Thema | Kulturation 1/2007 | Geschichte der ostdeutschen Kulturwissenschaft | Lutz Haucke | Herrschaft, Macht und moralische Autonomie?
Szabós Trilogie der 80er Jahre Szabós Trilogie der 80er Jahre: MEPHISTO (1981), OBERST REDL (1984), HANUSSEN (1987) | Szabós Trilogie der 80er Jahre: MEPHISTO (1981), OBERST REDL (1984), HANUSSEN (1987)
(1) Humanist aus Verantwortung
István Szabó, der am 18.2.1938 in Budapest geboren wurde, kann 2007
auf ein Lebenswerk von 14 Spielfilmen, einigen TV-Produktionen und
mehreren, auch international beachteten Kurzfilmen – letztere
entstanden 1961 bis 1976 – zurückblicken. Seitdem er für seine
internationale Koproduktion MEPHISTO auf den Festspielen in Cannes 1981
den Preis für das beste Drehbuch und den Kritikerpreis für den besten
Beitrag im offiziellen Programm und 1982 den Oscar für den besten
ausländischen Film erhielt, galt er nicht mehr nur als der ungarische
Autorenfilmer, der Anfang der sechziger aus dem berühmten Experimental-
und Nachwuchsstudio „Béla-Balázs“ hervorgegangen war, sondern als
Regisseur eines international repräsentativen europäischen Kinofilms.
Seit dem MEPHISTO entwickelte sich Szabó zu einem Universalisten der
europäischen Künste. In seiner Literaturverfilmung von Klaus Manns
Roman aus dem Jahre 1936 zeigte er, wie souverän er mit Goethes FAUST
und der Vielfalt des Theaters – vom klassischen Stück bis zu
Brecht-Szenen und Kabarett – umgehen konnte. In BEING JULIA(2004)
verfilmte er meisterhaft ein Stück des Engländers W. Somerset Maugham.
In ZAUBER DER VENUS (1990) erzählt er von den Auseinandersetzungen,
Komplikationen und der Lovestory, die ein Dirigent aus Budapest zur
Zeit der Wiedervereinigung Europas während der Inszenierung von Richard
Wagners TANNHÄUSER an einer Pariser Oper durchlebt.
Zusammen mit seinem Kameramann Lajos Koltai schuf er monumentale
Kinobilder, die Architektur und bildende Kunst als dramatische Elemente
der Szenografie nutzten (in der Trilogie der 80er Jahre MEPHISTO,
OBERST REDL, HANUSSEN; in dem jüdischen Familienepos von fünf
Generationen SUNSHINE/ EIN HAUCH VON SONNENSCHEIN, 1999; in TAKING
SIDES – DER FALL FURTWÄNGLER, 2001). Es ist das bleibende Verdienst
Szabós, in einer Zeit der Allmacht der Massenkultur und des von
Hollywood bestimmten mainstreams ein europäisches Kino vertreten zu
haben, das sich mit humanistischen Botschaften der europäischen Kunst
(Epik, Drama, Schauspiel, Oper) konsequent auseinandersetzte und mit
beeindruckenden Erzählstrategien das Gefühl der Verantwortung bei den
Zuschauer auslösen konnte.
Bereits in seinem ersten Kurzfilm VARIATIONEN AUF EIN THEMA (1961),
der Film erzählt wie ein Vater mit seinem Sohn ein Waffenmuseum
besucht, führte der junge Autorenfilmer eine filmsprachlich
experimentelle Auseinandersetzung mit dem Krieg als einem Grundübel der
europäischen Geschichte. In seinem ersten Spielfilm ALTER DER
TRÄUMEREIEN (1964), einem im Stil der Nouvelle Vague erzählten
Generationsspiegelbild, durchbricht Szabó die ansonsten durchgängige
Gegenwartsebene mit Dokumentarfilmmaterial aus der Zeit des 2.
Weltkrieges, der Zeit des Faschismus und der nationalen Erschütterungen
um den Budapester Aufstand von 1956. Das thematische Motiv „Individuum
und Geschichte“ zieht sich durch sein gesamtes Werk wie ein roter
Faden. Die Ausgangspunkte des Autorenfilmers sind in seinen
Generationserfahrungen begründet, die in Kindheit und Jugend von
Kriegs-, Nachkriegszeit, von der Zeit des Personenkults unter Mátyás
Rákosi und der nationalen Erhebung von 1956 geprägt wurden. Hinzukommt,
dass die Nähe zu Budapester Juden und zu ihren Schicksalen sich durch
die Filme der Autorenfilmerphase der sechziger und siebziger Jahre mit
eindrucksvollen Szenen und Nebenfiguren – z.B. in VATER, 1966, und in
FEUERWEHRGASSE 25, 1973 - durchzieht und in der humanistischen Sicht
auf die Identität der ungarischen Juden, auf ihre in der Historie von
Leiden und Vernichtung in Frage gestellte Hoffnung auf Toleranz, Liebe
und Gerechtigkeit im Epos SUNSHINE (1999) kulminiert.
Die Sicht auf die Geschichte Mitteleuropas wird bei Szabó nicht von
einer vordergründigen Illustration der politischen Geschichte getragen.
Er sieht vielmehr in dem Spannungsverhältnis von Individuum und
Geschichte das Bezugsfeld humanistischer Verantwortung des Künstlers,
die sich auf Charaktere, Schicksale, Katastrophen von Menschen unter
politischem Druck und Repression konzentriert: „Die Geschichte griff
vielleicht niemals, nirgendwo anders so drastisch, so permanent und
unausweichlich in das alltägliche Leben, das Schicksal, die
Verbindungen der Menschen ein, wie in dieser Region der Erde.“ [1] Und
an anderer Stelle: „Für mich ist der Unterschied zwischen Mitteleuropa
und Europa, dass wir hier etwas…gemeinsam haben und das ist unsere
Vergangenheit…Wir wissen etwas, was andere nicht wissen, durch diesen
sonderbaren Wirbel der Diktaturen und Demokratien, in den persönlichen
Schicksalen, in diesen aufsteigenden und hinabstürzenden Wogen wissen
wir – so glaube ich – sehr vieles über den Menschen, was andere nicht
wissen können.“[2]
In diesem Credo ist das thematische Motiv „Individuum und
Geschichte“(in Mitteleuropa) verbunden mit anderen thematischen Motiven
wie dem von „nationaler Identität und Identitätsverlust“ – so in der
Story von OBERST REDL (1984), die das Konfliktfeld von Herkunft
(ethnisch: die ruthenische Bauernfamilie/ mütterlicherseits deutsche
Juden) und der Homosexualität einerseits und andererseits der
Beamtenrolle im Netzwerk der Mächtigen der k.u.k. Monarchie auslotet.
Diesem thematischen Motiv ist auch das jüdische Familienepos SUNSHINE
(1999) verpflichtet, in dem vom Ende des 19.Jahrhunderts über den
Faschismus, die Rákosi-Ära bis zu den Ereignissen von 1956 und die
Folgezeit die Assimilation der ungarischen Juden als ein
widerspruchsvolles und opferreiches Ringen um die nationale und
persönliche Identität ausgebreitet wird. In dem schlichten Alltagsfilm
SÜSSE EMMA, TEURE BÖBE (1992) erzählte Szabó die Geschichte zweier
junger Russischlehrerinnen, die mit dem Wegfall des Russischunterrichts
an den ungarischen Schulen Anfang der neunziger Jahre eine
Identitätskrise durchleben, indem sie arbeitslos werden, ihre soziale
Existenzgrundlage verlieren. Szabó beobachtet sachlich, zeigt
Ungeheuerliches in schlichten Alltagsvorgängen: Schüler, die die
Russisch-Lehrbücher verbrennen, die Auseinandersetzungen im
Lehrerzimmer der Schule über Lebensläufe, einen nächtlichen Überfall
auf Emma, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, die sich als
Aktfotomodelle anbieten. Böbe stürzt sich schließlich im Internat aus
dem Fenster, weil sie keinen Ausweg mehr sieht und Emma steht als
Zeitungsverkäuferin auf der Strasse.
Sowohl in VATER (1966), einem Höhepunkt in der Generationstrilogie
der 60er Jahre (zur Trilogie zählen ALTER DER TRÄUMEREIEN, 1964, und
LIEBESFILM; 1970), als auch in MEPHISTO (1981), dem ersten Film der
Trilogie der 80er Jahre, als auch in TAKING SIDES - DER FALL
FURTWÄNGLER (2001) ging Szabó einem Thema nach, das auch aus dem
thematischen Motiv „Individuum und Geschichte“ folgt: die Frage nach
den Grenzen individueller moralischer Autonomie unter den Bedingungen
des politischen Drucks und der Repression.
In VATER erzählte der Autorenfilmer eine generationstypische Story
aus dem Ungarn der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre. Jancsi, ein
Junge, dessen Vater im Krieg Arzt war, malt sich in einer Ära der
öffentlichen Glorifizierung und Mythenbildung um Widerstandskämpfer
aus, dass und wie sein Vater als Widerstandskämpfer von den
Pfeilkreuzlern verfolgt wurde, Verwundete rettete u.a. Er macht die
Erfahrung, dass er mit diesen Phantasien Macht über Mitschüler und
Erwachsene gewinnen kann und nutzt diese Macht aus. Erst allmählich
gewinnt er ein wahres Bild des Vaters. In einem großen Schlussbild
lässt Szabó den Jungen durch die Donau zum anderen Ufer schwimmen und
mit ihm schwimmen viele, viele Jugendliche. Ein Generationsbild auf die
Befreiung von falschen Vaterbildern, von der im sozialistischen Staat
der Personenkultära mythologisierten Instanz des Über-Vaters, der
seinerzeit letztlich Namen wie Stalin oder Rákosi trug.
In MEPHISTO entwirft Szabó das Psychogramm eines überragenden
Schauspielers, der aus Eitelkeit und Ehrgeiz in opportunistischer Weise
vom Provinztheater zum Staatstheater, vom talentierten Darsteller zum
mächtigen Intendanten aufsteigen kann, weil er einen Teufelspakt mit
dem faschistischen General und Ministerpräsidenten eingeht und seine
Kunst in den Dienst des autoritären Regimes stellt. Unter der Regie von
Szabó gelang es Klaus Maria Brandauer, dem Darsteller des Höfgen, die
Faszination dieser Schauspielerpersönlichkeit (die nach Klaus Mann dem
deutschen Schauspieler Gustaf Gründgens, 1899-1963, ähneln sollte) für
das Kinopublikum erlebbar zu machen. Mit dieser Darstellungsweise
vermeidet Szabó eine politisch vereinfachende moralische Verurteilung:
er führt einen großen Charakter und seine Katastrophe vor. Die
Katastrophe eines Charakters, der seine moralische Autonomie selbst
aufgibt und zum Verkörperer des Bösen wird, wie das der
Ministerpräsident über Höfgens Mephistorolle im Film sagt.
Die Grenzen der moralischen Autonomie des Künstlers untersucht
Szabó auch am Beispiel des genialen deutschen Dirigenten Wilhelm
Furtwängler (1886-1954). Die Nazis instrumentalisierten seine
Interpretationen „deutscher Titanenmusik“ von Wagner über Brahms und
Bruckner bis Beethoven für ihre Herrschaft. Szabó konzipiert mit TAKING
SIDES – DER FALL FURTWÄNGLER (2001) ein Kammerspiel in monumentaler
Berliner Architektur. Er konzentriert die Handlung auf die Verhöre
eines US-Major, eines Spezialisten für Versicherungsrecht. Die
Forderung seiner Vorgesetzten lautet: „Wir glauben, dass er sich dem
Teufel verkauft hat. Sie weisen nach, dass er schuldig ist.“
Die Schuldanklage des US-Major wird getragen von
Dokumentarfilmvorführungen, die immer wieder die Wochenschauaufnahmen
von Bergen toter Menschenleiber in einem KZ zeigen. Mit dieser
Begründung der durch nichts zu entkräftenden Verurteilung des
faschistischen Systems ist der Vorwurf an Furtwängler gerichtet, dass
er nicht 1933 emigrierte, dass er Hitler, Goebbels, Speer als Künstler
diente. Szabó versucht, Furtwänglers Argumente im Verhör zu sezieren.
Er vereinfacht die Konfrontationen, indem er den US-Major als amusisch,
als Intellektuellenhasser und Furtwängler als die hilflose,
ausschließlich auf die Verteidigung seines Grundsatzes von der Trennung
von Politik und Musik festgelegte Künstlerpersönlichkeit agieren lässt.
Furtwängler beruft sich auf sein Credo, durch Musik Freiheit, Humanität
und Gerechtigkeit bewahren zu wollen. Der US-Major setzt dagegen
Furtwänglers Antisemitismus, seine Feigheit in der Auseinandersetzung
mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Die moralische Autonomie
des Furtwängler lässt sich mit der ausschließlichen Berufung auf sein
Künstlertum unter den Bedingungen der Nazi-Herrschaft nicht aufrecht
erhalten – das ist Szabós Urteil, auch wenn die
Entnazifizierungskommission später kein Auftrittsverbot über den
Dirigenten Furtwängler verhängt hat – wie man am Schluss erfährt.
Zwischen Szabós Spielfilmen der sechziger und siebziger Jahre und
den ab 1980 in Gang gekommenen internationalen Koproduktionen bestehen
beträchtliche stilistische Unterschiede.
Der Autorenfilmer war anfangs der dokumentaren Methode, wie sie im
Béla-Balázs-Studio gepflegt wurde, verpflichtet. In einem seiner ersten
Kurzfilme TE/ DU (1961) hat er stilistisch seine Nähe zum französischen
cinema verité und zur Nouvelle Vague demonstriert. Er zeigt das
Schweben, die jugendliche Anmut einer Mädchenfrau, die durch Budapest
eilt. Dieser Kurzfilm weist in einzelnen Straßenszenen eine innere
Verwandtschaft mit Motiven aus Godards AUSSER ATEM(1959) auf. In das
ALTER DER TRÄUMEREIEN (1964) gibt Szabó Hinweise auf Truffaut. Die
Trilogie der sechziger Jahre weist eine fortschreitende Besinnung auf
eigene stilistische Lösungen auf. Dies trifft insbesondere auf VATER
(1966) zu. Ein Film, in dem Szabó die Phantasien des Jungen ironisch
mit Genreelementen des Abenteuerfilms und der Komödie unterläuft und
damit auch Abstand von der dokumentaren Methode gewinnt.
Mit FEUERWEHRGASSE 25 (1973), einer Erzählung über die Einwohner
eines Wohnhauses quer durch die Geschichte von Krieg, versteckten
desertierten Soldaten und deportierten Juden, vollzog Szabó unter
Einbeziehung einer raffinierten Farbdramaturgie den Sprung in
surrealistische Erzähltechniken.
Wie ein nicht mehr zu überschreitender Endpunkt dieser
stilistischen Entwicklung des Autorenfilmers mutet der Versuch im Genre
der Parabel in BUDAPESTER MÄRCHEN(1977) an.
In den europäischen Koproduktionen – beginnend mit MEPHISTO –
vollzog Szabó die Abkehr von der dokumentaren Methode der
Alltagsgeschichte und von Genrestilistiken, die für seine Position als
Autorenfilmer in Ungarn kennzeichnend waren. Er musste lernen, den
Übergang von der staatlich subventionierten sozialistischen
Filmpoduktion (und ihrer Nischen für Autorenfilmer) zu einer am
Weltmarkt orientierten kapitalistischen Filmwirtschaft zu bestehen. Die
Anpassung an internationale Standards konnte er bei Bewahrung seiner
künstlerischen Intentionen kreativ bewältigen.
Nun zählte die Erzählung großer dramatischer Charaktere, der
Konflikte, der Kollisionen und der das internationale Publikum
erschütternden Katastrophen ohne episierende und reflexive
Erzählweisen. Jetzt bedurfte es internationaler Stars und exzellenter
internationaler Schauspielerensembles. Die Bildsprache des Kameramannes
Lajos Koltai brachte monumentale Kinobilder von Gesichtern und
Architekturen, in denen er seine virtuose Licht- und Farbgestaltung
verfeinern konnte. Man konkurrierte mit den internationalen
Ausstattungsfilmstandards. Szabó wusste die Möglichkeiten von
Literatur, Theater, Oper im großformatigen Farbfilm genial zu steigern.
Seine Stilistik orientierte sich erfolgreich am internationalen
Massenpublikum, nicht mehr am nationalen ungarischen Publikum. Szabós
Aufstieg zum Spielfilmregisseur von europäischem Rang vollzog sich
endgültig mit den internationalen Koproduktionen, die massenwirksamere
stilistische Lösungen diktierten.
Die Geschichte des 20.Jahrhunderts hat gewaltige Verkehrungen von
Toleranz und Humanität in Mitteleuropa gezeigt. Es ist das Verdienst
des Filmemachers Szabó, solche Verwerfungen aus humanistischer Sicht
seziert zu haben. Er spricht von Lebenshilfe, die er mit seinen Filmen
dem Zuschauer vermitteln will. Dies gilt aber in einem besonderen
Sinne: er führte die Gefährdungen moralischer Autonomie, der nationalen
und sozialen Identität des Einzelnen in Alltagsgeschichten wie in
großen Inszenierungen der Historie vor ohne zu moralisieren, aber
immer, um zu erschüttern. Die Verantwortung des Humanisten István Szabó
ist ablesbar an seinen Antworten, die er auf die Frage nach den
Möglichkeiten und Grenzen moralischer Autonomie des Einzelnen unter den
Bedingungen von Herrschaft und Machtbefugnissen gegeben hat. Die
Trilogie der achtziger Jahre wurde in diesen Auseinandersetzungen sein
erster Höhepunkt im europäischen Kino.
(2) Macht und Herrschaft – das Theater des Herrschens und des Dienens
Szabó baut, wenn man von der zeitlichen Abfolge der Entstehung der
einzelnen Filme absieht – folgenden für die mitteleuropäische
Geschichte schicksalsschweren geschichtlichen Bogen:
- der innere Verfall der k.u.k. - Monarchie Österreichs, die ein
Vielvölkerstaat war, vor dem ersten Weltkrieg aus der Perspektive des
Offizierskorps der Armee (OBERST REDL, 1984) - insbesondere
1906,1910,1914;
- der Verlust der Ordnung und Werte in der deutschen Weimarer
Republik und der Ausweg, der Faschismus, aus der Perspektive eines
Wahrsagers, der in den bürgerlichen Salons und Milieus agiert
(HANUSSEN, 1990);
- der Sieg des Faschismus und die Indienstnahme der Kunst und von
Künstlern durch die Nazi-Herrschaft aus der Perspektive einer
Schauspieler-Karriere, die von den 20er Jahren bis zum Jahre 1938
geführt wird (MEPHISTO, 1981).
-
Szabó insistiert auf die Historie - er wählte
historisch-authentische Persönlichkeiten bzw. Bezüge, wie sie bereits
in der Literatur gefiltert wurden.
Bei Klaus Mann heißt das Motto des Romans, der Therese Giehse
gewidmet ist: „Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler,
keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen.“ Goethe,
„Wilhelm Meister“ [3]. Hatte Klaus Mann als authentische Persönlichkeit
den deutschen Schauspieler Gustaf Gründgens im Auge, so folgt Szabó dem
und versucht mit der Besetzung der Höfgen-Rolle durch Klaus Maria
Brandauer, die Faszination dieser genialen Schauspielerpersönlichkeit
zu rekonstruieren.
Die Nachbemerkung zum Roman lautet: „Alle Personen dieses Buches
stellen Typen dar, nicht Porträts.“ [4] Dem setzt Szabó bewusst die
Charakteranalyse, das Psychogramm entgegen.
OBERST REDL geht – nach Szabós Hinweis im Vorspann des Films -
zurück auf John Osbornes A PATRIOT FOR ME (1965), ein Stück, das 1965
in der britischen Homosexuellen-Debatte für Aufregung sorgte. Bei
HANUSSEN könnte man eventuell Motive aus Romanen von Lion Feuchtwanger
vermuten (z.B. BRÜDER LAUTENSACK, 1943).
Höfgen, Oberst Redl und Hanussen weisen als Charaktere eine
Besonderheit auf: sie sind theatral in einem besonderen Sinne. Alle
drei betreiben auf je besondere biographische Weise ein Rollenspiel in
den Hierarchien der Macht
- in MEPHISTO sind dies Höfgens Intendantenebene und der
Teufelspakt mit dem General und Ministerpräsidenten, in OBERST REDL ist
dies verbunden mit dem Hass des adligen Offizierskorps und mit der
intriganten kaiserlichen Hofebene um den Erzherzog, - in HANUSSEN ist das letztlich die Konfrontation mit der nach
der Macht strebenden Nazipartei. Szabó zeigt, dass jedem der drei die
moralische Autonomie – so sehr jeder von ihnen dies für seine
Handlungen in Anspruch nehmen will - gegenüber den Mächtigen verloren
geht und die moralische und existentielle Katastrophe des Einzelnen im
Finale mit dem Untergang einhergeht. Alle drei agieren – wenn auch
Hanussen ein Sonderfall ist – als Diener im Theater der Herrschenden.
In OBERST REDL sagt der Erzherzog zu Redl: „Sie wollen dienen.“ -
In der Exposition wird von Höfgen die Gefangenschaft in der sozialen Rolle des Schauspielers so benannt:
„Und mein Gesicht ist nicht mein Gesicht
Und mein Name ist nicht mein Name,
weil ich ein Schauspieler bin.
Juliette, weißt du, was das heißt - ein Schauspieler?
Ein Schauspieler - das ist eine Maske!“
Szabó hat deshalb in genialer Weise in MEPHISTO eine theatrale und
eine filmische Dramaturgie des Maskenspiels auf zwei Ebenen entwickelt.
Er nutzt die Schminkmaske des Mephisto in der in die Story integrierten
FAUST- Inszenierung für die Ausdeutung des sozialen Rollenspiels im
Teufelspakt mit der nazistischen Herrschaft (siehe weiter unten den
Abschnitt „Szabós Dramaturgie des Maskenspiels“).
Redls Theatralität ist gegeben durch die Figurationen, die
Rollenzuweisungen in einem Militärapparat. Er ist dem Kaiser als dem
Symbol der Einheit und der Ordnung der Vielvölker-Monarchie, der ihm
durch seine Sozialisation in der Militärschule zum Über-Vater geworden
ist, innerlich verpflichtet. Seine Hörigkeit gegenüber der autoritären
Herrschaft und sein militärisches Talent machen ihn zum begabten Diener
im Theater der Mächtigen, so dass er eine Karriere vom Hauptmann zum
Oberst und Chef des Armeegeheimdienstes machen kann. Diese seine
Identität als ergebener Offizier in kaiserlichen Diensten ist
Widersprüchen ausgesetzt, an denen sie schließlich zerbricht: - er ist im Vergleich zu den adligen Offizieren niederer
Herkunft, was ihm soziale Distanzen einbringt, die er durch besondere
Staatstreue und militärische Begabung als Offizier kontern will; - er verleugnet die jüdische Familienlinie der Mutter und meidet
den Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung, aber er sucht die
Freundschaft zu einem jüdischen Offizier, der aus einer ungarischen
Adelsfamilie stammt (Kúbiyni), und zu einem jüdischen Armeearzt
(Sonnenschein), d.h. für ihn gilt, dass die Standesfrage und damit der
Standesdünkel vor der Judenfrage Vorrang hat, was Ängste vor dem
Antisemitismus einschließt; - er hat als ranghoher kaiserlicher Offizier(er forciert dies mit
Pflichtbewusstsein) politisch den Interessen des Vielvölkerstaates zu
dienen, aber er ist Ruthene, Angehöriger einer im Vergleich zu den
Böhmen und den Ungarn politisch unbedeutenden ethnischen Minderheit in
Galizien;
- er ist als Chef des Armeegeheimdienstes beauftragt, das
Offizierskorps zu überwachen und soll schließlich für den Erzherzog
Hoch- und Landesverratsfälle aufspüren, um der Krise in der Armee
vorzubeugen, aber der Erzherzog verbietet es, in dieser Frage den Adel
zu kompromittieren, obwohl adlige Offiziere – so von Redl nachgewiesen
- Hochverrat begangen haben; der Kronprinz fordert ihn auf, einen
„Doppelgänger“ zur Biografie Redls als Präzedenzfall zu nehmen - also
einen letztlich für den Adel im Offizierskorps ungefährlichen Fall zu
inszenieren;
- er hat den Kaiser Franz Joseph als Vaterfigur verinnerlicht und
erkennt zu spät, dass vom Kronprinzen Erzherzog Franz
Ferdinand(1863-1914), dem Vertreter der „Kriegspartei“ am Hofe, die
politische Linie des Kaisers unterlaufen wird und er – Redl - geopfert
werden soll; - er ist verheiratet und er wird der Homosexualität von adligen
Offizieren und dem Kronprinzen verdächtigt und ihm wird schließlich mit
einem homosexuellen Agenten, dem er militärische Geheimnisse im Zorn
preisgibt, eine Falle gebaut. Oberst Redl selbst ist damit die Lösung
für die „Kriegspartei“ des Kronprinzen. Er wird in der Hofintrige dazu
verurteilt, sich selbst zu erschießen. Oberst Redls Tragik besteht
darin, dass er als treuer Offizier des Systems den
Herrschaftsinteressen des Kronprinzen zum Opfer fällt – also seine
moralische Autonomie als Offizier endgültig verliert in intriganten
Herrschaftsverhältnissen. Szabó dramatisiert die Katastrophe seines
Helden, indem er den Identitätsverlust in das Zentrum der
Charakteranalyse im Finale rückt.
HANUSSEN gewinnt die Aura des Hellsehers und seine Theatralität
kann auf einem Spiel mit Ängsten der Massen in einer unsicheren Zeit
aufbauen. Er wird zu einem Agenten charismatischer Erwartungen, die
schließlich von den Nazis politisch instrumentalisiert werden. Er ist
magischer Herrscher bei seinen Bühnenauftritten, der die hypnotisierten
Menschen seinen Zielen unterwerfen kann. Von Hanussen geht eine
irrationale Macht über Menschen in seinen performances aus, die bis zu
dem Punkt eskaliert, da seine gefährliche Vorhersage des
Reichstagsbrandes für die Nazis Anlass ist, ihn zu ermorden. Seine
Prophetie entwickelt sich im Spannungsfeld politischer
Interessengruppen in der Endzeit der Weimarer Republik, die von der
faschistischen Machtübernahme bedroht ist. Szabó führt m. E. vor, wie
eine durch Prophetie irrational begründete Machtposition einer
theatralen Persönlichkeit in der Öffentlichkeit einer Demokratie, die
sich in der Krise befindet, in dem Moment zu Bruch geht, da reale
politische Herrschaftsinteressen durch Hanussen in Gefahr geraten. In
HANUSSEN geht Szabó über die in den anderen Filmen der Trilogie
verfolgte Frage nach dem Identitätsverlust, nach den Verkehrungen der
moralischen Autonomie in Machtpositionen einer monarchistischen
Offiziershierarchie bzw. des Künstlers in der faschistischen Diktatur
hinaus. Szabó erzählt nun vom irrationalen und magischen Propheten und
der ihm möglichen Machtposition in der öffentlichen Meinungsbildung
einer in der Krise befindlichen Demokratie. Eine vage und gefährliche
Machtposition, die von denen, die die diktatorische Herrschaft mit
allen Mitteln erreichen wollen, einerseits benutzt und andererseits
zerstört wird.
Damit wird das Thema der Trilogie, die Relativität der
Machtpositionen in diktatorischen Herrschaftsstrukturen, erworben im
Zuge von theatralen Karrieren, und die damit einhergehenden Verluste an
Identität und an moralischer Autonomie, nun ausdifferenziert im
Hinblick auf Krisensituationen der Demokratie.
(3) Welche Psychogramme entwirft Sazbó? Welche dramaturgische Sicht wird erkennbar?
Einige Feststellungen
(1) Eine Lesart der Trilogie wäre die, dass alle drei Männer
gezeichnet sind von der Tragik des talentierten Emporkömmlings in
Staatssystemen, die sich in der Krise befinden (OBERST REDL, HANUSSEN)
oder die sich der Emporkömmlinge beim Ausbau ihrer Herrschaft bedienen
(MEPHISTO). Die Hybris der talentierten Persönlichkeit gewinnt eine
selbstzerstörerische Dimension. Sie ist Agens und Indikator nationaler
Katastrophen. Die Faszination der Machtposition hat ihre Kehrseite in
der Unfähigkeit zu demokratischem Handeln.
(2) Alle drei Persönlichkeiten bewegen sich in einem Herr – Diener
– Rollenspiel unterschiedlicher Prägung (Mephisto/Ministerpräsident;
Oberst Redl/ Kronprinz; Hanussen/ die Nazis, die ihn schließlich
ermorden). In diesem Rollenspiel scheitern sie tragisch.
Es überlagern sich mehrere Ebenen, die das gewählte stoffliche Feld von Individuum und Geschichte disponieren:
(1) die Selbstüberschätzung und Hybris von talentierten
Persönlichkeiten, einen zerstörenden (und zerstörten) Staat und dessen
Herrscher stützen zu wollen. Die Selbstüberschätzung endet tragisch: - Redl scheitert mit seiner niederen Herkunft am adligen
Selbstverständnis der Herrschaft, am österreichischen Thronfolger. Er
wird zur Figur des vom Thronfolger gesuchten Skandals, mit dem die
Moral des Offizierskorps gestärkt werden soll. Oberst Redl endet in
einer Intrige. In der Redl - Story wird das Schillernde des Charakters,
die Verkehrungen seiner Rolle in den Herrschaftsmechanismen durch die
Schlusspointe der Intrigenstory „gebremst“. Sie bekommt nicht die
menschlich-tragische und philosophisch-historische Dimension wie in den
anderen beiden Filmen der Trilogie. Es bleibt bei einem
Bahnsteigkantenunfall bei Ausfahrt des Zuges der Historie in den Ersten
Weltkrieg. - Hanussen spricht die Ängste der bewegten Zeit aus, erkennt,
dass Hitler als Retterfigur angenommen wird und er wird von den Nazis
umgebracht. Er erscheint als eine schillernde Seite des Hitler-Mythos
und ist zugleich der Faszination der historischen Ereignisse verfallen.
Hanussen ist Warner und zugleich Wegbereiter des Unheils - er scheitert
in dieser Doppelrolle am geschichtlichen Gang der Ereignisse (z.B.: im
Film die Posenfotos bei der Henny Stahl, die Fackel-Episode, mit der
der Reichstagsbrand vorausgesagt wird).
- In der Verfilmung des Romans von Klaus Mann MEPHISTO verkehrt
sich faustisches Streben um in die Ausschließlichkeit der „Kraft des
Bösen“. Höfgen, der hochtalentierte Schauspieler, wird zu einer Kraft,
die nur das Böse schafft, weil er sich an die diktatorische Herrschaft
opportunistisch anpasst. Macht und Geist gehen ein Bündnis ein, das
aufbaut auf der Unterwerfung des Künstlers, des Intellektuellen unter
eine Staatsmacht, die die institutionelle Macht des Bösen ist.
Die Filmtrilogie erzählt drei Geschichten von talentierten
Emporkömmlingen, die Machtpositionen erlangen, aber
Herrschaftsinteressen erliegen.
Zum dramaturgischen Aufbau der Trilogie
Feststellungen zum Aufbau der Handlung
Szabó folgt in der Trilogie konsequent der aristotelischen
Dramaturgie, d.h. er setzt auf den tragischen Charakter, der in einer
Vielzahl von Kollisionen mit anderen Figuren und über verschiedene
Peripetien (Wendepunkte der Handlung) in einer Handlungsstruktur
aufgebaut, die von der Exposition zu Kulminationen bis zur Katastrophe
des Helden, die eine Katharsis beim Zuschauer auslösen soll, geführt
wird. Szabós Dramaturgie zielt, realisiert durch eine beeindruckende
filmische Erzählweise, auf ein dramatisches Handeln, das „schlechthin
auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften und Charakteren“ beruht
„und (das) führt daher zu Aktionen und Reaktionen, die nun ihrerseits
wieder eine Schlichtung des Kampfes und Zwiespalts notwendig machen.
Was wir deshalb vor uns sehen, sind die zu lebendigen Charakteren und
konfliktreichen Situationen individualisierten Zwecke...“[ 5]
Als Beispiele aristotelischer Dramaturgie sollen im Folgenden die drei Finaleszenen diskutiert werden.
Das Finale des MEPHISTO (ca.128’- 137’/Dauer: 9’)
Höfgen ist endgültig eine Marionette des Ministerpräsidenten geworden.
Der Opportunist Höfgen ist der endgültige Verlierer des
Teufelspaktes. Auf der prunkvollen Geburtstagsfeier des
Ministerpräsidenten im Theater hält Höfgens seine Rede auf den „Mäzen“.
Schnitt: der Ministerpräsident und seine Crew begeben sich mit Höfgen
ins Olympiastadion. Dieses Stadion sei nun geeignet für ein
Massenspektakel, für ein totales Theater, in dem der Schauspieler
Höfgen seine Macht der Suggestion, der Verführung im Dienste der
Herrschenden entfalten soll. Szabó zeigt, wie der vom Scheinwerferlicht
in der Mitte des Stadions angestrahlte Höfgen nun mit Angst verzerrtem
Gesicht hin und her jagt. Es mutet an wie eine vergebliche
Entschuldigung für seinen Opportunismus, wenn er stammelt: „Ich bin ja
nur ein Schauspieler“, ehe sein Gesicht in einer letzten Folge
statischer Großaufnahmen grellweiß erstarrt.
OBERST REDL (Finale: ca.120’ – 138’/ Epilog: 138’ - 140’/ )
Nach der Verhaftung Oberst Redls wegen Landes- und Hochverrats – er
ist zum Bauernopfer des Thronfolgers in den Bestrebungen um einen
„Fall“ geworden, mit dem der Krise im Offizierskorps entgegen gewirkt
werden soll – suchen ihn sein Freund Kubiyni, seine Geliebte, seine
Frau auf, um ihn zu einem Schuldgeständnis zu bewegen. Der Thronfolger
und Erzherzog berät mit Offizieren, wie im vorliegenden Falle, dem eine
Intrige der „Kriegspartei“ am Hofe zu Grunde lag, vorzugehen sei. Er
nimmt von einem Prozess Abstand und fordert den Selbstmord des
Angeklagten. Die Waffe solle Oberst Kúbiyni, der beste Freund des
Angeklagten, überbringen.
Als Schlussbilder zeigt Szabó den im Hotelzimmer hin und her
rasenden Oberst Redl mit Angst verzerrtem Gesicht, der sich schließlich
erschießt. Es folgt ein Epilog: die Szene der Versteigerung des
Nachlasses; Dokumentarfilmaufnahmen vom Attentat auf den Thronfolger in
Sarajewo und von Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg.
HANUSSEN (Finale mit Epilog: ca. 102’- 108’/ 6’)
Hanussen und seine Assistentin werden von einem SS-Trupp abgeholt
(nachdem der Propagandachef der Nazis den Vertrieb der Zeitungen
stoppen lässt, in denen die Prophezeiung Hanussens, dass der Reichstag
in Kürze in Flammen stehen wird, verbreitet wird) und in ein Waldstück
gefahren. Ein Nazi, der einst als Provokateur in einer Bühnenschau
Hanussens auftrat und von ihm hypnotisiert wurde, fordert ihn auf, auf
einen Baum zu klettern und wie ein Hahn zu krähen (als Sinnbild seiner
politischen Prophetien und als Demütigung). In den letzten Minuten
seines Lebens betet Hanussen das lutherische Gebet „Vater unser“ und
bleibt moralisch standhaft. Erst nachdem auf ihn geschossen wird, kräht
er noch einmal wie ein Hahn und schleudert dem Nazi entgegen: „Ihr
werdet untergehen!“. Danach wird er exekutiert. Im Sterben fragt er:
„Warum?“
Es folgen Dokumentaraufnahmen vom Reichstagsbrand.
Die drei Finaliszenen folgen in klassischer Weise dem
aristotelischen Prinzip der Katastrophe, wobei in der Montage von
OBERST REDL und HANUSSEN die je individuelle Katastrophe verbunden wird
mit nationalgeschichtlichen Katastrophen (Dokumentaraufnahmen vom
Ausbruch des 1. Weltkrieges; Dokumentarfilmaufnahmen vom durch Hanussen
prophezeiten Reichstagsbrand).
Die drei Finaleszenen sollen aus der Sicht folgender Fragen miteinander verglichen werden:
(1) Wie löst Szabó die Frage nach dem Verhältnis von moralischer Autonomie und politischem Druck in den Finaleszenen?
(2) Gehen der jeweiligen Katastrophe große Kollisions-Szenen voran, die Peripetien (Wendungen) im Handlungsverlaufs markieren?
Zu 1)
Höfgen und des Oberst Redl erkennen im Finale, dass sie ihre
moralische Autonomie in ihrer Machtposition verloren haben und dass sie
dem politischen Druck bzw. der Repression des Herrschaftssystems, mit
dem sie verbunden sind, hilflos ausgeliefert sind. Von beiden
unterscheidet sich Hanussen insofern als er nicht in einer Hierarchie
eine Machtposition erworben hat sondern durch seine politische
Prophetie in der öffentlichen Meinungsbildung einer in der Krise
befindlichen Demokratie. Die Exekution durch die Nazis im Finale legt
eine zweifache Tragik frei: a) obwohl er die Machtübernahme durch Adolf
Hitler prophezeit hat – also den Nazis nützlich war -, bringen diese
ihn um und b) bis in den Tod bewahrt er seine moralische Autonomie,
prophezeit den Nazis ihren Untergang, aber er hat nichts getan, um
deren Diktatur zu verhindern. Die Wahrheit, auf die sich diese
moralische Autonomie fatalistisch beruft, wird von dem verhängnisvollen
Irrtum getragen, die Demokratie nicht verteidigen zu müssen gegen die
Diktatur.
Zu 2)
In allen drei Filmen der Trilogie gehen große Kollisions-Szenen den Finali voran, die Peripetien markieren.
In MEPHISTO ist es der Zusammenstoß mit dem Ministerpräsidenten,
bei dem er für den verhafteten kommunistischen Kollegen Otto Ullrich
Fürsprache einlegen will. Er wird hinausgeworfen und ordnet sich
endgültig auf der Pressekonferenz zu seiner HAMLET – Inszenierung der
Nazi-Diktatur unter, was aus seinem Text ersichtlich wird: „Hamlet ist
also auch eine Gefahr des deutschen Menschen. Wir haben ihn alle in
uns, und wir müssen ihn überwinden. Denn die Stunde verlangt von uns
Aktionen, nicht nur Gedanken und die zersetzende Reflexion. Eine
Vorsehung, die uns den Führer geschickt hat, verpflichtet uns zur Tat
im Interesse der nationalen Gemeinschaft, von der Hamlet, dieser
typische Intellektuelle, sich grüblerisch absondert und entfernt.“ [6]
In OBERST REDL ist dies die Vorladung beim Thronfolger. Redl muss
erkennen, dass der Thronfolger im Gegensatz zum Kaiser in einem Krieg
den Ausweg aus der Krise der Monarchie sieht. Außerdem lehnt der
Thronfolger es ab, Hochverratsprozesse gegen Adlige zu führen. Redl
erkennt, dass er in seiner Machtposition gescheitert ist. Er verliert
seine Identität als Offizier der Monarchie endgültig als man ihm einen
homosexuellen Agenten zuspielt, der ihn zum Hochverrat bewegen soll.
In HANUSSEN ist dies die Erkenntnis, dass Hitler – vermittelt durch
die Fotografin Henny Stahl – die theatralen Posen des Hellsehers
nachahmt. Im Gespräch mit Dr. Bettelheim, dem Freund und Juden, wird er
gewarnt: „Wenn Du nicht mehr sagst, was die hören wollen, werden sie
Dich umbringen. Du darfst Dich nicht verkaufen.“ Es setzt eine Kampagne
der Nazis gegen Hanussen ein. Hanussen demonstriert in einem
öffentlichen Bühnenauftritt, wie durch Willensübertragung es möglich
wird, dass eine unscheinbare junge Frau unter Hypnose mit einer Fackel
einen Brand legt. Er prophezeit nach dem Besuch einer Naziversammlung,
dass der Reichstag brennen wird. Damit gerät er in das Interessenfeld
der Nazis, denen eine solche Prophezeiung – aufgrund ihrer Planungen –
nicht genehm ist.
Feststellungen zu den Zentralfiguren der Trilogie
(1) Redl ist sich seiner sozialen Herkunft und damit seiner
sozialen Distanz im Offizierskorps bewusst. Deshalb bezeichnet er sich
mit „unaufrichtig“. Daraus resultiert ein besonders ausgeprägter Hang
zum Dienen, zur Diensterfüllung, zur Identifikation mit der k.u.k.
Monarchie des Kaisers.
So gesehen ist er der Gegenentwurf zum Schauspieler Höfgen, der auf
sein Talent setzt und ständig die Rollen wechselt. Beide entwickeln
aber beträchtliche Energien, um Karriere zu machen.
(2) Während in MEPHISTO die Zentralfigur auf der männlichen Seite
mit den Figuren des Miklas und des Ulrich zwischen zwei gegensätzliche
Charaktere gruppiert wird, was vor allem die Konfliktebenen und die
Kollisionen in der Handlung vorantreibt, wird Redl durchgängig zu der
Figur des ungarischen Adligen Kúbiyni von der Kindheit bis zum Tod in
Beziehung gesetzt.
Diese Feindfreundschaft wird getragen von dem sozialen Gegensatz
beider: der ruthenische Bauernsohn, dessen Mutter jüdischer Herkunft
gewesen sein soll, dem „schlauen Bauernsohn“ in der k.u.k. - Armee und
dem Spross einer einflussreichen ungarischen Adelsfamilie mit
aristokratischen Lebensformen. Wider Willen müssen beide innerhalb der
Machthierarchie gegeneinander schließlich handeln.
Beide unterscheiden sich auch in ihren sexuellen Neigungen: Redls
letztlich verbotenes Verhältnis mit Kúbiynis Schwester und sein - in
der Krise - getaner Schritt auf einen Homosexuellen zu, steht im
Kontrast zu dem Ehrenkodex des Grafen Kúbiynis.
(3) In MEPHISTO ist die Höfgen herausfordernde Figur die des
Generals/Ministerpräsidenten, dem er sich schließlich unterwirft. In
OBERST REDL ist es einerseits der ihn fördernde Vorgesetzte(Blech), der
ihm die Karriere ermöglicht und schließlich und vor allem der
Thronfolger Franz Ferdinand (Müller-Stahl). Der Thronfolger ist frei
von mythischer Faszinationsbereitschaft (im Unterschied zum
faschistischen General, der fasziniert sagt zur Mephisto-Maske: „die
Maske ist das heilige Böse“) und von Sympathien gegenüber einem
Bauernsohn(wie der joviale Förderer). Er ist der intrigante
selbstbewusste und autoritäre Herrscher, der Redl zur Schachfigur in
seinem Spiel macht. Zwischen dem Thronfolger und Redl ist der Abgrund,
der sie trennt, der Irrtum Redls, dass das System den wahren Soldaten
erkennt - worauf sein Förderer einst setzte. Die Herrschaft bedient
sich ihrer Diener und verhandelt taktische Varianten.
(4) Redl ist geprägt von einem genauen Kalkulieren der Umstände und
seiner Anpassung, solange er sich motivieren kann (er verleugnet seine
Herkunft und erfindet die Geschichte von verarmten ungarischen Adligen
in der Kindheit; er schickt seine simple Schwester, die bei ihm
vorspricht in Galizien, weg; er ist bereit, Kameraden zu bespitzeln; er
zwingt den oppositionellen Schorm, das Offizierskorps zu verlassen; er
baut mit intensiven Anstrengungen den Kundschafterdienst auf; er
heiratet eine ungeliebte Frau der Konvention halber).
Andererseits - so in der Motivationskrise - folgt er irrationalen
Entscheidungen (der Verrat militärischer Geheimnisse an den
Homosexuellen, weil er einen Krieg verhindern will). Ist Redl ein
„außengeleiteter Mensch“, der in dem Moment, da sein anerzogenes
Wertesystem brüchig wird, zerbricht?
Höfgen ist auch „außengeleitet“, aber dies ist bedingt durch seine
Fähigkeit, ständig neue Rollen anzunehmen und diese zu spielen - im
Schauspiel und im Leben. Der Wandel vom Zeichen der Mepisto - Maske zu
den Masken, die ihn umgeben, ist zugleich die Bezeichnung eines
Konfliktes, der mit der Unterordnung unter die Herrschaft verschwindet.
Redl ist „fremdgeleitet“ sofern er Normen und Überzeugungen
verinnerlicht hat, die vom System ihm vorgegeben wurden.
(5) Höfgen ist von vielen Frauen umgeben (Juliette, Dora Martin,
Barbara Bruckner, von Niebuhr, die Bildhauerin Leni) und diese
Beziehungen unterstreichen die Extreme seines Charakters. Redl wird
durchgängig in der tabuisierten Beziehung zu der Katelin Kúbiyni, einer
verheirateten Adligen, gezeigt, für die er Erinnerungen an eine
Stallknecht-Verfallenheit (ein Motiv aus A. Strindbergs FRÄULEIN JULIE)
und doch mehr ist. Seine Ehefrau bleibt eine blasse Nebenfigur.
Dramatische Zuspitzungen und Kollisionen werden nicht über die
Frauenbeziehungen sondern über Beziehungen zu Männern erzählt: Kúbiyni
und später der junge Homosexuelle.
(6) OBERST REDL ist ein Militärfilm. Entweder man wählt eine
durchgängige Aktionsdramaturgie und dies vermeidet Szabó oder es
dominieren Gespräche, Ansprachen, Diskussionen. D.h. die
Figurenbeziehungen, das Interieur, die Schauplätze wechseln zwischen
Großaufnahmen der Gesichter und den Panoramabildern der Bälle, der
Manöver, der Säle; statische Arrangement sind notwendig, weil
Ansprachen, Reden gehalten werden müssen. Wir entdecken, dass die
Dramaturgie weniger Peripetien und dramatische Zuspitzungen in OBERST
REDL aufweist als in MEPHISTO. OBERST REDL weist eine ruhigere
Handlungsführung auf. Dem geht einher eine Zurückhaltung bei den
Figurenkollisionen, die die Charaktere profilieren könnten. Diese
Tendenz wird in HANUSSEN, der vor allem in den ersten sechzig Minuten
breit erzählt wird (Verwundung, Lazarett-Szenen, erste Auftritte in der
böhmischen Provinz; die Kollision mit dem Staatsanwalt in Karlsbad
schließt diese Stufe der Handlung ab), fortgesetzt. Erst mit dem
Auftritt der Nazis in Berlin entwickeln sich Handlung und Charakter
verstärkt in Kollisionen. Die Analyse der Kollisionen – siehe weiter
unten – gestattet Aussagen über Handlung und Charakter.
MEPHISTO:
Szabós Dramaturgie des Maskenspiels
Ende der siebziger Jahre wurde eine dramatische Bearbeitung des
Romans von Klaus Mann durch das Théatre du Soleil (Paris) unter der
Leitung von Ariane Mnouchkine aufgeführt, die vor allem die
alternativen Entwicklungen von Künstlern vor und nach 1933 in den
Mittelpunkt rückte. In dieser Inszenierung wurde deshalb der Gegensatz
zwischen dem Opportunisten Höfgen und dem Kommunisten Otto Ulrichs
bestimmend für die Grundlinien der Handlung. In dem Spielfilm von Szabó
liegt das dramatische Zentrum in der psychischen Konstellation des
bedenkenlos nach Erfolg strebenden hoch talentierten Schauspielers, der
deshalb sich für die Faschisten als nützlich erweist. Szabó entschied
sich dafür, die Beziehungen zwischen Höfgen, dem Schauspieler, und dem
Ministerpräsidenten und General, der den Machtapparat des Faschismus
verkörpert, zu rücken.
Szabós MEPHISTO (1981) thematisiert das Theater in Episoden und
Sequenzen. Es geht um den Werdegang eines Schauspielers und folglich
sind Probeszenen und Bühnenauftritte unentbehrlich. Zum anderen bindet
Szabó in seine filmische Erzählweise theatrale Elemente wie die Maske
ein.
Szabó verwendet nicht nur Schminkmasken und monochromatische
Gesichtsverfremdungen als visuelle Zeichen theatraler Verfremdung. Er
zielt im weiteren so auf ein Psychogramm, das die Verwandlungsfähigkeit
des Opportunisten, seinen theatralen Schein und damit den Verlust an
ICH-Stärke betont.
Dieser Spielfilm nutzt eine außerordentliche Spannweite dessen, was
Theater ist und sein kann. Die Wiener Operette wird eingangs mit Karl
Millöckers MADAME DUBARRY zitiert. Probenarbeiten an einem Can-Can der
Pariser Operette werden benutzt, um die selbstvergessene Ekstase des
Schauspielers Höfgen, den Rausch des Talentes als Eigenschaften eines
Charakters bezeichnen zu können. Weiterhin werden gezeigt Proben an
einer Szene aus Brechts BROTLADEN und vor allem die
Mephisto-Darstellungen Höfgens bei FAUST-Proben im Staatstheater.
Außerdem entdeckt man in diesem Film Agit.-Prop.-Szenen,
Kabarettauftritte, einzelne Bühnenfiguren von Höfgen und auch
Darstellungsweisen des bayrischen Volkstheaters.
Zu Beginn des Films schaut von der Leinwand auf den Kinozuschauer
herab ein Kameraobjektiv und darüber wird das schriftsprachliche Insert
lesbar „objektiv“.
Zu Beginn des Films MEPHISTO ist der Zuschauer im Visier der
Kamera. Und – im weiteren Sinne – im Visier des Regisseurs. Es kann
auch als ein Hinweis gedeutet werden auf das Verhältnis des Zuschauers
zur Zentralfigur des Films, die bekanntlich Züge Gustaf Gründgens,
eines bekannten Schauspielers im Dritten Reich, trägt. Für den
Zuschauer sollte die Suggestion erlebbar werden, die Faszinationskraft,
die von Gründgens ausging und die das Publikum bannte. Das Kinopublikum
soll diese Faszinationskraft erleben und – davor zurückschaudern. Dem
dient das Finale, das die Hilflosigkeit Höfgens im Stadion, im Totalen
Theater des Ministerpräsidenten groß ausstellt.
Szabó macht also in den Eingangssequenzen seine Haltung zum
Publikum deutlich. Es geht um ein objektives Psychogramm Höfgens. Bei
der Höfgen-Darstellung ging es nicht um eine Untertanensatire, wie sie
für Wolfgang Staudtes Verfilmung des Romans DER UNTERTAN von Heinrich
Mann (DEFA, 1951) bestimmend war. Nicht eine ständige Verneinung der
Figur durch den Zuschauer, sondern eine Gefangennahme durch das
schillernde Spiel einer Charaktermaske, die ständig soziale und
Bühnenrollen annimmt und wechselt, bestimmte die Wirkungsstrategie.
Seinen Rollenwechsel belegen die Entwicklung vom
proletarisch-revolutionären Theater zum Totalen Theater der Nazis, der
Übergang von der liberal-bürgerlichen und humanistischen Familie der
Bruckners zur spießig-gefährlichen teutschen Häuslichkeit in der
Familie des Ministerpräsidenten. Szabó forderte von Klaus Maria
Brandauer keinen satirischen Darstellungsstil. Er entwickelte
satirische Wertungen nicht nur vom Schauspieler her sondern mitunter
von der Komposition einzelner Vorgänge. Er zeigt vor allem die Extreme
des Schauspielers. So folgt beispielsweise auf die Szene, in der er
Barbara Bruckner einen Heiratsantrag macht, eine Episode mit der
Geliebten Juliette, in der er am Schluss völlig unmotiviert mit einem
Revolver auf die Geliebte zielt. Dieser Vorgang erhält durch die
vorangegangene Szene einen Gestus, der nicht schlechthin Aggressivität
bezeichnet, sondern sichtbar werden durch beide Szenen extreme
Verhaltensweisen von Höfgen, ein Gespaltensein in Maske und
Kläglichkeit. Deshalb ist auch Höfgens bedenkenlose Angst, wenn er an
der Tafel bei Bruckners sich an Fischgräten verschluckt und
selbstvergessen hässlich und kläglich die Familienzeremonie
unterbricht, im Zusammenhang mit der folgenden Episode zu
interpretieren. Er erzählt seiner Frau Barbara Kindheitserlebnisse und
offenbart, dass er sich oftmals geschämt habe. Szabó verweist auf zwei
Seiten einer übersteigerten Ich-Bezogenheit, die Bedenkenlosigkeit und
Kläglichkeit eines Charakters vereint.
Die maßlose Eitelkeit des Schauspielers Höfgen macht ihn blind für
die politische Demagogie der Nazis. Künstlerisches Komödiantentum, wie
es Höfgen hochtalentiert verkörpert, erweist sich als willfährig für
das politische Komödiantentum der Faschisten. Die Dialektik zwischen
dem theatralen Spiel des Schauspielers Höfgen auf der Bühne und im
Leben und der Theatralität des Faschismus stellt Szabó in den
Mittelpunkt seiner Verfilmung des Romans von Klaus Mann, wobei die
Theatralität des Faschismus in der Architektur, in den Aufmärschen und
Festen ihr besondere Ausprägung erfährt.
Szabó nutzt für seine filmische Erzählweise Gesichtsmasken – ob als
Schminkmasken oder als monochromatisch verfremdete „Masken“-Gesichter
–, die als visuelle Zeichen mit einer oszillierenden Semantik zwischen
den Episoden wirken.
Erstens: Als visuelles Zeichen erscheint die Mephisto –
Schminkmaske zuerst in einer Szene aus FAUST I, 1, die im harten
Bild-Ton-Schnitt auf eine Szene folgt, in der der nazistische
Schauspieler Miklós (György Cserhalmi) mit der in Marschformation
angetretenen SA-Jugend faschistische Parolen einübt. Die Szene endet
mit dem Text: „Einigkeit und Stärke!“ und dem Ruf des Miklós „Wir
folgen dem Führer!“ Darauf folgt dann im Schnitt die
Mephisto-Schminkmaske und auf der Textebene: „Blut ist ein ganz
besonderer Saft…“ Und später seitens Faust: „Lasst uns in den Tiefen
der Sinnlichkeit glühend heiße Leidenschaften stehlen.“ Das
ikonographische Motiv der Mephisto-Maske und die Textebenen wirken
durch den Bild-Ton-Schnitt auf die Interpretation der vorangegangenen
Szene. Das heißt: die übernommene Faustszene und das visuelle Zeichen
der Maske des Verführers Mephisto wirken thematisch oszillierend, weil
sie eine über die dargestellten Szenen hinausgehende Sinngebung
innerhalb der Handlung vermitteln.
Wenn Höfgen nach dem erfolgreichen Bühnenauftritt durch die
Kulissen abgeht, schreitet er durch ein brandrot eingefärbtes Licht,
das wiederum als visuelles Zeichen Bedeutungen produziert und das wie
ein Schlusspunkt zu den faschistischen Parolen eingangs aufscheint. Und
die Losung „Einigkeit und Stärke“ wird dialektisch gewendet in dem
anschließenden Garderobengespräch zwischen Dora Martin und Höfgen. Sie
teilt ihm mit, dass sie in die Emigration gehen wird. Er will im
nazistischen Deutschland bleiben.
Zweitens: Nach der Machtergreifung der Faschisten 1933 gelingt es
Höfgen, durch die Vermittlung einer einst von ihm abgetanen
Schauspielerin (Lotte Lilienthal, die „blöde Kuh aus Jena“), die mit
dem Ministerpräsidenten verheiratet ist, wiederum den Mephisto zu
spielen. Im Teufelspakt zwischen dem Ministerpräsidenten und dem
Schauspieler gewinnt das ikonographische Motiv der Mephisto-Maske einen
besonderen dramaturgischen Stellenwert. Die Mephisto-Maske wird in der
weiteren Handlung durch eine mittels kinematografischer Monochromatie
gewonnene Verfremdung des Gesichts des Ministerpräsidenten (das dadurch
zur statuarischen Maske wird) ergänzt. Beide Masken – die theatrale
Schminkmaske und die kinematografische monochromatische Gesichtsmaske –
signalisieren ein Spiel der Masken und der Maskierungen im
faschistischen Herrschaftssystem, in dem der Opportunist Höfgen
bereitwillig seine Rolle übernimmt.
Wir entdecken die Exposition des Teufelpaktes, den der Schauspieler
Höfgen mit der „Maske des Bösen“, mit dem Ministerpräsidenten, eingehen
wird, bereits in der „Scholarenszene“ entwickelt. Diese wurde
unmittelbar vor dem zweiten Auftritt der Mephisto-Maske in die Handlung
als eine Probenszene montiert. Miklós und Höfgen treten sich in dieser
Szene ohne Kostümierung gegenüber. Der Kontrast zwischen dem Bild, das
beide Kontrahenten bieten, und dem in gehobener Bühnensprache
vorgetragenen Dialog wird von Szabó in der Inszenierung genutzt, um
eine thematische Vielschichtigkeit im Probenspiel freizulegen. Denn
drei Ebenen gehen in diese Probenszene ein:
(1) Miklós und Höfgen sind zwei Schauspieler, die sich als
Berufskollegen bekämpft haben und bekämpfen (immerhin hat Höfgen
veranlasst, dass seinerzeit Miklós am Hamburger Künstlertheater
entlassen wurde);
(2) der Scholare meint, Faust zu sprechen und erhält aber Rat von Mephisto, unterliegt also einer Täuschung;
(3) die sich wechselseitig interpretierende Spannung zwischen
theatralem Spiel und fotografischer Realität in der Probenszene enthält
Verweise auf die Weiterführung der Figuren in der Handlung. Der
verzückte Scholare – das ist Miklós auch im realen Leben. Er wird in
der weiteren Zuspitzung der Handlung nicht nur durch einen Fußtritt
Mephistos auf den Boden der Tatsachen zurück geholt werden – was in der
Scholarenszene noch Spiel ist, sondern er wird jäh politisch
ernüchtern. Er wird erschossen werden, weil Höfgen ihn beim
Ministerpräsidenten denunzieren konnte. Aber Höfgen, der in der
Scholarenszene den vor List und Vergnügen aufspielenden Mephisto
vorführt, wird im Verlauf der Handlung selbst zum Scholaren (des
Ministerpräsidenten) werden.
Dass diese Probenszene sowohl für die Höfgen- als auch für die
Miklós-Linie in der weiteren Handlung von grundsätzlicher Bedeutung
ist, wird auch dran sichtbar, dass später in der Handlung nochmals die
Beziehungen beider über das ikonografische Motiv der Mephisto-Maske
bezeichnet werden. Wenn Höfgen Miklós beim Ministerpräsidenten
denunziert hat und sich außerdem für ihn der Weg zum Intendanten
eröffnet, wird er in seiner Garderobe von dem Schauspieler Joachim
gefragt, ob denn der Tod von Miklós tatsächlich nur einem bedauerlichen
Verkehrsunfall zuzuschreiben sei. In dieser Szene trägt Höfgen seine
Mephisto-Schminkmaske. Er wird gezeigt als einer, der sich unter der
Maske verbirgt.
Bezeichnenderweise wird aber die Szene zwischen Miklós und Höfgen,
in der Miklós ihn um seine Unterschrift für ein Protestschreiben
bittet, so gespielt, dass Höfgen zwar im Mephisto-Kostüm, aber ohne
Maske auftritt. Szabó hat in MEPHISTO die Kollisionen zwischen den
beiden Schauspielern immer als offene Gesicht-Gesicht-Konfrontationen
gezeigt. Er macht die offen ausgetragene Feindschaft zwischen beiden so
kenntlich (verwiesen sei auch auf die halbnah gezeigte
Schnitt-Kollision zwischen Höfgen und Miklós im Hamburger
Künstlertheater, wo Höfgen schließlich die Entlassung des Miklós
erpresst).
Auf die Scholaren-Probenszene folgt im Film Höfgens zweiter
Auftritt als Mephisto in einer Bühnenvorstellung. Hier ist die
Mephisto-Maske gegenüber der ersten Mephisto-Rolle (vor dem
Machtantritt der Nazis) vereinfacht und wirkt hässlich-gefährlicher.
Sie wird durch einen Bildschnitt gleich zu Beginn des Bühnendialogs mit
dem in Großaufnahme gezeigten Gesicht des Ministerpräsidenten in
Verbindung gebracht, der in der Staatsloge des Theaters Platz genommen
hat. Deshalb werden Abschnitte des Bühnendialoges wiederum zu
Kommentierungen der leitmotivisch mit der Großaufnahme angestimmten
Teufelspaktszene:
„Faust: Bei euch ihr Herren, kann man das Wesen gewöhnlich aus dem
Namen lesen, wo sich allzu deutlich weist, wenn man euch Fliegengott,
Verderber, Lügner heißt. Nun gut, wer bist du denn?
Mephisto: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Faust: Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?
Mephisto: Ich bin der Geist, der stets verneint und das mit Recht.
Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum besser
wäre es, wenn nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element…“
In der anschließenden Begegnung mit dem Ministerpräsidenten in der
Loge wird die Maske zu einem Zeichen, das die Maskierung als Mittel des
politischen Komödianten ausweist.
„Diese Maske ist das heilige Böse“, sagt der Ministerpräsident und
mit seinen Worten wird auch eine neue Semantik des
Schauspieler-Begriffs in die Handlung eingeführt. Er sagt – auf den
schwachen Händedruck Höfgens reagierend: „Das scheint das Geheimnis der
Schauspielkunst zu sein, Kraft und Geist zu zeigen, während man in
Wirklichkeit schwach ist.“
Ist mit diesen Worten noch eine Aussage über Höfgen gemacht worden,
so wird mit dem übernächsten Bild, der General gibt einen Empfang, der
Begriff „Schauspieler“ in einem weiteren Sinne gebraucht. Dieses Bild
beginnt mit der Ansprache des Ministerpräsidenten:
„Auf die Erneuerung der deutschen Kultur. Es leben die Schauspieler!“
Von nun an zeigt Szabó, wie der Schauspieler Höfgen im realen Theater der Faschisten eine Rolle spielt.
Bezeichnenderweise tritt auf diesem Empfang beim
Ministerpräsidenten eine Veränderung in zwei bisher benutzten
ikonografischen Motiven der Handlung ein: in dem Motiv der
Gesichtsmaske und im Spiegel-Motiv. Zu Beginn des Empfangs zeigt die
Kamera im Spiegelbild den Ministerpräsidenten und Höfgen, wobei auf der
Tonebene u.a. zu hören ist: „Wir müssen ein geistiges Zollsystem
schaffen“, also das Spiegelmotiv hebt die Gemeinsamkeit des
Intellektuellen und des Vertreters der nazistischen Herrschaft hervor.
Szabó hat in MEPHISTO von Beginn an mit dem ikonografischen Motiv
des Spiegelbildes gearbeitet. So sind Höfgens Spiegelbilder
Konfrontationen des Schauspielers mit sich selbst an Wendepunkten
seiner Entwicklung oder als visuelle Expositionen des Charakters (z.B.:
die Sequenzen zu Beginn des Films – so in der Garderobe parallel
geschnitten zur Arie der Operettensängerin, die Spiegelwände im
Trainingsraum von Juliette).
Erstmalig in der Empfangsepisode wird dem Spiegelbild des Höfgen
eine zweite Figur von Szabó hinzugefügt - die des Ministerpräsidenten.
Später – wenn er von Lotte Lilienthal den Tod Otto Ullrichs erfährt –
wird er mit der Frau des Ministerpräsidenten sich im Spiegel anschauend
gezeigt.
Das Spiegelmotiv ist also nicht nur visuelles Zeichen, mit dem die
Figur im szenischen Raum multipliziert werden kann. Das Spiegelmotiv
ist also nicht nur visuelles Zeichen der Szenographie. Das Spiegelmotiv
ist dramaturgisch gesehen eine Möglichkeit, in der Handlung zur
Entwicklung der Höfgen-Figur einen moralischen Gestus seitens der Regie
einzubringen.
Der dramatische Höhepunkt auf diesem Empfang ist eine Szenenfolge,
in der Höfgen und der Ministerpräsident sich in einem Nebenraum vor ein
Gemälde, das eine romantisch-dramatische Berglandschaft zeigt, begeben.
Beide sind schließlich in einer halbnahen Kameraeinstellung zu sehen.
Die gewählte Untersicht durch den Kamerastandort monumentalisiert die
Physiognomie des Ministerpräsidenten (Hoppe). Dazu folgender Text des
Ministerpräsidenten:
„Der neue Mephisto beschäftigt mich. Sie haben mir den Kerl so richtig nahe gebracht. Ist ja ein doller Bursche, hm?!..
Ich meine, ist nicht in jedem rechten Deutschen ein Stück Mephisto
verborgen? Wohin kämen wir denn, wenn wir nichts anderes hätten als die
faustische Seele…Der Mephisto, das ist auch ein deutscher Nationalheld!
Man darf es nur den Leuten nicht sagen…“
Durch eine dunkelgrün stichige Monochromatie, durch Seitenlicht und
durch die Untersicht der Kamera wird Hoppes Gesicht
statuarisch-monumental verfremdet, d.h. überhöht mit dem Gestus
desjenigen, der die Herrschaft innehat. Höfgen ist nur links im
Bildvordergrund in Seitensicht zu sehen. Mit dieser visuellen
Zeichensetzung werden ein Höhepunkt und der Beginn des Teufelspaktes
zwischen Höfgen und dem Ministerpräsidenten hervorgehoben.
Bezeichnenderweise weist die Handlung in der Folge nun keine
Bühnendarstellungen in Szenen auf. Es fällt auf, dass verglichen mit
dem groß inszenierten Auftritt Höfgens in der Pressekonferenz über
seine HAMLET – Inszenierung die kurz eingeschnittene Szene aus diesem
HAMLET unbedeutend ist.
Was nach dem Empfang beim Ministerpräsidenten folgt, das ist
Höfgens Rollenspiel im realen Theater des Dritten Reiches. Nun wird er
zum Rhetoriker in der Handlung – so auf Pressekonferenzen des
Ministerpräsidenten, bei der Eröffnung einer Plastikausstellung, bei
der Feier im Theater anlässlich des 43. Geburtstages des
Ministerpräsidenten. Wenn sich der deutsche Faschismus durch eine
besonders übertriebene rhetorische Gestik auszeichnete, so ist mit
Klaus Maria Brandauer in der Rolle des Höfgen erkennbar, wie der
Schauspieler diese Momente faschistischer Theatralik ausformuliert.
Wenn der moralische Niedergang Höfgens in der Handlung klar wird,
dann wird noch einmal das Motiv der Schminkmaske bemüht – als
Bezeichnungen der Situation des Charakters Höfgens. So wird auf der
Hochzeit Höfgens in der Grunewald-Villa die Mephisto-Maske zu einer
Maske unter vielen Mephisto-Masken, die ihn, den im Kreis Gefangenen,
umtanzen. Der Wendepunkt der Fabel, der mit dem pompösen Auftritt des
Ministerpräsidenten gesetzt wird, wird durch das Meissner-Tanzlied „Im
Grunewald ist Holzauktion…“ bekräftigt. Der Übergang vom Bühnenspiel in
das wirkliche Theater der „verkehrten Welt“ ist von Höfgen endgültig
vollzogen worden. Für Höfgen als Intendanten ist deshalb auch eine
Theatralität im Alltagsleben charakteristisch, die von der Verstellung
und Maskierung ihre Ausdruckformen bezieht. Szabó ging in der
Charakteristik Höfgens so weit, dass er zeigt wie Höfgen, wenn er der
Ermordung des ehemaligen Freundes Otto Ullrichs gewiss ist, in Schmerz
in eine Maske hinein küsst (die Nicoletta, seine Frau, aufgetragen
hat). Dieser Vorgang des Küssens der Maske wird zu einem Symbol seines
nun endgültigen Niederganges.
Die Maskierung und nicht die Demaskierung vollendet seine Tragödie.
Demaskierung – das kann nicht mehr eine Rettung, eine Katharsis des
Filmhelden sein. Möglich ist nur noch der Untergang, der die Zuschauer
im Kino noch erschüttern kann. Im Finale, in dem der Schauspieler
Höfgen – hilflos – von den Scheinwerfern im gewaltigen Rund des
Olympia-Stadions hin und her geschoben wird, Marionettenfigur in dem
nun vom faschistischen Machthaber, dem Ministerpräsidenten,
inszenierten „Theatrum mundi“, lässt Szabó sein von Angst verzerrtes
Gesicht in einer grell-weißen monochromatischen Verfremdung erstarren.
Zu Beginn des Films in der Episode „Tanzstunde bei Juliette“ sagte
Hendrik Höfgen: „Ein Schauspieler – das ist eine Maske.“ Bedenkenswert
ist, dass Szabó hier nicht das Gesicht in Großaufnahme zeigt sondern
die Totale wählt. Die Charaktermaske – das ist der ganze Mensch Hendrik
Höfgen. Die Mephisto-Maske dagegen ist nur ein visuelles Zeichen – im
szenischen Spiel und in der Montagekomposition. Es ist das Verdienst
der Romanverfilmung Szabós, den Charakter Höfgens mit einer
dialektischen Dramaturgie des Maskenspiels und damit verbundenen
visuellen Zeichensemantiken ausgelotet zu haben.
OBERST REDL:
Klassische dramaturgische Muster
Feststellungen zur Stoff- und Themenwahl
(1) Szabó übernimmt den Stoff und das Thema von John Osborne (1965:
A PATRIOT MAN FOR ME). Er verwandelt die chronikartige Szenenfolge bei
Osborne in eine biografische Story. Das ermöglicht ihm, entscheidende
Sozialisationsfaktoren aus der Kindheit zu erklären (die Verleugnung
seines Herkunftsmilieus; die Vaterfigur wurde für ihn der Kaiser; die
unbewusste Begegnung mit der Homosexualität in der Schulausbildung;
sein Kameradschaftssyndrom gegenüber dem ungarischen Adligen Kúbiyni;
die Zuneigung zu dessen Schwester).
1964 hatte John Osborne in INADMISSIBLE EVIDENCE die Krise eines
erfolgreichen Anwaltes erzählt, die er in zwei Tagen fokussierte. In A
PATRIOT FOR ME(1965) kehrt er zurück zur chronikartigen Szenenfolge.
Osborne folgte zwei unterschiedlichen Sichten auf eine dekadente, eine verfallende Gesellschaft:
Im ersteren Falle wird die Krise des Einzelnen zum Verweis auf die Krisenabwehr der Gesellschaft, die ihn zum Opfer machte.
Im zweiten Falle wurde der Versuch unternommen, mit dem
authentischen Österreicher Alfred Redl aus der Zeit der
Jahrhundertwende das besondere Modell des gegen den Verfall der
Gesellschaft Antretenden zu entwerfen.[7]
Das Stück von Osborne ist auch als ein Beitrag zu den britischen
Debatten um Homosexualität zu verstehen, die seit Ende der 50er Jahre
andauerten (November 1957: Bericht von John Wolfenden zur Legalisierung
der Homosexualität/Diskussion im House of Commons).
(2) Historische Ereignisse aus der Epoche 1867-1914(insbesondere
zur Jahrhundertwende bis 1905/06) der k.u.k. Monarchie bleiben unscharf
(bis auf die Erschießung des Thronfolgers in Sarajewo 1914). Die
Widersprüche zwischen einem verfallenden Staat, dessen demoralisiertem
Offizierskorps und der selbst zerstörerischen Planung des
Balkankrieges, und seinem Glauben an die (seine) soldatischen Tugenden
als Gewähr des mit Kaiser Franz Joseph II. präsenten Staates enden
melodramatisch: der „Gute“ fällt den Intrigen der „Kriegspartei“ am
Hofe zum Opfer. Die Story endet mit einem Trittbrettunfall der
Geschichte bei Ausfahrt des Zuges. Das tragische Finale erhält bei
Szabó melodramatische Züge. Im Gegensatz zu vielen Melodramen, die in
den Gefühlen und Leidenschaften die Historie auflösen [8], nutzt Szabó
das Melodramatische, um die Verlorenheit eines Außenseiters und
Erhalters der Staatsmacht, eines Verfechters der Monarchie in der Phase
ihrer Auflösung auszustellen.
In diesem Punkte unterscheidet sich diese Figur von Höfgen in
MEPHISTO, die letztlich zur Marionette in den Händen eines Diktators
wird. Höfgen ist der Künstler in der Hybris seines Talents, der dem
Diktator unterliegt. Redl ist der dem monarchistischen Staat und der
Armee absolut ergebene Offizier, der in dieser Hybris die Realität der
Machtverhältnisse falsch beurteilt bzw. zu spät erkennt, dass er Mittel
zu Zwecken geworden ist, die nicht die seinen sind.
Kollisionsdramaturgie
Im Folgenden wird nicht eine Bestimmung von Kollisionen unter dem
Aspekt des Handlungs- und Figurenaufbaus verfolgt, sondern es werden
verschiedene Gruppierungskriterien für die Unterscheidung von
Kollisionstypen aufgestellt.
Einige Kollisionen wurden ausgewählt:
Kollision 1
„Ich bin ein verräterischer Bauer!“ - eine innere
Auseinandersetzung, die im Ergebnis einer Kollision ihm die
verschiedenen sozialen Gegensätze (Bauer-Adlige) bewusst macht/ innere Kollision
Kollision 2
2/1 : Ausschluss des böhmischen Offiziers Schorm aus dem Offizierkorps durch Hauptmann Redl /die Ehrauffassung Redls:
Ein Offizier muss der Monarchie treu ergeben sein, er hat nicht oppositionelle Kritik in der Presse zu vertreten
2/2 : Duell Schorms mit Kúbiyni /die Ehrauffassung des Böhmen
Schorm ist von antisemitisch begründetem Standesdünkel getragen – er
wird zum Duell vom jüdischen Stabsarzt Sonnenschein gefordert, was er
aus Standesdünkel ablehnt, worauf der adlige Offizier und Jude Kúbiyni
sich mit ihm duelliert und ihn tötet/ Aktionskollision /
Hauptmann Redl deckt das Duell, weil er darin eine Verteidigung der
Standesehre sieht, aber er weist auch damit antisemitische
Ehrauffassungen im Offizierskorps zurück.
Kollision 3
Tätliche Auseinandersetzung mit Kúbiyni, weil dieser in einer Diskussion gegen die k.u.k.-Monarchie auftritt /die Ehrauffassung Redls:verbietet eine Kritik des Offiziers an der Monarchie /Aktionskollision
Kollision 4
Begegnung mit Kúbiyni vor den Räumen des Erzherzogs/ Kúbiyni nennt ihn einen Schnüffler /Gesprächskollision
Kollision 5
Die Verhaftung des Armeelieferanten Ullmann in Lemberg wegen des Verdachts der Spionage / Aktionskollision
Kollision 6
Der Erzherzog gibt Redl zu erkennen, dass er a) nicht das adlige
Offizierskorps antasten darf und b) dass ein inszenierter Fall für die
Armee benötigt wird/ Gesprächskollision als innere Kollision/ Beginn der großen Peripetie vor dem Finale
Kollision 7
Er droht mit der Waffe und gibt zugleich Geheimnisse preis, weil er
Kriegspläne durchkreuzen will; er kollidiert mit dem angesetzten Spion (Aktionsdramaturgie) und mit sich selbst, er weiß, dass er Verrat begangen hat (innerer Konflikt)
Die oben aufgezählten Kollisionen wurden nach folgenden Kriterien gruppiert:
I. Kriterium:
Peripetien
A. Kollisionen ohne Bedeutung für Peripetien der Handlung
Kollision 1
Kollision 2/2
B. Kollisionen mit Peripetien der Handlung (funktional-struktureller Bezug zur Story)
Kollision 6
Kollision 7
II. Kriterium:
Innere Auseinandersetzung oder Aktionen
A. innere Auseinandersetzung
Kollision 1
Kollision 7
B. Aktionsdramaturgie
Kollision 2/2 Duell der Offiziere
Kollision 3 Tätliche Auseinandersetzung mit Kúbiyni
Kollision 5 Verhaftung und Tod des Armeelieferanten in Lemberg
III.Kriterium:
Ideelle Motive in Kollisionen
A. Der Ehrbegriff des Offiziers in der Sicht Redls
Kollision 2/1
Kollision 2/2
Kollision 3
B. Politische Ansichten/Redls Gegenposition zur „Kriegspartei“ des Thronfolgers
Kollision 6
Kollision 7
Die methodische Auswertung ergibt, dass Kollisionen nach folgenden
Kriterien sinnvoll unterschieden werden können in der dramaturgischen
Analyse:
a) es gibt Kollisionen, die in der Story-Dramaturgie für Peripetien
wichtig sind und es gibt Kollisionen, die nicht diese Funktion haben,
aber die Figuren charakterisieren;
b) Kollisionen können sich ausschließlich auf Aktionen beschränken,
sie können die Gesprächskommunikation strukturieren und sie können als
innere Kollisionen der Figuren auftreten ( und betreffen dann
Widersprüche im Wertsystem, in den Motiven bis hin zu möglichen
Identitätskrisen)
c) Kollisionen können Aufschlüsse über die Motive der Figuren geben.
HANUSSEN:
Politisierung der Prophetie in der Moderne ?
Feststellungen
(1) Allgemein ist das Thema von HANUSSEN so bestimmt worden:
„Thema ist also - wie immer - eine menschliche Eigenschaft, die in
jener Zeit verhängnisvoll wird. In dieser Geschichte ist das die Angst
vor der Zukunft. Die Beklemmung, die Ratlosigkeit, das Gefühl einer
drohenden Gefahr und die düsteren Vorahnungen und der Kampf dagegen in
einer Welt, in der das von der Politik gezeichnete Zukunftsbild Angst
macht. Der Wunsch, die Zukunft zu kennen und in Sicherheit zu sein. Die
Frage ist, ob dies möglich und was der Preis dafür ist...Der Kampf
eines Mannes im Zeitalter der Ratlosigkeit..“[9]
Erneut thematisiert Szabó die Faszination des Theatralen. Ist es in
MEPHISTO das Verhältnis von Schauspiel und Theatralität des Lebens so
wird in HANUSSEN die Inszenierung der Ängste der Gegenwart und um die
Zukunft zu einer Gratwanderung zwischen böhmischer Provinz, Karlsbad
und Berlin. Ausgangspunkt ist die Verwundung des Zugführers Schneider
bei einem Gefecht im 1. Weltkrieg mit traumatischen Folgen und seine
Behandlung mittels Hypnose durch den jüdischen Lazarettarzt Dr.
Bettelheim. Schneider, der vor dem Krieg an einem Varieté tätig war,
verfügt selbst über hypnotische Fähigkeiten, die es ihm u.a.
ermöglichen im Lazarett einen Selbstmörder von seinem Plan abzubringen.
Die Handlung erzählt in den ersten 50 Minuten in episodischen Sprüngen
und mit wenigen dramatisierenden Kollisionsszenen (das wären: die
Hypnotisierung des Selbstmörders; die Anklage durch den Staatsanwalt
wegen Betrugs in Karlsbad) Hanussens Werdegang als erfolgreicher
Hellseher und Wahrsager, der seine moralische Autonomie erfolgreich
verteidigen kann.
(2) In Berlin gerät Hanussen in die Fronten zwischen dem
bürgerlich-demokratischen Klub, der Polizei und den Nazis. Obwohl er
immer wieder betont, dass er keine politischen Interessen verfolgt,
folgt er seinen irrationalen und mystischen Fähigkeiten und seinem
Anspruch, die Wahrheit auszusprechen.
Er gerät in den Sog und in die Turbulenzen der Krise der Weimarer
Republik und wird vor diesem massenpsychologischen und politischen
Hintergrund einen Sprung vom talentierten Wahrsager und Hellseher zum
politischen Propheten machen. Dieser zeitpolitische Hintergrund wird in
der Dramaturgie der Handlung von Szabó mit einer dichten Folge von
Kollisionen und Peripetien(ab der 60. Minute) gestaltet (die aggressive
Provokation durch einen Nazi bei einer Veranstaltung in einem
Bühnensaal und der Sieg der hypnotischen Fähigkeiten Hanussens über den
Provokateur; die Kollisionskette mit den Nazis als er entdeckt, dass
Hitler seine Posen einstudiert hat und als er prophezeit, dass in Kürze
der Reichstag brennen wird bis zu seiner Exekution durch einen Trupp
der SS, der von dem einstigen Provokateur, den er hypnotisiert hatte,
angeführt wird).
(4) Szabó erzählt die Karriere eines österreichischen Wahrsagers,
der zum politischen Propheten in Deutschland um 1932/33 wird und der
gegen allen politischen Druck seine moralische Autonomie bis in den Tod
bewahrt. Er sagt wenige Sekunden vor seiner Erschießung zu den Nazis:
„Ihr werdet untergehen!“ Dieser Wahrsager wird zu einer schillernden
Figur in einer chaotischen Zeit und ist zugleich Indikator eines
Politpanoramas der Endphase der Weimarer Republik.
Kulturgeschichtlich kann man die Hanussen-Figur als einen Propheten
unter anderen in der Moderne bezeichnen, der Irrationalität und
Rationalität in sich vereint. Seine politische Prophetie machte ihn zum
Kulttyp vorrangig groß- und kleinbürgerlicher Kreise, die von der Krise
der Demokratie betroffen waren. Hanussen verkörpert einen Typ des
politischen Propheten in einer Krise der deutschen Demokratie, der
einerseits die ungeheure Verantwortung für die Ängste der Massen
wahrnimmt und andererseits die Angst vor der Zukunft mit einer
fatalistischen Akzeptanz faschistischer Bestrebungen schürt. Es sei
darauf verwiesen, dass Leo Löwenthal in seiner Analyse faschistischer
Agitation zur Judenfrage in den USA (bezogen auf den Zeitraum
1935-1947) den Begriff vom „falschen Propheten“ in der
Demokratiedebatte prägte und den Typus des politischen Propheten
faschistischer Prägung in der Demokratie im Auge hatte [10], wozu
Hanussen nicht zu zählen ist.
(5) Filmisch ist es für Szabó und seinen Kameramann Lajos Koltai
eine Herausforderung gewesen, Hypnoseaktionen auf der Bühne zu
erzählen. Da die Authentizität magischer Willensübertragung in der
Bühnenvorstellung schwer darzustellen war, sind filmische Mittel wie
das Detail, der schnelle Wechsel zwischen Totalen und Großaufnahmen von
Gesichtern, der Schnitt, die kinetische Montage, die Plastizität der
Kameraeinstellungen und die Magie von Licht und Farben besonders
wichtig.
Schlussbemerkung
In der in der europäischen Tradition tradierten Denkfigur des
„Bösen“ (als moralisch-theologischer Begriff, als Dämonie u.ä.) [11]
ist eine existentielle Problematik der Moderne verborgen, wenn man
bedenkt, dass sich die Moderne einerseits vom Rationalismus der
Renaissance und andererseits vom Irrationalismus herleiten lässt. Immer
und immer wieder wurde versucht, die Moderne ohne Auschwitz zu denken,
aber die systematische und rational organisierte Vernichtung von
Millionen Menschen im Faschismus ist ohne die irrationale Macht des
Bösen, ist ohne den Teufelspakt von Millionen mit der faschistischen
Herrschaft in der Moderne nicht wegzudenken.
Szabós Filmtrilogie folgt der Frage, ob und wie persönlich
erworbene Macht zur Aufgabe, zur Verkehrung oder zur Bewahrung der
moralischen Autonomie des Einzelnen führt. Indem er diese existentielle
Frage von Demokratien an
historische Schnittstellen Mitteleuropas verfolgt, zeigt er die
Gefahren von Herrschaftssystemen (wie der österreichisch-ungarischen
Monarchie und der deutschen Nazidiktatur) für die moralische Integrität
des Intellektuellen und Künstlers, des Offiziers und des schillernden
politischen Propheten auf. Er flüchtete nicht in die Pervertierungen
des Einzelnen, nicht in die fiktiven Transformationen des Science -
Fiction - Genres und der Horrorfilme. Er verbannt nicht Staats- und
Politikgeschichte von der Kinoleinwand. Er zeigt Charaktere (mit einem
authentischen mitteleuropäischen Hintergrund), die über die moralische
Autonomie - eine Chance und Tugend der Demokratie – nicht verfügen oder
sie mit dem Tod bezahlen. Also wäre in Szabós Trilogie der achtziger
Jahre auch ein Diskurs zu entdecken, der auf die Fähigkeit bzw.
Unfähigkeit zur Demokratie in der sowohl vom Rationalismus als auch von
der Irrationalität bestimmten Moderne abzielt?
Anmerkungen
1 András Szegö: Ingerelnek a felfuvalkodott, gögös emberek… In:
Képes 7, 1987,2
2 In: Júlia Váradi: Interview mit István Szabó(1994) für die
Interviewsammlung „Beszélgetések Szabó István filmrendezövel“, S.14
3 Klaus Mann: Mephisto, Aufbau: Berlin/Weimar 1957, S.7
4 Ebd., S.368
5 G.W.F. Hegel: Ästhetik, Berlin 1955, S.1039
6 Text nach Klaus Mann: Mephisto. Aufbau: Berlin 1957, S.357
7 Vgl. Englische Chronik 1964/65. In: TdZ 20 (1965), 18, S.29-30
8 Vgl. Th. Elsaessers Studie zu den Hollywoodfilmmelodramen
zwischen 1940 und 1963. In: Christian Cagnelli/ Michael Plan (Hg.): Und
immer wieder geht die Sonne auf. Wien 1994, S.93-130
9 HANUSSEN. Programmheft. Hungarofilm 1988
10 Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen
Agitation. In: Leo Löwenthal: Untergang der Dämonologien. Studien über
Judentum, Antisemitismus und faschistischen Geist. Reclam: Leipzig
1990, S.144f.
11 Vgl. Alexander Schuller/ Wolfert von Rahden (Hg.): Die andere
Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Akademie-Verlag: Berlin 1993, S.VII
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