Thema | Kulturation 1/2005 | Kulturelle Differenzierungen der deutschen Gesellschaft | Ullrich Bauer & Uwe H. Bittlingmayer | Keine Bildungsreform ohne Gesellschaftsreform. Kritischer Blick auf Pädagogik „in Zeiten lebensbegleitenden Lernens“. Referat anlässlich der Bildungspolitischen Konferenz der PDS (3.-5. Mai 2005) in Weimar.
Forum: Rolle, Ausbildung und Aufgaben von Pädagogen in Zeiten lebensbegleitenden Lernens
| Referat anlässlich der Bildungspolitischen Konferenz der PDS (3.-5. Mai 2005) in Weimar.
Forum: Rolle, Ausbildung und Aufgaben von Pädagogen in Zeiten lebensbegleitenden Lernens
1. Einleitung
2. Wissensgesellschaft als Wille und Vorstellung
3. Thesen zu einem reformierten Lehrerleitbild
4. Zu den Bildungspolitischen Leitlinien der PDS
1. Einleitung
Der bildungspolitische Aktionismus der Post-PISA-Arä bleibt
unüberschaubar. Gut beraten ist, wer im Wildwuchs aus
Selbstprofilierungen, parteipolitischen Strategien und wohlfeilem
ökonomischen Lobbyismus den Überblick behalten kann. Das
Durcheinanderpurzeln von Ideen, Ideengebern und tatsächlichen Machern
der aktuellen Bildungspolitik besitzt indes eine klare Struktur der
Wertigkeit – man könnte auch sagen, sie besitzt eine eindeutige
Rangfolge der Relevanz und Irrelevanz von Vorschlägen: Wenn so der
Bundespräsident a. D., Johannes Rau, sein im vergangenen Jahr
erschienendes „Plädoyer für eine neue Bildungsreform“ mit dem Titel
„Wider den Nützlichkeitszwang“ überschreibt, kann sich diese
wohlmeinende und gewiss kritisch angelegte „Einmischung“ kaum Gehör
verschaffen. Wer heute nur appelliert, ein humanistischer
Bildungsauftrag dürfe seine Bedeutung doch bitte nicht verlieren, ist
längst zum Statisten degradiert. Er befindet sich im nicht-sichtbaren
Raum strategischer Auseinandersetzungen oder besser im Stile
angewandter politischer Rhetorik: Er ist gut für ein Vorwort oder für
eine Präambel, nicht aber für den harten Kern politischer
Richtungsvorgaben.
Die eigentlichen Akteure einer neuerlichen Bildungsreform befinden
sich auch nicht – wie man nach PISA annehmen könnte – im Feld der
Wissenschaft. Die in diesem Frühjahr veröffentlichte gemeinsame
Position einer ganzen Gruppe kritischer Bildungsforscher im so
genannten „Bochumer Memorandum“ hat keinen wirklichen Kontrapunkt
setzen können. Vielmehr beweist auch der wissenschaftliche Diskurs,
dass er sich einzuordnen weiß. Die von Eckart Klieme koordinierte
Expertenkommission des DIPF (Deutsches Institut für Internationale
Pädagogische Forschung) führt das in ihrer Expertise zur „Entwicklung
nationaler Bildungsstandards“ vor. Nicht das Zentralmotiv der
langjährigen Debatte über Bildungsstandards, nämlich die Verringerung
von sozialer Ungleichheit, taucht hier auf. Dreh- und Angelpunkt der
Klieme-Expertise ist das Ziel der Elitenförderung. Die
„Qualitätsdebatte“ im deutschen Bildungswesen hat damit – wie wir
längst alle wissen – seinen eigentlichen Bezugspunkt gefunden:
Bewertung zielt auf Verwertung. Ein Bildungsideal abseits dieser
Maßgabe gilt als antiquiert. – Ökonomischen Effizienzkriterien genügt
es jedenfalls nicht.
Es ist darum keine Überraschung, dass auch der praktische
pädagogische Blick in der aktuellen Debatte keine Berücksichtigung
findet. Das Wissen von Pädagogen über das, was Pädagogen leisten
können, leisten wollen und sollen findet somit keine Anwendung. Keine
Überraschung ist es, weil der pädagogische Blick (ebenso wie der
wissenschaftliche) eine gewisse Naivität beinhaltet oder sagen wir
besser: in seinem Radius beschränkt bleibt. Wer glaubt, eine
Bildungsreform würde heute vom Prozess des Lehrens und Lernens aus
gestaltet werden, liegt damit eindeutig falsch. Die Vorschläge für
Bildungsreformen bemessen sich tatsächlich an dem, was von Bildung
gesellschaftlich erwartet wird. Vielleicht ist das auch der Grund,
warum Nicht-Pädagogen Bildungsreformer werden, warum die
Bertelsmann-Stiftung und Hans-Olaf Henkel mehr Gehör finden als
Lehrerinnen und Lehrer aus der Praxis.
Wir wollen im Folgenden drei Schlaglichter auf die jetzige
bildungspolitische Diskussion in Deutschland werfen: Dabei wollen wir
uns zunächst (2.) mit der aktuell dominantesten Zeitdiagnose – der der
Wissensgesellschaft – auseinandersetzen, weil sie – wie auch im
gestrigen Vortrag von Lothar Bisky deutlich geworden – die
Rahmenbedingungen, Hintergrundannahmen und Leitlinien der
Bildungsdiskussion mitbestimmt. Wir wollen erst im Anschluss (3.)
Thesen zu einem reformierten Lehrerleitbild formulieren, mit dem wir
abschließend (4.) die Diskussion darüber eröffnen wollen, ob die
bildungspolitischen Leitlinien der PDS tatsächlich eine Alternative zum
aktuellen Bildungsdiskurs darstellen können, wenn der Maßstab einer
starken egalitären und emanzipativen Bildungsnorm angelegt wird.
2. Wissensgesellschaft als Wille und Vorstellung
Günther Anders eröffnet sein Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“
mit der folgenden Passage: „Die zum Tode Verurteilten dürfen frei
darüber entscheiden, ob sie als letzte Mahlzeit die Bohnen süß oder
sauer serviert haben möchten. Weil über sie entschieden ist!“ Genau so
scheint es uns ergehen: Wir können frei darüber entscheiden, bei
welchem Internetprovider wir uns bedienen oder welche Fortbildung wir
besuchen um unser Humankapital aufrecht zu erhalten: Dass wir in einer
Wissensgesellschaft leben, die hierfür die Notwendigkeiten produziert,
um die niemand mehr herumkommt, wenn er ein funktionsfähiges Mitglied
unserer Gesellschaft sein möchte, scheint ebenso längst entschieden.
Das Label der Wissensgesellschaft liefert eine so erfolgreiche
Schablone der Beschreibung von industriellen Gegenwartsgesellschaften,
dass niemand sich im Augenblick ernsthaft traut, diese Hintergrundfolie
einmal genauer zu überprüfen und Fakten von Fiktionen, Realität von
Ideologie und Mythos zu trennen.
In der Regel wird die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft an den
Beginn bildungspolitischer oder sozialpolitischer Betrachtungen
gestellt, um dann aus dieser Konsequenzen wahlweise für ganze
Nationalstaaten oder auch für alle einzelnen Menschen abzuleiten. Die
übliche Rhetorik nimmt dann beispielhaft diesen Verlauf: Der Wandel zur
Wissensgesellschaft bezeichnet einen Epochenbruch, so etwa Krista
Sager, der vergleichbar ist mit der Wende von der Agrar- zur
Industriegesellschaft. Weil wir in einer Wissensgesellschaft leben,
leben wir Reinhard Mohn von Bertelsmann zufolge sogar in Zeiten
beschleunigten Wandels. In der Epoche der Globalisierung, die etwa nach
Jürgen Rüttgers die bloße Konsequenz des Wandels zu
Wissensgesellschaften ist, meint beschleunigter Wandel auch
beschleunigte Konkurrenz – ein Lieblingsthema von Guido Westwelle –,
weil das Wissen heutzutage immer schneller veraltet. Weil Wissen in
Wissensgesellschaften immer schneller veraltet, müssen Nationalstaaten
ein konsequentes Innovationsmanagement praktizieren, wie Edelgard
Buhlmahn in unzähligen Presseerklärungen anmahnt, um im internationalen
Kampf um innovative Produkt- und Prozessentwicklung mithalten zu
können. Weil Wissen immer schneller veraltet, müssen gleichzeitig die
in Deutschland lebenden Menschen ein konsequentes Kompetenzmanagement
praktizieren und ihre Biografie auf eine Kompetenzbiografie umstellen,
damit sie, wie etwa Wolfgang Clement hervorhebt, in Zeiten eines durch
den Wandel zur Wissensgesellschaft beschleunigten und intensivierten
Konkurrenzkampfes erfolgreich bestehen können. Das ist auch der
Hintergrund für die Unabwendbarkeit von pädagogischen Konzepten wie
lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen, die gewissermaßen als
individuelles Gegengewicht und Bremse gegen den unkontrollierbaren
gesellschaftlichen Wandel fungieren. Das Stichwort individuelles
Gegengewicht liefert schließlich in Verbindung mit der Idee einer
Kompetenzbiografie ein letztes zentrales Merkmal von
Wissensgesellschaften: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die
Menschen, die in ihnen leben, individualisiert sind. Durch die
allgemeine gesellschaftliche Beschleunigung, durch die Verkürzung der
Halbwertzeit des Wissens sowie nicht zuletzt durch die dem anwachsenden
Wissen geschuldete Enttraditionalisierung werden die Menschen immer
stärker freigesetzt aus traditionalen und familialen Bindungen und
begegnen sich mittlerweile als einzelne Akteure auf nunmehr
dynamisierten Arbeits- und Bildungsmärkten. Auch der Verlauf der
biografischen Flugbahn fällt in Wissensgesellschaften stärker als
jemals zuvor in die Verantwortlichkeit der Einzelnen.
Diese Perspektive und diese kausalen Ableitungen sind wesentlich
weniger überspitzt dargestellt als sie Ihnen in der kurzen
Zusammenstellung erscheinen mögen, sondern bilden den Tenor des
Großteils der vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung
herausgegebenen oder in Auftrag gegebenen Studien (Bittlingmayer 2005:
Kap. 2) oder etwa ein Großteil des Subtextes von Talkshows wie Sabine
Christiansen (van Rossum 2004).
Wir möchten aus Zeit- und Platzgründen hier nur ganz thesenartig
einige problematische, aber selbst in kritischen Diskursen nicht einmal
mehr thematisierte Hintergrundannahmen darstellen, die mit der
Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft einhergehen und die für den
gesamten Bildungsdiskurs wichtige Konsequenzen beinhalten. Wir haben
mehr oder weniger willkürlich vier Punkte herausgegriffen.
Erster Mythos:
Moderne Gesellschaften sind so dynamisch, dass sie politisch nicht
mehr gehaltvoll steuerbar sind, sondern marktregulierte,
ökonomisch-effiziente Formen der Steuerung – Stichwort etwa
Deregulierung – die einzig noch denkbaren Steuerungsformen überhaupt
sind.
Gegenthese 1:
Die aus den meisten Varianten der These der Wissensgesellschaft
unmittelbar folgende Vorstellung eines alternativlosen liberalen
Nachtwächterstaates ist eine blanke Ideologie; unabhängig von den
aktuellen politischen Linien bestimmen Zollabkommen und multilaterale
Handelsvereinbarungen direkter das Wirtschaftsgeschehen als ein völlig
eigenmächtig hin- und herhüpfender Aktienindex. Genau deshalb ist GATS
ja so zentral.
Zweiter Mythos:
Wissensgesellschaften sind in erheblich stärkerem Maße
individualisiert als „klassische Industriegesellschaften“, deshalb sind
die Menschen stärker als vorher eigenverantwortlich für ihren
Lebenslauf.
Gegenthese 2:
Deutschland ist eine Klassengesellschaft, die sich nach Milieus
horizontal und nach Klassen vertikal differenziert. Die Milieuherkunft
ist der biografisch bedeutsamste Faktor der individuellen Laufbahn. Die
Einführung flexibler Strukturen verstärkt den Faktor der Milieuherkunft
(Sennett 1998).
Dritter Mythos:
In Wissensgesellschaften ist lebenslanges bzw. lebensbegleitendes
Lernen für alle in ihnen lebenden Menschen zur unhintergehbaren
Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung oder Stärkung ihres Humankapitals
und zur Bewältigung der neuen gesellschaftlichen Anforderungen.
Gegenthese 3:
Dieser Satz ist zu undifferenziert, um haltbar zu sein. Erstens
existiert in der Weiterbildung ein gut dokumentierter
„Mätthaus-Effekt“; zweitens ist der Begriff lebensbegleitenden Lernens
unter der Hand nur bezogen auf den (ersten) Arbeitsmarkt und setzt
immanent die überholte Vollbeschäftigungs- und Arbeitsideologie fort
und drittens existieren rund ein Drittel so genannter
Weiterbildungsabstinenter (Bolder/Hendrich 2000), deren Anzahl konstant
bleibt, weil sie so schulbildungsfern sind, dass sie höchstens durch in
der Regel sinnlose Disziplinierungsmaßnahmen zu erreichen sind.
Vierter Mythos:
In der heutigen Bundesrepublik Deutschland wird Wissen immer
wichtiger, insbesondere methodisch-theoretisches und wissenschaftliches
Wissen.
Gegenthese 4:
Dieser Satz bezeichnet eine Nullaussage. Der Wissensbegriff ist so
allgemein, dass zum Beispiel unklar ist, für wen wichtiger, wofür
wichtiger oder welche konkreten Wissensformen werden überhaupt
wichtiger: Offensichtlich werden dem Humanismus zurechenbare
Wissensformen im Unterschied zu Kriegstaktiken weniger wichtig, selbst
wenn sie methodisch kontrollierter sind.
3. Thesen zu einem reformierten Lehrerleitbild
Die ausführliche Verständigung darüber, mit welcher suggestiven
Kraft Gegenwartsbeschreibugen wie das Label Wissensgesellschaft die
Debatte über eine aktuelle Bildungsreform bestimmen, folgt einer
bewusst gewählten Methodik: Über die Rolle, Ausbildung und Aufgaben von
Pädagogen kann nur entschieden werden, wenn zuvor das Ziel von Bildung
fest gelegt wurde. Keine Pädagogik kann ohne diese Form einer
gesellschaftlichen Zielvorstellung existieren.[1] Um so problematischer
ist heute, dass sich pädagogische Leitlinien in den klaren Begrenzungen
eines Diskurses bewegen, der über Lehreranforderungen ebenso wie über
schulische Lernziele bereits entschieden hat. Ein
wettbewerbsorientiertes gesellschaftliches Leitbild wie das der
Wissensgesellschaft ist untrennbar mit der politischen Forderung
verbunden, Wissens-Eliten zu fördern und dabei Ungleichheiten in Kauf
zu nehmen, die durch den schulischen Ausleseprozess entstehen oder
besser: ungebrochen reproduziert werden.
Für ein reformiertes Pädagogik-Leitbild ist damit eine
gesellschaftliche Leitvorstellung über das Ziel schulischer Bildung
nicht nur Beiwerk, sondern notwendige Voraussetzung (und diese
Leitvorstellung ist an dem Ideal einer freien und gleichen Gesellschaft
ausgerichtet, die ihren Reichtum gerecht verteilt, Benachteiligung und
Diskriminierung abschafft). Wir selbst haben einen unserer Beiträge zu
den „Leitlinien der Bildungsreform“[2] mit dem Diktum „egalitär und
emanzipativ“ überschrieben. Mit diesem Diktum ist sehr wohl eine
Vorentscheidung darüber getroffen, was Pädagogik leisten soll und kann,
worauf sich die zur Verfügung stehenden Ressourcen richten sollen sowie
schließlich darüber, was fern der Maxime egalitärer und emanzipativer
Bildung liegt. Dass eine solche Maxime quer liegt zum augenblicklichen
Modell selektiver, auf Auslese und Elitenförderung ausgerichteter
Bildungseinrichtungen, die ungleiche Bildungszugänge und ungleiche
Herkunftsvoraussetzungen nicht kompensieren, sondern – eine grobe
Verletzung demokratischer Gerechtigkeitsnormen – noch verstärken, ist
evident.
Für die innerpädagogische Auseinandersetzung darüber, welche
„Rolle, Ausbildung und Aufgaben“ Pädagogen in einem reformierten
Bildungssystem zukommen, ist zusammenfassend ein erster Meilenstein
gesetzt: Jede, mit Bourdieu/Chamboredon gesprochen, „pädagogische
Aktion“ muss sich damit an dem Anspruch messen lassen, inwieweit sie:
a) in den Reproduktionsmechanismus ungleicher Bildungschancen zu intervenieren im Stande ist (egalitäre Norm) und
b) ein Bildungsverständnis vermittelt, das auf mehr als lediglich
ökonomisch verwertbares Wissen zielt und damit an das Ideal
vernunftgeleiteter Bildung – das Ideal der Selbst- und Fremdaufklärung
– wieder anzuschließen vermag (emanzipative Norm). Mit Bildung ist
damit um so mehr die Vermittlung einer individuellen
Reflexionskapazität verbunden, die dazu dient, existierende Macht- und
Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft offen zu legen.
Emanzipatorische Bildung muss in diesem Sinne das Potenzial einer
freien und gleichen Gesellschaft entfalten können.
Pädagogik dieser Gestalt hat bereits ihre Grundlagen und Vorläufer,
sie besitzt ihrer theoretischen Väter. Es ist zwar nicht möglich, hier
im Schnellverfahren all die Traditionen auch nur aufzuzählen, die mit
dem Voranschreiten einer Ökonomisierung von Bildung – einer Art
neoliberalen Kulturrevolution – aus dem pädagogischen Kanon gedrängt
wurden. Zumindest aber soll hier benannt werden, dass mit Hartmut von
Hentigs „Berufseid für Pädagogen“, den Beiträgen Wolfgang Edelsteins,
dem langjährigen Direktor der Odenwaldschule und Leiter des
Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, sowie Theodor W. Adornos
Forderung nach einer „Erziehung zur Mündigkeit“ eine spezifisch
deutsche Tradition alternativer Bildungsentwürfe immer schon vorlag.
Rationale oder „reflexive Pädagogik“ (Böttcher 2005) hat also immer
noch ihre Referenzpunkte. Es gilt heute mehr denn je, sie in den Raum
öffentlicher Diskursivität oder anders: in den Raum öffentlicher
Kontroversen zurück zu bringen.
Rolle, Ausbildung und Aufgaben von Pädagogen explizit zu
thematisieren, bedarf unbedingter Voraussetzungen. Für ein reformiertes
Lehrerleitbild muss voraus gesetzt werden, dass angemessene
schulstrukturelle und – im gleichen Maße – angemessene
gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Hierzu gehört,
dass der weiteren Polarisierung materieller und sozialer
Existenzbedingungen in der Gesellschaft entgegengewirkt wird. Die
Schaffung sozial gerechter Bildungschancen ist auf die Herstellung
sozial gerechter Lebens- und Ausgangsbedingungen angewiesen. Eine
Politik, die durch Verschärfung der Einkommensungleichheit Prozesse der
sozialen Marginalisierung und räumlichen Segregation befördert, ist
hier kontraproduktiv. Eine schulbezogene Pädagogik kann folglich nicht
die Probleme lösen, die schon im außerschulischen Umfeld entstanden
sind und immer weiter entstehen. Das Aufwachsen unter prekarisierten
bzw. depravierten Bedingungen führt zu Bildungsverhinderungsfaktoren,
bei denen die Schulpädagogik immer nur noch eine Symptombehandlung,
jedoch keine Ursachenbehebung vornehmen kann. Es gilt das Bild des
Rettenden am Fluss, der immer nur Ertrinkende aus dem Wasser zieht,
aber nie dort hin gelangt, wo die Leute ins Wasser geworfen werden.[3]
Das Gleiche gilt für schulstrukturelle Rahmenbedingungen. Die
Beibehaltung einer starren Schulformdifferenzierung, eines drei-,
vier-, nimmt man Sonderschulzweige mit hinein, fünf- oder
sechsgliedrigen Schulsystems, ist – wie internationale
Vergleichsstudien unisono belegen – pädagogischer Irrsinn. Sie sind,
was hier nicht ausführlich begründet werden muss, Bedingung der
Aufrechterhaltung von Bildungsungleichheit und nicht ihr Gegenmittel
(Gleiches gilt wiederum für das Festhalten an einem Noten- und
Zensuren-orientierten Bewertungssystem und die internationale
„Sonderrolle“ Deutschlands, wenn es darum geht, das Sonderschulwesen
mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten). Die Debatte über
Schulautonomie und Ganztagsunterricht erfüllt auf der Ebene offizieller
Bildungspolitik indes nicht die Funktion, die Aufbrechung einer ebenso
beispiellosen wie anachronistischen deutschen Schulformhierarchie
endlich einzuleiten. Sie ist vielmehr Ausdruck eines deutschen
Bildungskonservatismus, der sich – auch gegen OECD-Empfehlungen, die
sicher nicht im Verdacht stehen, „sozialromantisch“ motiviert zu sein –
durchaus zu behaupten weiß.
Reformpädagogik im Allgemeinen, ein reformiertes Lehrerleitbild im
Besonderen, ist also auf Rückendeckung angewiesen. Sind die Bedingungen
hierfür erfüllt, kann Pädagogik mit progressivem Anspruch wirksam
werden. Bemessen an einer egalitären und emanzipativen Bildungsnorm
unterscheiden wir: 1. die Ebene der konkreten Aufgaben von Lehrkräften,
2. damit verbunden die Ebene Unterrichtsrichtlinien und Lehrpläne sowie
3. die Ebene der Aus-, Fort- und Weiterbildung für das Lehramt.
(1) Die Befähigung der Lehrkräfte, Folgen und Mechanismen sozialer
Benachteiligung verstehen, hinterfragen und verändern zu können, muss
einen festen Platz im pädagogischen Aufgabenfeld erhalten. Diese Form
der Sozio-Analyse und Intervention muss neben dem Fachunterricht
gleichberechtigte Aufgabe pädagogischen Handelns werden. Lehrkräfte
müssen die Fähigkeit erwerben und praktizieren, ihr Verhalten nicht an
der Norm des Normalschülers auszurichten. Sie müssen Potenziale gerade
derjenigen Schüler anregen und aufnehmen, die von der bestehenden
Verhaltens- und Leistungsnorm, von der wir wissen, dass sie Mittel- und
Oberschichtskinder privilegiert, abweichen (Mechthild Gomolla und
Frank-Olaf Radtke (2002) haben ja gezeigt, dass gerade solche unbewusst
reproduzierten Normvorstellungen zur Diskriminierung bildungsferner
Gruppen führen; Hartmut von Hentigs „Sokratischer Eid“ lebt geradezu
von dieser Verantwortung der Lehrkräfte für das Nicht-Normierte).
(2) Pädagogisches Handeln, das soziale Benachteiligungen zu
kompensieren versucht und zugleich als aufklärende Intervention
verstanden werden soll, bedarf einer parallelen Reform der
Unterrichtsrichtlinien und Lehrpläne. Kern einer inhaltlichen
Lehrplanreform muss sein, Unterrichtsinhalte an die Lebenswirklichkeit
von sozial benachteiligten Gruppen so weit wie möglich anzupassen. Im
Gegensatz zu einer immer noch dominanten schulischen
Mittelschichtsorientierung müsste hier für eine Art
Unterschichtscodierung in den Richtlinien und Lehrplänen eingetreten
werden. Für die Einbeziehung lebensweltlicher Bezüge benachteiligter
Milieus existiert bisher keine Vorlage (und das, obwohl
Lehrerbildungszentren um „Best-Practice-Modelle“ seit geraumer Zeit
scharf konkurrieren – aber eben offenbar nicht mit dem Ziel,
Benachteiligungsstrukturen zu verändern).
Dabei ist die kritisch-konstruktive Didaktik, die seit 1950er
Jahren von Wolfgang Klafki entwickelt wurde, eng an der Thematik
integrativer Förderung benachteiligter Gruppen orientiert. Klafkis
Didaktik führt in der momentanen Debatte vollkommen zu Unrecht ein
Schattendasein (nur damit zu erklären, dass sie bemessen an der Norm
der Early-Excellence-Standards wohl nicht en vogue sein kann, was
jedoch wie wir wissen kaum wirkliches „Qualitätsmerkmal“ sein darf).
Klafki hat mit der Konzeption der „epochaltypischen Schlüsselprobleme“
ein Allgemeinbildungskonzept entwickelt, in dem die Auseinandersetzung
mit der subjektiven und objektiven Realität – den epochalen Problemen –
Motor der Lernentwicklung ist (und hier ist die
entwicklungspsychologische Fundierung in Anlehnung an Jean Piaget
deutlich erkennbar). Wenn wie in Klafkis didaktischem Vorschlagskatalog
für die Primarstufe eines der Schlüsselprobleme „soziale Ungleichheit“
beinhaltet, ist damit die Auseinandersetzung mit und Aufklärung über
Benachteiligungsstrukturen untrennbar verbunden: auf der Lehrer- und
auf der Schülerseite.
(3) Die Veränderung pädagogischen Handeln muss schließlich mit
einer konsequenten Reform der Lehreraus-, Fort- und Weiterbildung
verbunden sein. Nach Modulen, die auf die Arbeit mit
Benachteiligtengruppen (und hier ist die Elternarbeit eingeschlossen)
sowie auf die Beförderung emanzipativer Potenziale in der Schule
zielen, sucht man in den Aus- und Fortbildungscurricula bisher
vergeblich. Dieses Defizit der Lehrerbildung ist seit langem bekannt.
Einer Veränderung entgegen steht nicht zuletzt auch der Widerstand
unter Lehrern und Lehrervertretungen selbst (nur zur Verdeutlichung:
obwohl „sparsamer“ organisiert, ist die Lehrer-Lobby einer Ärzte-Lobby
in ihrem Einflussverhalten professionstheoretisch durchaus
vergleichbar). Um so mehr bedarf das Lehramt der Aufklärung über sich
selbst. So muss schon zur Grundausstattung im Studium gehören,
schulische Selektionsmechanismen verstehbar zu machen, an denen die
Studierenden später als Lehrkräfte selbst beteiligt sind. Das eigene
pädagogische Handeln in seinen „sozialen“ Konsequenzen reflektieren zu
können, muss primärer Gegenstand der Lehrer-Auswahl und – hier einmal
bewusst terminologisch angelehnt – der ständigen Evaluation und
Qualitätssicherung im Lehr-Amt sein. Supervision mit dieser
inhaltlichen Stoßrichtung darf nicht nur Wahlangebot – wenn sie das
überhaupt schon wäre – in der Fort- und Weiterbildung sein. Sie muss
Verpflichtung und Selbstverpflichtung sein.
Selbst diese wenigen praxisbezogenen Vorschläge setzen voraus, dass
das Diktum egalitär und emanzipativ als Grundlegung von Bildungspolitik
und von Politik überhaupt fungiert. Im letzten Abschnitt sollen nunmehr
die bildungspolitischen Leitlinien der PDS daraufhin kurz überprüft
werden.
4. Zu den bildungspolitischen Leitlinien der PDS: Schwächen und Dilemmata
Die PDS will mit ihren bildungspolitischen Leitlinien eine Alternative zu neokonservativen und neoliberalen Vorstellungen (11)
des augenblicklichen Umbaus der Bildungsinstitutionen bieten[4].
Sie will sich damit nicht den parteiübergreifenden neoliberalen Ideen
anschließen, die vorrangig auf Begabtenförderung, zunehmende
Privatisierung der Bildungsfinanzierung im Kontext von
public-privat-partnership und Excellenzzentren setzen, sondern spricht
sich für die Durchsetzung gleicher Bildungsmöglichkeiten für alle (2)
aus. In einigen Formulierungen wird explizit darauf hingewiesen, dass
Bildungspolitik und Sozialpolitik zwei Seiten einer Medaille sind,
bildungspolitische Vorstellungen also immer über die eigenen
Kontextbedingungen hinausweisen (1). Formuliert wird sogar der
Anspruch, die bildungspolitischen Leitlinien vor dem Hintergrund eines
strategischen Dreiecks zu begreifen, der auf eine sozialistische
Politik und auf Alternativen zum Kapitalismus abzielt (1). Schließlich
verortet sich die PDS – wie eingangs Johannes Rau – in der Tradition
eines humanistischen Bildungsideals. Bildung soll nicht auf
Verwertbarkeit ausgerichtet sein (5f.), bezieht sich auf den ganzen
Menschen, korrespondiert mit einem weiten Kulturverständnis (6f.) und
ist immer mehr als Wissen (5). Das Leitmotiv dieser Überlegungen wird
zusammengefasst in den Worten: „Alle fördern – keinen beschämen“ (9).
Mit diesen zum Teil mutigen Formulierungen und Hinweisen wird in der
Tat eine Gegenposition zum aktuellen politischen Bildungsdiskurs
bezogen, deren Radikalität nicht zu unterschätzen ist.
Diese Position steht aber auf tönernen Füßen. In demselben
Dokument, in dem sich diese emanzipativen Formulierungen finden lassen,
finden sich auch die folgenden: wir sind in einer Periode neuer
Herausforderungen eingetreten mit neuen ökonomischen Erfordernissen
(3), wir befinden uns im Zeitalter der Wissensgesellschaft und der
Globalisierung (3f.). Die Bedingungen, die dieses Zeitalter mit sich
bringt, erfordern „vielseitig gebildete Individuen und verändern
gleichzeitig die entscheidenden Lebens- und Arbeitsbedingungen aller
Klassen und Schichten und damit auch die eines jeden Einzelnen.“ (4)
Unsere „sich dynamisch entwickelnde Welt“ braucht ein ganzes Leben lang
lernende Menschen (6). Zentral ist dabei die Kompetenz zum
selbstständigen Wissenserwerb (7). Jeder Heranwachsende muss sich
letztendlich in dieser marktwirtschaftlich geprägten, kapital- und
profitdominierten Gesellschaft auf das bestmögliche selbst ‚verwerten’,
‚vermarkten’ können und darauf vorbereitet sein.“ (7) Und dabei ist
dann das Leitmotiv, „dass jeder junge Mensch möglichst hohe Leistungen
erreicht“ (10). Denn obwohl das „Bildungswesen […] nicht primär und
schon gar nicht allein nach marktwirtschaftlichen Kriterien gemessen
und beurteilt werden [darf]“, sind Bildungsausgaben „Investitionen in
die Zukunft“, sind „investive Ausgaben“ (12).
Es geht uns mit dieser Gegenüberstellung nicht darum, aufzuzeigen,
dass die bildungspolitischen Leitlinien der PDS unklare Formulierungen
und unterschiedlich radikale Positionen vereinigen. Das ist im Rahmen
der Erstellung von politischen Texten, an denen in der Regel mehrere
Personen beteiligt sind, eine Selbstverständlichkeit. Wir möchten auf
etwas anderes hinweisen. Zwischen diesen beiden bildungspolitischen
Ausgangspunkten der Emanzipation und der wissensgesellschaftlichen
Beschleunigung aller sozialen Verhältnisse besteht kein
Spannungsverhältnis, sondern ein Widerspruch. Wenn die PDS ihren
Anspruch ernst meint, eine bildungspolitische Alternative zur aktuellen
neokonservativen und neoliberalen Praxis konstruieren zu wollen, dann
führt der Weg nicht über die Übernahme neoliberaler und
neokonservativer Hintergrundannahmen, wie sie etwa der Zeitdiagnose
Wissensgesellschaft zu Grunde liegen. Wenn diese
Realitätsbeschreibungen übernommen werden, so wie es in den
bildungspolitischen Leitlinien durchgängig passiert, ist keine
alternative Bildungspolitik – als Signum für eine ganz andere Politik –
möglich. Die PDS bleibt im Gegenteil nur Bestandteil des gegenwärtigen
Bildungsdiskurses, liefert eine Variante, aber gerade keine
Alternative. Es ist absehbar, dass die emanzipativen Gehalte, die sich
in ihren bildungspolitischen Leitlinien auch finden lassen, das
Schicksal der gut gemeinten Appelle von Johannes Rau, Bundespräsident
außer Dienst, ereilen wird. Sie müssen aus Gründen des Übergangs in die
Wissensgesellschaft politisch nicht kontrollierbaren Sachzwängen
geopfert werden – so traurig das auch ist. Zweifellos hat die PDS damit
einmal mehr den Realitätstest, der ihr vom herrschenden Diskurs
empfohlen wird, bestanden: Ob ihr und einer emanzipativen Perspektive
damit geholfen ist, stellen wir zur Diskussion.
Literatur
Ullrich Bauer/Uwe H. Bittlingmayer (2005), Egalitär und
emanzipativ. Leitlinien der Bildungsreform, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, H. 12, S.
14-20
Bittlingmayer, Uwe H. (2005), Wissensgesellschaft als Wille und Vorstellung. Konstanz: UVK (erscheint Juli 2005)
Axel Bolder/Wolfgang Hendrich (2000), Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien lebenslangen Lernens. Opladen: Leske + Budrich.
Wolfgang Böttcher (2005), Soziale Auslese und
Bildungsreform, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur
Wochenzeitung Das Parlament, H. 12, S. 7-13
Mechtild Gomolla/Frank-Olaf Radtke (2002), Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen: Leske + Budrich
PDS (2005), Bildungspolische Leitlinien der PDS. Entwurf für
die Diskussion auf der 9. Bildungspolitischen Konferenz am 4. und 5.
Juni in Weimar. Internet-Dokument (Zugriff am 1.6.05):
http://sozialisten.de/politik/bildungspolitik/bildungspolitische_konferenz_weimar/entwurf_bildungspolitischeleitlinien.pdf
Richard Sennett (1998), Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Walter van Rossum (2004), Meine Sonntage mit ‚Sabine Christiansen’. Wie das Palaver uns regiert. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Anmerkungen
[1] Darum ist eine jede Pädagogik, die immer nur auf
gesellschaftliche Anforderungen reagiert und nicht von Beginn an die
Entwicklung von Zielvorstellungen über den Ertrag von Bildung
mitzubestimmen versucht, in ihrem Handlungsradius eingeschränkt. Sie
wäre eine Form – hier durchaus im schlechten Sinne – naiver Pädagogik.
[2] Siehe Bauer/Bittlingmayer 2005
[3] In Abwandlung eines Bildes, das in der Public-Health-Debatte
häufig gebraucht, um die Differenz von Krankheitsbehandlung und
Krankheitsverhinderung aufzuzeigen, kann hier für die
Verhinderungsbedingungen einer schulischen Pädagogik exemplarisch
behauptet werden: Ein Lehrer steht am Ufer eines schnell fließenden
Flusses und hört die verzweifelten Schreie einer ertrinkenden Frau. Er
springt ins Wasser, holt die Frau heraus und beginnt die künstliche
Beatmung. Aber als sie gerade anfängt zu atmen, hört er einen weiteren
Hilfeschrei. Der Lehrer springt abermals ins Wasser und holt einen
weiteren Ertrinkenden, trägt ihn ans Ufer und beginnt mit der
künstlichen Beatmung. Und als der gerade zu atmen anfängt, hört er
einen weiteren Hilferuf ... Das geht immer weiter und weiter in
endlosen Wiederholungen. Der Lehrer ist so sehr damit beschäftigt,
ertrinkende Menschen herauszuholen und wiederzubeleben, daß er nicht
einmal Zeit hat nachzusehen, wer denn die Leute stromaufwärts alle in
den Fluss hineinstößt.
[4] Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf das Dokument: Bildungspolitische Leitlinien der PDS vom 29.4.2005.
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