. Das betraf zwei Weisen des Umgangs mit Katastrophen:
I.
Katastrophen wurden als Einschnitte auf dem Wege zu einer globalen Endzeit aufgefasst.
Dementsprechend kreisten die Stories um zwei verschiedene Sachverhalte:
- entweder Katastrophe, Chaos und Überleben (MALEVIL, 1980; DER TAG
DANACH, 1983; WAR GAMES, 1983; BRIEFE EINES TOTEN, 1985; OPFER, 1986),
- oder die Story wurde angesiedelt in einer Welt nach einer
Katastrophe (PLANET DER AFFEN, 1968, 1970; METROPOLIS 2000, 1982;
TERMINATOR, 1984; SEX MISSION, 1984; TANK GIRL, 1995).
Im Gegensatz zu den historischen Katastrophenfilmen liegt diesen
Modellen die Auffassung zugrunde, dass globale Katastrophen ein „neues
Thema“ geworden sind und dementsprechend wandeln sich auch die
genrekonstituierenden Elemente (besonders beachtenswert die Sexkomödie
von Machulski SEX MISSION, 1984 und als negatives Beispiel TANK GIRL,
1995).
Lars von Trier modifiziert diese Entwicklungslinie in mehrfacher Hinsicht:
- in ELEMENTS OF CRIME (1984) hat die Katastrophe stattgefunden,
das Land, in das Fisher als Kriminalist fuhr, mutet zerstört an, aber
nicht diese Katastrophe wird verhandelt, sondern mit einem
kriminalistischen Fall, Fisher sucht einen Serienmörder, wird eine
Kausalkette von Handlungsfolgen entwickelt, aber Mr. Fisher landet beim
Hypnotiseur im Ausland. Wir haben es mit dem seltsamen Fall zu tun,
dass Trier zeigt, dass Verantwortung für Handlungen in dieser
Katastrophenwelt nicht mehr funktioniert, dass sie abhanden gekommen
ist - für Leute, die juristisch dafür prädestiniert sind,
Handlungsfolgen unter dem Aspekt ihrer Kausalität aufzurechnen. Trier
bietet mysteriöse Kausalitäten und Zurechnungen an. Der erzählte Fall
ist zu seltsam als das wir ihn als Krimi akzeptieren könnten. Zwischen
der in diesen Landschaften stattgefundenen Katastrophe und der
persönlichen Katastrophe des Mr. Fisher scheint - fast wie von einer
Parabel mit Paradoxa - ein Vergleich denkbar zu sein mit der Gegenwart:
die Ethik der technologischen Zivilisation ist fragwürdig geworden,
denn Handlungssubjekte in komplexen kulturellen Prozessen sind
juristisch immer schwieriger auszumachen, weil die Kausalität des
Geschehens und die Zurechnung von Handlungsfolgen nicht verknüpfbar
werden mit moralischer Konsequenz. Also: es mutet schon wie ein Paradox
an: gewachsene Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen im Sinne von
Kausalitätsbestimmungen aber Entmoralisierung zugerechneter Handlungen.
Ist also ELEMENTS OF CRIME eine Parabel auf eine Welt nach der
Katastrophe, in der Verantwortung nicht mehr auszumachen ist?
Beachte:
Hermann Lübbe weist am Beispiel von Großkatastrophen
(Jumbo-Jet-Abstürze auf Vorstädte, gestrandete Großtanker u. ä.) auf
ein nicht lösbares Risikomanagment hin. „Kategorial bedeutet das:
Jenseits ungewisser Grenzen wird in komplexen Systemen die
Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen an die Adresse speziell
verantwortlicher individueller oder juristischer Personen fiktiv. Das,
wofür ein individuelles, auch institutionelles Handlungssubjekt
einzustehen vermag, gerät in ein derartiges Missverhältnis zu den
Folgen seiner Handlungen, dass sich Zurechenbarkeit dieser
Handlungsfolgen pragmatisch sinnvoll nicht mehr fingieren lässt ...
“/12/
Lübbe nennt zwei Folgen: „Erstens geht die
Zurechenbarkeitsexpansion mit einer fortschreitenden
Entpersonalisierung einher.“ /13/ „Zweitens geht mit der
Zurechenbarkeitsexpansion Entmoralisierung zugerechneter Handlungen
einher.“/14/
„Eine Commonsense-nahe Verhältnismäßigkeit der Strafe für
Trunkenheit auf der Schiffsbrücke und ihren Katastrophenfolgen fürs
Biotop ganzer Meeresbuchten besteht nicht, und wer, juristisch belehrt,
schließlich eingesehen hat, was hier eigentlich strafrechtlich relevant
ist und was nicht, begreift zugleich, dass jenseits ungewisser Grenzen
im Kontext der modernen Zivilisation Folgen aus Handlungen immer
häufiger moralisch sinnvoll nicht mehr zugerechnet werden können. Das
Prinzip der Verantwortung im moralischen Sinn reicht fortschreitend
weniger weit als der Bereich kausalanalytisch identifizierbarer
Handlungsfolgen.“ /15/
- In EPIDEMIC werden de facto zwei narrative Codes miteinander
verbunden: die Alltagsgeschichte - ein neues Script muss geschrieben
werden da das alte im PC gelöscht wurde. Und das in 5 Tagen. Sie
besteht aus einer Reihung von Episoden (z.B. die Fahrt nach Köln und
die Erzählung des Freundes die Atlanta-Teenager-Episode, die Erkrankung
des Freundes und sein Aufenthalt im Spital u. a.). Die Linie der fiktiv
erdachten Katastrophe (Ausbruch der Epidemie, die Reise des Dr. Messmer
durch das Land).Beide Linien werden im Finale zusammengeführt.
Durch die Schaltung zweier sich auch stilistisch ausschließender
narrativer Codes hat Trier eine völlig neue genrekonstituierende Sicht
auf Katastrophen entwickeln können. Hinzu kommt, dass er das
Ausgeliefertsein an die Katastrophe als eine existentielle Erfahrung,
Wahrheit betont und nicht jenes illusionistisches Modell wählt, wonach
ein gigantischer Kampf ums Überleben die Stärke des Katastrophenfilms
ausmache (vgl. dazu: die Erzählung von den brennenden Menschen im
Aachener Weiler von Köln aus der Kriegszeit und die hypnotische Macht
der Katastrophenerfahrung des Mediums Gille im Finale).
II.
Katastrophen werden nicht nur als Naturereignisse dargestellt. Es
sind Eskalationen von Gewalt Brutalität von Menschen und dadurch
bewirkter Zerstörung.
Solcher Art Katastrophen sind in SF-Filmen handlungsauslösende
Elemente, die negative oder positive Utopien bekräftigen sollen (1926:
METROPOLIS; Kubricks CLOCKWORK ORANGE, 1971; BRAZIL, 1984; Schlöndorffs
GESCHICHTE EINER DIENERIN, 1990). Die Stories kreisen meist um
zukünftige Gesellschaften, Diktaturen, totalitäre Ordnungen, in denen
Gewalt praktiziert wird und die auf Störungen ihrer Ordnung
(Katastrophen nicht als Naturkatastrophen sondern als gewalttätige
Zerstörung demokratisch-humantiären Menschseins) mit der totalen
Reglementierung des Individuums reagieren.
Worin besteht nun im Vergleich mit traditionellen Katastrophenfilmen das Besondere der Lars-von-Trier-Trilogie?
(1) Lars von Trier blendet utopische Potentiale generell aus. Dies unter zwei Voraussetzungen:
a) es gibt keine Semantierung der Zukunft (der Welt) in seinen Filmen ELEMENTS ... und EPIDEMIC
b) es gibt keine Auseinandersetzung mit Gegenentwürfen zu Utopien, die als Bekräftigung des Wertes von Utopien anzusehen wären.
(2) Das Katastrophenkonzept des Lars von Trier unterscheidet sich
von dem in vielen Katastrophenfilmen in mehreren Punkten. Dabei kann
vorausgesetzt werden, dass seit den 50er Jahren eine beträchtliche
Erweiterung des Katastrophenbegriffs in diesem Genre zu beobachten ist
(in den 50er Jahren das Fixiertsein auf die atomare Bombe und auch noch
in den 60er Jahren die Favorisierung der Naturkatastrophen; seit den
60er Jahren die „Endzeit“-Filme; seit den 70er Jahren eine generelle
Erweiterung einerseits globaler Dimensionen [Atomkrieg und bakterieller
Krieg; SF-Genremotive in Bezug auf andere Welten im Weltraum] und dann
in den 90er Jahren Viren und Seuchen [Terry Giliams: MONKEYS USA
1996]), aber auch seit den 80ern die Eskalationen und Vernichtung des
Menschen durch Gewalt und Brutalität [ORANGE CLOCK,Kubrick, 1971]
Hans Krah schreibt:
„Speziell in den 50er und 60er Jahren wird die Katastrophe häufig
als Naturkatastrophe inszeniert, gleichwohl sie atomar verursacht wird
... Ebenso steht eine politische Dimension, konkretisiert im
Ost-West-Konflikt, selten im Zentrum, auch wenn sie implizit als
mitverantwortlich erscheint ...
Bis in die späten 60er Jahre ist die Katastrophe fast
ausschließlich als atomare Bedrohung denkbar, wobei es Unterschiede in
der Kaschierung/Offenheit des Aspektes des menschlichen Verschuldens
gibt ...Als Extrempunkt auf dieser Skala wäre das Spektrum der Gefahren
von außen, aus dem All, zu interpretieren. In den 70er Jahren ist
signifikanterweise die atomare Bedrohung sekundär ... Letztlich ist es
hier der Mensch selbst, der zur Katastrophe wird ... Erst ab Mitte der
80er Jahre dominiert die atomare Katastrophe, nun als offen inszenierte
Verstrahlung und Verwüstung, wieder eindeutig den filmischen Diskurs.
Für die 90er Jahre ist ein Variationsspektrum, indem insbesondere Viren
und Seuchen eine neue Relevanz einnehmen, zu konstatieren.“ /16/
a)
in EPIDEMIC ist zwar die Epidemie als Naturkatastrophe die
zerstörerische Kraft, aber es wird in der Narration das Überleben des
einzelnen und die Neuorganisation der Welt (nach der Katastrophe) nicht
verfolgt. Wenn man an das Finale des Films denkt (und an die Erzählung
des Freundes in Köln) könnte man sagen: Trier inszeniert das
individuelle Grauen vor der Katastrophe indem er für das subjektive
Erleben expressive Lösungen erfindet. Für ELEMENTS ließe sich
feststellen, dass die Katastrophe in ihren Langzeitauswirkungen auf
Landschaft und Städte präsent ist, aber Trier separiert sowohl mit der
voice-over-Erzählung als auch dem Handlungsverlauf (der aus einer
Rückblende besteht) die individuellen Katastrophen der Gesetzeshüter
Fisher und Osborne. „Der Mensch als Katastrophe“ wird allerdings nicht
aus den Gewaltmodellen des Genres entwickelt (CLOCK ORANGE, 1971;
BRAZIL, 1984).
Fragt man weiter, so entdeckt man, dass hier Modelle erfunden
wurden, die „Zeitfragen“ simulieren: die Komplexität moderner
Wirtschaften und der ökologischen Haftungsfragen des Risikomanagements
oder anders formuliert:
dem Katastrophenverständnis liegt ein Paradox zugrunde:
- einerseits die Möglichkeit der komplexen Folgenanalyse, die
Erfassung von Kausalitätsketten und Handlungsfolgen in komplexen
sozialen Systemen
- anderseits die Reduzierung der individuellen Handlungssubjekte
im Rahmen der für den technischen Fortschritt notwendigen Verantwortung
für Folgen.
D. h. Triers Katastrophenfilme insistieren mit ihren
Konstruktionen auf die Krise der individuellen Verantwortung in
postmodernen Gesellschaften. Deshalb das Motiv der Fremdbestimmtheit,
das mit der voice-over-Erzählung verknüpft wird. Deshalb die
ästhetischen Möglichkeiten der Hypnose in der Erzählstruktur.
b)
Katastrophen konstituieren zeitliche Dimensionen der Handlung.
Nach Hans Krah sind zwei Grundmodelle unterscheidbar:
I. die Story bzw. der plot bauen sich auf in der Dimension
VORHER - DIE KATASTROPHE - NACHHER
die Katastrophe als Einschnitt und als Diskontinuität konstituierende Diegese
II. Story bzw.plot bauen die zeitliche Organisation der Ereignisse
nach dem Schema: WELT NACH DER KATASTROPHE - NEUORGANISATION DER WELT
(auch durch Beziehung der Geschlechter etc.) und die Jetzt-Zeit und die Kontinuität konstituieren die Diegese /17/
Beide Schemata haben in der Narration Sterben und Tod als wichtige Phänomene favorisiert.
Triers Katastrophenfilme lassen Modifikationen dieser Schemata erkennen:
ELEMENTS … : die Welt nach der Katastrophe, aber nicht diese wird
thematisiert sondern die Katastrophe der Menschen infolge des
Identifikationsverlustes bzw. infolge der Annahme einer falschen
Identität.
EPEDEMIC: Entwicklung hin zur Katastrophe (bei Modifikation des
Horrormotivs: Einbruch der Katastrophe in den Alltag von Menschen).
Die Trierfilme operieren nicht mit einer dominanten Dramaturgie und
Ikonographie des Sterben und des Todes. Das verweist auf die subjektive
Erlebnisdimension des Grauens, auf die Trier mit seinem plot und seinen
Figuren und seinen Erzähltechniken zielt, um das verloren gehende
Individuum, verloren gehend in der Komplexität der Systeme und der
Haftungsproblematik postmoderner Gesellschaften auf der Ebene der Kunst
auszustellen, auszustellen den Verlust der individuellen Verantwortung,
der Identität und aufmerksam machend auf die Hilflosigkeiten, die
Zwänge der sich selbst regulierenden Gesellschaft zur Folge haben.
Wichtig scheint mir die Frage, in welcher Weise Lars von Trier
Genrekonventionen und -stereotypen in seiner Europa-Trilogie
unterläuft?
In Stichpunkten könnten folgende Besonderheiten genannt werden:
(1) In ELEMENTS… und EPIDEMIC wird auf das Merkmal der
geschlossenen dramatischen Fabel, die Protagonistenkonstellation,
verzichtet.
- der Serienmörder erscheint nicht als Akteur in ELEMENTS
- in EPIDEMIC gibt es auf der Ebene A keine Protagonisten und auf der Ebene B auch nicht
(2) die Polygenrestruktur der Europatrilogie, d. h. wir entdecken Motive und dramaturgische Techniken
- des Katastrophenfilms
- des Kriminal/Detektivfilms
- des Horrorfilms/Thrillers
- des Melodrams (in EUROPA 45).
Mag die postmoderne Europa-Trilogie des Lars von Trier als
Experiment umstritten sein und wenn auch das geeinte Europa zu Beginn
des 21. Jahrhunderts gestärkt gegenüber den Fallen der Historie
aufzutreten vermag, so enthält das Experiment genug Provokationen für
die Europäer und die Amerikaner bereit, um sich gegenüber den
europäischen Katastrophen und der Schuldverstrickung der Deutschen
wachsam zu verhalten. Denn es sind zwei Ebenen der aktuellen
Auseinandersetzung, die von den apokalyptischen Denkfiguren des Lars
von Trier getroffen werden:
(1) die überkommenen historischen Katastrophen und ihre symbolischen Welten und
(2) die Frage, ob wir in der Gegenwart tatsächlich so stabile
Wertsysteme, so stabile Regelsysteme haben, um nicht von den gehabten
Katastrophen erneut eingeholt zu werden.
Insofern ist die Ausblendung des antifaschistischen Bewusstseins
und von Antifaschisten ein schwerwiegender Kunstgriff, weil seine
Europatrilogie deutlich macht - gerade in ihren Genreästhetiken - was
möglich ist, welche Horror-, Thrill- und Katastrophenerfahrungen in
Denkspielen simulierbar sind, wenn Antifaschismus nicht vorhanden ist.
Anmerkungen
1 Vgl. Box-Office Deutschland. In: Filmecho/Filmwoche 31/91.Wiesbaden: August 1991.
2 Bion Steinborn: Lars von Trier: FilmFaust-Gespräch. In: FilmFaust Nr.62, Ffm 1987, S. 16.
3 Zygmunt Baumann: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995, S. 361/62.
4 Vgl. Platon: PHAIDON: Dialog über den Sterbetag des Sokrates.
5 Vgl. Bohleber, W.[1992]: Identität und Selbst. Die Bedeutung der
neueren Entwicklungsforschung für die psychoanalytische Theorie des
Selbst. In: PSYCHE 46, 4, S.336 - 66; Cournut, J. [1988]: Ein
Rest, der verbindet. Das unbewusste Schuldgefühl das entlehnte
betreffend. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, 22, S.67-99; Eckstaedt, A.
(1989): Nationalsozialismus in der „zweiten Generation“. Psychoanalyse
von Hörigkeitsverhältnissen, Ffm: Suhrkamp; Erlich, S. [1991]: Die
Erlebnisdimension von „Being“ und „Doing“. In: Psychoanalyse und
Psychotherapie, Zeitschrift 3, S.317-334.
6 Andrea Keil: Das Phänomen der Hypnose in Lars von Triers Trilogie. Alfeld/Leine 1996, S.68/69.
7 Zygmunt Baumann: Postmoderne Krise. Hamburg 1995, S. 38.
8 Vgl. Hans Krah: Zukünftige Welten und globale Katastrophen. Zur
Genrekonstituierung von Endzeitfilmen. In: B. Neitzel (Hg.): FFK 9,
Bln.1997, S. 92-112; Andrea Keil: Das Phänomen der Hypnose in Lars von
Triers Trilogie, Alfeld/Leine 1996, S. 18-54.
9 Werner Krauss: Nationalismus und Chauvinismus. In: W. Krauss:
Literaturtheorie, Philosophie und Politik. Berlin/Weimar 1987, S. 396.
10 Ebd.
11 Peter Kremski: Werkstattgespräch mit Lars von Trier zu seiner Trilogie THE ELEMENT OF CRIME, EPIDEMIC und EUROPA. In: Filmbulletin 3/1991. Winterthur: März 1991, S.58 ff.
12 Weyma Lübbe (Hg.): Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung
in komplexen kulturellen Prozesse. Freiburg: Alber 1998, S. 293.
13 Ebd.
14 Ebd., S. 294.
15 Ebd., S. 295.
16 Hans Krah, a. a. O., S. 101/02.
17 Ebd., S. 93/94.
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